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Der alte Nusser gehörte so sehr zum städtischen Inventar, daß man sich ohne ihn eine Sitzung auf dem Rathaus nicht denken konnte; namentlich konnte er es nicht. Als früherer Obermeister der Krämerzunft, den man allerdings schon seit zehn Jahren ad acta gelegt hatte, war er fünfundvierzig Jahre lang im Großen Rat der Reichsstadt gesessen und hatte jeden Vorschlag, der Geld kostete und nicht von seiner Zunft ausging, bekämpft. Hierdurch erwarb er sich bei allen stimmberechtigten und steuerzahlenden Bürgern Achtung und Beliebtheit, so daß es sich ganz von selbst verstand, ihn in den Magistrat herüberzunehmen, als Ulm bayrisch und der Große Rat aufgelöst wurde, und in den provisorischen Gemeinderat, seitdem es württembergisch geworden war. Im Grund war er ein gutmütiger, braver Mann, sonderlich wenn er in der Ofengabel saß, wo er seit bald sechzig Jahren seinen bestimmten Platz behauptete, gab sich aber gern das Aussehen unzufriedener Grämlichkeit, sobald er glaubte amtlich tätig sein zu müssen. Dieses äußere Zeichen der Würde betonte er schärfer, seitdem er halb taub geworden und wegen geschwollener Füße nur noch in Filzstiefeln in den Sitzungen erscheinen konnte, wo er an der Spitze aller derer stand, welche die alten guten Zeiten nicht vergessen konnten. Auch verzieh man ihm Bemerkungen in Altulmer Deutsch, die man einem jüngeren Mann nicht hätte hingehen lassen, die aber bei ihm um so natürlicher klangen, als er sämtliche Ratsherren und Beamte der Stadt mit Du anredete; denn die Herren, die nicht seine Schulkameraden gewesen, waren ohne Ausnahme Söhne und Enkel von solchen. –
Mit zwei längeren Pausen hatte er den Marktplatz gekreuzt, stand, auf zwei Stöcke gestützt, vor dem Rathaustor und hielt, um Atem zu schöpfen, eine kleine Vorversammlung ab, eher er sich an die Aufgabe machen konnte, die Treppe zu ersteigen. Da er mit seiner wassersüchtigen Beleibtheit den Eingang sperrte, hatte er bald ein kleines Publikum um sich versammelt, dem er seine Ansichten über die Weltlage und die bevorstehende Sitzung mitteilte.
»An Schneid fehlt's ihm, dem Bürgermeister, an Schneid!« rief er ärgerlich den zwei Herren zu, die ihn über den Platz geleitet hatten und nun ebenfalls stehen blieben. »Ich hab's schon vor zehn Jahren gesagt: man hätte sich wehren sollen. Wären wir damals nicht bayrisch geworden, so müßten wir heut nicht württembergisch sein. Aber da war kein Schneid, nicht oben, nicht unten, und seitdem heißt es: zahlen, zahlen, zahlen!«
»Das war wohl früher auch nicht anders«, seufzte Herr Stötzlen, der große Leinwandhändler von der ›Unteren Bleiche‹. »Ich spüre die Neunziger noch in allen Gliedern.«
»Nun ja«, gab Nusser zu, »aber wir hatten wenigstens unser eignes Ulmer Geld, unser gutes Maß und Gewicht. Jetzt soll wieder alles umgekrempelt werden. Kaum ist man an das bayrische Seidel gewöhnt, heißt's Württemberger Schoppen saufen. Der Schlosser Muntz in der Wengengasse macht seit drei Wochen nichts als neue Gewichte für die Ortswaagen in Stadt und Land. Der kann lachen; aber wer zahlt's?«
»Und das wäre noch das Leichteste von allem, die Gewichte«, sagte Herr von Besserer, über den Eifer des dicken Krämers halb lachend.
»Das sag' ich auch«, fiel dieser heftig ein. »Aber trotzdem – die neuen Gewichte schlagen bei mir und meiner Frau dem Faß den Boden aus. Immer was Neues, immer was Neues! Einen neuen König haben wir wieder, ein neuer Oberregierungsrat und Oberamtmann ist auch schon da, neue Nachtwächter sollen wir auch einsetzen, und heute, hör' ich, will der Schad, der neue Bürgermeister, darüber beraten lassen, wo wir das Geld für die neuen Gewichte herkriegen sollen. In zehn Jahren – ich erleb's noch – sind wir vielleicht badisch oder gar französisch, und dann heißt's wieder: neue Landesherren, neue Oberregierungsräte, neue Nachtwächter, neue Gewichte. Hol's der Kuckuck, Stötzlen! Meine Frau backt ihre Lebkuchen nach Altulmer Gewicht und Rezept; dabei soll's bleiben in meinem Haus und könnt's auch in der Stadt bleiben, wenn der Schad Schneid hätt'. Den Schwarzmann sollten wir haben.«
»Mit dem ist's aus«, sagte Stötzlen schmunzelnd. »Er läuft herum wie sein eignes Gespenst, seitdem die Württemberger eingerückt sind.«
»Und geschieht ihm recht«, meinte Herr von Besserer. »War kein Ulmer vom alten Holz; wollte immer oben hinaus, ging's mit uns nicht, sollt' es mit den Bayern gehen.«
»Pst!« machte Stötzlen. »Dort oben steht er und kann jedes Wort hören. Er hat seine Ohren, der Schwarzmann, man mag sonst sagen, was man will.«
»Und er hält fest, was er hat«, meinte Nusser nickend. »Der einzige Ulmer, der Geld verdient hat in diesen Zeiten; das muß man ihm lassen. Aber es ist wahr: neue Gewichte würde er alle zehn Jahre machen, wenn ihn jemand dafür bezahlte.«
»Laßt Euch den Schnaufer nicht nehmen, Nusser«, mahnte Herr von Besserer. »Ich glaube nicht, daß wir heut schon an die neuen Gewichte kommen. Der junge Baldinger, der Doktor, will eine Rede halten.«
»Der Schorschle? Schon wieder!« brauste Nusser auf. »Das ist auch einer von den jungen, die's Maul nicht halten können. Immer was Neues, immer was Neues! Was will er denn jetzt?«
»Weiß nicht!« versetzte Besserer. »Er tut wundervoll wichtig und hat schon gestern mit Schad darüber konferiert.«
»Dann liegt die Geschichte vornweg in der Donau wie ein toter Hund, und das freut mich«, sagte Nusser mit Entschiedenheit. »Ich bin dagegen. Natürlich wird es wieder heißen: zahlen, zahlen! Das hab' ich satt, und ich weiß keinen ehrsamen Bürger in Ulm, der's nicht auch satt hätte. Den Stuttgarter Herren – die sind's gewohnt von altersher – sollt' es einer beibringen; aber der Schad hat kein Schneid.«
Der Krämer machte Anstalt, sich auf dem Treppenabsatz, den sie erreicht hatten, niederzulassen.
»Kommt, Nusser, kommt!« drängte Besserer. »Sie haben schon angefangen.«
»Ich hör' den Ratsschreiber das Protokoll verlesen«, sagte Stötzlen.
»Laßt ihn schreien; steht doch nichts drin«, entgegnete Nusser, ließ sich jedoch bewegen, weiterzugehen. Mühsam kamen sie um einige Stufen vorwärts. Dann blieb er wieder stehen, weil einer seiner Filzstiefel zurückbleiben wollte. Indessen klang jetzt eine klare, eindringliche Stimme durch das Treppenhaus.
