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Die Angst vor Ellis Island. – Ein Vorgeschmack der Freiheit. – Die erste Lüge. – Ein freundlicher Herr nimmt sich meiner an. – Im Emigrantenhotel. – Allerlei Zukunftspläne. – »Du Ring an meinem Finger!« – Ein schlechtes Geschäft. – Wenn die Großstadt schläft. – Schwierige Sprachstudien. – Im Arbeitsbüro. – Der Mann mit dem System. – Ein Rettungsengel. – Ich werde verkauft wie Joseph. – Auf der Farm. – Hannibal auf dem Maisfeld. – Auf nach Texas!
Das also war Neuyork. Und das dort drüben, das sich so kunterbunt übereinandertürmte, wie ein wildphantastisches Würfelspiel gewaltiger Riesen, das waren die berühmten Wolkenkratzer. Schwarz ragten die Türme in den abendlichen Himmel, und die protzigen, vergoldeten Kuppeln funkelten in der untergehenden Sonne.
Langsam näherten wir uns den Docks von Hoboken. Die Musik spielte lustige Weisen, derweilen sich jedermann an Bord in seinen feinsten Staat warf. Es war wie ein Festtag. An der Pier war alles schwarz von Menschen. Sie winkten mit den Taschentüchern und schwenkten zahllose kleine Sternenbanner. Und die oben auf dem Promenadendeck antworteten in gleicher Weise. Ja, die dort oben hatten es gut! Sobald das Schiff ordentlich festgemacht war, nahmen sie den eleganten Lederkoffer zur Hand und spazierten über das Gangplank hinunter ins freie Land Amerika. Lauter feine Leute. Sie hatten Geld und ein Scheckbuch und obendrein noch allerlei Verwandte und Bekannte, die sie abholten und für sie sorgten. Wer aber war da in dem ganzen weiten Land Amerika, um für mich zu sorgen? Ich fing an, darüber nachzudenken, und zum erstenmal in meinem Leben begann so etwas wie ein giftiger Proletarierneid in meinem Kopfe zu rumoren.
Die Sonne kam erst hinter den Bergen hervor, als wir am nächsten Tag von Zollbeamten geweckt wurden, die uns mit vielen Püffen und Flüchen mitsamt unserem Hab und Gut hinunter in eine riesige, scheunenartige Halle trieben. An den Wänden der Halle waren riesige Buchstaben angemalt, unter denen sich die Auswanderer nach dem Alphabet zu Nationen zu ordnen hatten. Dann kamen Beamte, die mit Kreide allerlei Zeichen auf das Gepäck malten. Die Zollrevision. Sie ging mit amerikanischer Fixigkeit vor sich. Warum auch nicht? Was konnte so ein armer Teufel von Zwischendeckpassagier an verzollbaren Kostbarkeiten mit sich führen?
Nachdem auch diese Förmlichkeit erledigt war, ging es noch immer in demselben amerikanischen Zeitmaß weiter auf eine dreistöckige Arche Noah, die uns an Land bringen sollte.
An Land? O nein! Der Weg, der von den Docks von Hoboken ins Land der Verheißung führt, ist noch endlos weit. Denn er führt über Ellis Island, die Insel der Tränen. Keinen Ort gibt es auf der weiten Erde, der im Lauf der Zeiten so viel Kummer und Not und so viele Tränen gesehen hat, wie diese Insel. In die Legionen geht die Zahl derer, die mit vollen Segeln über das große Wasser gekommen sind, nur um sich hier, angesichts des gelobten Landes, im Gestrüpp der Paragraphen zu verlieren, die Onkel Sam für seine neuen Untertanen aufgerichtet hat.
Auch bei uns begann die Angst vor Ellis Island umzugehen wie ein Gespenst. Die einen zitterten vor der ärztlichen Kontrolle, bei anderen begannen alte europäische Sünden aufzusteigen. Mir selbst war gar nicht geheuer. 25 Dollars mußte man bei der Einwanderung als Zehrgeld aufweisen können, sonst wanderte man ohne Gnade wieder zurück nach Europa. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Je näher wir ans Ziel kamen, desto mehr wuchs die Erregung. Ein lebensgefährliches Gedränge entstand in der engen Pferche.
Doch da waren wir schon längsseits der Insel der Tränen, am Fuße einer breiten hohen Freitreppe, über die es im »Time is money«-Tempo gerade hinaufging. Durch ein weites Portal unter einem mächtigen Sternenbanner gelangten wir in eine weite Halle mit merkwürdiger muffiger Luft. Zwischendeckodeur. Viel Zeit blieb jedoch nicht zu Betrachtungen. Immer im gleichen Tempo, mit Kisten und Kasten, mit Kind und Kegel wurde die lange Menschenschlange vorwärts getrieben.
»Weiter, weiter! Nicht stehen bleiben!« fuhr mich ein Beamter an, als ich einen Augenblick verschnaufen wollte, »so ein neugieriges Grünhorn! Da kannst du es einmal weit bringen hierzulande, wenn du dich an jeder Ecke einmal umsehen willst.«
Ehe ich mich versah, stand ich in einer langen Reihe, in der die Menschen dicht hintereinander standen und ihr Geld zählten. Gerade vor mir stand ein dicker Russe in einem Pelzmantel und zählte einmal ums andere seine Hundertrubelscheine. Wie ich ihn beneidete! Wie ich ihn haßte! Ja, die hier hatten Geld! Das klimperte nur so mit den Batzen. Nur ich –
Endlich stand ich selbst an der Spitze der Polonaise ins Land der Verheißung. Ein großer, glattrasierter, unheimlich amerikanisch aussehender Herr stand hinter einer Schranke.
»Wieviel Geld haben Sie?« fragte er ohne Umschweife.
