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IX. Selenite

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»Down to the waist they are centaurs,
Though women all above:
But to the girdle do the Gods inherit,
Beneath is all the fiends; there is hell, there's
Darkness, there is sulphurus pit, burning,
Scalding, stenck, consumption – fye, fye, fye!«

Shakespeare, King Lear.

»Wer in Skodra (Skutari) vier Okka Wasser trinkt, wird ein Raufbold, wer sie in Tyrana trinkt, liebt die Knaben. – Wer aber einen Mondstein hat und wirft ihn in Wasser in Dradsch (Durazzo) und trinkt davon vier Okka, der ist mit den Teufeln zur Nacht und mit den Engeln auch.«

Albanisches Sprichwort,
(Zur Zelt Skanderbegs, XV. Jahrh.)

 

Sein Sekretär reichte ihm die Post. »Es ist eine Einladung von Miß Pierpont dabei,« sagte er. »Für ein Fest der Monddamen. – Sie wollten mich mit hin nehmen.«

»Geben Sie her,« sagte er, nahm das Kuvert, riß es auf. Las, schüttelte den Kopf.

»O je, nicht einmal ein Fest können sie selbst machen in dieser Papageienstadt!« rief er. »Da lesen Sie, Rossius: ›28 Januari A. D. 1490!‹ Das da ist die wörtliche Übersetzung einer Einladung des Fürsten Rimoff, und der Klimbim der Monddamen wird die verkitschte Nachahmung des Festes sein, das der Russe in Paris vor fünf oder sechs Jahren gab! Das wird kaum der Mühe wert sein.«

Der Sekretär fragte: »Waren Sie damals dabei, Doktor?«

»Nein,« erwiderte er. »Aber die Pierpont war dort, sie hat mir mal erzählt, wie herrlich es gewesen sei. Die Äbtissin von San Sixto, vom Orden des heiligen Dominikus von Guzman, gibt dem nach Rom zurückkehrenden Cesare Borgia ein Fest: das ist die Idee. Ausführung nach dem Tagebuch Burchards, des Zeremonienmeisters Alexander VI. In Paris mags erträglich gewesen sein – hier wirds gewiß fürchterlich: Renaissance bei der Pierpont in Neuyork!«

Ernst Rossius zog ein sehr langes Gesicht. »Sie wollen nicht hin, Doktor? Sie meinten doch, daß es sehr gut für mich sei, wenn ich einmal so eine – Orgie – dieser – dieser Damen sehn würde!«

Er lachte: »Sehr gut für Sie? Na, obs für Ihre Tugend grade so außerordentlich förderlich ist – weiß ich nicht. Aber interessieren wird Sies – das schon. Sagen Sie mal, bin ich an dem Abende frei?«

»Ganz frei!« rief der Sekretär. »Ich hab schon nachgesehn – keine Reden, kein Theater – nicht mal eine Einladung.«

Frank Braun sagte: »Gut also, gehn wir hin. Schreiben Sie gleich einen Brief, daß ich dankend annehme und bitte, Sie mitbringen zu dürfen. Warten Sie, da ist die Vorschlagsliste der Kostüme: päpstliche Garden – spanische Trachten – französische, venetianische Gesandte. Hier: Franziskaner – das tuts! Das ist das Einfachste und vermutlich das Echteste auch – an Kostümen werden wir etwas erleben können. Rufen Sie das Deutsche Theater an, ob uns der Direktor ein paar nicht allzu vermottete braune Mönchskutten leihen will.«

* * *

Sie kamen ein wenig spät: schon war der feierliche Empfang zu Ende, eben leitete die Äbtissin Benedikta ihren illustren Gast, den Neffen des Papstes, zum Refektorium, wo die Ergötzlichkeiten vor sich gehn sollten. Dorthin drängten sie sich. Es war ein weiter Saal des mächtigen Klubhauses, der dicht an den sehr großen Wintergarten stieß; die trennenden Glaswände hatte man für diese Nacht herausgenommen, so daß das Ganze ein ungeheurer Raum schien, der sich zu einem Garten öffnete.

Freilich, die Vorstellung, daß man in einem Kloster sei, hatte man gewiß nicht – ängstlich war in der Ausschmückung alles vermieden, was irgendwie mit Religion zu tun hatte. Kein Gekreuzigter, keine Jungfrau und keine Heiligen, weder Statuen noch Bilder. In diesem dunkelrot ausgeschlagenen Saale, den verdecktes Licht von oben her matt erleuchtete, konnte vor sich gehn, was nur mochte, ein Rokokofest so gut wie eines aus Tausendundeiner Nacht.

»Da steht Direktor André!« zeigte Rossius.

»Auch als Mönch?« sprach ihn Frank Braun an. »Dominikaner – Konkurrenz!«

»Ich bin der Savonarola,« lachte André. »Komme von San Marco aus Florenz. Ich bin hier, um Stoff zu sammeln für Bußpredigten.«

Ihm stand jedes Haus weit offen in Neuyork, wie in den ganzen Staaten. Noch aus der Zeit her, als er der große Tenor war in der Metropolitanoper, der alles sang. Der dann selbst Direktor der Oper wurde und für Jahre das Kunstleben beherrschte – der heute drei Operetten im Lande reisen hatte, und zugleich in allen möglichen anderen Sachen steckte: Film, Vaudeville, Zirkus.

»Kommen Sie, meine Herrn,« fuhr er fort, »wir stellen uns auf die Seitenrampe, da können wir die ganze Herrlichkeit überschaun.«

Eine lange Estrade war an die Längswand des Saales gebaut und zwei andere an den beiden Querwänden; vier Stufen führten hinauf. Viele Sessel und Stühle standen dort, alle in Rot und Gold – die rückten die Diener zurecht. Die Äbtissin in feierlichem Schwarz und Weiß schritt hinauf; sie geleitete Cesare Borgia zu ihrem Thronsessel, gerade in der Mitte.

»Sie sieht gut aus, Susan Pierpont!« sagte Frank Braun. »Aber wer ist ihr schöner Cesare? Der könnte schon ein bißchen spanischer sein.«

Ein zwölfjähriges Mädchen setzte sich zu Füßen der Äbtissin, Lucrecia Borgia, Cesares hübsches Schwesterlein.

Langsam schritten die Gäste durch den Saal, zogen die Stufen hinauf. Und bei einem jeden schmetterten Fanfaren und jedesmal verkündete ein Herold den Namen.

Neben die Äbtissin setzten sich des Papstes Mätressen, die Vanozza, Cesares Mutter, eine Vierzigerin, dann, mit ihrem Manne, dem Herzog von Orsini, die junge Julia Farnese – das war der Pierpont Freundin, Marion de Fox. Der Kardinal Alexander Farnese stand hinter ihr, hinter der Äbtissin des Papstes Zeremonienmeister, Burchard. Dann Adriana Mila, des Kardinals vertraute Freundin, Cesares Schwestern Isabella und Girolama, die die Marlborough spielte, das dritte Blättchen in dem Pierpontkleeblatt, das in Paris so bekannt war wie in Neuyork. Gioffre Borgia dann, Giovanni di Celano, Pier Luigi: alle neun Kinder des mächtigen Papstes Rodrigo, der sich Alexander der Sechste nannte. Sogar die kleine Laura und Giovanni hatte man nicht vergessen, des Papstes jüngste Kinder, die ihm die Farnese gebar; die hielt das Mädchen, während der Bub auf der Vanozza Schoß saß. Nur er selber, der Papst, war nicht da – nein, nein, das ging nicht, da mußte man Konzessionen machen. Aber alle seine Neffen und Verwandten: Sancia, Don Gioffres Gattin, die Bischöfe Collerando und Francesco Borgia, der Finanzminister; dann Luigi Pietro Borgia, der Kardinaldiakon von Santa Maria, und Rodrigo Borgia, der Kapitän der päpstlichen Garden. Auch der Geheimintendant, Juan Marades, Bischof von Toul, der prachtvoll echt aussah, Pietro Carranza, der Geheimkämmerer, und Giovanni Lopez, Bischof von Perugia, sein Vertrauter. Viele noch, viele –

»Remolino de Ilerdo,« meldete der Herold. »Giovanni Vera da Ercilla – Mitglieder des Heiligen Kollegiums.«

Frank Braun hatte sich geirrt – alle diese Kostüme waren geschmackvoll und echt – die Pierpont hatte es sich schon ein Stück Geld kosten lassen. Nur unter den geladenen Gästen sah man manche höchst sonderbare Meinungen von Renaissancetrachten. Auch die Regie des Ganzen war erträglich genug – man sah, daß hier eifrig geprobt worden war.