»Donnerkeil!« rief Nusser, »da ist schon der Baldinger und quiekt sich die Lungen aus. Jetzt bin ich doch neugierig, was er wieder wissen will, der Gelbschnabel. Macht sich viel zu mausig, weil er mit seines Onkels Geld ein paar Jahre in der Welt herumgefegt ist. Da kommen sie dann heim und wollen uns sagen, wie man die gute Stadt regiert. Ist uns ja nichts mehr zu regieren übriggeblieben.«
Zornig raffte er sich auf und erreichte, von seinen beiden Freunden geschoben, das Ende der Treppe. Als sie in den Rathaussaal traten, war die Sitzung in der Tat in vollem Gang. In dem niederen, seines mittelalterlichen Schmucks beraubten Gemach, in dem ein Halbdunkel herrschte, das die braungetäfelten Wände und eine gewölbte Holzdecke noch mehr verdüsterte, saßen an einer Tafel in Hufeisenform die Väter der Stadt in behaglichen Lederstühlen, sichtlich nicht gewillt, sich zu einer aufregenden Beratung hinreißen zu lassen. Einige drohten bereits in nachdenklichen Halbschlummer zu versinken, dem Bürgermeister Folge leistend, der mit fast geschlossenen Augen dasaß. Doch war dies nur Schein, denn er hörte alles, was im Saal vorging, und pflegte seine Kollegen im Rat durch ungelegenes Erwachen zu überraschen, wenn sie einen ihren eigensten Interessen nutzbringendern Beschluß gerade geborgen zu haben glaubten.
Neben ihm saß aus alter Gewohnheit, aber nicht in gewohnter Haltung der Rat Schwarzmann, der hier noch vor kurzer Zeit die erste Rolle spielte und von allen, die ein Anliegen vorzubringen hatten, eifrig umworben war. Er hatte in kurzer Zeit auffallend gealtert, sah zwar immer noch etwas hochmütig drein, zeigte aber nur zu deutlich, wie sauer es ihm fiel, und niemand schien sich darum zu kümmern. Das war dem eiteln Mann, der im Begriff gewesen war, den Gipfel seines Ehrgeizes, den Bürgermeisterstuhl, zu erreichen, besonders peinlich, und Pläne, wie er bei dem neuen Herrn des Landes die verlorene Stellung wiedergewinnen könne, beschäftigten ihn auch jetzt, so daß er kaum hörte, was um ihn her vorging.
Bescheiden genug vor einem der untersten Plätze des Hufeisens stand der junge Baldinger, der in lebhafter, fließender Sprache sichtlich etwas weit ausgeholt hatte, um seine Hörer auf ein ungewohntes Thema vorzubereiten, das ihm offenbar am Herzen lag. Das jugendliche Feuer, welches gelegentlich den gleichmäßigen Fluß seiner Rede durchbrach, war in diesem Saal nichts Alltägliches. Da und dort richtete sich einer der Halbschlummernden auf, um seinen Nachbarn anzusehen, als wolle er fragen, ob der Ruhestörung nicht ein Ende gemacht werden könne. Baldinger aber fuhr fort:
»Wir alle, hochverehrte Herren, empfinden es tief, wie schwer die Stadt in den letzten Jahren gelitten hat. Es geziemt mir nicht, den Verlust unsrer verbrieften Reichsunmittelbarkeit zu beklagen, wo der Untergang des ganzen Reichs von Würdigeren zu beweinen wäre. Wir fügen uns in den unerforschlichen Willen der Vorsehung und sehen nicht ohne Hoffnung dem Los entgegen, welches das Kriegsglück und die Diplomatie Europas über uns verhängt hat. Schwere Opfer hat uns diese Neugestaltung der Dinge gekostet, und darunter rechne ich in erster Linie den Verlust –«
»Ich bitte den Herrn Redner, sich nicht bedenklichen und nutzlosen Erörterungen hinzugeben«, sagte der Bürgermeister erwachend.
Der junge Baldinger errötete und stampfte leise mit dem Fuß. Dann begann er wieder:
»Unser Vaterland, das alte deutsche Reich –«
»Ich bitte den Herrn Redner, sich nicht mit Dingen zu befassen, die keine Existenzberechtigung mehr haben«, unterbrach ihn der Bürgermeister aufs neue, jetzt sichtlich ganz wach.
»Der einstige Große Rat dieser Stadt«, begann Baldinger abermals, »das heißt, der Magistrat, wie wir ihn noch vor wenigen Wochen zu nennen hatten –«
Jetzt klingelte der Bürgermeister:
»Ich erinnere den Herrn Redner daran, daß wir hier infolge allerhöchster Verfügung Seiner Majestät unseres allergnädigsten Königs Friedrich I. von Württemberg als provisorischer Gemeinderat sitzen.«
Wieder stampfte der ungeduldige junge Baldinger, diesmal mit Hilfe des Stuhlbeins, entschloß sich jedoch zu einem neuen Anlauf:
»Dem hohen provisorischen Gemeinderat ist es nicht mehr vergönnt wie dem einstigen Großen Rat der freien Reichsstadt, sich mit staatlichen und politischen Angelegenheiten zu beschäftigen. Diese werden für uns anderwärts und vielleicht ersprießlicher geregelt, als es in der alten Zeit hier geschehen ist.«
Alle älteren Herren murrten laut und sahen sich dann erschrocken um. Der Bürgermeister klingelte abermals:
»Ich bitte um Ruhe und – und – Vorsicht.«
»Kein Schneid!« sagte der alte Nusser laut und rücksichtslos.
Am entgegengesetzten Ende der Tafel lachte einer, hielt sich dann aber selbst den Mund zu zum Zeichen, daß er nicht ernsthaft gelacht habe. Baldinger fuhr fort:
»Wir müssen uns deshalb mit doppelter Hingebung jenen inneren Angelegenheiten des Gemeinwesens zuwenden, die für das Wohl unsrer Mitbürger nicht weniger bedeutsam sind und die uns, wenn wir es richtig angreifen, ein ebenso reiches Feld der Tätigkeit versprechen.«
»Es ist doch eine Wohltat, Jakob«, sagte Nusser zu Herrn von Besserer, »daß uns die Jungen belehren, solange wir noch etwas lernen können... Aber diese Beredsamkeit ist etwas Schreckliches.«
»Ruhe! Ruhe!« riefen jetzt auch andre, denen unbehaglich wurde. Baldinger aber ließ sich nicht mehr aufhalten.
»Wir leben in einer vielbewegten Zeit, nicht bloß auf politischem und militärischem Gebiet, in einer Zeit des Übergangs und der Umwälzungen.«
»Wir haben noch nie in einer andern gelebt«, brummte Nusser, der in seiner Art Geschichtsphilosoph war, hielt sich dann aber ebenfalls den Mund zu, indem er dem Herrn winkte, der vorhin gelacht hatte.
»Die Fortschritte, die in allen Richtungen gemacht werden, sind staunenerregend«, fuhr Baldinger fort. »ich selbst habe mich auf meinen Reisen davon überzeugt und wünsche nichts sehnlicher, als daß unsre gute Stadt Ulm, die in alten Zeiten an der Spitze großer politischer sozialer und kommerzieller Bewegungen stand –«
»Die Beredsamkeit! Die Beredsamkeit!« stöhnte Nusser.