»Hundert Dollar«, antwortete ich mit einem kühnen Griff nach dem Geldbeutel, denn hier, wo Sein oder Nichtsein die Frage war, kam es auf eine kleine Notlüge wahrscheinlich auch nicht mehr an. Die Lüge aber hatte nur sehr kurze Beine. Der Mann bestand darauf, daß ich meinen Schatz vorzeige, und so kam es dann ans Tageslicht, daß ich nur 16 Dollar Vermögen hatte.
»Hm«, meinte der Beamte, ohne eine Miene seines steinernen Gesichts zu verziehen, »ist das alles?«
»Ja.«
»Und haben Sie keine Verwandten oder Bekannte im Land?«
»Nein.«
»Beruf?«
Auf diese Frage war ich vorbereitet. »Wenn er dich fragt, was für einen Beruf du hast, so mußt du ihm ein recht handfestes Handwerk angeben«, hatte man mir geraten.
»Schlosser« log ich mit dem Brustton der Überzeugung. Das machte entschieden Eindruck auf den Beamten. Er betrachtete mich um eine Schattierung wohlgefälliger, während er ein paar englische Worte wechselte mit einem hintenstehenden Herrn, der aussah wie ein Pastor. Dann wandte er sich wieder an mich in einem so schönen Deutsch, wie ich es ihm niemals zugetraut hätte: »Na, meinetwegen mach', daß du weiter kommst, aber sieh mal zu, daß du nicht über deine eigenen Füße stolperst.«
Der freundliche Herr, mit dem der Beamte gesprochen hatte, war kein anderer als der Pastor des Deutsch-Lutherischen Emigrantenhauses. Er hatte gegenüber den Behörden die Garantie für mein Wohlverhalten übernommen und er mußte nun auch dafür sorgen, daß ich mit heiler Haut hinüber kam nach Neuyork. Wir kamen in einen anderen großen Raum, wo die Leute in langen Reihen auf schmierigen Bänken saßen und ihr Bier direkt aus den Flaschen tranken. Ich fand das unmanierlich, aber ich dachte mir, das gehöre sich wohl für den freien Bürger. Der Herr Pastor bestellte Kaffee und Kuchen und bezahlte alles. Nachdem er noch eine Anzahl anderer deutscher Grünhörner, darunter auch den Berliner, zusammengebracht hatte, ging es mit dem flinken Motorboot durch das glitzernde Wasser hinüber ins Land der Verheißung.
Im Nu waren wir an der Landungsbrücke von Castle Garden. Vor uns breitete sich der Batteriepark mit den staubigen Baumkronen und den vergilbten Blumenbeeten, und im Hintergrund türmten sich die Wolkenkratzer. Über den Kopf hinweg donnerten die Wagen der Hochbahn, und wie das dumpfe Brausen einer weit entfernten Brandung drang das Murmeln von Millionen Geräuschen ans Ohr. Das war die Stimme von Neuyork.
In einem jener hohen grauen Gebäude am Batteriepark, die in meinen Grünhornaugen schon Wolkenkratzer waren, befand sich das Deutsch-Lutherische Emigrantenheim, und ganz oben im obersten Stockwerk, von wo man eine wunderbare Aussicht hatte auf die weite Bai mit ihren unzähligen Lichtern, lag der große helle Schlafsaal.
Nie werde ich sie vergessen, jene erste Nacht in Neuyork! Lange saß ich auf dem Bett und schaute wie gebannt hinunter auf das fremde Leben. Das elektrische Licht blitzte zwischen den Baumblättern am Batteriepark und über die hohen Eisengerüste, die so phantastisch in das Dunkel hineinragten, brauste alle Augenblicke ein Hochbahnzug wie eine funkelnde, lichtumflutete Schlange. Neben mir lag der Berliner und wurde nicht müde zu schwatzen. Amerika konnte ihm nicht sonderlich imponieren, und Neuyork schon gar nicht, trotz aller Hochbahnen. »Bei uns in Berlin . . .«
Es sei wohl das gescheiteste, wenn wir beide aufs Land gingen zu einem Farmer. Da verdiene man 15 Dollars im Monat neben der Kost. Das wären 60 Mark, ein Haufen Geld. »Aber Gras mähen, Mist fahren, Kühe melken – da wären wir beide – du und ich – in 14 Tagen tote Männer! Bleiben wir lieber hier in der Stadt. Da machen wir dann zusammen eine Destille auf und einen Bouillonkeller mit Weißbierausschank. Weiße mit Himbeer! Damit ist noch was zu machen. Die Kadetten kommen ganz von selber.«
Weiter kam er nicht mit seinen Betrachtungen, denn ein in einem benachbarten Bett liegender Graubart, der sich schon mehrfach geräuspert hatte, fiel ihm eben nicht sanft ins Wort: »Wenn ihr aber jetzt nicht den Mund haltet, ihr Grünhörner dort drüben, dann sollt ihr etwas erleben! Von wegen Bouillonkeller! Könnt froh sein, wenn ihr nicht eines Tages auf der Straße verreckt in diesem gesegneten Lande!«
Ein Murmeln ging durch den Saal bei diesen Worten. Ein beifälliges Murmeln, wie mir schien.
Ganz früh am andern Morgen, als eben das erste Tagesgrauen durch den weiten Raum kam, erschien der Hausknecht und weckte uns mit echt lutherischer Grobheit. Er riß die Fenster auf, er rückte mit den Stühlen, er fluchte wie ein Sackträger an den Eastriverdocks, und kurzum: es war kein Bleiben mehr in der Herberge. Mißmutig gingen wir alle hinunter in einen großen Raum im Kellergeschoß, wo schöne Bilder und Sprüche an den Wänden hingen. Die waren alle ausgewählt nach dem Geschmack und den Bedürfnissen eines armen Auswanderers. Einer aber war darunter, den ich nur mit Kopfschütteln lesen könnte. Das war der von der Schlange: »Du wirst ihr den Kopf zertreten, und sie wird dich in die Ferse stechen.«
Den fand ich einigermaßen unpassend, aber später ist er noch manchmal wieder vor mir aufgetaucht wie ein Orakel.