Alle hatten Platz genommen auf den Estraden, die nun dicht gefüllt waren. Frei blieb der weite Raum in der Mitte zum Garten hin, ihn durchschritten päpstliche Garden und dienende Brüder, die sich im Grünen verloren.

Nun begann eine Orgel, irgendwo hinten. Das Licht wurde matter, bläulich schimmernd wie Mondschein. Und ein leises Singen klang durch die Stille. Frauenstimmen, weiche Frauenstimmen.

Frank Braun schloß die Augen. Lauschte. Sann nach.

Wo nur hatte er dieses Lied gehört?

Das mußte lange her sein, lange. Lateinisch war es – ein Singen von Nonnenstimmen.

Ah einst – bei den Rosennonnen – in der Johannisnacht –

Wie war es doch?

Und er träumte zurück durch die Jahre – träumte im Singsang der Nonnen – sah sich wieder, wie er damals war.

* * *

Damals – damals –

Referendar war er, unten am Niederrhein. Sein Amtsrichter mochte ihn nicht, vom ersten Tage an nicht. Und immer weniger, mit jeder Woche und jedem Monate.

Damals haßte er den Amtsrichter, wie er jeden haßte, der ihn nicht leiden mochte.

Heute lächelte er. Ganz gewiß, der Amtsrichter hatte recht. Wozu bekam er einen Referendar? Der sollte ihm ein wenig von seiner Arbeit abnehmen. Und natürlich die unangenehmste, die allerlangweiligste. Ein bißchen arbeiten, Gott – drei, vier Stunden am Tage. Und dann am Abend mitkommen in die Weinstube, sich erzählen lassen. Auch: Protokoll führen, einen Vormittag in der Woche, und Skat spielen, einen Abend. Das war billig, das war gerecht, wozu gibt es denn juristische Ausbildung?

Er spielte nicht Skat. Er kam wohl in die Weinstube, aber einmal nur und nicht wieder. Er erklärte, daß ihn das langweile. Langweile! Ihn, den Herrn Referendar –?!

Er machte auch keine Besuche. Weder beim Bürgermeister noch beim Landrat, beim Konsistorialrat nicht und nicht beim Gymnasialdirektor. Dem Amtsrichter, der ihn zur Rede stellte, sagte er, er hätte die Herrn ja in der Weinstube gesehn: ein näherer Verkehr lohne sich nicht.

Einmal führte er Protokoll in der Sitzung, auch nur einmal. Als er seine Bogen dem Herrn Amtsrichter zur Unterschrift vorlegte, wurde der rot und blaß und wieder rot. Und er fragte: »Herr, was soll das sein?«

Er antwortete: »Mein Protokoll.«

Der Herr Amtsrichter schlug ihm die Akten auf den Tisch. O, er hätte sie gerne zerrissen, wenn es nur möglich gewesen wäre. Aber das Protokoll muß nun einmal gleich in der Sitzung geschrieben werden, das muß es.

So unterschrieb er, keuchend und schmerzvoll. Sagte, bleich wieder, ganz bleich: »In meiner zwanzigjährigen – zwanzigjährigen Praxis als preußischer Richter ist mir solche Schluderei noch nicht vorgekommen.«

Da meinte der Referendar: »Ich finde es auch sehr schlecht.«

Der Amtsrichter starrte ihn an, suchte nach etwas, das ihn kränken möchte. Fauchte endlich: »Herr! – Herr! Gehn Sie zu einem Elementarlehrer, lernen Sie Schönschreiben!«

Und er sagte: »Danke. Es lohnt nicht der Mühe.«

Er war unbrauchbar. Stets kam er eine Stunde zu spät aufs Gericht, drückte sich, wo es nur eben ging. Er vergaß alles, war unzuverlässig und ungeschickt. Unmöglich war er, wirklich ganz unmöglich. Und es war schon das beste, wenn er ganz wegblieb.

Der Amtsrichter war außer sich. »Hoffnungslos,« knirschte er, »völlig hoffnungslos.«

Aber einmal hatte er doch seine Rache.

Er ließ ihn kommen; hielt ihm eine schöne Rede, stimmungsvoll, väterlich fast. Man wolle doch einmal in aller Ruhe darüber sprechen – sine ira et studio! Was er sich denn eigentlich denke? Und wohin das alles führen solle?

Da sagte er: »Gar nichts denk ich mir. Das alles langweilt mich.« Und dann, als der Amtsrichter in Pathos kam und ihn abkanzelte, als er ihm seine Verbrechen vorhielt, hübsch ins Licht stellte, fein ausbürstete und bügelte, da sagte er hochmütig: »Herrgott, Herr Amtsrichter, melden Sie es doch dem Oberlandesgerichtspräsidenten! Schreiben Sies doch in meine Konduitenliste!«

Da war es, daß der Amtsrichter oben schwamm.

»Herr,« sagte er, »Herr, was denken Sie von mir? Ich soll Ihnen Ihre Karriere verpfuschen? Ich?! Sie bekommen dasselbe schöne Schema-F-Zeugnis, das ich hundertmal schrieb. Tun Sie, was Sie wollen! – Ich danke Ihnen! Sie können gehn.«

Das war ein glatter und runder Sieg. Und darum haßte er den Amtsrichter.

Außer dem dicken Pfarrer hatte er keinen Menschen da unten. Zu dem ging er, Schach zu spielen.

Der Pfarrer pflegte seine Weine und liebte sie. Nur Mosel trank er, wie alle guten Rheinländer. Oder auch, hie und da, ein Glas von der Saar und der Ruwer. Und es freute ihn, wie er, so allgemach, dem Referendar die Zunge bildete.

»Jahr?« fragte er.

»Dreiundneunziger!« sagte der Referendar, und der Pfarrer nickte. Weintrinken lernte er und Schachspielen. Er begriff, daß alles beides halb eine Kunst sei und halb eine Wissenschaft. Und er dachte, daß es ganz gewiß das beste sei, was er hier tun könne in dieser kleinen Stadt am Niederrhein.

So krochen die Monate –

»Waren Sie bei der Äbtissin?« Immer wieder fragte ihn das der Pfarrer. Dann schüttelte Frank Braun den Kopf – aber immer wieder erklärte er, daß er jetzt ganz gewiß in den nächsten Tagen zu den Dominikanerinnen gehen wollte. Er hatte es seiner Mutter versprochen und dem Pfarrer auch. Er vergaß es nicht, aber er schob es so hin – da wurde nichts draus. Und der Pfarrer schalt ihn.

Einmal sagte der Pfarrer: »Ich war im Kloster. Die Äbtissin läßt Ihnen sagen, daß Sie recht ungezogen seien.«

Er wurde rot. »Weiß Gott, sie hat recht! Morgen fahre ich hin.« erwiderte er.

Und der Pfarrer wieder: »Gut, daß Sies einsehn. Aber Sie brauchen morgen nicht hinzufahren – die Äbtissin ladet Sie ein zu Sonntag nacht.«

»Nacht?« fragte er erstaunt.

Der Pfarrer nickte: »Ja, zur Nacht! Um zehn Uhr fahren wir hin – da geht der Mond auf: dann beginnen die Nonnen ihr Rosenfest.«

Sie fuhren hin durch die Julinacht, in dem alten Sandschneider des Pfarrers. Der hielt selbst die Zügel und schnalzte. »Zieh, Zoefke, zieh!« rief er der alten Stute zu. Und die Blässe wieherte.

»Acht Jahre fahr ich nun schon hin in dieser Nacht,« sagte der Pfarrer. »Seitdem Schwester Beata Äbtissin ist. Seither blüht das Rosenfest.«

Der Referendar fragte: »Seither? So hat sie es geschaffen?«

»Nein,« erwiderte der Pfarrer, »es ist uralt. So alt wie das Kloster selbst, oder nur wenig jünger. Die erste Äbtissin, Klara von Pappenheim, soll das Fest gegründet haben, so im Beginn des dreizehnten Jahrhunderts. Nur, wissen Sie, Doktor, es ist nicht mehr zeitgemäß – wenigstens meinen viele Geistliche so. Man untersagte den Nonnen nichts, aber man wünschte und winkte – so verschwand ein alter Brauch nach dem andern. Bis schließlich nur noch der Name übrig blieb: Rosenfest. Aber unsere Äbtissin hat es wieder hochgebracht.«

»Was tat sie?« fragte er.