»– auch heute wieder eine ähnliche Stellung einnehmen möge. Wohl dürfte es uns nicht mehr vergönnt sein, große und tapfere Heere auszusenden oder in andrer Weise in die Welthändel einzugreifen; allein auf materiellem sowohl als geistigem Gebiet kann in andrer Weise auch die kleinste der Städte Großes leisten; wenn zum Beispiel einer ihrer Söhne durch eine weltbewegende Erfindung Ruhm und Gewinn erwerben sollte. Es ist für den Weiterblickenden zweifellos, daß, obgleich das Menschenmögliche bereits geleistet zu sein scheint, wir einer Zeit großer Erfindungen entgegengehen. Sollte nicht auch Ulm an diesem Triumphzug der Zukunft teilnehmen können? In Freiburg wurde das Schießpulver erfunden, in Mainz die Buchdruckerkunst, in Nürnberg die Taschenuhren. Warum sollte sich nicht auch Ulm mit seiner ruhmreichen Vergangenheit durch eine ähnliche Großtat diesen Städten anschließen?«
»Er hat recht! Dagegen läßt sich nichts einwenden!« bemerkten einige Herren halblaut; selbst der Bürgermeister, der die Augen wieder geschlossen hatte, nickte beifällig.
»Aufgepaßt!« sagte Nusser; »das dicke Ende wird schon nachkommen.«
Baldinger nahm seine Rede wieder auf:
»In England, meine Herren, erfand man die Feuermaschine, die ihren Siegeszug durch die Welt angetreten hat. Ich habe selbst eine solche gesehen, und zwar im Mansfeldschen in Preußen, die mich der Reihe nach mit Grauen, Ehrfurcht und Bewunderung erfüllte. Auf diesem Gebiet ist für Ulm nichts mehr zu machen, denn der Mensch kann meines Erachtens dieses Wunder der Neuzeit nicht mehr übertreffen. Aber es gibt in der Tat noch andre Aufgaben und ungelöste Probleme, vor denen der menschliche Geist nicht zurückzuschrecken braucht. Ich bitte Sie, dies selbst nicht zu tun, sondern mich mit der Ruhe und Fassung anzuhören, welche uns Ulmer von jeher ausgezeichnet hat.«
Äußeren Anzeichen nach war die Versammlung nicht in Gefahr, außer Fassung zu geraten. Trotzdem sprach jetzt Baldinger, als ob große Vorsicht nötig wäre, langsam und sehr ernst:
»Was ich im Auge habe, ist die Kunst des Fliegens.«
Einige lachten laut, andre stießen höhnische »Ah!« und »Oh!« aus; die Mehrzahl öffnete den Mund, ohne einen Laut hervorzubringen. Der Redner ließ sich jedoch nicht abschrecken.
»Niemand ist imstande, nachzuweisen, daß der Mensch, mit den geeigneten Hilfsmitteln ausgestattet, diese Kunst nicht erlernen sollte; wie er auch das Schwimmen zu erlernen vermag, obgleich er kein Fisch ist, und in Schiffen die gewaltigsten Meere durchschwimmt. Für letzteres fehlt uns eine passende Gelegenheit, solange Ulm nicht Seestadt ist. Dagegen steht uns die Luft, und zwar eine ausgezeichnete Luft, in beliebiger Menge zur Verfügung. Warum sollte nicht Ulm so gut als irgendeine andre, dem Fortschritt huldigende Stadt die erste sein, die einen kühnen, zielbewußten Luftsegler zur Welt bringt?«
Baldinger wartete, erhielt aber keine Antwort. Die Herren sahen sich an wie dreißig lebendige Fragezeichen. In der Tat: warum? Es war dem Redner gelungen, die Aufmerksamkeit seiner Hörer zu fesseln. Die Frage hatte etwas Persönliches bekommen, das jeden einzelnen berührte.
»In andere Städten«, fuhr er nach einer längeren Pause fort, »in Wien und Paris wurden ernstliche Versuche in dieser Richtung gemacht. Ich wage zu behaupten, daß wir, die Bürger einer ehrwürdigen alten Reichsstadt, diesem höchst wünschenswerten Ziel nahe sind. Wir haben einen Mann in unsrer Mitte, der sich mit Aufopferung all seiner Kräfte und, was mehr ist, all seines Geldes dieser erhabenen Aufgabe widmet. Ich sage Ihnen nichts Neues, denn schon längst ist es stadtbekannt, daß ein Meister – Meister Berblinger –«
»Haha – huhu – hihi!« Ein vielstimmiges schallendes, höhnisches, spitziges Lachen, ein Lachen in allen Charakter- und Tonarten unterbrach den Redner, der auf einen Augenblick, aber nur auf einen Augenblick dem Sturm zu erliegen schien.
»Der Schneider! Der Schneider Berblinger!« rief ein Dutzend Stimmen.
»Ja, meine Herren, ein Schneider!« wiederholte Baldinger trotzig. »Ein Mann aus einer der besten Familien unsrer Stadt. Darüber kann Ihnen Herr Rat Schwarzmann Aufschluß erteilen; das Mitglied einer ehrsamen Zunft, aber ein Schneider! Einer der Männer, denen wir so viel, einige von uns fast alles Ansehen verdanken, das wir genießen! Aber warum sollte nicht ein Schneider unser Lehrmeister sein in einer Kunst, die noch keine Zunft zu pflegen gewagt hat. Gerade in dieser Versammlung sollte man sich hüten, engherzig und kleinlich zu denken. Ich erinnere an einen andern des Fliegens kundigen Mitbewohner unsrer Stadt, dem der hochweise Kleine Rat in uralten Zeiten einen Wink verdankte, welcher ihn der Notwendigkeit enthob, den herrlichen Gänseturm einzureißen, und der seit jenen Tagen die Dankbarkeit und Verehrung unsrer Mitbürger, ja die Bewunderung der ganzen zivilisierten Welt genießt. Sollte ein Angehöriger der ehrsamen Schneiderzunft, der weit Größeres nicht allein für uns, sondern für die gesamte Menschheit zu leisten im Begriff steht, nicht eine ähnliche Hochschätzung beanspruchen dürfen als der ebenfalls flugkundige Spatz? – Es handelt sich jedoch heute nicht darum. Wie jeder wahrhaft große Mann wird wohl auch der Erfinder des menschlichen Flugs erst nach seinem Tod die ihm gebührende Würdigung finden. Es liegt mir fern, jetzt schon zu einer Sammlung für ein Berblinger-Denkmal aufzufordern.«
Einige der Herren Räte lachten abermals,. aber etwas wohlwollender. Der Ulmer Spatz hatte seine besänftigende Wirkung nicht verfehlt.
