Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20. Ein gefährliches Asyl

Trotz der Betäubung, in der Berblinger aus dem Taubengäßchen auf den Marktplatz hinaustrat, bemerkte er sofort, daß er nicht nötig hatte, seine ziellose und halb unfreiwillige Flucht zu überstürzen. Ein Getümmel, wie es Ulm nie erlebt hatte, schien ihn zu verschlingen. Österreicher aller Waffengattungen, aber waffenlos, in zerlumpten Mänteln und zerrissenem Schuhzeug, französische Reiter, rücksichtslos durch die Menge trabend, Fußvolk, hier mit geschulterten Gewehren in Kolonnen marschierend, dort in aufgelöster Ordnung, jedoch meist in großen Haufen, schwatzend und gestikulierend, die einen stürmisch an verschlossenen Haustüren pochend, die andern bemüht, mitten auf der Straße Feuer anzuzünden. Aus der Ferne hörte man Trommelwirbel und Hornsignale, in der Nähe das dumpfe Summen, ähnlich dem eines großen Jahrmarktes, dazwischen lautes Lachen, öfter noch Flüche und rauhe, befehlende Scheltworte. Wunderlich mischte sich das schnurrende R der Franzosen mit den gutmütigen O- und U-Lauten der Österreicher. Durch das niedere altertümliche Rathaustor wimmelte es ein und aus wie bei einem Bienenkorb; vor der benachbarten Hauptwache stand eine Kompagnie französischer Grenadiere, Gewehr im Arm, starr und stumm wie Bildsäulen; in der Richtung des Münsterplatzes hing ein trüber rötlichgelber Dampf über den schwarzen zackigen Hausgiebeln. Niemand würde in diesem Tumult den kleinen Gesellen gestellt haben, wenn er sechs Franzosen gefällt hätte.

Ohne sich bewußt zu werden, wohin er wollte, wandten sich seine Schritte gegen das Münster. In dem düsteren, abgelegenen Brautgäßchen, durch das nur wenige Leute rennenden Schritts neben ihm her liefen, bemerkte er die kleine, gebückte Gestalt, die ihm vorschwebte, seitdem er sich von Gretle losgerissen hatte. Nur der Magister Krummacher ging langsam, mit tiefgesenktem Kopf in derselben Richtung, vermutlich seiner Wohnung zu. Berblinger berührte seine Schulter mit der Hand; aber es war noch immer Zorn, nicht Furcht, was ihn bewegte. Der Pestilenziarius fuhr erschrocken in die Höhe:

»Was ist geschehen, Brechtle? Wie siehst du aus!«

›Hab' ich schon das Kainszeichen auf der Stirn?‹ flog es durch den Kopf des Jungen. ›Ich will's tragen und mich nicht schämen.‹ Dann flüsterte er mit heiserer Stimme: »Ich glaube, ich hab' einen Franzosen totgeschlagen. Ich hoff' es!«

»Brechtle, um Gottes willen – ich glaube, du bist verrückt«, rief der Magister und drängte ihn in den Schatten einer Türnische.

»Nicht weit davon«, sagte der Geselle bitter. »Er war über mein Gretle her. Das Bügeleisen kam mir in die Hand und ein Gedanke in den Kopf – Sie wissen – aus alter Zeit, in Ochsenwang – da war's geschehen. Wir haben's in der letzten Zeit tagelang gesehen: Gott lenkt die Kugeln. Ich denke, er lenkt auch die Bügeleisen.«

»Das tut er, Brechtle«, sagte der Pestilenziarius mit einem Male ganz ruhig, »aber jetzt ist's an uns, etwas zu tun: zu laufen.«

»Aber wohin?«

»Durch die Tore und über die Wälle kommt heute nacht keine Maus«, überlegte Krummacher. »Die Franzosen haben alles besetzt von wegen ihrer Gefangenen. Bei mir ist's nicht sicher. Das Stübchen ist zu klein, und man hat zu oft gesehen, daß du dort ein und aus gehst. Wenn sie dich suchen, kommen sie zu mir. – Aber – ja, das geht – ich weiß ein Versteck, wo dich niemand vermutet. Komm! Schnell!«

Er zog ihn hastig weiter.

»Und Gretle?« fragte der Geselle, sich sträubend und plötzlich von einer peinigenden Angst übermannt.

»Ist er tot, der Schuft?« fragte der Pestilenziarius dagegen.

»Er rührte sich nicht mehr.«

»Nun also! Heute nacht fragt niemand, ob eine Leiche mehr oder weniger in Ulm liegt. Am Frauentor kannst du zwanzig sehen, von vorgestern her, unbegraben. Gretle weiß sich zu helfen, und morgen wird Gott helfen. Schneller, Brechtle, schneller!«

Sie eilten weiter. In unzusammenhängenden, hastigen Worten erzählte Berblinger den Vorgang, soweit er sich erinnerte. Er erschien ihm selbst wie ein Traum.

Sie schlichen jetzt an der Südseite des Münsters hin, ohne sich bei Krummachers Häuschen aufzuhalten. Über dem Münsterplatz und seinem Gewimmel wogte der blutrote Rauch von einem Dutzend hochlodernder Wachtfeuer.

Der Turm, dessen unteren Teil mit dem prächtigen Portal eine fahle Helle gespenstisch beleuchtete, verlor sich nach oben in schwarze Nacht. Es war ein schaurig-ernstes Bild; aber sie hatten keine Zeit, schaurig-ernste Bilder zu betrachten.

Die Türe des Mesnerhäuschens stand halb offen. Der geistliche Schuster war wohl auf dem Platz draußen, um sich das tolle Treiben anzusehen. Sie traten ein. Es war stockfinster, aber der Pestilenziarius war hier zu Hause. Er wußte, daß auf dem Fenstersims eine Laterne und Feuerzeug stand, und schlug Licht. Dann schlüpften sie durch das Hintertürchen, das in das Innere des Münsters führte, wandten sich rechts und begannen die steile Turmtreppe hinaufzuklettern.