Auf den langen Tischen lagen bunte Decken von gewürfeltem Muster, ganz wie zu Hause; es gab Kaffee und Milch, soviel man wollte und Schinken und gebackene Eier und Bratkartoffeln schon am frühen Morgen. So weit schien Amerika ein ganz erträgliches Land.
Später nahm der Hausvater jeden einzelnen der Ankömmlinge ins Gebet und erkundigte sich eingehend nach Name, Stand und Herkommen, welche Angaben er dann, Wahrheit und Dichtung, gewissenhaft notierte in einem mächtig großen Buch. Einen großen, stattlichen, militärisch straffen Mann, den man nicht erst zu fragen brauchte, um zu wissen, daß er einmal ein preußischer Offizier gewesen war, schickte er mit einem Zettel nach einem Hotel, wo sie Geschirrspüler brauchten, einen ehemaligen Apotheker orderte er als Gehilfen in einen Kramladen, aus einem Kontoristen machte er einen Friseurgehilfen, einen Zuckerbäcker suchte er bei den Erdarbeitern unterzubringen. »Für Sie hätte ich eine Stelle auf dem Lande«, sagte er zu einem Fabrikarbeiter. Als die Reihe an mich kam, waren die offenen Stellen schon alle vergeben, wenigstens soweit sie für mich in Betracht kamen. Etwas herablassend musterte er mich durch seine goldumränderten Brillengläser.
»Du sollst erst mal deine Hörner ablaufen«, sagte er nicht eben freundlich, »dann kannst du ja wieder kommen.«
Ich ging hinaus auf die helle Straße und schaute unschlüssig und nicht wenig verstört nach allen Seiten. – Die Hörner sollte ich mir ablaufen? Das hatten mir andere schon vorher gesagt und das war wohl auch richtig, aber – wie machte man so etwas? Wie machte man es, wie stellte man sich an, wenn man sich über Wasser halten wollte in dieser kalten, bösen Welt? Ich setzte mich auf eine Bank im Batteriepark und versuchte nachzudenken über diese tiefen und für mich immerhin sehr zeitgemäßen Fragen. Im Nu war die Phantasie wieder davongelaufen zu den grellen Sonnenflecken, die auf den Sandwegen tanzten, zu der weiten Bai, die blau und verlockend sich ausbreitete im weichen Lichte des frühen Tages und den qualmenden Schornsteinen am Horizont.
Während ich noch da saß und meine Augen weidete an den fremdartigen Bildern des fernen Landes und Amerika mir eigentlich zum erstenmal so recht gefiel, da kam der böse Geist dieses Landes selbst herbei und setzte sich neben mir auf die Bank. Ein ziemlich schäbig gekleideter Bursche mit unsteten Augen, herabhängendem Schnurrbart und zittrigen Händen, in denen der Alkohol rumorte. In diese vergrub er den wirren Haarschopf und stöhnte zum Steinerweichen. Dann schaute er eine Weile starr vor sich hin und dann wieder auf den glänzenden Goldring, zu dem seine rauhen Hände paßten wie der Rabe zu den Pfauenfedern. Plötzlich zog er ihn vom Finger und warf ihn mit zorniger Gebärde mitten in den Weg. Das gab mir einen Stich ins Herz. Manches traute ich dem Lande Amerika zu, aber daß man hier goldene Ringe zum Wegwerfen hatte, das konnte ich vorerst noch nicht glauben. Und also – so schloß ich – war ich hier im Begriff, einem tiefen Drama auf die Spur zu kommen. Ich bückte mich nach dem Ring und gab ihm den Schatz wieder zurück. Nun warf er ihn noch weiter weg mit einem greulichen Fluche. »Verdammt das Land Amerika!«
Das sagte er auf deutsch und betrachtete mich dabei mit so grimmiger Miene, daß ich nicht wagte, mich noch einmal nach dem Ring zu bücken.
»'s ist mein Verlobungsring«, fuhr er fort, »ein verdammt feines Stück Arbeit! Massiv Gold mit zwei Stempeln. Aber so falsch wie sie selber war! Kannst ihn haben für zehn Dollars. Nur fort mit Schaden, damit ich ihn nicht mehr sehe.«
Ich wußte nicht recht, was ich zu alledem sagen sollte, und so sagte ich vorerst gar nichts, während der andere immer lauter stöhnte.
»Well«, sagte er nach einer Weile, »hast du keine zehn Dollars? Sollst ihn haben für fünf.«
Auch darauf wußte ich noch nichts zu antworten, also ermäßigte er sein Angebot von fünf auf vier, drei, zwei und zuletzt sogar auf einen Dollar, immer mit entsprechenden Kunstpausen, die mit herzerreißenden Seufzern angefüllt waren. Schließlich wurden wir handelseinig bei fünfzig Cents. Mürrisch steckte er das Geld ein und wankte davon in einem derartigen Zustand der Zerknirschtheit, daß ich mich fast schämte meiner Kaltherzigkeit, die sich nicht entblödete, Kapital zu schlagen aus dem Elend der Mitmenschen. Trotz allem freute ich mich meiner Erwerbung. Von allen Seiten betrachtete ich den Schatz und ließ ihn in der Sonne glänzen. Der Anfang zum Business-Menschen war also gemacht. Rockefeller hatte wohl auch einmal nicht anders angefangen. Nun konnte es mir nicht fehlen in Amerika. Schon hörte ich die Dollarscheine in der Tasche knistern als Saldo des großen Geschäfts. So schnell mich die Beine trugen, rannte ich nach einem der orientalisch-amerikanischen Basare, wo es nach Motten und alten Kleidern duftete und in schmutzigen Buchstaben über der Türe zu lesen stand:
»Second Hand Store.«
Der dicke Herr, der da wie ein Pascha zwischen seinen Schätzen thronte, empfing mich nicht eben freundlich, und was er sagte, das stürzte mich aus allen Himmeln. »A feiner Ring! a nobler Ring! Werd' ich Ihne gäbe fünf Cents for de Ring.«
Tief gekränkt ging ich weiter durch die lärmenden Straßen. Der Weg zum Glück, zum Reichtum, zu den Dollars war wohl auch hier gepflastert mit Mühen und Enttäuschungen, und wenn man nicht untergehen wollte in diesem wilden Strudel, so mußte man es vorerst machen, wie anderswo auch: Arbeiten!