»Sie lachen, meine Herren!« rief Baldinger, den Entrüsteten spielend. »Es ist eine tiefernste Sache, die ich in Anregung bringe. Diesem Mann, dem voraussichtlichen Ehrenbürger von Ulm, dem kommenden Umgestalter des Menschengeschlechts, wurde durch die Grausamkeit des Schicksals, durch die unmenschliche Härte einer Politik –«
»Ich bitte den Redner um Gottes willen«, rief der Bürgermeister, »politische Anspielungen zu unterlassen oder wenigstens so zu formulieren, daß wir sie ohne Gefahr anhören können! Ich erinnere ihn daran, daß die Stadt bereits mit einer unglücklichen Familie in Verbindung steht, deren naher Anverwandter Seine Majestät den Kaiser Napoleon dermaßen erregte, daß er eines elenden Todes sterben mußte.«
»Kein Schneid!« rief Nusser grimmig, während sich ein düsteres, ängstliches Schweigen im Saal verbreitete. Viele hatten den unglücklichen Buchhändler Palm persönlich gekannt, dessen Bruder in Ulm lebte, und deutschpatriotisches Gefühl war auch hier nicht ganz ausgestorben. Ernster fuhr Baldinger fort:
»Durch eine wohltätige – wie ich anzuerkennen gezwungen bin –, die heimische Industrie fördernde Maßregel, unter der jedoch alle leiden, die den Genuß von Zucker und Kaffee entbehren, wurde dieser Mann der Mittel beraubt, seine Arbeit im Dienst der Menschheit fortzusetzen. Mein Antrag geht daher dahin: dem Meister Berblinger dahier aus städtischen Mitteln eine Unterstützung oder vielmehr eine Ehrengabe von hundert Gulden auszuzahlen, was übrigens mehr uns als ihm zur Ehre gereichen würde.«
Baldinger setzte sich unter allgemeinem tiefem Schweigen. Das spöttische Lachen hatte aufgehört, aber auch von Zustimmung war in den mißmutigen Gesichtern der Herren Gemeinderäte nicht eine Spur zu finden.
»Ich eröffne die Diskussion«, sagte endlich Herr von Schad, worauf eine zweite längere Pause folgte. Dann räusperte sich der alte Nusser, auf den sich sofort ermunternde und dankbare Blicke richteten. Er begann, ohne aufzustehen, was dem alten Herrn niemand zumutete:
»Ich wäre gegen den Antrag des jungen Herrn Doktors, wenn er sich nicht selbst erledigte, da die Stadtkasse leer ist. Die Leichtfertigkeit der Jugend entschuldigt viel, aber alles hat seine Grenzen. Wenn die gequälten Steuerzahler auch noch fürs Fliegen zahlen sollen, so bin ich einer der ersten, der davonfliegt. So denken alle ehrbaren Bürger dieses Gemeinwesens. Mich aber zum Fliegen veranlassen zu wollen, heiße ich gewissenlos.«
Er schlug mit seiner gichtgeschwollenen Hand auf den Tisch, womit er anzudeuten pflegte, daß nichts in dieser Welt seinen Standpunkt erschüttern werde.
»Ich bitte ums Wort!« rief Herr Kaufmann Stötzlen. Der Bürgermeister nickte.
»Ich bin der Ansicht, daß, wenn auch ein Schneider fliegen sollte, damit nichts gewonnen ist. Ich sehe deshalb die Bedeutung eines Ehrensoldes nicht ein. Bei einem starken Wind ist bekanntlich die Gefahr größer, daß die ganze Zunft weggeblasen wird. Das möchte ich geistweise verstanden wissen. ›Schuster, bleib bei deinem Leisten‹, sollte man dem Berblinger, den seine Zunft – zu ihrer Ehre sei es gesagt – für verrückt hält, auf die Hosen schreiben. Des Herrn Doktor von Baldingers schöne Beredsamkeit in allen Ehren, aber das gleiche möchte ich auch ihm zu stiller Betrachtung ans Herz legen. Wir verstehen alle nichts vom Fliegen, aber genug von hundert Gulden. Bleiben wir bei dem, was wir verstehen, und lassen die Schneider ihre Hantierung in Ehren weitertreiben wie bisher. Mögen sie sich an Rockflügeln verlustieren, wie es ihre Bürgerpflicht vorschreibt.«
»Herr Geheimer Justizrat von Besserer!« rief der Bürgermeister, der diesen lebhaft winken sah.
»Ohne auf die juristische Frage einzugehen, ob und inwieweit die Luft oder der Raum zwischen Himmel und Erde zum Zweck körperlicher Verschiebungen gebraucht werden darf, was späteren gesetzlichen Bestimmungen überlassen werden kann, möchte ich mich gegen das Fliegen überhaupt ablehnend aussprechen. Wo soll das hinaus? Jetzt schon hat man seine liebe Not, Ordnung in der Stadt zu halten. Wenn es nun der verrückte Berblinger fertigbrächte, seine Idee zu verwirklichen, würde nicht alles drunter und drüber gehen, jede Ordnung im Staatsleben bedroht sein, alle Bande der Familie zerreißen? Wenn ich mir vorstelle, daß mir meine Frau davonflöge! Ich nenne das Unterfangen dieses Berblingers einfach verbrecherisch. Er sollte unverzüglich eingesteckt werden, selbst wenn es hundert Gulden kostete, ihn auf Lebenszeit unschädlich zu machen.«
»Überhaupt!« rief Schwarzmann, ohne – nach seiner Gewohnheit – ums Wort zu bitten. »Der sogenannte Fortschritt wird nachgerade ein unerträglicher Unfug. So kam kürzlich sogar ein Kerl zu mir, ein Schulmeister, und wollte meine Flachboote mit einem beweglichen Kiel gebaut haben! Hat man nicht auch gelebt vor fünfzig Jahren und war zufriedener als heute? Feuermaschinen, Druckerpressen, Wagen ohne Pferde, Räder an den Schiffen, und der Kuckuck weiß was noch – alles heißen sie Fortschritt und kommen immer tiefer in die Patsche. Ich bedaure, hören zu müssen, daß dieser Berblinger ein entfernter Verwandter von mir sein soll. Ich kann das nicht hindern, erkläre aber, daß ich lieber hundert Gulden gutes Ulmer Geld in die Donau werfe, als sie ihm für die besagten Zwecke zuzuschieben. Überhaupt! –«
Jetzt erhob sich der junge Baldinger wieder, unmutig, mit etwas gerötetem Gesicht:
»Der Herr Rat Schwarzmann ist gegen den Fortschritt. Wenn der Herr Rat sitzen bleiben will, wo er sitzt, so ist das seine Sache. Der Rest der Welt bewegt sich, und wir Ulmer wollen nicht zurückbleiben. Wenn ich es nicht mehr erlebe, so hoffe ich doch, daß meine Enkel eine Feuer- oder sogenannte Dampfmaschine sogar in dieser Stadt sehen werden, und bin schon deshalb im Begriff, mich in Bälde zu verheiraten. Stehenbleiben führt zu nichts Gutem, selbst wenn es uns Mühe und Arbeit und einige Auslagen ersparte. Rückwärts geht's nicht ohne krebsartige Anlagen, also vorwärts als Männer unsrer Zeit und brave Ulmer, die, wenn auch langsam, wie es sich in einer ehrwürdigen alten Reichsstadt geziemt, ihre Bürgerpflicht zu tun wissen! – Gegen das Fliegen an sich läßt sich nicht viel einwenden, als daß ältere Leute, wie Herr von Besserer und seine Gemahlin es bleiben lassen sollten; soweit gehe ich mit ihm. Wir Jungen aber haben das Recht, uns zu rühren wie die Vögel, die