Der Pfarrer erzählte: »Sie nahm alle die alten Gebräuche wieder auf – wie sie verzeichnet stehn in der Klosterchronik. Nur ein paar allzu rohe ließ sie fallen. O, Sie werden ja sehn, wie es zugeht. Die Kölner sind sehr gegen sie; man befürchtet, daß das Trinkfest Ärgernis gäbe bei den Frommen und höhnisches Lachen auslöse bei den Heiden. Nur – die Äbtissin ist eine Droste, von der Vischeringlinie, wissen Sie, drei aus ihrer Sippe waren schon Äbtissinnen dieses Klosters. Und ihr Onkel ist der Mainzer Erzbischof, einer ihrer Brüder der Fürstabt von Trittheim. Da will man nicht zufassen. Solange sie lebt, blühn die Rosen in der Johannisnacht.«

Gegen zehn Uhr kamen sie zum Kloster; der taube Gärtner öffnete ihnen. Sie gingen durch den weiten Garten, über weiße Kieswege, die der Mond streichelte. Der Pfarrer zeigte ihm eine mächtige Zeder, die tiefschwarz sich hob in all dem Silberglanz.

»Vom Libanon!« sagte er. »Sie erzählen, daß eine Nonne sie mitgebracht habe als kleines Bäumchen, eine junge Nonne, die sich mit dem Kinderkreuzzug Peters von Amiens anschloß und dann zurückkehrte als uralte Frau. Aber es stimmt nicht. Ein Droste brachte das Bäumchen vom Libanon, vor hundertfünfzig Jahren erst, ein Vetter der dritten Äbtissin seines Geschlechtes.«

Der Gärtner führte sie in den Vorhof, dann in den Kreuzgang, hieß sie da warten. »Die Nonnen kommen gleich,« sagte er, »sowie die Andacht zu Ende ist.«

Frank Braun sah sich um. Rings im Klaustrum brannten wenige Lampen; aber der Mondschein fiel strahlend in den Kreuzhof. Glatt war der Boden gedeckt, mit mächtigen, weißen Marmorplatten; überall an den Säulen, hoch hinauf zu den Galerien krochen die Rosenbüsche. Weiße Rosen, viele Tausende weißer Rosen.

»Alles Niphetos und Boule de Neige,« sagte der Pfarrer. »Nur da vorne die drei Stämme sind Franziska Krüger, die habe ich gepflanzt vor zwölf Jahren nun.«

Zwei lange Tische standen am Hauptende. Sie waren gedeckt mit weißem Damast und vor jedem Stuhle stand ein Teller und ein geschliffenes Glas. Silberkörbe standen da, mit Konfekt gefüllt, überall aber auf den Tischen, hingestreut auf das Tuch und wieder hochwachsend aus großen Kristallvasen Rosen, viele, viele, weiße Rosen. Dann, dazwischen, Venediger Karaffen, enghalsig und weit gebaucht. Aber sie waren leer.

»Bald werden sie leuchten von schwerem Zyperwein,« erklärte der Pfarrer. Er wies auf einen Rosenbusch. »Da – schaun Sie.«

Überdeckt von Rosen ruhte auf dem Holzgestell ein gutes Faß. Und daneben ein kleines noch, eng sich anschmiegend. »Das kleine ist meines,« lachte er. »Bernkasteler Auslese, vom Gymnasium zu Trier. Ich schick es her – ich mag den Zyperwein nicht. Den trinken die Frauen. Ihr Herr Onkel schickt ihn, jedes Jahr von Rom.«

»Wer?« fragte der Referendar. »Mein Onkel?«

»Freilich!« rief der Alte. »Ihr Onkel! Der Jesuit. Der Monsignore. – Kennen Sie die Geschichte nicht?«

O ja, seine Mutter hatte ihm davon erzählt. Von seinem Onkel, der Husarenrittmeister war. Der dann, nach dem Siebziger Kriege, den Abschied nahm, nach Rom ging, katholisch wurde und geistlich. Irgend etwas hatte das wohl mit der Äbtissin zu tun, darum sollte er ja hingehn zu ihr. Aber er hatte kaum zugehört damals und längst wieder das bißchen vergessen.

»Es ist besser, daß Sie Bescheid wissen, ehe Sie die Äbtissin sehn,« sagte der Pfarrer. »Kommen Sie.«

Am Fußende des Kreuzganges stand ein kleiner Tisch; drei Stühle, drei Teller, drei Gläser. Ein Konfektkorb wieder und ein großer Busch Rosen.

»Da sitzen wir,« fuhr er fort, »Sie, ich und der Diakon, der jetzt die Andacht hält. Setzen Sie sich.« Er nahm zwei Gläser, ging zu dem Moselfäßchen, füllte sie. »Trinken Sie, Doktor – in der Nacht, da die Rosen blühn.«

So hell klangen die Gläser, mitten hinein in den Schlag der Nachtigall, die aus den Rosen sang. Und, ganz leise, weither klingend aus der Kapelle, erscholl der Nonnengesang.

»Stabat mater Speciosa!« sagte der Pfarrer. »Ich brachte das Lied der Äbtissin, ich! Sie läßt es singen, einmal nur im Jahre – in der Johannisnacht. Ich erzählte ihr von Jacopone von Todi –«

Das war das erstemal, daß der Referendar von der ›Speciosa‹ hörte und von dem Todaner.

Der Pfarrer leerte sein Glas. »Nun sind sie gleich zu Ende.« sagte er. »Hören sie also!«

Er begann die kleine Geschichte der Äbtissin, und gleich, bei den ersten Sätzen schon, fiel dem Referendar wieder ein, was ihm damals die Mutter erzählt hatte. Aber er unterbrach ihn nicht. Lauschte, träumte in die Rosen.

Sein Onkel – ja, der hatte einen Freund und Kameraden, Leutnant wie er im selben Regiment. Und der verlobte sich mit Lenore Droste – achtzehn Jahre war sie damals alt. Jung war sie und sehr schön; sie gab ihre Hand dem Jugendgespielen, dessen väterliches Gut neben dem Stammsitz ihres Geschlechtes lag. Er liebte sie – und sie mochte ihn gern – doch sie wußte nicht, was Liebe war. Damals nicht. Aber sie wußte es gut, drei Monate später, als sie den andern kennen lernte, ihres Verlobten Freund – seinen Onkel.

Die beiden wußten, daß sie sich liebten, doch sprachen sie nie davon. Dann kam der Krieg, und die Reiter ritten ins Feld. Da nahm sie Abschied von ihrem Bräutigam; der küßte sie und sie weinte. Aber eine Stunde später kam der andere. Sie wollten es nicht – keines – und doch lagen sie eines in des andern Armen – und sie küßten sich heiß, heiß, einmal fürs Leben – dennoch.

Der fiel, der andere. Gleich bei Spichern fiel er. Aber sein Onkel kam zurück, Rittmeister, Eisernes Kreuz – ein lachender Held.

Nur: die Geliebte fand er nicht mehr. Die hatte den Schleier genommen bei den Dominikanerinnen, tat Buße für den einen Kuß, der den Bräutigam verriet. So sind die Droste. Ihr Kuß verriet des Verlobten gute Liebe – und ihr Verrat wieder spitzte das Bajonett, das ihn vom Pferde stieß. – War es nicht wirklich so?

So – und nicht anders?

Lenore Droste glaubte es und auch der – den sie nie wiedersah. Er nahm Urlaub erst, reiste nach Italien. Nahm dann den Abschied, trat über zum katholischen Glauben, wurde geistlich – wie sie.

Aus heißer Überzeugung – ganz gewiß. Und doch auch: konnte er dieser Frau seine Liebe besser zeigen?

Sie stiegen beide. Monsignore war er und sie Äbtissin Beata. Sie schrieben sich nicht, nie, aber sie hörten voneinander. Und nun, seit Jahren schon, schickte er den Zyperwein für das Rosenfest.

Das war die Geschichte.

Aus der Türe der Sakristei, unter dem Säulengang her, kam der Diakon. Ein Sechziger, groß und stark, mit vollem, weißem Haare und klugen Augen. Der Pfarrer begrüßte ihn und stellte ihm seinen jungen Freund vor. »Kommt die Äbtissin?« fragte er.

»Gleich werden sie da sein,« antwortete der Diakon. Und er leerte ein Glas auf des Pfarrers Wohl.