Das hatte ich noch nie getan in meinem jungen Leben. Damit würde ich indes schon fertig werden, wie die anderen auch. Das wußte ich. Und trotzdem füllte mich der Gedanke mit Abscheu. Von Büffeln, Mustangs und Indianern hatte ich geträumt, von dämmrigen Urwäldern und weiten Prärien unter der hellen Sonne, von einem großen, lustigen Lande, wo das Erlebnis an allen Ecken lauert und mit wilden Augen das Abenteuer durch die Gegend geht. Daß aber auch hier die Dinge so hart beieinander liegen, daß auch hier die Menschen sich alle Abend schlafen legten und morgens wieder aufstanden und tagsüber in irgendeiner Tretmühle verdorrten und überhaupt alles so kahl und nüchtern war wie anderswo auch, das konnte ich nicht ertragen!
So machte ich es denn wie alle anderen und verlegte mich auf das Studium der »New Yorker Staatszeitung«, die täglich in einem gewaltigen Umfang mit langen Reihen von ausgeschriebenen Stellen erscheint. »Die muß man um drei Uhr morgens lesen«, sagten die Kenner der Verhältnisse. »Es sind die frühen Vögel, die die Würmer fangen. Wer da nicht schon gleich beim Erscheinen am Tor steht, der kommt immer zu spät.«
So stand ich in jener Nacht schon um Mitternacht in der langen Reihe und wartete geduldig mit den anderen. Es war eine kalte, rauhe, unfreundliche Nacht, wie ich sie noch nie zuvor und selten nachher erlebt habe. Immer stiller wurde es in den Straßen; so still und unheimlich, wie es nur immer sein kann, wenn zwischen den kahlen Mauern der hastige Atem der Großstadt erstirbt. Matt nur schimmerten die elektrischen Lampen durch die dicken Frühnebel, die eiskalt herunterrieselten zwischen den schwarzen, hohen Wolkenkratzern und wie die Gespenster hockten auf dem nassen Asphaltpflaster.
Immer mehr Menschen kamen herbei und reihten sich an das Ende der langen Schlange. Hungrige und wohlgenährte, meistens aber hungrige. Schäbige und wohlgekleidete, meistens aber schäbige. Alle aber mit jenem müden Blick, den man nur bei denen finden kann, die um Mitternacht die Arbeit suchen. Und wir standen und warteten mit aufgeschlagenem Rockkragen und den Händen in den Hosentaschen und traten von einem Fuß auf den anderen vor lauter Kälte und Ungeduld, und es wollte und wollte nicht drei Uhr werden. Die einzigen, die etwas vorstellten in dieser Umwelt der Ärmlichkeit, waren die Schutzleute, die schönen, gutgenährten amerikanischen Schutzleute mit den zierlichen Gummiknüppeln, die für Ordnung sorgten.
Noch einige Minuten fehlten bis zur vollen Stunde. Alle spitzten die Ohren wie die Raubtiere bei der Fütterung. Es fiel mir auf, wie viele Raubtiere unser Herrgott doch in seinem Garten hat und wie schlecht sie oft gefüttert werden.
Dann endlich war es so weit. Drei Uhr morgens ist die Geburtsstunde des neuen Tages in Neuyork. Um diese Stunde flattern – noch naß von der Presse – die ersten Zeitungen über die Straße. Die erste Sensation fliegt brüllend durch die Gassen und hört nicht mehr auf zu brüllen, bis in die späten Nachtstunden. Um diese Stunde ist es auch, wo für die im Hinterhause der Großstadt der Kampf um's Dasein beginnt.
Da stand ich nun mit der großen Zeitung in der Hand und betrachtete mir die da ausgeschriebenen nagelneuen Stellen nicht anders wie einer, der eine leckere Speisekarte mustert.
»Porter gesucht für Saluhn. – Janitor für Boardinghaus. – Mann zum Barrelsfixen. – Boy mit Bycicle für Deliverystore. – Zweite Hand an Kandies. – Smarter junger Mann, der auch Schuhe scheinen und Disches waschen kann, für Hotel« usw.
Das war alles deutsch, aber was wohl so eine »zweite Hand an Kandies« zu tun hätte? fragte ich einen umherlungernden Tagedieb. »Was wird er wohl zu tun haben?« sagte er mürrisch, »er muß dem Boß eine Hand reichen beim Mixen; er muß die Boxes muhven; er muß die Tins putzen, die Disches waschen, die Office sweepen –«
Der Rest der Rede ging unter in dem Lärm der Straße.
Zwei Tage, bzw. zwei Nächte lang versuchte ich mein Glück auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege. Dann gab ich es auf in Verzweiflung. Als letzter Rettungsanker blieb nur noch das Stellenbüro von Castle Garden. Das runde, zirkusartige Gebäude, in dem vor Zeiten das Auswanderungsamt untergebracht war, ist täglich das Ziel von Hunderten und Tausenden armer Teufel. Dicht gedrängt sitzen sie auf den langen Bänken und warten. Lange, geduldige Stunden. Es soll Leute geben, die dort schon seit Jahrzehnten warten.
Ich setzte mich neben einen dicken, wohlgekleideten Mann, der einen sehr soliden Eindruck machte.
»Schon lange von drüben?« fragte er herablassend.
»Drei Tage.«
»So, so.«
Weiter sagte er nichts.
Am Ende des Saales saß auf einem Katheder ein Mann, der mit schnarrender Stimme die einlaufenden Stellen ausrief.
»Geschirrwascher für Hotel!«
Ein Dutzend Hände flogen in die Höhe.
»Hausknecht für Wirtshaus!« Wieder ein paar Dutzend Hände.