Gott geschaffen hat, wenn uns jemand voranfliegt. Daß unsre vortreffliche Polizei Mittel und Wege finden wird, jeden Mißbrauch der neuen Kunst im Keim zu ersticken, wird niemand bezweifeln, der ihre bisherige vielseitige und erfolgreiche Tätigkeit kennt. Die Vorteile aber, die uns der menschliche Flug verspricht, sind kolossal und unzählig, sowohl im bürgerlichen Leben, insonderheit für Handel und Verkehr, Herr Kaufmann Stötzlen, als auch in den heute alles beherrschenden militärischen Dingen. In dieser Hinsicht erkläre ich Meister Berblingers Bestrebungen für eine patriotische Tat ersten Ranges. Es wäre vergebliche Mühe, dem hochverehrlichen provisorischen Gemeinderat alles im einzelnen aufzuzählen, was wir als nutzbringende Folgen der Erfindung erwarten müssen. Ich lade deshalb die Herren zu einem Vortrag ein, den ich demnächst im Greifen zu halten gedenke, um auch Herrn Berblinger Gelegenheit zu geben, uns zu zeigen, wie weit er trotz aller Hindernisse in der neuen Kunst gekommen ist. Dazu aber ist es vor allem unsre Pflicht, ihm die nötigen Mittel nicht zu verweigern. – Daß dieser Mann, der kommende Wohltäter der Menschheit, der ehrsamen Schneiderzunft angehört, rechne ich ihm hoch an, obgleich ich weiß, daß das Genie an solche Äußerlichkeiten nicht gebunden ist, ja sogar die Zunftverhältnisse häufig und rücksichtslos durchbricht. Wenn aber zu Ulm ein Schneider solche Dinge vollbringt, was kann man dann erst von einem Vertreter der Kaufmannschaft, wie Herrn Stötzlen, erwarten. Er sollte nicht bloß dem Schneider, er sollte uns allen vorangehen, den Ruhm und die Ehre der Stadt zu fördern, wo immer es mit einer Auslage von nur hundert Gulden geschehen kann. Das möchte ich vor allem auch Herrn Nusser erwidern. Unsre Stadtkasse ist relativ leer. Sehr richtig. Wir haben in jüngster Zeit viel und schwer gelitten und Millionen opfern müssen, um zuletzt am Boden zu liegen und wie ein hilfloser Spielball von einem Land ins andre geschleudert zu werden –«
»Herr von Baldinger, ich muß Sie wiederholt und dringend bitten!« unterbrach der Bürgermeister, plötzlich wieder erwachend.
»Ich bitte Sie, meine Herren!« rief Baldinger mit einer Geistesgegenwart, die unangenehm berührte, »und zwar um hundert Gulden zur Förderung der größten Erfindung des Jahrhunderts, und will zum Schluß nicht unerwähnt lassen, daß sogar Seine Majestät unser neuester allergnädigster König, der bereits von der Sache gehört hat, gesagt haben soll: Wenn in Ulm das Fliegen erfunden werde, müsse sich sein Stuttgart vor der alten Reichsstadt bis in den Staub verneigen, und er werde stolz sein, eine solche Stadt seine Huld fühlen zu lassen! Meine Herren, das sagt ein König; was aber wird die Welt sagen? Was würde sie sagen, wenn wir, die Väter dieser gottbegnadeten Stadt, um schnöder hundert Gulden willen unsre heiligsten Pflichten hintansetzten, indem wir meinen Antrag nicht einstimmig annehmen? Mit dieser Frage schließe ich; es ist Ihre Sache, zu antworten!«
Baldinger hatte mit Feuer gesprochen, und wenn auch niemand mit ihm einverstanden war – Ulmer Köpfe sind nicht leicht zu erschüttern –, so wirkte doch die in diesem Saal ungewohnte Wärme belebend auf die Versammlung. Dies kam zunächst in einer ungewöhnlich langen Pause zum Ausdruck. Dann erhob sich Rat Schwarzmann:
»Ich gestehe, zur Überzeugung gekommen zu sein, daß die vorliegende Angelegenheit von zwei Gesichtspunkten aus angesehen werden könnte. Daß Berblinger ein Anverwandter, ja sogar ein leiblicher Neffe von mir ist, beeinflußt mich nicht, was ich kaum zu erwähnen brauche. Im Gegenteil. Wenn jedoch in der Tat die Möglichkeit eines unerwarteten Erfolges vorläge, wie unser allergnädigster Landesherr anzudeuten geruhten, so glaube ich allerdings, daß derselbe mit hundert Gulden nicht zu teuer erkauft wäre. Ja, ich gehe weiter! Wenn sich Ulm auf diese Weise an die Spitze einer Bewegung stellte, die umgestaltend auf die ganze Welt wirken müßte, so könnten daraus Vorteile für die Stadt erwachsen, die das Wagnis einer einmaligen Ausgabe selbst von einer höheren Summe rechtfertigen dürften. Wenn anderseits –«
»Das Anderseits wollen wir gar nicht erörtern«, fiel Baldinger rasch ein. Schwarzmann setzte sich gekränkt: das wäre vor sechs Wochen nicht vorgekommen. Der junge Rechtsanwalt fuhr rücksichtslos fort: »Was ich sage, ist, daß unsre gute Stadt Ulm wieder einmal wie ein Herkules am Scheideweg steht: entweder wir stellen uns mit unserm genialen Mitbürger an die Spitze der Bewegung des Jahrhunderts, oder wir bleiben, wie Herr Rat Schwarzmann es wünscht, hoffnungslos sitzen.«
»Nein, nein!« rief Schwarzmann, wieder aufspringend. »Ich bleibe nicht sitzen; ich bin der letzte, der sitzen bleibt! Ich werde mißverstanden und wollte nur sagen –«
»Dann ist es Herr Nusser, Herr von Besserer, Herr Stötzlen, die sitzen bleiben!« erklärte Baldinger, der, wie sie nachher sagten, immer frecher wurde. Aber auch Herr von Besserer erhob sich:
»Ich muß Herrn von Baldinger bitten, wenn ich auch seiner großen Jugend gern einiges zugut halte, mir nicht vorzuschreiben, was ich bezüglich meines Sitzens zu tun oder zu lassen habe. Wenn es gilt, das Wohl der Stadt zu wahren, in der meine Vorfahren seit Jahrhunderten eine ehrenvolle und führende Stellung eingenommen haben, so wird auch der jetzige Besserer keinem Baldinger den Vortritt zugestehen. Ich stimme für die Bewilligung der hundert Gulden.«
Nun erhob sich Herr Stötzlen:
»Natürlich bin auch ich, indem ich mich der Begründung des Herrn Vorredners voll und ganz anschließe, für die Bewilligung der hundert Gulden. Es war nur in notwendiger Berücksichtigung von Nadel, Schere und Bügeleisen, daß ich mich veranlaßt sah, einige berechtigte Bedenken zu äußern. Ich gestehe jetzt noch, daß ich es gerner gesehen hätte, wenn einer unsrer Herren Patrizier, wenn ein Jurist unseres Gerichtshofs, ein Professor unseres Gymnasiums, selbst einer der Herren Münstergeistlichen, kurz eine hervorragende Persönlichkeit aus den besseren Ständen das Fliegen erfunden hätte. Allein wenn es nun einmal nicht anders ist, so möchte ich sogar beantragen, dem Meister Berblinger hundertfünfundzwanzig Gulden zu bewilligen.«
Entrüstet versuchte Nusser aufzuspringen, fiel aber so schwer in seinen Stuhl zurück, daß ihn seine Nachbarn, die einen Schlaganfall befürchteten, aufzurichten suchten.