Wieder setzte die Orgel ein, da öffnete sich die Türe der Kapelle. Langsam schritten die Klosterfrauen in das Klaustrum zu zwei und zwei; eine jede trug einen Zweig, und an jedem Zweige leuchteten drei Rosen.

Nicht weiße – rote, glutrote Rosen waren es.

»Die Wunden Christi,« sagte der Pfarrer.

»Und zugleich die Dreieinigkeit,« erklärte der Diakon. »Drei: Vater und Sohn und Heiliger Geist – und doch eines nur: eine Gottheit.«

Unter den Säulen des Klaustrum wandelten sie, leise singend, rundherum um den Kreuzgang, in den Mondschein hinaus. Durch die weißen Schleier der Rosen tropften die süßen Perlen von Palestrinas Klängen:

›Jesu! Dulcis memoria,
Dans vera cordi gaudia:
Sed super mel et omnia,
Ejus dulcis praesentia!

Sic, Jesu, nostrum gaudium –‹

So süße Worte. So süße Klänge.

Durch den vierten Bogen kamen die Nonnen hinaus in den Hof, umschritten die großen Tafeln, blieben stehn vor ihren Stühlen. Zuletzt die Äbtissin; ihr ging die alte Pförtnerin voraus. Die trat zur Seite, rückte die Kissen zurecht auf dem hohen Thronsessel. Und die Äbtissin stieg die kleine Stufe hinauf, setzte sich, gab mit dem Rosenzweige ihren Nonnen das Zeichen, Platz zu nehmen.

Frank Braun starrte hinüber zu ihr. Sie war schön, die Äbtissin, still und sehr schön. Wie alt mochte sie sein?

Er rechnete. Vierzig – oder nein, siebenunddreißig nur, achtunddreißig vielleicht. Und zwanzig Jahre im Kloster –

Die alte Pförtnerin bediente ihren kleinen Tisch. Sie füllte die Moselgläser. Aber vier junge Nonnen nahmen die blanken Karaffen, zapften den dunklen Wein und schenkten ringsum den Schwestern. Dann, auf ein Zeichen der Äbtissin, standen alle auf und beteten.

Ganz kurz nur, still und schweigend.

Und schweigend hob die Äbtissin ihr Glas und schweigend leerte sie es. Alle die andern taten wie sie.

Die Äbtissin Beata winkte mit dem Rosenzweig, da trat eine junge Nonne in des Kreuzgangs Mitte.

»Nun kommt das alte Spiel von der wunderkräftigen Liebe Jesu, von der Liebe, die nimmer aufhöret,« sagte der Pfarrer. »Man sagt, daß die erste Droste es erfand. Durch Jahrhunderte sprach mans lateinisch hier, aber unsere Äbtissin hats übersetzt in Deutsch. Schwester Agnes spricht es.«

Die junge Nonne begann, halb sprechend, halb singend, psalmodierend. Sie erzählte von Jesus Liebe, die viel größer sei, viel tiefer, als eines Menschen Hirn sichs ausdenken könne. Und wenn eine Seele noch so sehr beladen sei mit schlimmer Sünde, so könne sie dennoch errettet werden, wenn sie bußfertig zum Herrn Jesu komme. – Sieben Jahre war der Ritter Tannhäuser im Hörselberge bei Frau Venus, der schlimmen Teufelin, arg verstrickt in alle bösen Sünden. Dann entfloh er, zog nach Rom, um Buße zu tun. Er kniete nieder vor dem Papste Urban und küßte seiner Finger Spitze. Er beichtete alles, was er getan, flehte um Absolution. Aber der Heilige Vater war zornig über solch üblen Greuel, sagte, daß er ihn nimmer lossprechen könne, und daß er brennen müsse in tiefster Hölle. Keine Rettung gäbe es für ihn, keine – er sei verdammt auf ewig. Seinen Krummstab stieß er auf den Boden, sagte, wenn der alte Stock da frisch ausschlage, dann sei noch Hoffnung für den Ritter – und sonst nicht.

Der ganze Chor der Nonnen sang des Papstes harte Antwort, die so schloß:

»Nicht eh sich ein Leben im Holze da regt –
Eh aus diesem Krummstab ein Röselein schlägt,
Eh nicht!«

Da tat der Ritter Tannhäuser einen zweiten Kniefall, küßte des Heiligen Vaters Fuß, schluchzte, bat und flehte. Aber der Papst war noch zorniger, herrschte ihn an und wiederholte sein Nein!

»Nicht eh sich die ganze Welt verkehrt,
Von der Erde zum Himmel man abwärts fährt –
Eh nicht!«

Und zum dritten Male warf sich der Ritter zu Boden, küßte den Staub von den Schuhen des Papstes, jammerte und weinte sehr. Doch der Heilige Vater verharrte in seinem gerechten Zorn, jagte ihn fort von der geweihten Stätte, die er beschmutze mit seiner Gegenwart, zurück dahin, wo er gekommen und wohin er gehöre – zu der Teufelin Venus im Hörselberge. Nie und nimmer würde er Vergebung seiner Sünden erlangen!

»Nicht ehe es wintert zur Sommerzeit,
Eh Wein es regnet und Röselein schneit –
Eh nicht!«

Da erhob sich der Ritter vom Boden, nahm den Pilgerstab und ging davon. Und alle in dem großen Saale wichen scheu zurück vor ihm, für dessen arme Seele es keine Rettung mehr gab aus dem ewigen Feuer.

In der Nacht aber erschien im Traume dem Heiligen Vater ein schönes Knäblein, das trat heran zu ihm und sprach: »Nimm deinen Stab und folge mir.« Und verschwand in den Gärten.

Da wachte Papst Urban auf, und es war schon heller Morgen. Er ließ sich ankleiden, gedachte seines Traumes und befahl, daß man ihm seinen Krummstab bringen solle, da er wandeln wolle in seinen Gärten. Sie brachten ihm den Stab und der Heilige Vater nahm ihn und schritt die Treppen hinab. Er wandelte durch die Gärten und kam zu den Feigenbäumen, die hingen voll reifer Früchte. Da bekam der Papst Lust, Feigen zu essen. Er stieß seinen Stab in die Erde, ging rund um die Bäume, brach die schönsten Früchte ab und aß sie.

Hier unterbrach sich die Nonne. Eine dienende Schwester trat zu ihr, reichte ihr einen alten Stock in der Form eines Krummstabes. Den nahm sie und stieß ihn auf die Marmorplatten, als ob sie ihn in den Boden stoßen wolle – die Alte hielt ihn so fest. Dann ging Schwester Agnes herum im Kreuzgang, tat, als ob sie Früchte von den Bäumen bräche und sie äße; währenddessen drängten sich die andern Nonnen um die Alte, die den Stab hielt. Nun kehrte Schwester Agnes zurück, nach ihrem Stabe suchend.

Blieb stehn, erzählte weiter.

– Und der Papst Urban kam zu dem Platz zurück, wo er seinen Stab in die Erde gestoßen hatte, und fand ihn nicht. Er war verschwunden: an seiner Stelle aber stand ein Rosenbaum – der war gewachsen genau in der Form seines Krummstabes. Er trug nur wenig, ganz junges Grün und dazu drei kleine Rosenknospen.

Die Nonnen öffneten den Kreis – da fand Schwester Agnes ihren Stab wieder – der mit Rosenranken geschmückt war und mit drei Röselein.

– Und der Heilige Vater ging weiter durch seine Gärten. Es schien ihm, als ob in dem Flimmern der hellen Sonne ein Knäblein ihm vorausschritte, dem folgte er. Da kam er an einen kleinen, runden Teich, trat dicht heran, blickte hinein. Die Pinienbäume spiegelten sich in dem klaren Wasser und wuchsen tief hinunter, aber unten, ganz auf tiefstem Grunde leuchtete der blaue Himmel und die leichten, weißen Wölkchen, die darüber zogen –

Hier unterbrach Schwester Agnes ihren Sprechgesang zum andernmal. Trat heran an das Wasserbecken in der Ecke des Kreuzhofes, gefolgt von den Nonnen.

»Kommen Sie,« sagte der Diakon, »das ist sehr hübsch.« Und sie mischten sich zwischen die Nonnen am Wasser.

Eine brachte ein kleines Pappkästchen, das öffnete sie langsam und sehr vorsichtig.