Beim ersten Absatz, auf der Galerie über dem Dach, welches das Portal schützt, hielten sie still und sahen aufatmend hinab auf das dämonische Getümmel zu ihren Füßen, die Hunderte wilder fremdartiger Gestalten, die sich zwischen den qualmenden Feuern bewegten, das dumpfe unaufhörliche Murmeln der Menge, da und dort lautes Geschrei, kurze Trommelwirbel und das Klirren der Waffen, als ob man Ketten schleifte.

»Da unten«, sagte der Pestilenziarius nach langem Schweigen – »da unten treibt der Satan sein Wesen. Hier oben bist du sicher, solange der alte Gott noch lebt. Es ist sein Haus. Komm!«

Sie stiegen weiter. Als sie aus der Wendeltreppe heraus auf die damals höchste Plattform des Turms traten, auf der sich die Wächterwohnungen befanden, sahen sie im matten Licht der umschleierten Mondscheibe auf einem der vorspringenden Erker eine Gestalt, die weit über die Brüstung sich vorbeugend nach unten blickte. Berblinger erkannte den Türmer sofort, der in seinem fast mittelalterlichen, pelzverbrämten Mantel und mit dem langen schneeweißen Bart genauso aussah wie vor vier Jahren, als er ihn zum letztenmal gesehen hatte. Dagegen schien ihn Lombard, der sich aufrichtete und den Pestilenziarius ohne ein Zeichen der Verwunderung begrüßte, nicht mehr zu erkennen.

»Ich dachte mir's«, sagte er mit einem feinen Lächeln in den bleichen Zügen. »Es wird den Leuten da unten zu unruhig. Das treibt sie herauf, um eine Stufe höher. Ist mir auch so gegangen. Nur Esel bleiben ewig unten; euer Generalfeldmarschall zum Beispiel. Er hätte von hier aus seine Truppen bei Elchingen laufen sehen können.«

»Kennen Sie den jungen Berblinger nicht mehr?« fragte der Pestilenziarius.

»Den Brechtle, den kleinen Aeronauten?« rief der Türmer sichtlich erfreut. »Er hat mich so lange sitzenlassen, der Bursche, daß er mir aus dem Gedächtnis hinausgewachsen ist und ist mir doch verwandt wie ein leibliches Enkelchen. Er kommt auch heute nicht zum Spielen. Die Zeiten sind nicht danach. Seht nur einmal hinunter!«

»Wir kommen aus dem Hexenkessel«, sagte der Magister, »und suchen bei Ihnen Schutz und Hilfe.«

»Die hatte ich selbst nötig fast mein ganzes Leben lang und fand sie hier oben. Der alte Münsterturm wird sie einem Ulmer Kind nicht versagen. Was ist los mit dem Jungen?«

Der Pestilenziarius erzählte, was sie heraufführte.

»Weibergeschichten sind nicht meine Sache«, sagte der Türmer mit gefalteter Stirne. »Wir haben Gescheiteres in der Welt zu tun, wenn wir wollen, und ich hab' sie sie seit sechzig Jahren abgeschworen. Aber du hast einen guten Fürsprecher, Junge, und ich bin euch Ulmern einen Dank schuldig. Auch macht sich's, als ob es die Vorsehung geplant hätte. Vorgestern haben sie meinem jüngsten Hilfswächter am Frauentor ein Bein abgeschossen. Er wollte mit Gewalt dabeisein. Nun hat er's! Für den kann er eintreten, solang es nötig ist; kein Hahn wird nach ihm krähen. Kannst du acht Stunden lang wach bleiben, Junge?«

Berblinger küßte die dünne weiße Hand des Alten. Es war ihm ganz feierlich zumute. Er hatte sich vier Jahre lang danach gesehnt, dem Turmwart wieder einmal zu begegnen. Der Pestilenziarius trippelte unruhig hin und her.

»Ich sah keinen andern Ausweg. Gott schütze den Jungen!« dachte er halblaut.

»Die Türmerei ist nie für ein ehrlich Handwerk erachtet worden, seit uralten Zeiten«, fuhr Lombard fort. »Man rechnet uns in eine Klasse mit Henkern und Abdeckern. Das hat auch sein Gutes, wenn man dabei den Kopf oben behält, und dies gibt sich fast von selbst. Man sieht von oben herunter zuviel von Spitzbüberei und Torheiten, mit denen sich die ehrsamen Leute durchs Leben schlagen. Herrgott! was hab' ich seit den letzten acht Tagen nicht alles gesehen! Wie sie sich die Schädel einschlugen! Wie sie sich von der Erde wegfegten – Leute, die sich in ihrem ganzen Leben nichts Böses getan hatten! Blut ist das Schlimmste nicht. Dir ist wund und weh, Brechtle, von wegen deines Bügeleisens. Wenn der Kaiser Napoleon dort drüben in Elchingen so dächte, wo blieben da eure großen Männer und die ganze Weltgeschichte? Ohne Blut geht's nicht ab, nicht bloß im Krieg. Mach dir nicht zuviel daraus, sonderlich wenn es einmal dein eignes sein sollte. Weibergeschichten, das freilich ist das Dümmste. Aber du bist noch jung, Brechtle, viel zu jung, um aufgeknöpft zu werden. Sei ruhig; wir wollen dich schon durchkriegen.«

Berblinger hörte dem Alten kaum mehr zu, als er fortfuhr, sich über Weibergeschichten‹ auszulassen.

»Und Gretle, Gretle – drunten bei Bockelhardts?« fragte er halblaut, sich an Krummacher wendend. Dieser ergriff die Laterne, die er auf den Boden gestellt hatte.