»Ich protestiere!« kreischte er blaurot im Gesicht. »Ich protestiere im Namen der gesamten Bürgerschaft gegen die fünfundzwanzig Gulden, mit denen der Stötzlen um sich wirft. In dieser Weise mit dem Geld der Steuerzahler umzugehen ist eine Infamie! Hundert Gulden -ja, meinetwegen; aber hundertundfünfundzwanzig niemals! – niemals!«
»Ich konstatiere«, rief Baldinger stolz lächelnd, »daß der Gemeinderat beschlossen hat, dem Meister Berblinger hundert Gulden für die Vollendung seiner epochemachenden Erfindung zu bewilligen, und daß er sich hiermit an die Spitze einer die Menschheit beglückenden Bewegung stellt.«
»Ich habe nicht gewußt«, sagte jetzt Herr von Schad, langsam die Augen so weit öffnend, daß sie förmliche Kreise bildeten, »ich habe nicht gewußt, daß der junge Herr von Baldinger Bürgermeister der Stadt Ulm ist. Das Konstatieren einer Ansicht dieses Collegii ist meine Sache. Wenn kein Widerspruch erfolgt, wird der Herr provisorische Ratsschreiber den Beschluß zu Protokoll nehmen und der Herr provisorische Rentamtmann wird das Nötige einleiten. Wir gehen jetzt über zum zweiten Punkt der Tagesordnung: Einführung des königlich württembergischen Maß- und Gewichtssystems in die dem Königreich Württemberg zugefallenen Teile der weiland freien Reichsstadt Ulm.«
Ruhe trat in der Versammlung jedoch erst wieder ein, nachdem die Hälfte der Herren auf den Zehenspitzen, aber mit viel Geräusch an Baldinger herangetreten waren und ihm warm die Hand gedrückt hatten: »Das sei endlich einmal wieder eine Tat gewesen. Er habe der ganzen Bürgerschaft aus der Seele gesprochen.«
Alles Fischbeins bar war Ulm auch nach dem vernichtenden Brand auf dem Kienlesberg nicht, und namentlich die Damen der Stadt wünschten sich Glück, daß ein Seitenkeller des Kaufmanns Sprengel in der Donaustraße der Spürnase einer allzu eifrigen Polizei entgangen war. So erhielt auch Berblinger gegen den dreifachen früheren Preis eine genügende Menge der schönsten Stäbe, nachdem die frühere Rechnung, wie wir wissen, mehr oder weniger gewaltsam beglichen worden war. Man mag sagen, was man will: Fischbein ist für einen menschlichen Flügel doch besser als Weidenstäbe.
Jetzt war er wieder in voller Arbeit. Seine Werkstatt, in der er mit seinem Lehrling, der nichts Vernünftiges lernte und sich dabei ungemein wohl befand, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hantierte, glich eher einer Schiffswerft im kleinen als einem Wiener Schneideratelier, wie es das Schild über der Haustüre verkündete, und Berblinger selbst war täglich genötigt, allen Zunftregeln zum Trotz seine Kunst als Schirmmacher, Sattler, Schmied, Schlosser, Tischler, Tapezier und dann doch auch wieder als Schneider zu versuchen. Einer der neuesten Flügel hing bereits wieder an der Wand, neun Fuß lang, fünf Fuß breit, hübsch gewölbt und sinnreich versteift durch ein aus Stahldraht gefertigtes Gestell, das in ahnungsvoller Weise den Gesetzen der Festigkeitslehre einer späteren Zeit entsprach. Berblinger hatte doch etwas vom Genie in sich, das in den Fingerspitzen fühlt, wozu andre später langsam nach mühevollem Sinnen und Rechnen gelangen. Auch war er seinerzeit nicht umsonst der gelehrige Geselle eines Schirmmacherlehrlings gewesen.
Sie waren eben im Begriff, die viel zu kurzen Fischbeinstäbe für den zweiten Flügel zu spleißen, eine besonders schwierige Aufgabe, von deren glücklicher Lösung sein Leben abhing, als sich auf der Treppe wuchtige Tritte hören ließen, denen ein lautes Gepolter folgte: ein nicht seltener Fall, denn die ausgetretene Stiege war eng und steil und das Stiegenhaus stockfinster. Dann begannen die Tritte aufs neue. Er glaubte sie zu kennen – allein, das war ja nicht möglich, mußte er sich sagen.
Es war aber doch so. Mit abgenommenem Hut und in etwas gebückter Haltung, denn die Türe war überaus nieder, das wohlbekannte spanische Rohr mit dem silbernen Knopf tastend vor sich hin haltend, trat sein Onkel Schwarzmann ein. Sie sahen sich beiderseits nicht ganz ohne Verlegenheit an.
»Der Tausend! Da bist du ja, Brechtle«, sagte der Onkel, dem Neffen die Hand entgegenstreckend. »Gut, daß man dich endlich findet, ohne den Hals auf der verdammten Leiter gebrochen zu haben. Na, da sieht's nicht übel aus! Es ist klar, daß du ein Tausendkünstler bist und die Schneiderei an den Nagel gehängt hast. Um so besser. – Na, macht nichts! Gib nur her!«
Berblinger versuchte seine Finger an der Arbeitsschürze abzuwischen, ehe er sie in die weiße, fette Hand des Herrn Rats legte. Fast stammelnd – die Überraschung war zu groß – entschuldigte er das Aussehen der Werkstatt und daß er dem Herrn Onkel nicht einmal einen Sofa anbieten könne.
»Macht nichts, macht nichts!« rief Schwarzmann, indem er versuchte, durch besonders lautes Sprechen seiner Unbehaglichkeit Herr zu werden. »Ich wollte dich schon längst besuchen und nachsehen, welche Fortschritte du machst, du Tausendsassa. Das also ist das Ding, mit dem man fliegt. Sehr nett gemacht, sehr sinnreich! Aber da braucht man doch wohl zwei Stücke. Ah richtig, der andere wird erst fabriziert. Aber woher hast du denn all das teure Fischbein, das längst verbrannt sein sollte? Ja, ja, diese Erfinder! Spitzbuben sind sie von Natur, dazu kann man auch dir nur gratulieren. Und wann soll's denn losgehen? – Keine Überstürzung – ganz recht. Mit einem Flügel kann auch ein Spatz nicht fliegen, das sieht man ein. Wir haben heute auf dem Rathaus davon gesprochen. Man erwartet etwas von dir, Brechtle!«
Und nun teilte der Rat seinem erstaunten Neffen mit, daß er sich seiner aufs wärmste angenommen und ihm eine Unterstützung von baren hundert Gulden aus städtlichen Mitteln erwirkt habe.