»Den Schauspieler stelle ich zur Verfügung!« flüsterte der Pfarrer dem Referendar zu. »Eins meiner Firmkinder fängt ihn für mich jedes Jahr. Früher wohnte er in einer Zigarrenkiste ein paar Tage lang, um sich auf das Fest vorzubereiten, aber die Nonnen meinten, daß das zu grausam sei – weil er den Geruch vielleicht nicht vertragen könne. Nun tu ich ihn in eine Seifenschachtel – vermutlich riecht er das lieber.«

Die Nonne nahm einen kleinen Frosch aus der Schachtel – den setzte sie der Schwester Agnes auf die flache Hand. Es war ein entzückendes, kleines Fröschlein, das goldgrün im Mondschein blinkte. Und seine klugen Augen guckten sehr verwundert in die Welt.

Die weiße Hand der Schwester Agnes zuckte ein wenig. »Er ist ganz kalt!« sagte sie.

Aber gleich nahm sie ihre Rolle wieder auf, deklamierte.

– Der Heilige Vater saß an dem Wasser – da sprang ein kleines Fröschlein in seine offene Hand –

»Er spannt schon!« rief eine helle Stimme. Und all die Nonnen kicherten.

»Die ist aus Wien,« erklärte der Pfarrer, »eine Metternich ist es.«

Der kleine Grüne wartete nicht auf sein Stichwort. Er sprang hinab, plumps, in das Wasser.

Und ›Ahs‹ und ›Ohs‹ – alle drängten heran, bogen die Köpfe vor.

Frank Braun sah den kleinen Frosch, wie er sprang und tauchte. Wie er schwamm, in schnellen Stößen, von dem Gras hinab, das über den Rand hing, vorbei an den rosenumrankten Säulen, die sich spiegelten im Wasser. Dem Monde zu und all den Sternen zu und hinab in den strahlenden Himmel – von der Erde hinab.

Er nahm alles Interesse, und keines achtete mehr auf der Nonne Gesang. Ihr Fröschlein tat, wie das des Heiligen Vaters auch – nur schwamm das durch leuchtenden Sonnenglanz. Und verschwand irgendwo, tief im Grunde – unten, im Himmel.

»Ich seh ihn!« kicherte die Metternich. »Schaugts, da sitzt er!«

Alle traten wieder zurück; Schwester Agnes stand in der Mitte. Sie erzählte, wie Papst Urban sehr nachdenklich wurde und sehr ernst. Wie er Befehl gab, hundert reitende Boten auszuschicken, die sollten herumreiten und spähen und suchen und den Ritter Tannhäuser zurückbringen zur Engelsburg. Und er saß auf seinem hohen Stuhle und aß nicht und trank nicht und sprach kein Wort. Sann lange nach und wartete.

Aber in dieser Nacht, die die Johannisnacht war, hatte er den Dominikanerinnen versprochen, ihr Gast zu sein. Es war das erstemal, daß er hinging, mit ihnen zu feiern das Rosenfest zu des Herrn Jesu Ehren. Wie er aber eintrat in den Kreuzhof ihres Klosters, da schneite es weiße Röslein über ihn und regnete klaren Wein, und er hörte der frommen Schwestern Gesang:

»Des Herren Liebe tut Wunder allzeit,
Sie macht, daß es mitten im Sommer schneit.
Herr Jesus läßt regnen den goldnen Wein
Und schneit vom Himmel die Röselein!«

– Schwester Agnes sprach es nicht, alle die Nonnen sangen es. Oben aber auf den Galerien standen plötzlich zwölf Nonnen und mehr. Die einen hatten Schalen, in die tauchten sie die Finger und sprengten Wein hinab – wie goldene Tautropfen. Und die andern warfen Rosen, viele, viele, weiße Rosen, die schneiten hinunter von allen Seiten auf die hellsingenden Schwestern.

Dann schwiegen sie; Schwester Agnes beendete ihre Erzählung. Aber sie berichtete nicht, was mit dem armen Ritter geschehn sei, sie sagte nur, daß der Papst mit den Frauen niedergekniet sei und dem Herrn Jesu lobgesungen habe. Und das Ganze schloß mit einem jubelnden Preisgesang auf das Herz Jesu, dessen reine Liebe alle Kreatur umfasse und viel, viel tiefer sei, als Menschengedanken erfassen könnten.

– Die Äbtissin winkte der Schwester Agnes, die trat heran und kniete vor ihren Thronsessel. Die Äbtissin sagte ihr ein paar freundliche Worte und streichelte ihre Wange; dann entließ sie sie. Und alle Nonnen setzten sich an die Tafeln, nippten von dem Weine, knabberten von dem Konfekt. Es war ein Tuscheln und Kichern und Schwätzen und leises Lachen in dem Hofe, wie in einer Mädchenschule, wenn grade Pause ist.

Wieder erhob sich die Äbtissin. Sprach: »Laßt uns singen, Schwestern.«

Vier Nonnen traten heraus, eine alte, große und starke, zwei junge und eine kleine Novize. Sie stellten sich unter den Portikus, der wild überwuchert war von all den Rosen. Die Große gab den Takt mit ihrem Rosenzweig; vierstimmig sangen sie.

»Laßt uns singen und fröhlich sein,
In den Rosen,
Mit Jesus und den Freunden sein.
Wer weiß, wie lang wir hier noch sein
In den Rosen?«

Und alle nahmen es auf und hell klang es in die Mondnacht: »In – den – Rosen!«

»Die große ist eine Dalwigk,« flüsterte der Diakon, »und die rechts, die mit dem Stumpfnäschen, eine Romberg.«

»Jesus Wein ist aufgetan,
In den Rosen,
Da sollen wir allesamt hingahn,
So mögen wir Herzensfreud empfahn
In den Rosen.
Er soll uns schenken den Zyperwein,
In den Rosen,
Wir müssen alle trunken sein
Wohl von der süßen Minne sein,
In den Rosen.«

Sie schwiegen, und die Äbtissin stand auf. »Liebe Schwestern,« sprach sie, »trinkt auf des Bräutigams Liebe.« Sie trank ihr Glas aus zur letzten Neige und alle folgten ihr. »Schenkt ein!« rief sie. »Schenkt den Zyperwein!«

Schwester Klara, die Freiin Dalwigk, hob ihren Rosenzweig, gab den Einsatz: da sang die Novize allein. Fast ein Kind noch war sie, so jung und zart und schlank. Ihre Stimme klang wie flüssiger Mondschein, wie ein Regen im Mai, wie weiße Rosenblätter, die Kolombine in die Luft wirft –

»Setzt das Gläschen an den Mund,
In den Rosen,
Und trinkt es aus bis auf den Grund,
Da find't ihr den Heiligen Geist zur Stund
In den Rosen.«

»Ti – Ti – taa – taa!« scholl es wieder aus dem Säulengang. Und die Nachtigall griff den Ton und flötete »Tu – tü – tüü – tü!«

Da winkte die Äbtissin: »Antworte!« Die süße Novize sang, lauter und voller: »In – den – Rosen – –« und lauter und voller schlug die Nachtigall die Töne: »Tü – tü – tüü – tüü –«

Noch einmal, blank und hell, wie ein Hufschlag auf leuchtenden Marmorplatten, und wieder, sterbend fast, schmerzend und keuchend, wie ein Abschied von allem Leben –

Und immer antwortete die Nachtigall.

Da schluchzten die Nonnen. Und aus des Pfarrers Augen fielen zwei große Tränen.

»Das ist schön,« sagte er, »so schön!«

Aber der Diakon flüsterte: »Ja. Und sehr – heidnisch.« Doch auch seine Augen schimmerten feucht.

Die Äbtissin hob sich. Sie sagte: »Mitten unter uns ist er: Jesus, der Gott der Liebe.« Sie nahm ihr Glas, streckte den Arm aus und trank den Schwestern zu.

Sie stießen an, und sie tranken. Und sie sangen alle.

»Laßt das Gläschen ume gahn
In den Rosen!
So mögt ihr fröhlich heimwärts gahn
Und alle Zeit in Freuden stahn
In den Rosen!«

Auch der Diakon stand auf und der Pfarrer und der Referendar. Und sie sangen mit den Schwestern: »In – den – Rosen.«

Die alte Pförtnerin füllte ihre Gläser; die kleine Novize aber und die junge Schwester Ursula liefen geschäftig herum um die Tische, schwenkten die Karaffen und schenkten ein. Und alle tranken und sangen.

Dann winkte die Äbtissin dem Pfarrer, hieß ihn willkommen und begrüßte ihn. »Erzählen Sie von der Nachtigall, Vater,« lächelte sie, »wenn Sie Ihren Bericht machen für Köln.«

Der Pfarrer versprach: »Das werde ich gewiß tun!« Er rief den Referendar heran, stellte ihn der Äbtissin vor.