»Eine ruhige Nacht ist's nicht«, sagte er. »Sie wird wissen wollen, wo du untergeschlupft bist; aber sei nicht bange und schlafe nicht ein. Mehr hast du hier oben nicht zu tun, und unser Herrgott lebt noch, auch unten.«

Er hatte seit Jahren nicht so munter und tatenlustig ausgesehen, der alte Pestilenziarius, als in dem Augenblick, in dem sein gutes, häßliches Gesicht unter der sich schließenden Falltüre verschwand, die er sich vorsichtig selbst über den Kopf zog.

 

Lombard brach jetzt das Gespräch kurz ab und zeigte seinem neuen Hilfswächter ein Kämmerchen in dem wunderlichen Bau auf der Plattform, welcher ursprünglich die Fortsetzung des Turms gebildet hatte, jetzt aber die Wohnung der Turmwächter enthielt. In dem kleinen Gelaß standen zwei Bettstätten, von denen eine dem Gesellen als sein Lager angewiesen wurde.

»Leg dich schlafen!« sagte der Türmer. »Du sollst morgen von acht bis vier Uhr deine erste Wache tun. Auch bei Tag mußt du hierfür frisch und munter sein und die Augen aufmachen können. Die Stadt ist zur Zeit ein Pulverfaß und läßt uns keine Ruhe, wenn wir hier oben auch nicht viel nutzen können. Per dio! Sie würden trotzdem die Köpfe schütteln, wenn sie da drunten wüßten, daß ein Schneider ihre Stadt bewacht und dazu ein Mörder. – Zwei Mörder«, fügte er halblaut hinzu, während ein böses, höhnisches Lächeln über seine Züge flog, die sonst so ernst und würdig, fast wohlwollend dreinsahen.

Berblinger schlief in seiner ersten Nacht auf dem Turm kaum viertelstundenlang. Es war nicht das dröhnende Schlagen der Turmuhr und das unheimliche Rasseln des Uhrwerks, das ihn immer wieder aufschreckte, nicht das Murmeln und das schneidende »Qui vive!« von unten, das die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen wollte, nicht das Rauschen und Brausen des Winds, der sich gegen Morgen erhoben hatte und um die Fialen und Krabben, das freistehende Stabwerk und die fratzenhaften Wasserspeier des Baues pfiff und kreischte, dröhnte und klatschte, als ob hundert Gespenster im Gemäuer rumorten, nicht der Gedanke an seine Lage, mit einem Totschlag auf dem Gewissen und einem Strick um den Hals; es war Gretle und immer wieder Gretle, die er, wenn auch halb gezwungen, in der Not verlassen hatte und die neben dem toten Mann erwarten mußte, was ihr das Schicksal bestimmt hatte. Er war nahe daran, aufzuspringen und sein sicheres Versteck zu verlassen. Einmal kam er bis an die nach unten führende Falltreppe, fand sie aber verriegelt, und Lombard, der seinen Umgang auf der Plattform antrat, schickte ihn ernstlich böse in seine Kammer zurück. Was hätte es auch genutzt? Was konnte er ausrichten im Tumult von hundert Feinden, die den Erschlagenen von ihm gefordert hätten?

Der ältere Hilfswächter, mit dem Berblinger das Kämmerchen teilte, ein stummer, grämlicher Mann, ließ sich mit Mühe überreden, eine zweite Nacht mit seinem neuen Kollegen zuzubringen. Ein Wächter müsse seine Ruhe haben, meinte er, und bei dem Neuen sei es im Kopf nicht richtig. Erst nach der zweiten Nacht war er bereit, zuzugeben, daß auch Berblinger schlafen könne wie ein Christenmensch.

Es war dies die Folge eines Tags, der den jungen Gesellen einigermaßen beruhigt hatte. An traurigen und aufregenden Eindrücken war er noch immer reich genug, doch ging die schwerste Unglückszeit Ulms allmählich ihrem Ende entgegen. Schon am frühen Morgen, während Lombard seinem neuen Gehilfen die ersten Anweisungen erteilte, bemerkte man in den Gassen der Stadt eine lebhafte Bewegung. Verirrte Trüpplein der scheinbar ziellos umherwandernden Österreicher ballten sich in größere Haufen zusammen. Auf dem Münster- und dem Marktplatz, auf dem Juden- und dem Weinhof, wo immer sich ein freier Raum fand, sammelten sich die entwaffneten Soldaten. Gegen Mittag begann die gefangene Armee in langen, trübseligen Zügen, von Zeit zu Zeit unterbrochen von einer Kompagnie französischer Infanterie, durch das Frauentor die Stadt zu verlassen und auf der Stuttgarter Straße ihren Marsch nach Frankreich anzutreten. Vom Michelsberg herab näherten sich dafür französische Regimenter mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel, die während der Nacht dort oder auf den Wällen biwakiert hatten. In glänzendem Zug ritt durch das Neue Tor der Feldmarschall Ney, der neue ›Herzog von Elchingen‹, der noch vor Abend sein Hauptquartier von Söflingen nach Ulm verlegte. Der Kaiser selbst blieb in Elchingen, inmitten des Schlachtfeldes, auf dem er Ulm eingenommen und die österreichische Armee gefangen hatte.