»Nachtwächter für Fabrik!«
»Mehrere kräftige, ungelernte Leute für Landarbeit.«
Feierliche Stille. Kein Mensch meldete sich.
»Ja«, sagte der dicke Mann, der neben mir saß, »dafür wird sich wohl keiner finden! Die Sorte verhungert lieber auf dem Straßenpflaster, als daß sie sich bei den Bauern die Hände schmutzig machen. Steifer Hut, Stehkragen und was sonst noch, aber keinen roten Cent in der Tasche. Das ist so die Mode heutzutage. Ich wette einen Dollar, daß die Hälfte von den Burschen noch nicht das Schlafgeld für die Nacht zusammen hat.«
Dann fing er an zu erzählen von Amerika und den Amerikanern. Allerlei Weisheiten, die ich begierig aufsaugte wie lauteres Evangelium. Sein Vater, sagte er, sei drüben ein Bäckermeister gewesen und er sollte später das Geschäft übernehmen. Aber da es ihm zu wohl geworden war, »machte« er nach Amerika. O ja, es sei ihm nicht immer schlecht gegangen! Zuweilen habe er plenty Geld gemacht. Zuweilen auch nicht. Das sei so üblich hierzulande. Er habe eine Farm gehabt in Minnesota und einen Laden in St. Louis. Aber dann habe er eine amerikanische Frau genommen, und das hätte nicht gut getan. »So eine amerikanische Frau, mußt du wissen, ist eine Lady und mit der ist nicht zu spaßen. Du mußt ihr morgens das Frühstück ans Bett bringen und abends mußt du im Boardinghaus essen, weil sie nicht kochen mag.«
Da war aber einer darunter – ein verwegen dreinschauender Bursche mit schwarzem Haarschopf und kohlschwarzen Augen hinter buschigen Augenbrauen –, der alles besser wußte als die anderen. Amerika, so meinte er, sei nicht schlechter als andere Länder. Die Hauptsache sei das System. »Wer das beizeiten erfaßt hat«, so meinte er, »der spart sich viele Umwege und vielen unnützen Ärger. Ich selbst habe zehn Jahre gebraucht, um das herauszufinden. Ob ich es kenne, das Leben! Ich habe Schuhe ›gescheint‹ und Disches gewaschen und mit den Italienern in den Straßen gearbeitet. Ich habe in Chikago mit Patentmedizin gehandelt und den Farmern in Missouri Bilderbücher aufgeschwatzt mit dem verstorbenen Präsidenten Mac Kinley. Ein Sündengeld konnte man dabei verdienen, aber am Ende habe ich doch wieder die Nickelstücke an den Straßenecken erfochten und in den kalten Winternächten auf den Bänken im Zentralpark geschlafen.
Da sagte ich mir eines Tages: ›Jim, so kann das nicht weitergehen!‹ Ich gab meinem Herzen einen Stoß und bewarb mich um eine Stelle in einer Gießerei. Es war eine kleine, schmutzige Gießerei drüben in New Jersey. Sie wollten mich nicht nehmen, weil sie ohnehin schon mehr Leute hatten, als sie brauchten. Aber ich habe darum gebettelt mit Tränen in den Augen, bis sie mich anstellten für einen Dollar im Tag. Ein lumpiger Dollar! Aber ausgehalten habe ich und meine Zeit abgewartet mit der Geduld eines Heiligen. Vier Monate lang. Neben mir in der Werkstatt arbeitete ein anderer Geselle für anderthalb Dollars täglich. Er war ein großer, gutmütiger Junge, der mir täglich sein halbes Frühstück gab. Ein dutzendmal im Lauf des Tages klopfte ich ihm auf die Schulter: ›Hallo, Billy! How are you?‹ Aber nach Feierabend, wenn ich die Werkstatt auszukehren hatte, da machte ich sein Werkzeug stumpf und pfuschte noch einmal mit der Feile an dem Eisen, das er eben gefeilt hatte. Und eines Tages bekam Billy den Sack, und ich verdiente die anderthalb Dollars. Armer Billy! Ich habe mich oft gewundert, was aus ihm geworden ist. Aber kann ich dafür? Wenn ich es nicht getan hätte, hätt's ein anderer getan. Das System hat ihn umgebracht.
»Den Meister«, fuhr er fort, »mochte ich gar nicht leiden. Er konnte nur schimpfen und fluchen. Den ganzen Tag ging es ›hurry up! get a move on you!‹ Ich haßte ihn wie eine Schlange. Aber wenn ich ihn kommen sah, machte ich eine Verbeugung bis zum Boden und lächelte. Und wenn er uns bis 10 Uhr in der Werkstatt hielt, so biß ich die Zähne zusammen und blieb noch länger, wenn er es verlangte. Und wenn die Kameraden murrten, so sagte ich ihnen, daß Mr. Jones ein Gentleman sei und daß ich noch nie einen so guten Meister gehabt hätte. Aber eines Tages hängte ich ihm eine häßliche Geschichte an und verklatschte ihn beim Boß. Und heute bin ich selbst Meister! – Siehst du, das ist das System. Was Ehrlichkeit! Was Rechtschaffenheit! Ammenmärchen für die kleinen Kinder! Plunder für die Narren! Die Hauptsache ist, daß man mit allen vier Füßen auf dem Boden steht.«
Am Nachmittag kam er wieder und klimperte mit den Dollars in der Tasche. »Komm' mit«, sagte er zu mir, »wir wollen eine kleine Reise durch den Hafen machen. Ich will dir zeigen, wo es etwas zu sehen gibt.«
Wir gingen zusammen hinüber nach Hoboken.
Man hat diesen Stadtteil oft die Bremer Vorstadt Neuyorks genannt. Man könnte ihn ebensogut eine Hamburger Vorstadt nennen. Denn die Stimmung ist ganz Sankt-Pauli. Kneipen, Spelunken, Tanzlokale, billige Kinotheater und landfeine Matrosen. In den hellerleuchteten Bars waltet eine schimmernde Pracht von leuchtenden Glaskristallen, glitzernden Spiegeln und kitschigen Bildern von Frauenzimmern in allen Stadien der Nacktheit.