Sie sagte: »Der ist es also – der.«

Sie fragte ihn nach seiner Mutter und nach andern Verwandten. Nach seinem Onkel fragte sie nicht.

Er gab Auskunft, seine Lippen sprachen. Aber er dachte nichts, all sein Empfinden drang in die Augen. Er sah nur, sah –

Da saß auf ihrem Thronsessel, diese große schöne Frau. Gütig, heilig und ernst – tot in allem Leben. Nur die Hände sah er, und, rund ausgeschnitten, das Gesicht. Alles sonst verhüllt, streng, in jeder Falte härteste Form. Schwarz und Weiß des Ordenskleides. Hinter ihr der hohe Vorhang der weißen Rosen, aber rote Rosen auf ihrem Schoße – damit spielte die Hand. Diese Heiligenhand, klein, süß, ein wenig voll.

Und blanke, blaue Augen –

Sie ließ ihm ein Glas mit Zyperwein füllen – trank mit ihm.

Dann kniete er. Mit beiden Knien auf der Stufe ihres Sessels, dicht vor ihr. Etwas zog ihn dahin, und er kniete.

Er dachte: ›Nun muß ich ihren Segen bitten‹. Aber er sprach kein Wort.

Die Äbtissin hob die Hände, berührte leicht, mit den Fingerspitzen nur, seine Schläfen. Schaute ihn an, schweigend. Das deuchte ihn eine Ewigkeit.

»Wie er,« murmelte sie, »wie er.«

Sie hob seinen Kopf – beugte sich nieder zu gleicher Zeit.

Sie küßte seine Stirn und küßte ihm beide Augen. Drei Küsse gab sie ihm.

Dann, o ganz leicht nur, stieß sie ihn zurück. Sprang auf, hielt ihm den Rosenzweig hin.

»Geh!« sagte sie. »Geh!«

Er ergriff den Zweig mit den Blutrosen. Hob sich schwankend, taumelte. Wich zurück ein paar Schritte.

Stand bei dem Pfarrer und dem Diakon. Sie sprachen leise und schnell, aber er hörte nicht, was sie sagten. Starrte hinüber zu der schönsten Frau –

War es nicht die Gottesmutter, die ihn küßte?

Die Äbtissin stieg hinab von ihrem Throne, schritt schnell durch den Portikus. Und alle Nonnen folgten ihr.

Still war es in dem weiten Kreuzgang. Nur der Mond auf den Marmorfliesen, nur, rings herum, das weiße Rosenmeer. Ah – ein Leuchten –

»Ist das Fest zu Ende?« flüsterte er.

Der Pfarrer sagte: »Sonst nicht. Aber heute – wird es wohl zu Ende sein.« Er nahm seinen linken Arm; der Diakon faßte ihn rechts. So brachten sie ihn über den Kreuzgang. An den Säulen blieb er stehn. »Einen Augenblick –« bat er, »eine Sekunde noch –«

Er blickte zurück. Rosen, Rosen, weiße Rosen und Mondschein. Ein Glas war umgestoßen – da floß der Zyperwein über den strahlenden Marmor. Wie schwarzes Blut floß der Wein. Und die Nachtigall schluchzte.

Er preßte die Hand des Diakons. »Hochwürden,« flüsterte er, »sprechen Sie. Ein Wort nur – irgend was! Ich muß Ihre Stimme hören. Ich will wissen, daß alles das – Wirklichkeit ist!«

»Ja, ja –« sagte der Diakon. »Es ist Wahrheit. Kommen Sie, junger Freund.« Sie gingen durch den Klostergarten, schritten durch die kleine Pforte. Sie stiegen in den Einspänner, fuhren über Land. Durch den Birkenwald erst und über die Holzbrücke des Angerbaches – brachten den Diakon nach Hause.

Aber Frank Braun sah nichts, hörte nichts – träumte den Kreuzgang, aus dem die Nonnen flohen, den leuchtenden Kreuzhof und all die Mondrosen.

»Der Diakon hat recht,« sagte der Pfarrer. »Das war das letzte Rosenfest der rheinischen Nonnen.«

»Warum?« fragte er. »Warum?«

Der Pfarrer wiegte langsam den Kopf. »Das war eine Sünde damals, als die Freiin Lenore Droste den Freund ihres Verlobten küßte – und sie büßte die Sünde und nahm den Schleier. Sie büßte ihre Sünde durch zwanzig Jahre, bis –«

»Bis –?« drängte er. »Pfarrer – bis?«

»Heute nacht, zwischen Wein und Rosen, küßte die Äbtissin Beata ihres Freundes Neffen – oder auch: wieder ihren Freund. Wie Sie wollen. Das war eine schlimmere Sünde noch.«

Er flüsterte: »Eine Sünde war es? – Eine Sünde?«

Der Pfarrer sagte: »Nicht für Sie – und wohl nicht für mich. Vielleicht nicht einmal für den Diakon, der doch strenger ist. Aber ihr, der Äbtissin scheint es eine große Sünde. Ein Kuß verriet ihres Lebens Bräutigam – und ihrer Seligkeit Bräutigam – Jesum, ihren Erlöser – verriet sie wieder mit einem Kuß. In dieser Nacht! – Das ist gewiß das letzte Rosenfest – da mögen die Kölner zufrieden sein.«

»Was soll ich tun?« fragte er.

Seine Stimme zitterte, da streichelte der Pfarrer ihm die Wange. »Sie?« sprach er. »Nichts können Sie tun. Schlafen Sie gut und beten Sie für eine heilige Frau!«

Er träumte nicht in dieser Nacht. Er schlief fest und still. – Aber am nächsten Morgen ging er zum Pfarrer.

»Ich kann ihr doch helfen,« sagte er. »Ich will tun, was mein Onkel tat. Ich will katholisch werden.«

Der Pfarrer sah ihn an. Er sprach kein Wort, aber seine guten Augen strahlten. Langsam nickte er, reichte ihm die Hand.

»Ich will katholisch werden,« wiederholte Frank Braun.

– Aber dann vergaß er es wieder.

* * *

Vergaß es – wie er das Rosenfest vergaß, und den guten Pfarrer – und die Äbtissin. So reich war das Leben. – Dachte daran erst heute wieder, als das alte Lied die Schleier löste von den Vergangenheiten.

Sehr leise nur sang die Orgel und sehr leise klangen die Stimmen vom Garten her. Kein einziges Wort konnte man heraushören, nur die weichen Töne –

Dann aber griff eine volle Stimme den alten Sang. Wandelnd durch den Garten hin klang sie, süß, stark, wie aller Liebe heißester Glauben –

»So singt nur eine auf der ganzen Welt,« sagte André.

Und es klang:

»Jesu! Dulcis memoria,
Dans vera cordi gaudia –«

Rossius nickte: »Herrgott – hat das Weib eine Stimme!«

Langsam, zwei und zwei, kamen vierzig Dominikanerinnen aus dem Garten heraus, den Rosenkranz in den Händen. Sie bewegten die Lippen, als ob sie still beteten, schritten ringsherum an den Estraden, blieben jedesmal stehn vor der Äbtissin Thron, machten einen tiefen Knicks – gingen dann feierlich weiter. Stellten sich auf in der Mitte.

Und nur der Farstin allmächtige Stimme lebte in den weiten Sälen.

»Ich bin neugierig, was sie bekommt!« flüsterte André. »Unter drei Mille macht sie den Zauber nicht mit, das ist sicher.«

Dann schwieg die schönste Stimme. Die Gäste klatschten, als ob sie in der Oper wären. Aber die Äbtissin, Susan Pierpont, erhob sich, winkte mit der Hand. Da begriffen sie, daß das Stück noch nicht aus war, legten die Hände wieder in den Schoß.

Von neuem nahm der Nonnenchor das Lied auf, aber laut jetzt und voll, vierzig Frauenstimmen.

»Nun werden Sie was erleben, Doktor,« lachte André. »Es sind meine Chormädel, die ich der Pierpont ausgeborgt habe – mein Kapellmeister hat zwei Wochen mit ihnen geprobt und ist halb irrsinnig geworden von dem Geheul.«

Sie begannen:

»Nil cantitur suavius,
Nil auditur jucundius,
Nil cogitatur dulcius,
Quam Jesus Dei Filius!«

Aber die Schwarzweißen sprachen es englisch aus. Sie sangen:

»Neil kenteitör sjuäveiös, neil odeitör
dschököndeiös,
Neil kodscheitetör dölceiös, quäm dschisös diei
feileiös!«

Sangen es dazu synkopiert; wie ein Ragtime klang es, schauderhaft hingegröhlt aus ausgekrähten Operettenchorstimmen.