Unmittelbar nach diesen weltgeschichtlichen Zwischenspielen erschien der Pestilenziarius mit einer Miene, die nicht zu dem Jammer passen wollte, der so sichtlich über der vielgeplagten Stadt lag. Er war offenbar eine der Eulenspiegelnaturen, die lachen, wenn es hart bergauf, und weinen, wenn es behaglich bergab geht. Diesmal brachte er in der Tat gute Nachrichten. Der Franzose sei nicht tot, aber vielleicht auf Monate völlig unschädlich, berichtete er. Der Mann habe die Nacht auf Bockelhardts Arbeitstisch zugebracht, sei allerdings nicht zu sich gekommen, habe aber ruhig geatmet und ganz zufrieden ausgesehen. Am frühen Morgen habe ihn der Doktor Bühler, der Spitalarzt, untersucht, einen leichten Schädelbruch festgestellt und ihn von seinen Kameraden nach dem Fundelhaus bringen lassen, wo ein provisorisches Lazarett eingerichtet worden sei. Dort werde er sorgfältig gepflegt, und zwar von Gretle. Dabei legte Krummacher die Hand sanft auf Berblingers Schulter, da dieser die Fäuste ballte und aufzuspringen drohte; Gretle pflegte auch ein Dutzend anderer Verwundeter, meistens Deutsche, die gestern von Talfingen hereingebracht worden seien. Die Stadt sei überfüllt von zerschossenen Leuten und der Mangel an Pflegerinnen erbarmungswürdig. So habe er den Vorschlag gemacht, Gretle, die im Fundelhaus von früheren Jahren her gar wohl bekannt und gelitten sei, da zu behalten. Sie habe eine Stube für sich, das heißt zusammen mit zwölf Schwerverwundeten, meist Niederösterreicher und Steiermärker, darunter aber auch ihr eigener Franzose. Man könne in der Tat ganz beruhigt sein. Nach des Pestilenziarius Ansicht habe das Bügeleisen mehr gelitten als der Mann. Er habe überdies versprochen, vor Abend wieder nachzusehen, ob alles in richtigem Gang sei, und Gretle Nachricht von ihrem Turmwächter zu bringen. Schon jetzt sei es ihr ein wahrer Trost, wenn sie nachts die Viertel schlagen höre, wie schön ihr Brechtle drauflos hämmere.

Der Junge hatte den Pestilenziarius bleich vor Erregung begrüßt und dieser, um ihn aufzurichten, sich in eine förmliche Scherzlaune hineingeredet. Immerhin sei es sicherer, schloß er ernsthaft, wenn Berblinger seine Stelle als zweiter Gehilfe des Turmwarts beibehalte, bis sich die Dinge in der Unterwelt geklärt hätten. Vorläufig habe das Kommando des 105. Regiments das Bügeleisen bei der kurpfalzbayrischen Polizeidirektion hinterlegt und verlange die Auslieferung des Verbrechers. Da aber die kurpfalzbayrische Polizeidirektion keine Ahnung davon habe, wer der besagte Missetäter sein dürfte, auch sonst mit Geschäften überhäuft sei und in ihrer Kanzlei niemand mehr wisse, wo ihm der Kopf stehe, könne die Sache in Vergessenheit geraten, sobald die Franzosen abgezogen seien. Dies, höre man allseitig, müsse in den nächsten Tagen geschehen, da selbst der Kaiser schon nach Augsburg aufgebrochen sei. Dann könne man hoffen, für Berblinger einen Paß oder ein ordnungsgemäßes Wanderbuch ausgestellt zu bekommen, mit dem er sich unverzüglich und in aller Stille auf die Strümpfe machen sollte, wenn möglich nach Österreich oder ins Preußische. In drei bis vier Jahren dürfte die kurpfalzbayrische Polizeidirektion alle Akten verloren haben, die ihm schaden könnten. Auch dürfte man bis dahin völlig französisch geworden sein, was traurig, aber vielleicht das beste wäre.

Dabei blieb es für die nächsten acht Tage. Berblinger versah seinen Wachdienst, acht Stunden täglich, mit Geschick und Gewissenhaftigkeit, schlug namentlich nachts die Viertelstunden aus vollem Herzen und hoffte bei jedem Schlag, daß Gretle, die ja auch manche Nacht durchmachen mußte, bemerken werde, wie er mit aller Macht an sie denke. Daß er in seinem Diensteifer häufig um fünf bis zehn Minuten zu früh den Hammer schwang, beachtete in den unruhigen Zeiten niemand außer Lombard, der es ihm lächelnd hingehen ließ und höchstens sein ›Weibergeschichten‹ brummte. Das war das Motiv, dem er alle Unordnung auf Erden zuschrieb. Löblicherweise machte sich der Geselle schon am dritten Tag daran, das Schlagwerk der Turmuhr, das seit Jahren außer Tätigkeit gesetzt worden war, weil es sich in der verrücktesten Weise benommen hatte, wieder in Ordnung zu bringen. Dies rief allerdings unten in der Stadt zunächst große Verwirrung hervor, so daß der Stadtkommandant, General Labassée, herauffragen ließ, ob da oben der Teufel los sei; worauf die Reparaturversuche eingestellt werden mußten.

Obgleich dem Magister das Turmsteigen sichtlich sauer fiel, blieb er in seinem Nachrichtendienst unermüdlich und erschien täglich mit dem Neuesten aus Stadt und Fundelhaus: Onkel Schwarzmann sei der Vorsitzende eines Beirats geworden, der die Beziehungen zwischen Stadt- und Militärbehörden zu regeln habe, und nehme bei Professor Schreiber täglich eine französische Stunde, die ihn, wie er behaupte, ganz dumm mache. Die Fräulein Töchter dürften bei Tisch nur noch französisch parlieren, weshalb es vorläufig ungewöhnlich schweigsam zugehe. Eins habe der Herr Onkel übrigens schon herausgeschlagen: die Erlaubnis, das Ordinarischiff wieder wöchentlich einmal wenigstens bis Passau abzulassen. Der Herr Staatsrat Baldinger sei mit all dem im höchsten Grad unzufrieden und gedenke seine Tochter bei der nächsten Gelegenheit zu einer Tante nach Wien zu schicken, sobald dies mit Sicherheit geschehen könne.