»Sie wollten anfänglich nicht«, berichtete der Herr Rat, »aber ich habe ihnen deutlich gemacht, was die Sache zu bedeuten hat, und ihnen dermaßen zugesetzt, daß sie schand- und ehrenhalber nicht anders konnten. Um nichts unerwähnt zu lassen: Der junge Baldinger, der seit kaum drei Wochen im Gemeinderat sitzt, hat auch für dich gesprochen; recht brav, für einen Anfänger wirklich recht brav. So ging's einstimmig durch, und ich bin nur hergekommen, um dir zu gratulieren. Nicht wegen des Geldes, das hättest du auch von mir haben können, sondern weil du jetzt den ganzen Gemeinderat für dich hast. So geht's, wenn man's versteht, den Leuten auseinanderzusetzen, was eine Erfindung zu bedeuten hat. Sie sind etwas rückständig auf dem Rathaus, sehen nicht in die Ferne, nicht in die Zukunft; ich nehme den Schad, den Bürgermeister, nicht aus; damit aber fliegt man nicht weit. Ich mußte natürlich etwas vorsichtig sein; man muß auch den Schein vermeiden, als ob man den eignen Verwandten etwas zuschanzen wollte. Aber Blut ist dicker als Wasser, das sehen schließlich alle ein, und so konnte ich doch zu guter Letzt reden, wie mir's ums Herz war, und zeigen, daß ich mich meines Neffen nicht schäme, wenn er auch zehnmal Schneider gewesen ist. Schämen? – im Gegenteil. Besuch mich, Brechtle! Warum besuchst du denn deinen Onkel so selten? Bei mir läßt sich's behaglicher schwatzen als unter dem Flügelkram.«
Berblinger konnte kaum zu Wort kommen. Soviel hatte sein Onkel zeitlebens nicht mit ihm gesprochen. Doch war ihm bald deutlich genug, wem er den Umschwung der Dinge zu danken hatte. Daß der junge Baldinger für ihn eintreten werde, hatte er schon den Tag zuvor vom Türmer erfahren, dem es der Staatsrat geschrieben hatte. Daß es mit solchem Erfolg geschehen war, konnte er heute noch kaum glauben; selbst als sein Onkel die finstere Treppe hinunterkomplimentiert war und von unten herauf seine Einladung, ihn in der Herbelgasse doch öfter zu besuchen, wiederholte. Zum erstenmal wieder seit langer Zeit packte ihn eine wilde, stolze Freude:
Kommt endlich, was kommen mußte? Merken sie, was vor ihren Nasen vorgeht, diese Schlafmützen aus dem vorigen Jahrhundert? Durfte er nun hoffen, an den elendsten Hindernissen nicht zugrunde gehen zu müssen?
Fränzle sah erstaunt, wie der Meister die Arbeitsschürze wegwarf, sich wusch und bürstete, mit großer Sorgfalt den Sonntagsrock anlegte und ihm zwei Batzen zuwarf: er solle sich eine Wurst und ein Bier kaufen und Feierabend machen; und wie er dann die Treppe hinunter- und zum Haus hinausstürmte.
Sehr viel vorsichtiger und bescheidener stieg er zehn Minuten später die breite Treppe im Baldingerschen Haus hinauf und fragte das Dienstmädchen, das ihm die obere Gangtüre öffnete, ob der Herr Doktor, der junge Herr, zu Hause sei. Nach kurzem Parlamentieren wurde er in das ihm wohlbekannte Wohnzimmer gewiesen. Dort fand er seinen neuen Gönner, eine Tasse des verbotenen Tees in der Hand, und neben ihm, mit dem Teezeug beschäftigt, sie, Lucinde.
Beide lächelten, als er eintrat. Er war auch heute noch eben doch nur der Schneider Berblinger. Der Gedanke ging ihm wie ein Stich durchs Herz, als er sie verstohlen ansah. Es war ein bitterer Tropfen in die Freude, die ihn vor einer Viertelstunde aus sich selbst herausgehoben hatte, aber es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. War er denn etwas andres als der Schneider Berblinger? Das sollte er ja erst werden.
Baldinger gab ihm freundlich die Hand.
»Sie haben von unsrer Sitzung gehört? Das kann ich mir denken«, sagte er. »Sind Sie zufrieden mit mir?«
Es tat Berblinger in tiefster Seele wohl, daß ihn der Doktor mit ›Sie‹ anredete. Er war doch schon etwas andres als der Schneider aus der Herrenkellergasse.
»Mein Onkel Schwarzmann war bei mir«, antwortete er, »und hat mir einiges erzählt. Ich komme, um Ihnen zu danken.«
»Nicht nötig, Herr Berblinger. Erstlich wollte ich die alten Herren ein wenig auf die Hühneraugen treten, das macht immer Spaß; und dann glaube ich wirklich, Sie verdienen, was der Gemeinderat beschlossen hat, das heißt – das heißt« – Baldinger stockte.
Berblinger sah ihn errötend an. Er war, wie die meisten Leute in seiner Lage, krankhaft empfindlich geworden und fühlte einen Nadelstich, wenn ihn ein Finger berührte.
»Ich verstehe nichts von Ihrer Erfindung«, erklärte der Doktor. »Fräulein Lucinde, mein schönes Bäschen, glaubt für mich, daß Sie es verdienen.«
»Das tu' ich!« rief Fräulein Baldinger, den Kopf trotzig zurückwerfend. »Ich habe in Wien gesehen, wie man Leute ehrt, die Erfindungen machen, und ich sehe nicht ein, daß, was die Wiener tun, die Ulmer nicht auch tun sollten. Wir liegen beide an der Donau. Nehmen Sie eine Tasse Tee, Herr Berblinger?«
Der Schneider hatte sich völlig gefaßt. Das Gefühl, an einem großen Werk zu arbeiten, das ihn in den trübsten Stunden aufrechterhalten hatte, kam mit einemmal wie eine freudige Überraschung über ihn. Er blickte Lucinde einen Augenblick voll, fast siegessicher ins Gesicht und nahm die Tasse, die sie ihm bot, ohne zu zittern.
»Denn sehen Sie«, fuhr sie eifrig fort, »ich war dabei, als ein Erzherzog einem Mann die Hand drückte, der auch fliegen wollte und nicht einmal dazu kam. Meine Tante schreibt mir, er sei bis heute noch nicht geflogen. Wäre es nun nicht möglich, daß Sie es fertigbrächten und dann wir Ulmer die Wiener überflügelt hätten? Deshalb glaube ich, wir sollten Ihnen helfen, und habe meinen Vetter ins Gefecht geschickt. Er scheint sich nicht schlecht gehalten zu haben, wenn man ihn hört.«
Sie lächelte den Vetter an, so daß Berblinger in Gefahr geriet, wie schon öfter in ihrer Gegenwart, den Kopf zu verlieren.
»Ich würde mein Leben wagen, um mich des Vertrauens würdig zu zeigen!« stotterte er halblaut und fühlte dabei, wie leicht es ihm in ihrer Nähe wurde, das Alltagsdeutsch hinter sich zu lassen. Es war, wie wenn er in einer andern, höheren Welt schwebte; etwas schwindlig, aber so wohl!
»Das weiß ich«, sagte sie ebenso leis, indem sie sich nach Ali umsah, der zu knurren anfing.
»Sehr nett gesagt für einen –« lachte Baldinger, ohne den Satz zu beenden, den ein strafender Blick der schönen Base abschnitt.
»Und Sie glauben wirklich, mit dem Fliegen zurechtzukommen?« fragte sie, rasch einfallend.