»Hat das Ihr Kapellmeister angeordnet?« fragte Frank Braun.

»Nein, nein,« lachte der Direktor, »er hat sich dagegen mit Händen und Füßen gewehrt. Aber die Pierpont hats halt gewünscht, sie meinte, das brächte ein wenig Leben in die Sache und wäre ein sehr guter Übergang zu dem burlesken Teile.«

Don Cesare verzog schmerzlich sein Gesicht bei dem Geheul, aber der Äbtissin gefiel es sehr und allen ihren Gästen. Sie klatschte zuerst – und nun durften alle klatschen, jetzt, da die Nummer aus war.

»Warum tanzen die Mädel nicht dazu?« fragte Rossius. »Wenn schon – denn schon!«

»Weil sie eben Nonnen sind –« erwiderte Andre, »und weil wir in Amerika sind. Einen Ragtime singen, das geht noch eben – aber tanzen? Da möchte der liebe Gott ernstlich böse werden.«

Die Nonnen zogen ab; Buffi sprangen in den Saal. Pulcinello, Arlequino und Pantalone, Frarassa, Colombina und Isabella. Brighella, auch Scaramuccia und Santorello. Man sah bei diesem Spiele, wie sehr sich der Regisseur abgequält hatte, den braven Leuten ein wenig Stilgefühl beizubringen. Aber eher hätte er gichtbrüchige Möpse zur Buffopantomime abrichten können. Es war ein klägliches Armeschwenken, ein unsinniges Gestenmachen, aus dem kein Mensch klug werden konnte.

»Wie gefällt Ihnen Kolombinchen?« fragte der Direktor. »Ein netter Kerl, was! Es ist die kleine Davies vom Knickerbockertheater, die jüngste Favoritin der Pierpont.«

Man klatschte natürlich, als die Buffi abzogen. Diener liefen herum mit großen Tellern, reichten Kuchen und Gefrorenes, schenkten Limonaden und Eiswasser. Dazu bekam jeder Gast einen seidenen Beutel mit Pralinés.

»Gibts denn keinen Wein?« fragte Rossius sichtlich entrüstet.

»Sie sind in Neuyork, junger Mann!« belehrte ihn André. »Vergessen Sie das nicht. Gehn Sie zu einer der Bars – vorne im Wintergarten ist die nächste – da bekommen Sie soviel Sekt und Wein und Whisky, wie Sie nur trinken wollen!«

Eine Schar von Weibern stürzte auf die Bühne, hupfte und sprang einen Tanz, der bacchantisch wild wirken sollte. Sie hatten nackte Beine, Arme und Nacken, trugen um den Leib dünne Schleier in allen Farben, die über der Schulter und am Gürtel leicht gehalten waren.

»Das sind die Nonnen wieder,« erklärte der Direktor, »sie haben sich inzwischen in Kurtisanen verwandelt – so gehts im Leben.«

Die Äbtissin erhob sich, öffnete ihren Seidenbeutel, warf Konfekt hinunter. Und alle folgten ihrem Beispiel. Da warfen sich die Mädchen auf die Erde, rafften auf, so rasch sie nur greifen konnten. Knüllten ihr Gewand zur Schürze, sammelten die Bonbons hinein, taten auch so, als ob sie sich raufen möchten, nahmen eine der der andern die Dinger weg. Der Herold blies – da hörten sie auf. Der Zeremoniemeister stieg von der Estrade herab; er war der Preisrichter. Diener zählten die Pralinés; einhundertsiebenunddreißig hatte eine Hagere eingeheimst, eine mit sehr dürren, langen Beinen. Sie war die Siegerin und die Äbtissin gab ihr den Preis: ein brillantenbesetztes Armband.

Die Mädel stellten sich hinten auf; unter den Klängen des Gladiatorenmarsches zogen jetzt die Athleten herein.

»Kennen Sie die?« grinste Herr André. »Fritz Rachmanns Ringkämpfer vom Manhattan-House! Na, Rossius, Sie haben ja im Sommer bei ihm gearbeitet – wer ist der Dicke da, der ohne Hals?«

Der Sekretär schnurrte: »Pierrard le Colosse! – Neben ihm steht Wladek Zbysko aus Krakau, dann Aberg und Lurich. Luigi Mazzantini, der richtig Müller heißt und Schiffskoch auf der ›Kronprinzessin‹ war. Albert Fürst, der Stolz von Hernais, sonst Kellner im Plazahotel, Linoff, der Kosak, Hevonpää, der Stern Finnlands –«

»Danke, danke!« sagte Andre, »Ihre sportlichen Kenntnisse sind erstaunlich.«

Die Männer hatten kein Trikot an, nur einen ganz schmalen Schurz um die Lenden. Die Diener schleppten zwölf große Matten herein, legten sie hier und dorthin auf den Boden. Dann trat der Herold zu den Athleten, ließ sie aus einem Helm Lose ziehen, verkündete laut, welche Ringer gegeneinander kämpfen würden.

Und die Starken traten, zwölf Paare zugleich, auf ihre Matten, faßten sich an. Sie machten Schaukämpfe nur, faßten Nelson, Armfallgriffe, Krawatten. Catch-as-Catch-Can hier, und daneben Griechisch-Römisch, gemischt auch, wies gerade kam. Es war ein Fioleringen und zahm genug für den Kenner – aber wer verstand hier etwas davon? Nacktes Muskelfleisch starker Männer für all die Frauenaugen – das war der Witz! Der Kosak Linoff fletschte ein paarmal die Zähne, wenn der Gegner aus seinen langen Affenarmen sich herauswand, und der Finne Hevonpää spielte den Wilden Mann. Schrie, brüllte, raste als Berserker herum, ballte die Faust gegen das Publikum – das war seine Note, dafür wurde er bezahlt.

Burchard der Zeremonienmeister, wirkte als Kampfrichter, und die Ringer machten ihm sein Amt leicht genug. Wo er nur hintrat an eine Matte, fiel einer, blieb mit beiden Schultern an den Boden geheftet, wie angenagelt.

»Sieger – Lindström, der schwedische Riese,« verkündete er. »Sieger – Winnetou, der Komanchenhäuptling.«

»Der heißt Huber und ist Metzgergeselle,« lachte Rossius.

»Sieger – Sam Einstein, die Hoffnung der Ostseite,« rief der Zeremonienmeister. Und wieder »Sieger – Pierrard le Colosse!«

Er führte die zwölf Sieger rund herum, dann hinüber, wo die Kurtisanen standen – die waren der Preis für die Helden im Liebeskampfe: jeder von ihnen sollte sich eine auserwählen. Diese Komödie war für die starken Männer viel schwerer als jeder Ringkampf. Sie sollten wild tun und gewaltsam eines der Mädchen greifen, die Beute hochheben und davontragen. Und die Kurtisanen sollten mit gierigen Blicken die Starken verschlingen, an sich locken, dann aber entsetzt sein und sehr erschreckt über so viel Kraft und brutale Gewalt; sollten schreien und weinen und um sich schlagen. Aber der Chordamen Blicke verschlangen gar nichts, und die nackten Ringer taten so geniert wie Gymnasiasten in der ersten Tanzstunde. Der Komanchenhäuptling Huber schlug die Hacken zusammen und stand stramm vor seiner Auserwählten, als ob er die Frau seines Unteroffiziers beim Kaiser-Geburtstagsball zum Tanze engagiere. Der Stolz von Hernals bot seiner Dame galant den Arm und Pierrard de Colosse – dreihundert Kilo schwer und mit dem runden Kegelkugelköpfchen eines fünfjährigen Kindes – stand völlig hilflos da und rührte sich nicht. Nur Hevonpää, der rasende Finne, spielte seine Rolle gut, ließ die Zunge lang heraushängen, gab grunzende Töne von sich und warf die Stieraugen von einer zur andern, als wollte er sie alle zugleich haben. Dann stürzte er plötzlich auf den schlanken Jim Hawkins, die schwarze Perle, die gerade einem dünnbeinigen, bleichsüchtigen Ding die Hand gereicht hatte, entriß dem Neger das Mädchen mit einem wilden Geheul, riß es hoch und trug es auf der Schulter durch den Saal. Das Chorfräulein bekam wirklich Angst, schrie um Hilfe und zappelte – und die Äbtissin und alle ihre Gäste lachten und klatschten.