Gretle sei die beste Krankenpflegerin in Ulm, und Doktor Bühler wolle sie um keinen Preis mehr ziehen lassen, ehe der letzte Franzose und Österreicher entlassen seien. Er habe sogar Frau Bockelhardt nun schon zweimal siegreich abgeschlagen, die ihre Nichte reklamiere, da sie mit den Zwillingen nicht allein fertig werde. Dem Franzosen – ›unserm‹ Franzosen – gehe es mit jedem Tag besser, so daß er bereits, trotz des zersprungenen Schädels, kleine Scherze mache. François besuche ihn täglich und sei der allgemeine Hospitaldolmetsch. Der Franzose sei der liebenswürdigste Verwundete im Haus und voll Dankbarkeit gegen den Pestilenziarius und Gretle. – Diese Mitteilung empfing Berblinger nicht mit der erwarteten Befriedigung. – Mit dem Wanderbuch werde es keinen Anstand haben, sobald die Franzosen abgezogen seien. Der Aktuar Bührlen, der von der Sache mehr wisse, als gut sei, erkläre sich bereit, Berblinger, von dem er schon aus Blaubeuren Rühmliches gehört habe, fortzuhelfen, aber es brauche eben alles seine Zeit. »Geduld, Brechtle, Geduld! Das ist das A und O aller Lebensweisheit«, schloß der Pestilenziarius. »Drunten in der Stadt schleichen Hunger und Elend noch immer von Haus zu Haus. Danke deinem Schöpfer, daß du hier oben sitzt, und mache keine Dummheiten.«

Dabei sah er ihn mit einem sorgenvollen, fast ängstlichen Blick an, der nicht zu dem scherzhaften Ton paßte, den er sich in diesen traurigen Tagen fast angewöhnte. Der Sturm, der in der Stadt alles aus den Fugen riß, hatte auch ihn aus dem gewohnten Gleis geworfen. In Berblinger begann sich das Gefühl zu regen, daß sein väterlicher Freund allzusehr um ihn besorgt war. Was wollte er eigentlich mit diesen ängstlichen Blicken und den Winken, wenn Lombard ihnen den Rücken kehrte?

Daß ihn der Turmwart mit jedem Tag mehr anzog, war unleugbar. Bei Tag sprachen sie selten zusammen. Der alte Herr hatte trotz seines abgetragenen, altertümlichen Anzugs etwas so Vornehmes, daß ihm jedermann mit einer gewissen ehrerbietigen Scheu begegnete. Den größeren Teil seiner Zeit brachte er in einem der vier Stübchen zu, welche die Türmerwohnung enthielt. Berblinger hatte noch keine Gelegenheit gehabt, in dieses Gemach einzutreten, dessen Türe von innen oder außen stets verschlossen war. Nur einigemal bemerkte er durch das sich öffnende Pförtchen, daß es einen kleinen Herd enthielt und auf zwei Tischchen Kolben und Retorten und wunderliche Geräte verschiedener Form scheinbar wirr durcheinanderstanden. Es machte den Eindruck des Laboratoriums eines Alchimisten.

In der Klosterbibliothek zu Blaubeuren hatte der Junge ein an einer Kette liegendes Buch gesehen, auf dessen Titelblatt eine derartige Werkstätte abgebildet war. In einem Anhang dieses Buches, der größer war als sein Hauptteil, wurden alchimistische Fragen erörtert. Er hatte in diesem Anhang stundenlang heimlich geblättert. War es möglich, Metalle umzuwandeln, Gold zu machen? fragte das Buch. Bis jetzt sei es in glaubwürdiger Weise noch nirgends geschehen, war die Antwort. Alle Erzählungen von gelungenen Versuchen ließen sich bezweifeln und hatten jedenfalls keine weiteren Folgen gehabt. Überall sei es Landesgesetz, daß sowohl das künstlich hergestellte Gold als auch der Goldmacher dem Landesherrn verfallen sei, aber kein Landesherr habe sich je eines erfolgreichen Goldmachers bemächtigen können. Ebensowenig ließe sich jedoch beweisen, daß es nicht möglich sein sollte, Kupfer, Blei oder andre Stoffe in Gold zu verwandeln, denn das Wesen dieser Stoffe kenne nur der, der sie aus nichts geschaffen. Dabei aber stehe dem Menschen wie billig der Verstand still, den er diesem selben Schöpfer verdanke. Hunderte gebe es, die noch heute einen gangbaren Weg suchten, das Mirakulum zu praktizieren. – Etwas derart ging wohl auch in dem Stübchen vor sich, aus dessen halbgeöffnetem Fenster manchmal eine Dampfwolke drang, die bedenklich nach Schwefel und Salpeter roch. Kein Wunder, daß es die Hilfswächter schon längst ›die Hexenküche‹ getauft hatten und es nicht betraten, auch wenn die Tür zufällig unverschlossen geblieben war.

Am siebenten Tag, den Berblinger auf dem Turm zubrachte, hatte er von vier Uhr bis Mitternacht die letzte Wache des Tags. Einem nebligen Novemberabend folgte eine dunkle, aber sternhelle Nacht. Der Mond ging erst gegen Morgen auf. Die Stadt selbst war in einem tief herabgedrückten Nebelmeer begraben, aus dem der Turm und ein Teil des Münsterdachs wie eine Insel hervorragten. Es war allmählich ruhiger geworden dort unten. Der größte Teil der Franzosen war nach Augsburg und München abgezogen, der Rest sollte in wenigen Tagen folgen. Der Geselle blickte gedankenvoll, aber aufmerksam auf das nächtliche Bild: hinunter in die wallende, nebelgefüllte Tiefe, in der da und dort ein rötliches Lichtchen flimmerte, hinauf in das sternbesäte Himmelsgewölbe. Dazwischen schwebte fast in seiner eignen Höhe träg und bedächtig eine Eule an ihm vorüber. Ein Flügel des Tiers, das die regungslose Gestalt des Wächters für ein Steinbild halten mochte, hatte sein Gesicht fast gestreift. So kam es, daß seine Gedanken wieder einmal die Richtung verfolgten, die sie auf dieser Höhe so oft genommen hatten: ›Wie einfach wäre jetzt alles, wenn ich Flügel hätte! Wie einfach ist es für die Eule, ihr Futter zu suchen oder ihren heimlichsten Geschäften nachzugehen. Sie bewegt sich kaum und wiegt sich so sicher über der schwindelnden Tiefe, als ob es keine Schwerkraft gäbe. Warum sollte es uns nicht möglich sein, zu tun, was das dumme Tier fertigbringt ohne zu denken, fast ohne sich zu bewegen. Und in der ganzen Welt rührt sich's. Gedanken steigen auf an tausend Orten, in tausend Köpfen, und diesen einen großen Gedanken sollte niemand auszudenken imstande sein?‹