Der Mann mit dem weiten Gewissen schleppte mich von einer Bar in die andere. Wir tranken Bier und Whisky und Portwein und Sherry alles durcheinander und er zahlte alles, nicht nur für mich, sondern oftmals auch für das ganze Haus. Er warf mit den Dollars nur so um sich. »Das ist das Leben!« sagte er, indem er mit den dünnen Händen durch den Haarschopf fuhr, der noch viel dünner war.
Offenbar war er darauf aus, alle Vergnügungen Hobokens systematisch durchzukosten. Sein bleiches, bartloses Gesicht war vom Wein gerötet, und in seinen müden Augen hatte der Alkohol ein Feuer entzündet. Mit dem besten Willen kann ich nicht mehr sagen, wo er mich an jenem Abend überall hingeführt hat. In eine Schießhalle, ein Tanzlokal, eine Waffelbude, einen Billardsaal, in ein Panoptikum. Schließlich landeten wir in einer chinesischen Teestube mit geblümter Tapete und staubigen Plüschsofas, auf denen gepuderte, geschminkte und bemalte Frauenzimmer saßen. An der Decke hingen Lampions und Girlanden, chinesische Fächer und anderer Firlefanz. Ein Jüngling in schwarzem Gehrock, schwarzen Locken und einem kreideweißen Gesicht spielte auf einem Klavier. »Kurasche!« ermunterte der Mann mit dem System, »ich zahl' alles!«
Ich aber hatte keine »Kurasche«. Und überhaupt – dieser systematische Mensch war mir unheimlich. Sobald mein neuer Bekannter außer Sicht war, benutzte ich die Gelegenheit, um mit großen Schritten in die Nacht hinaus zu verschwinden.
Es war draußen schon ganz still. Über den Docks brannten die Bogenlampen und warfen ein weißes Licht auf das Gewirr der Schienen. Fern im Osten, hinter den Schornsteinen von Jersey City, begann eben der Tag zu grauen. Arbeiter eilten geschäftig vorüber mit ihren Frühstückseimern. Die Dampfkräne begannen sich rasselnd in Bewegung zu setzen. Der Pulsschlag der Arbeit durchzitterte das erwachende Neuyork.
Ja, Arbeit! Hier redeten alle nur von Arbeit. Vom Arbeiten und vom Dollarmachen. Aber wie, beim Kuckuck, sollte man es anfangen, um diese Arbeit zu finden? Da lief ich nun schon fünf Tage lang in Neuyork herum, ohne eine Spur davon zu entdecken. Und die Dollars waren inzwischen auch nicht mehr geworden. Oft saß ich auf den schmutzigen Bänken im Arbeitsbüro und wartete mit den anderen. Aber es wollte und wollte sich nichts finden. Die Porter-, Janitor- und Dischwascherstellen wurden stets von anderen weggeschnappt, die natürlich alle viel »smarter« waren als ich, und für eine Stelle auf dem Lande wagte ich mich nicht zu melden, weil ich fürchtete, damit den Spott der ganzen Versammlung herauszufordern.
Ich müßte jedoch lügen, wenn ich behaupten wollte, daß diese Mißerfolge mir besonders nahe gegangen wären. Vorderhand war ich ja für einen Dollar im Tag gut aufgehoben im Emigrantenhaus, und im übrigen – so dachte ich mir – würde sich schon etwas finden. Glücklicher Leichtsinn der Jugend! Täglich machte ich große Streifzüge durch Neuyork. Ich bestaunte die großen wildwestlichen Büffel im Zentralpark und bahnte meinen Weg durch das Gewühl der Börsenjobbers in Wallstreet vor J. Pierpont Morgans Haus. Einmal stand ich oben auf der Brooklyn-Brücke und schaute viele Stunden lang hinunter auf das wimmelnde Leben im Hafen.
»Time is money.« Ich war noch nicht Amerikaner genug, um das Wort zu kennen. »Kommt Zeit, kommt Rat.« Bei diesem Gedanken beruhigte ich mich immer wieder, und Amerika hätte mich sicherlich über kurz oder lang vis-à-vis de rien gesehen, wenn nicht ein launischer Zufall zu Hilfe gekommen wäre. Als ich eines Tages gedankenlos durch die Greenwichstraße schlenderte, kam ein dicker Mann in Hemdsärmeln und ohne Hut hinter mir her gekeucht.
»Hallo, Landsmann! Suchscht Arweit?« rief er atemlos. Ehe ich wußte, wie mir geschah, hatte er mich schon in eine Kneipe geschleppt, die den in dieser Umgebung etwas fremd anmutenden Namen »Zur Stadt Balingen« trug. Dort traktierte er mich mit säuerlichem, abgestandenem Bier und ließ dazwischen ein wahres Trommelfeuer von Fragen auf mich niederprasseln. »Schon lang in Amerika? Bischt a Schwob? Was hescht g'lehrt? Was kannscht schaffa?«
Ja, das war es eben! Eigentlich hatte ich gar nichts »gelehrt«, das mir etwas zunutze sein konnte, und mit dem »schaffa« hatte ich es noch nicht versucht.
»Oh!« meinte er, als ich ihm sagte, daß ich am liebsten aufs Land ginge, »da kannscht gleich a Dschob kriege! Was die Farmer sind, die brauchet immer Hand.«
»Ich möchte aber nicht so weit von der Stadt.«
»Nein, ganz nah! mit der Streetcar kannscht jeder Dag in d' City fahra.«
Es war also alles in schönster Ordnung. Der Boß machte sich gleich auf den Weg zu der Kundschaft und schon nach einer halben Stunde kam er wieder zurück mit einem Farmer, der mit seinem langen Ziegenbart und der rasierten Oberlippe aussah wie der leibhaftige Onkel Sam. Eine ganze Weile beschaute er mich mißtrauisch von oben bis unten etwa so, wie man eine neu gekaufte Kuh betrachtet.