»Ich glaube daran wie an – wie an die Sonne!« versetzte der Schneider. »Ich brauche noch zwei, vier Wochen Zeit. Dann bin ich bereit, Ihnen und der ganzen Welt zu zeigen, daß sich der Mensch nicht länger vor jedem Vogel zu schämen hat.«
»Etwas Ähnliches sagte der Wiener Professor auch«, bemerkte Lucinde, »und blieb trotzdem auf festem Boden. Aber gelingt es dem einen nicht, braucht es dem andern nicht zu mißlingen. Ich bin schon zufrieden, daß ein Ulmer den Mut hat, zu versuchen, was noch niemand in der Welt fertig brachte. Solche Leute hat die Stadt schon lange nicht mehr gehabt, Vetter George, sonst wären wir nicht, wo wir sind. Hier hängt und kriecht alles am Boden und kann gar nicht begreifen, wie herrlich es wäre, wenn wir wie Lerchen in den Lüften schweben könnten. Wem das gelänge – wer mir zeigte, wie es zu machen ist – ich weiß nicht, was ich für den täte!«
»Nur nicht zu stürmisch, mein verehrtestes Bäschen«, mahnte Vetter George. »Du hast dich hier unten bis zum heutigen Tag wohl genug befunden.«
»Wenn ich ein Vöglein wär'!« trällerte sie und klatschte in die Hände wie ein Kind. »Wenn Sie das fertigbringen, sehen Sie, dann gehen wir wieder zusammen nach Wien – es war doch nett, damals, und Sie hätten nicht davonzulaufen gebraucht. – Dort fliegen Sie dem Erzherzog Joseph Amadeus etwas vor und werden der berühmteste Mann von Europa, und Ulm die berühmteste Stadt, und – ich weiß nicht, was ich dann täte.«
»Jetzt wissen Sie, was Sie zu erwarten haben, Berblinger!« sagte der Doktor, halb lachend, halb ärgerlich. »Benutzen Sie Ihre hundert Gulden wohl und lassen Sie mich nicht zuschanden werden. Wahrhaftig, wenn ich meiner begeisterten Cousine noch eine Zeitlang zuhöre, so glaube ich selbst, daß ganz Europa auf uns sieht und daß Sie unsre einzige Hoffnung sind. Natürlich können Sie von heut an auf uns rechnen, solange Sie auf festem Boden unsre Hilfe brauchen. Dafür rechnen wir aber auch darauf, daß Sie uns mitnehmen, sobald es in die Lüfte geht.«
»Er schwatzt Unsinn, Herr Berblinger; das ist sein Beruf«, sagte Lucinde. »Aber kommen Sie, sooft Sie Zeit haben; Papa wird sich freuen, Sie zu sehen. Er interessiert sich riesig für die Fortschritte, die Sie machen, seitdem ihm der unheimliche Münstertürmer geschrieben hat. Und wenn Sie einmal ein weltberühmter Mann sind, dürfen Sie nicht vergessen, daß wir dabei ein wenig mitgeholfen haben. Wir haben keine Erzherzöge in Ulm. Dafür bin ich da und Papa und Ali und Vetter George. So sollte es doch gehen!«
Sie plauderte weiter, sich immer mehr in den Gedanken hineinsteigernd, daß sie bei einer großen, menschenbeglückenden Schöpfung die Rolle der Egeria zu spielen habe. Auch war niemand mehr bereit, dies anzuerkennen, als der arme Berblinger, der nach einer halben Stunde das Haus verließ, als ob er von himmlischen Flügeln getragen würde. Alles – alles wollte er daran wagen, den Hals zu brechen, schien ihm von der geringsten Bedeutung, um ihr die Freude, den Stolz zu verschaffen, einen Ulmer durch die Lüfte segeln zu sehen.
Es war ein Glück, daß er Meister Glöcklen begegnete; er wäre sonst imstande gewesen, in der Abenddämmerung mit dem einen fertigen Flügel eine Reihe lebensgefährlicher Versuche zu beginnen. Glöcklen war ihm neuerdings geflissentlich aus dem Weg gegangen. Heute kam er mit der freundlichsten Miene auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.
»Ich weiß schon, Berblinger, ich weiß schon!« leitete er das Gespräch ein. »Die Herren auf dem Rathaus haben seit langer Zeit zum erstenmal wieder etwas Vernunft gezeigt. Bockelhardt meint, es komme daher, daß wir württembergisch geworden sind, regelrechte, gesetzlich registrierte Schwaben, und daß die neuen Gemeinderäte bis auf einen ihre vierzig hinter sich haben. Das stimmt nicht. Warum? Der einzige mit dem gescheiten Einfall sei der junge Baldinger gewesen, und der ist erst zweiunddreißig. Sei dem, wie ihm wolle; die höchste Zeit war's jedenfalls. Denn heute abend hat uns Knöppel schon wieder zusammengetrommelt, und bei dieser Gelegenheit solltest du aus dem Zunftregister gestrichen werden. Hinter ihm steckt natürlich der Rau und Schlumperger. Die werden Augen machen, wenn ich ihnen erzähle, was auf dem Rathaus passiert ist! Ich hab's brühwarm aus der Ofengabel, vom Bockelhardt. Und dein Onkel, der Rat, habe dir eine Ehrenvisite gemacht und sei die Treppe hinaufgefallen; warum? Aus lauter Eifer. Weiß schon, weiß schon! Ade, Meister Berblinger! Ich muß laufen, daß ich noch in den ›Wilden Mann‹ komme, ehe sie dich streichen. Ich sag' nur eins: Verlaß dich auf mich!«
Er rannte weiter. Berblinger fühlte wieder städtischen Boden unter den Füßen, wenn auch nur leicht. Er hätte tanzen können, als er in sinkender Dämmerung am Münster hinging und dabei mehrmals sinnend stehenblieb. Wie ihm die Gedanken zuflogen, seitdem er wieder leichter und froher denken konnte. Wenn es mit den Flügeln nicht ging, die halb fertig waren, stand schon der Plan für ein neues Paar fest. Und jetzt wußte er auch, wofür er arbeitete. Die Menschheit? Das war doch etwas gar zu Nebelhaftes, gar zu Unfaßbares.
»Brechtle!«
Wie konnte ihn die sanfte, eindringliche Stimme erschrecken? Krummacher, der Pestilenziarius, stand hinter ihm und legte die Hand auf seine Schulter. Wie rasch der Mann alterte; aber seine Augen glänzten heller als je und sahen freundlich in das erregte Gesicht seines einstigen Schülers.
»Es wendet sich, Brechtle«, sagte er. »Ich hab' davon gehört, und ich seh' dir's an: Du hast genug durchgemacht. Aber kennst du das alte Lied noch: ›Laß dich nicht den Frühling täuschen‹?«
»Herr Krummacher!« rief Berblinger; ein leiser Schatten flog über sein Gesicht.
»Ich weiß schon, sie schwatzen in allen Gassen davon, Gutes und Böses. Laß dich nicht den Frühling täuschen und vergiß nicht, daß unser Herrgott Vögel gemacht hat und Menschen, jedes nach seiner Art.«
»Aber was hab' ich mit Ihren Vögeln zu tun?« fragte Berblinger ungeduldig. »Ich will kein Vogel werden und bleibe ein Mensch wie Sie.«
»Laß dich nicht den Frühling täuschen«, sagte der alte Mann zum drittenmal und sah dabei Berblinger so voll inniger Liebe in die Augen, daß es diesen schauderte. Es war wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf des Magisters.
Sie waren nur wenige Schritte von seinem Häuschen stehen geblieben. Mit einer Handbewegung bat er Berblinger, einzutreten. Wie oft war er durch das kleine Pförtchen geschlüpft als Kind, als Junge, als heranwachsender Mann. Aber er wandte sich ab:
»Heute nicht, morgen vielleicht. Ich habe wirklich keine Zeit, Herr Pestilenziarius. Gute Nacht!«