In diesem Augenblick unterbrach ihn ein schwerer dumpfer Knall. Lombard hatte noch Licht in seinem Stübchen gehabt, das plötzlich erloschen war; dafür drang eine gelbliche Dampfwolke aus dem halbgeöffneten Fenster, und wenige Sekunden später kam auch er, rascher, als er sich sonst zu bewegen pflegte, auf die Plattform heraus. Er sah Berblinger und ging auf ihn zu. Dieser bemerkte zwei rote Flecken auf seinen bleichen Wangen und große Schweißtropfen auf seiner Stirn. Seine Hände zitterten, als er die Arme auf die Steinbrüstung legte und dann eine Zeitlang schweigend in die Ferne starrte.

»Es war zu heiß dort drinnen!« begann er endlich, als ob er sich entschuldigen wollte. »Nichts Neues, Berblinger?«

»Nichts. Alles schläft«, versetzte der Geselle. »Sie werden mich bald fortschicken müssen. Die Welt da drunten wird mit jeder Nacht ruhiger.«

»Das scheint nur so«, versetzte Lombard. »Es regt sich überall. Da unten die Stadt, da magst du recht haben, die schläft. Aber wenn wir sehen und hören, wenn wir fühlen könnten, wie sich's in der ganzen Menschheit reckt und streckt; selbst in einer Nacht wie heute, ohne Wärme und Licht; wie sich's regt in der großen Natur, die sich beständig wandelt und nur schläft, um neu zu erwachen; in tausend Geistern, in denen immer Neues erwächst. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, sagen Narren. Es gibt keinen Tag im Reich der Geister, an dem nicht etwas Neues geschaffen wird.«

»Das ist die Allmacht Gottes«, sagte Berblinger.

»Gottes? Weißt du, was du sagst? – Sage: der Geister; des Geistes. Darin liegen geheimnisvolle Kräfte, die aus nichts schaffen und die niemand leugnen kann, der bei Sinnen ist; denn selbst zum Leugnen braucht er den Geist, den er leugnet. Daß man sie fassen, sie zwingen könnte – diese Kräfte. Seit Jahrhunderten versuchen wir's, müssen uns mit den bescheidensten Anfängen begnügen und gehen mit blutenden Füßen in der Irre. Aber das macht nichts. Wir werden größer, klüger, vielleicht weiser werden, und es lohnt sich, dafür zu bluten.«

Er trocknete lächelnd mit seinem Taschentuch das Blut ab, das, wie Berblinger jetzt erst bemerkte, von seiner Hand tropfte.

»Sie haben sich verwundet!« sagte er erschrocken.

»Glassplitter, nicht der Rede wert«, versetzte der Türmer. »Da hat einer einmal das Pulver erfunden. Damit hat ein böser Dämon sein Spiel getrieben, und wir haben in den letzten Tagen gesehen, was daraus geworden ist. Ein Werkzeug für Haß und Mord. Es hätte die größte Erfindung der Welt werden können, denn im Pulver liegt Kraft, und in der Kraft liegt alles, was wir Menschen brauchen.«

»Alles?« fragte Berblinger zweifelnd.

»Alles!« versetzte Lombard mit einem düsteren, entschlossenen Blick. »Hast du dir den Franzosenkaiser angesehen, wie er dort drüben am Fuß des Michelsbergs stand und sich fünfzig deutsche Fahnen vor ihm senkten? Vor wenigen Jahren war er noch ein kleiner unbekannter Leutnant, nicht einmal ein Franzose. Was hat die Umwandlung bewirkt? Die Kraft, die in dem dämonischen Manne steckt! Die Kraft des Leibes und der Seele. – Ich weiß, die Leute sagen drunten, ich suche Gold zu machen. Ich bin der Narr nicht, mein Leben damit zu vergeuden. Wozu nützt Gold? Sobald wir es machen können, wird es nicht mehr wert sein als die Summe, die es kostet, es zu machen. – Schaffst du Kraft, so kannst du die Welt aus den Angeln heben, Leib und Seele. Sie sind an der Arbeit, drüben in England, die Zauberer des neuen Jahrhunderts. Vielleicht wirst du's erleben, was daraus wird: eine neue Welt. Zeit und Raum, die toten Formeln, werden vor uns verschwinden. Wir werden sein wie dein Gott.«

Berblinger sah betroffen zu dem alten Mann auf, dessen Augen wieder einmal funkelten.

»Auch ich bin daran, seitdem ich denken kann: Kraft! und habe dafür geblutet, Berblinger – und wie!«

»Dort drinnen?« fragte der Geselle mit angehaltenem Atem.

»Nein, dort nicht. Das mag noch kommen, ehe ich dem Weltgeist das Geheimnis entreiße. – Pulver! Warum soll das Pulver, das so geschickt ist, Menschen zu verrichten, nicht gezwungen werden, ihnen zu dienen? Warum soll die Kraft, die eine Kugel ins Blaue hinaustreibt, nicht für uns arbeiten wie ein gehorsamer Knecht? Man hat schon Größeres erzwungen, wenn die Geister uns beistehen.«

»Welche Geister?« fragte Berblinger, den es schauderte, wie wenn er an der Schwelle einer andern Welt stünde.

»Es sind vielerlei«, sagte Lombard ruhig lächelnd. »Da ist der Drang des Schaffens, das Gefühl der Pflicht, die Hoffnung und vor allem der Glaube. Das sind die guten. Aber es gibt auch böse: der Ehrgeiz, die Gewinnsucht, der Neid, der Wahnsinn. Und dann gibt es vielleicht noch andre, die wahren, die wirklichen, an die unsre Väter geglaubt haben. Wer weiß!«

Berblingers Augen leuchteten. Das war der alte Türmer wieder, von dem er so oft geträumt hatte, in der Klosterschule, in der Schneiderwerkstätte, erst vor einer Stunde hier oben. Der mußte ihn verstehen; und er verstand ihn.