»Well«, meinte er bedächtig, »I guess, I reckon –«
Und dann besprachen sich die beiden in einem amerikanischen Englisch, von dem ich nur das wenigste verstand. Der liebe Landsmann erzählte dem Farmer, daß ich auf einer Farm aufgewachsen wäre. Ich könnte Wagen fahren und Pferde einschirren. Ich könnte Mais hacken und Kartoffeln häufeln und mit der Heugabel hantieren wie nur einer. Nur Kühe melken könnte ich nicht, denn das besorgten in Europa die Frauen. Der Farmer hörte bedächtig zu und sagte zuweilen: »Allright, very fine –.« Und derweilen saß ich großes Grünhorn dabei und hatte nur eine halbe Ahnung von dem ganzen Komplott. Es war wie ein Kuhkauf. Der liebe Landsmann bekam einen Fünfdollarschein, und der Farmer nahm mich mit hinüber nach Long-Island-City, wo wir den Schnellzug bestiegen. Bald lag Neuyork weit hinter uns.
Aber hatte er nicht gesagt, die Farm läge am Rande der Stadt und wäre mit der Straßenbahn zu erreichen?
In rasender Fahrt eilte der Zug durch das flache Land, Städte und Dörfer tauchten auf und verschwanden, und immer noch saß der Farmer mir gegenüber und betrachtete mich wieder und wieder und machte keine Miene zum Aussteigen. Wir kamen in eine schöne Gegend mit saftigen Wiesen und hübschen, ganz in Grün gebetteten Dörfern. In der Ferne schimmerte das Meer.
»Amagensett«, rief der Schaffner. Das war die Endstation. Der letzte Ort auf Long Island.
Durch den tiefen Sand einer breiten, von mächtigen Ulmen beschatteten Straße, vorbei an einem Schild, an dem in riesigen Lettern zu lesen stand: »Nach Neuyork 120 Meilen«, marschierten wir nach dem etwas abseits gelegenen Dorfe.
Wie still hier alles war! Nur die Vögel sangen in den Hecken. Der Seewind rauschte in den Baumkronen, und die Grillen zirpten leise am Wegrand. Vom Dorfe her kam ein Wagen mit Milchkannen herangetrabt.
»Hallo, Mr. Mulford«, rief der Farmer auf dem Wagen im Vorüberfahren, »schön Wetter heute!«
Und dann, als er meiner ansichtig wurde, hielt er unvermittelt den Wagen an.
»Grünhorn?« meinte er, indem er mich mit kritischem Blick von oben bis unten musterte.
Und dann standen sie noch eine gute Stunde mitten auf der Straße beisammen und redeten über das Wetter, über die Getreidepreise, über den neuen Zolltarif, über die Kartoffelkäfer, über das neueste Patenthühnerfutter und wohl auch über mich, so viel ich ausmachen konnte, denn der andere klopfte mir alle Augenblicke wohlwollend auf die Schulter.
Breit und behäbig, wie ein deutsches Pfarrhaus, lag die Farm hinter den uralten Ulmen. Da es gerade Sonntag war, saßen alle Hausbewohner sonntäglich geputzt vor der Tür und hielten Siesta unter den Bäumen oder spielten Mühle auf der Haustreppe. Ein etwa 14 Jahre alter Junge, namens Charley, war eben dabei, mit einem Luftgewehr nach der Scheibe zu schießen. Er traf fast immer ins Schwarze und forderte mich energisch auf, es ihm gleichzutun. Ich aber – wie schon so oft – schoß immer daneben, worüber der andere sich anscheinend unbändig freute. Ja, da hatte er einmal einem blamierten Europäer gezeigt, was ein Yankee kann! Noch heute höre ich das Indianergeheul, mit dem er jeden Fehlschuß begleitete: »You never headed!« – Nix getroffen!
*
Nein, ich kann es nicht über mich bringen, nun auch noch im einzelnen von den kommenden Wochen zu erzählen. Die Geschichte von den zerschundenen Knochen, von dem schmerzenden Rücken und den blutigen Händen. Von den grauen, düsteren Morgen und den langen, langen Arbeitsstunden in der glühenden Sonnenhitze. Wer noch nie um 3 Uhr morgens einen bocksbeinigen Maulesel angeschirrt hat, der weiß nicht, was harte Arbeit ist!
Die Hauptarbeit war draußen auf dem Maisfeld, wo eben die jungen Pflanzen aufgegangen waren und man mit dem Pflug zwischen den endlosen Reihen hingehen mußte. Eine eintönige, langweilige Arbeit. Die Hitze flimmerte über der Ackerkrume, die Sandkörner tanzten in der heißen Luft und es wollte und wollte nicht Mittag werden. Der alte Hannibal – das war der Gaul – trabte immer geradeaus wie eine wesenlose Maschine. Er hörte nicht auf die Spatzen, die in den Zaunhecken lärmten und nicht auf das Lied der Lerchen in der blauen Sommerluft. Längst schon war er abgestumpft gegen alle äußeren Eindrücke. Arbeit – Arbeit – Dollars machen.
War man mit dem Pflügen fertig, so mußte man mit der langen Hacke das Unkraut weghacken, das dicht unter den Stauden wucherte. Und das war noch langweiliger als das Pflügen. Denn wenn man an einem Ende des Feldes mit der Arbeit fertig war, wucherte das Unkraut schon wieder fußhoch am anderen. Eine richtige Tretmühle. Hätte ich Geld gehabt, so wäre ich gleich am ersten Tage auf und davon gelaufen. Aber so hieß es die Zähne zusammenbeißen.