»Junge«, fuhr er mit freundlicher, eindringlicher Stimme fort, »du bist einer von denen, welche den großen Kampf mitkämpfen werden, den das neue Jahrhundert ausfechten wird. Ich weiß, was dir im Kopf steckt. Laß dich nicht irren; laß nicht nach. Wenn wir zugrunde gehen, du und ich, laß dich's nicht gereuen. Wie viele liegen dort drunten zwischen Elchingen und hier! Wie viele Tausende werden noch verbluten, bis der tolle Kaiser in seinem Wahn zur Ruhe kommt! Sollten wir in unsere Kämpfen, mit unsern Zielen feiger sein? Armut und Enttäuschung, Spott und Hohn, das alles sind Opfer, die wir der Menschheit schuldig sind. Beiß die Zähne zusammen, wenn du's nicht freudig tun kannst. Soll ich dir erzählen, wie ich Türmer in Ulm wurde? Noch nicht. Ich muß erst wissen, ob du es wert bist. Aber laß dich nicht irremachen!«

Damit wandte er sich ab und begann alle Fenster der Türmerwohnung von außen aufzureißen. Noch immer drang ein erstickender Qualm aus dem Innern, der sich jetzt in der luftigen Höhe rasch verlor.

»Gute Nacht, Junge«, sagte er, noch einmal an ihm vorüberstreifend. »Sieh dich scharf um. Noch ist nichts sicher dort unten, so wenig als hier oben. Das Pulver, das ich brauche, habe ich heute noch nicht gefunden. Ist's heute nicht, ist's morgen. Bin ich's nicht, ist's ein andrer. Der Mensch kann ersticken, der Menschengeist nicht. Daran mußt du glauben, durch dick und dünn. Gute Nacht, Berblinger.«

Heute wurde dem Gesellen die Nachtwache nicht langweilig. »Jeder in seiner Art«, sagte er zu sich, sooft sein Blick auf die Eule fiel, die mit unheimlicher Beharrlichkeit wohl eine Stunde lang in der Höhe des Wächterhauses um den Turm flog. »Aber glauben muß man an sich und aushalten. Da hat er recht.«

Die Turmuhr rasselte, als sei sie plötzlich wütend geworden, ehe sie zum Einuhrschlag ausholte.

»Türken alle Welt!« rief Berblinger entsetzt. »Wie lang hab' ich die Viertelstunden zu schlagen vergessen? Was wird der General Labassée – was wird Gretle denken!«

Dann stürzte er die Wendeltreppe hinunter nach dem Schlagwerk bei der kleinen Brandglocke, um wenigstens das Vierviertelschlagen nicht auch noch zu versäumen.

 

Als er am folgenden Tag seinem treuen Magister von dem Gespräch mit Lombard erzählte, machte dieser sein bedenklichstes Gesicht und begann zu flüstern, obgleich der Turmwart in seinem halbzertrümmerten Laboratorium hantierte und für nichts andres Ohren haben mochte.

»Glaub ihm nicht alles, was er dir sagt, Brechtle. Sei vorsichtig. Er ist mein Freund, denn ich habe sonst keinen und wir kleben beide seit einem halben Jahrhundert am Münster. Er ist klüger als ich in vielen Dingen und muß einmal ein vornehmer Herr gewesen sein. Jetzt wühlt er in einer Vergangenheit, die mir verschlossen ist, und sieht ein wenig in die Zukunft. Aber hexen kann er auch nicht, und ich glaube wahrhaftig, er ist besessen. Er glaubt nichts und glaubt zuviel, je nachdem. Als er noch jung war, rieben sich Freimaurer und Rosenkreuzer aneinander. Damals florierte Voltaire und Cagliostro – das steckt jetzt in ihm. Glaube du ihm nicht. Du hast dir die Finger schon genügend verbrannt, und er hat's auf dich abgesehen.«

Bei seinem nächsten Besuch berichtete der Pestilenziarius, daß er das Wanderbuch vielleicht schon morgen bekommen werde. Die letzten Franzosen marschierten heute ab, und zwei Regimenter Bayern seien auf dem Weg von Nördlingen, um morgen wieder in Ulm einzurücken. Dann endlich würde es Ruhe geben nach diesem entsetzlichen Sturm, der Land und Leute an den Bettelstab gebracht habe. Aber Berblinger müsse fort, so schnell und so heimlich als möglich. Er sei des versuchten Totschlags angeklagt und die Sache in aller Form bei der kurpfalzbayrischen Gerichtsbarkeit anhängig, die sich den Franzosen gefällig zeigen möchte. Einen Schneidergesellen zu hängen dürfte den Herren gerade passen. Wenn der Polizeiaktuar Bührlen, der die Wanderbücher und Pässe zu besorgen habe, nicht ein guter Ulmer und wackerer Deutscher wäre, könnte es noch immer schiefgehen. Der habe ihm aber das Wanderbuch und einen Paß spätestens für übermorgen versprochen, und er, Krummacher, werde Berblingers Ränzlein noch heute abend unten in der Mesnerwohnung abgeben.

Aktuar Bührlen tat denn auch sein möglichstes, lud den Meister Bockelhardt vor, der den Lehrbrief nach langem Suchen gefunden hatte, erhielt vom Zunftmeister Knöppel die nötigen Gesellenpapiere, und schon nach drei Tagen hatte der Pestilenziarius das Wanderbuch in der Hand, das den ehrsamen Schneidergesellen Albrecht Ludwig Berblinger usw. berechtigte, zunächst nach Günzburg zu wandern, von dort aber in allen Staaten des Deutschen Reichs, in Ungarn, Polen, Dänemark, Holland und Frankreich sein Glück zu suchen. Mündlich empfahl der Aktuar dem Pestilenziarius dringend, seinen Schützling ohne Verzug und Aufsehen aus der Stadt zu schaffen, denn er könne den Steckbrief gegen ein des versuchten Totschlags beschuldigtes gleichnamiges Subjekt, das ebenfalls Schneidergeselle sei, nicht länger zurückhalten.

Der Eifer, mit dem der Magister dies alles besorgt hatte, war fast unnatürlich. Was ihn trieb, war nicht allein die Gefahr von seiten der Polizeidirektion. Er wollte Berblinger seinem Freund Lombard nicht länger anvertrauen, denn er sah mit Schrecken, wie ihn dieser mit jedem Tag mehr umgarnte. Der Geselle ging schon in dem Laboratorium, in das selbst Krummacher nicht eindringen durfte, ein und aus. Des Meisters große Ziele waren ihm kein Geheimnis mehr. Es sollte eine Kraftmaschine entstehen, die unvergleichlich mehr leisten müßte als die neuen Feuermaschinen, von denen die Eingeweihten gegenwärtig so viel zu erzählen wußten. Wenn dieser Plan gelänge, wäre auch die Ausführung von Berblingers Liebesgedanke nur noch eine Frage der Zeit. »Fliegen nicht die schwersten Kugeln jetzt schon?« fragte Lombard nachdenklich, während Berblinger, vor Eifer bebend, an seinen Lippen hing. Selbst der Gedanke an Gretle, der ihn seit jener Sturmnacht fast nie verlassen hatte, erblaßte in diesen Augenblicken. Krummacher, der die beiden bei einem derartigen Gespräch überraschte, lief spornstreichs zu seinem neuen Freund, dem Aktuar Bührlen, um sich zu erkundigen, ob das Wanderbuch noch immer nicht fertig sei. »Wo ist denn der Kerl?« fragte der Aktuar ärgerlich. »Die Geschichte wäre in einer Viertelstunde geregelt, wenn wir ihn hier hätten. Aber so! Wenn Sie es nicht wären und die verdammten Franzosen, würde ich mich nicht länger damit plagen lassen. Es geht ja gegen alle Kleiderordnung!«

Doch es ging endlich. Nur müsse der Kerl möglichst in der Morgendämmerung durch die Tore passieren, solange die Torwache noch halb im Schlaf sei, bemerkte der wohlwollende Aktuarius, indem er einen Extragulden an Gebühren einstrich. Sie lauern auf einen gewissen Berblinger, und je schneller der unsre ins Österreichische abgeschoben werde, um so besser. Franzosen und Franzosenfreunden sei nun einmal nicht zu trauen.

So kam's, daß Berblinger vom Türmer Abschied nahm, während der Morgenstern kalt und klar über dem Münster stand. »Sieh dich um«, sagte der alte Mann, »und rege dich. Sieh dir's an, wie sich die Welt bewegt und die neue Zeit emporsteigt. Nicht mit Musketenfeuer und Kanonendonner. Das alles, soviel Lärm sie damit machen, wird verknallen und verpuffen. Was sich in der Menschheit regt und was sie vorwärtsbringt, ist die Kraft, die sie suchen. Suche mit, Berblinger, und laß dich's nicht irren. Du bist einer von denen, die's erleben werden.«

Es war noch tiefe Nacht, als er die Turmstufen hinabstieg. Auf dem Schustertisch in der Mesnerwohnung lag sein Ränzchen, ein Paar Stiefel waren darauf geschnallt, die nicht er gekauft hatte. Auch der echte Ziegenhainer, der daneben lag, war ein Geschenk des Pestilenziarius. ›Wie der gute Mann dafür sorgt, daß ich glücklich fortkomme!‹ dachte Berblinger gerührt und trat in den dämmernden Morgen hinaus.

Er machte einen kleinen Umweg am Fundelhaus vorüber. Fünf Fenster waren dort noch matt erleuchtet. Es waren zweifellos die Krankenzimmer, in denen Gretle vielleicht wachte und – wer weiß! – gerade jetzt dem Franzosen ein Glas Wasser reicht, malte er sich's aus. Eine tiefe Wehmut packte ihn. Er hätte sich das Bügeleisen am liebsten selbst um den Kopf geschlagen. Das aber war nun nicht zu ändern. Er mußte wandern ohne ein Wort des Abschieds.

Am Eingang des Taubengäßchens, in der Donaustraße, hielt er einen Augenblick still. Sollte er einen zweiten kleinen Umweg machen, um von dem Haus Abschied zu nehmen, in dem er drei Jahre lang gelitten hatte? Nein! Das versprach und verdiente keinen Abschiedsgruß.

Weiter unten in der Donaustraße, fast beim Herbeltor, begegnete er Krummacher, der auf ihn gewartet hatte und ihm seinen Segen gab; dazu fünf Gulden guten alten Ulmer Geldes, als sei er sein leiblicher Vater.

»Bleib ein braver Gesell, Brechtle«, sagte er zum Schluß, »und vergiß, was der droben dir vorschwatzte. Vergiß alles! Handwerk hat einen goldenen Boden, und ein redlich und zufrieden Herz führt höher als Pulver und Flügel oder was sonst ihr fabrizieren wolltet. Weißt du: ›Sie treiben viele Künste und kommen weiter von dem Ziel.‹ Laß dich nicht irremachen. Komm gesund wieder, und wenn du mich nicht mehr finden solltest –«

Damit schloß er. Es war ein einfacher Abschied, wortkarg, nach Schwabenart. Als aber Berlinger das Herbeltor und die halbzerstörte Brücke hinter sich hatte und durch die kühle Morgenstille in das flache winterliche Land hineinwanderte und über Pfuhl ein glühendes Morgenrot aufstieg, fiel ihm jede Silbe schwer aufs Herz, und er nahm sich fest vor, keine davon zu vergessen, was auch da draußen in der Welt kommen möge.

Der Mensch denkt, Gott – nein, auch der Erzfeind treibt sein Spiel mit uns.


 << zurück weiter >>