Der Farmer hatte natürlich bald herausgefunden, wie es in Wahrheit um meine landwirtschaftlichen Kenntnisse stand. Er machte ein saures Gesicht, aber ich muß ihm nachsagen, daß er sich wie ein Mann in das Unvermeidliche gefunden hat und sich fortan die redlichste Mühe gab, mich in die Geheimnisse der Landwirtschaft einzuweihen, obwohl ich mich oftmals dabei anstellte – nun ja, wie sich nur ein Grünhorn anstellen kann, das sein Lebtag noch keine harte Arbeit getan hat. Es kamen Tage, an denen ich nichts lernen und begreifen wollte. Tage, an denen ich an mir selbst verzweifelte. »Nicht einmal zum Bauernjungen bist du zu gebrauchen«, pflegte ich mir zu sagen.
Langsam war eine Woche um die andere vergangen. Draußen auf den Feldern begann der Mais sich goldgelb zu färben, und über das hohe Gras auf den Wiesen huschte es wie Silber, wenn der heiße Sommerwind darüber hinstrich. Das war die Zeit der Heuernte. – Die Mähmaschine surrte. Die Blumen verdorrten, und der süße Duft von neugemähtem Heu lag in der Luft. Die Grillen zirpten auf der Wiese, die Frösche quakten in dem nahen Teiche, und die aufgewirbelten Heusamen tanzten in der heißen, flimmernden Atmosphäre. Zuweilen stand ein grollendes Sommergewitter am Himmel und scheuchte die Krähen auf, die aufgeregt schwatzend auf den Bäumen und an den Zaunhecken saßen. »Ein bißchen fix mit eurer Arbeit!« schienen sie zu sagen, »es wird ein Regenwetter geben, und man muß Heu machen, solang die Sonne scheint.«
Als mit dem Fortschreiten der Ernte die Arbeit sich immer mehr häufte, kam ein halbes Dutzend Landarbeiter auf die Farm. Es waren seltsame Menschen mit roten Haaren und schwarzen, unruhigen Augen. Und sie redeten ein Englisch, von dem ich nur das wenigste verstand. Der Farmer behandelte sie schlecht. Er gab ihnen das Mittagessen im Stall bei den Pferden und überwachte ihre Arbeit nach einer Art Taylor-System. Keinen Augenblick ließ er sie aus den Augen, und wenn einmal einer von ihnen sich etwas viel Zeit nahm, um seine Pfeife zu stopfen, so zog er das Scheckbuch, das er immer bei sich führte, schrieb sein Guthaben aus und schickte ihn ohne ein weiteres Wort zum Teufel.
»Es sind Irländer«, sagte er zu mir, »mit denen darf man sich nicht gemein machen, sonst glauben sie am Ende gar, sie seien so gut wie unsereiner.«
Und die Herren Irländer mochten wohl dasselbe von uns denken. Sie hielten sich stets abseits und redeten nicht mehr als unbedingt notwendig, weder mit mir, noch mit einem anderen von der Farm. An einem Sonntagnachmittag aber kam einer von ihnen an der Farm vorbei und lud mich ein, mit ihm zu gehen. »Es ist heute Sankt-Patriks-Tag«, sagte er, »da gibt's ein großes Fest im Dorfe.« Er führte mich in einen großen Saal, in dem Hunderte von Männern, Frauen und Kindern im bunten Durcheinander saßen, alle mit grünen Schleifen und Kleeblättern geschmückt.
Die Sankt-Patriks-Feier wurde ein großer Erfolg. Aber sie hatte für mich ein böses Nachspiel. Als nämlich der Farmer erfuhr, wo ich gesteckt hatte, wurde er im höchsten Grade ungnädig und sagte mir, ich könne gefälligst zum Teufel gehen, wenn er noch einmal erfahre, daß ich mich mit dem Pack herumtreibe. Vor allem konnte er den Leuten das Whiskytrinken nicht vergessen, denn er war, wie die meisten Farmer Neuenglands, ein fanatischer Puritaner.
Doch ich will damit nichts Böses gesagt haben über den alten Mr. Mulford. Er behandelte mich gut trotz aller Tyrannei. Er mochte wohl gedacht haben, daß er an dem Grünhorn eine große Stütze in seiner Wirtschaft großziehen könne, denn er verwendete keine geringe Mühe darauf, mir die Vorzüge des Farmerlebens auf Long Island ins rechte Licht zu setzen. Im Winter – so sagte er – da sei es schön. Da gebe es fast nichts zu arbeiten, und im nächsten Sommer wollten wir uns schon so einrichten, daß uns die Arbeit nicht über den Kopf wachse.
In mir aber rumorte die Reiselust, und ich zermarterte meinen Kopf mit Plänen, wie ich es wohl am besten anfinge, um mit Anstand wieder fortzukommen.
»Es ist eben nicht mehr viel Arbeit auf der Farm«, sagte ich eines Tages, »wenn der Monat aus ist, werde ich weiter gehen.«
»Oho! Wo willst du denn hin?«
»Nach Westen.«
»So, du hast nicht genug zu tun? Spann man gleich die Pferde an. Wir wollen in den Wald fahren und eine Ladung Holz holen. Morgen werden wir die Zäune ausbessern, übermorgen bauen wir einen Stall für die Hühner und dann – keine Arbeit! Was! Es gibt immer etwas zu tun, wenn man sich danach umsieht.«
Wir holten das Holz, wir flickten die Zäune und bauten den Stall, und es gab immer noch Arbeit. – Nein, es war nichts mit dieser Ausrede! Ich brachte andere Gründe vor, bis ich eines Tages den Stier bei den Hörnern packte und ganz amerikanisch erklärte, daß ich an dem und dem Tag um so und so viel Uhr nach Neuyork und von dort nach Texas reisen würde.
»Well«, meinte der Farmer mit bedächtigem Streichen seines Ziegenbartes, »geh' du nach Texas. Oder meinetwegen nach dem Nordpol. Es wird eine Zeit kommen, wo du noch einmal an Long Island zurückdenken wirst. Denn Amerika – ja es ist ein feines Land – das feinste Land der Welt – Gods own country – aber es ist auch ein interessantes Land – manchmal zu interessant, namentlich für die Grünhörner in Texas.«