Die Sieger zogen mit ihren Erwählten ab, ließen sie aber gleich wieder fahren, schritten nach rechts in den Garten, während die Chordamen links abgingen.

»Nun sind meine Mädchen fertig,« sagte André, »können sich anziehen und werden nach Hause geschickt. Sie bekommen hundert Dollar für den Abend und jede Probe besonders bezahlt mit zehn – ein gutes Geschäft!«

»Und die Ringer?« fragte Rossius.

»Ich weiß nicht,« sagte der Direktor, »vermutlich viel mehr. Übrigens beginnt erst ihre Haupttätigkeit; sie bleiben da, bekommen tüchtig zu essen und noch mehr zu trinken. Dann, wenn sie genügend eingetaucht sind, werden sie losgelassen – oder vielmehr die Mondweiber lassen sich selbst los, und die Kerle sind ihr Wild! Aber ich glaube, die Damen werden bitter enttäuscht sein: in puncto Liebe versagt fast jeder Athlet!«

Das Schauspiel war zu Ende. Der Herold ließ die Fanfaren blasen – die Äbtissin stand auf und stieg mit Cesare die Stufen hinab. Die Musik setzte ein und der Tanz begann. ›Hesitation‹ natürlich – in Renaissancegewändern!

Die drei gingen durch den Wintergarten zur nächsten Bar, um die enggedrängt Damen und Herren standen. Alles stürzte man hier hinunter, rasch durcheinander, Cocktails, Sekt, Whisky, wie es die Diener reichten.

Eine Hand legte sich auf Frank Brauns Schulter: er wandte sich um.

»Aimée Breitauer?« rief er. »Wie kommen Sie hierher?«

»Wie ich herkomme?« lachte sie. »Ich bin Amerikanerin so gut wie eine hier – bin Mitglied vom Klub!« Sie griff seinen Arm. »Sind Sie schon durchgewandert, Doktor? Kommen Sie, ich werde Sie führen.«

»Ich wollte ein Glas Wein trinken –« meinte er.

»Soviel Sie wollen,« rief sie. »Wir haben manch verschwiegene Plätzchen und einen kleinen Keller in jedem.« Sie zog ihn mit, in einen andern Saal, der sich anschloß an den Wintergarten. Hier standen viele kleine Zelte, die sich eng drängten, eines dicht an das andere. Der Saal war sehr dunkel, nur rot umhängte Lampen warfen hier und dort ein spärliches Licht. Sie schlug den Türvorhang eines Zeltes zurück, zog ihn hinein.

Persisch. Eine Ampel oben, viele Teppiche, Kissen. Ein paar Waffen an den Zeltwänden, und eine kleine Truhe hinten. Die öffnete die Breitauer: »Schau!« sagte sie.

Ein Sektkühler und ein paar Flaschen im Eise. Likörflaschen daneben, dann Kistchen mit Zigarren und Zigaretten. Auch Konfekt, Kuchen, Sandwiches.

Sie warf sich lang auf die Kissen. »Mach dirs bequem!« lachte sie. »Iß, trink, rauch – was du willst.«

»Wo haben Sie das Kostüm her?« fragte er. Sie sah erstaunlich gut aus, diese schlanke Frau, die nun Großmutter war schon seit zwei Jahren. Ihre Zähne leuchteten, eben und wundervoll gleichmäßig, wie die berühmte Perlenschnur, die sie nie vom Halse ließ. Aimée Breitauers Perlenschnur – zwei Meter zwanzig lang, über eine Million Dollar wert – davon sprach bewundernd jedes Ladenmädchen in Neuyork. Ihre Augen schimmerten in einem trunkenen Blau, wirkten geheimnisvoll durch ihre starke Kurzsichtigkeit. Alles war harmonisch in diesem gepflegten Gesicht, nur die gerade Lippenlinie zerriß es ein wenig. Sie trug ein eng anliegendes Gewand aus Silberbrokat, über und über bestickt, das rotblonde Haar war sehr hoch gekämmt und wieder durchzogen von Perlenschnüren. Große Perlen tropften von ihren Ohren, Perlen hielten ihre Platinringe –

»Mein Kleid?« antwortete sie. »Der Maler Runk hat mirs gezeichnet – die Blackland hats angefertigt – ich soll eine Fürstin darstellen aus Zypern – bin die Geliebte des Kardinals Colonna. Gefällt dirs? Paß mal auf!«

Sie öffnete den Silbergurt, löste dann eine Federspange vorn auf der Brust – da sprangen bis unter die Knie die Haken, alle zugleich. Und das Silberkleid flog auf nach beiden Seiten, wie eine Muschel völlig nackt lag ihr Leib vor ihm – weder Hemd hatte sie an noch Strümpfe.

Sie wand, schnell wie eine Schlange, ihre Arme aus den Ärmeln, warf sie hoch.

»Nun bin ich nur in Perlen!« lachte sie. »Küß mich!«

Er küßte ihre Hand, schenkte zwei Gläser voll, trank mit ihr. »Sie können sichs leisten, Aimée,« rief er, »mit dem Wuchs!«

»Danke!« sagte sie. »Aber sag ›du‹ – heute nacht! Fürstinnen aus Zypern sinds so gewohnt, und besonders wenn sie ausgezogen sind. Und Kardinalsliebchen erst recht –«

Sie unterbrach, sich, legte den Finger auf den Mund. »Sst!« machte sie. »Sst! Daneben ist jemand!«

Leises Sprechen hörte man aus dem Nachbarzelt. Sie kroch auf allen vieren, nahm eine Waffe ab von der Zeltwand, lauerte durch ein kleines Loch. Winkte ihn dann heran.

»Schau durch,« flüsterte sie. »Marion de Fox ists!«

Er sah durch das Loch. O ja, das war die, die die Farnese spielte, des Papstes Mätresse. Und bei sich hatte sie das blonde zwölfjährige Mädchen, Lucrezia Borgia, das auf ihrem Schoße saß während der Vorstellung. Sie zog dem Kinde Schuhe aus und Strümpfe, gab ihm ein Gläschen süßen Schnapses, fütterte es mit Konfekt. Flüsterte heiß, küßte die Kleine, streifte ihr das Gewand herunter –

Aimée Breitauer drängte ihn weg, lugte kniend durch das Schauloch. Atmete schnell, preßte beide Hände auf ihre festen, starken Brüste. Warf sich dann zurück –

»Komm!« rief sie.

»Habt ihr überall Gucklöcher in den Zeltwänden?« fragte er.

»Ja!« antwortete sie schnell und ungeduldig. »Überall! Das war Susan Pierponts Gedanke. Es regt auf, zu sehn – findest du nicht –? Komm – küß mich.«

Sie streckte die Arme und Beine weit aus, schleuderte die silbernen Sandalen von den Füßen –

Diese Füße – keine Frau hatte kleinere Füße als sie. Süße Füße, sehr gepflegte Füße – Füße, denen die Männer nachliefen auf den Straßen, in Theatern und Lokalen. Füße, die manche Köpfe verdrehten in ihren bizarren Stiefelchen – Füßchen, die närrisch machten, wenn sie nackt waren.

Aimée Breitauers Perlen – Aimée Breitauers Füße –

Aber er berührte sie nicht. Etwas stieß ihn ab.

Das schon – sie gehörte hierher – so gut wie eine der Monddamen. Sie war viele Millionen reich, diese deutsche Großschlächterstochter, war gierig nach jedem Genuß, konnte sich kaufen, was sie nur wollte. Und tat es – ohne viel Scham und Geschmack, offen genug – wie die andern. Einfacher vielleicht und natürlicher – weil es so ihre Art war – aber doch eine Dirne wie die.

Etwas hielt ihn zurück –

Kein Anfall von Keuschheit, Reinheit und Tugend, o nein, keine Scham und kein Ekel. Er aalte sich im Sumpfe wie alle diese Tiere, plantschte herum mit ihnen, fraß ihr Fressen. Und diese nackte Frau in den Perlen, dieser unendlich gepflegte Leib, dessen leuchtendes Fleisch lockend duftete, diese weichen Formen, die ewig jung schienen wie die der Aphrodite selbst –

Kroch nicht auch die einst aus einer Muschel, als die Strahlendnackte dem Meerschaum entstieg?

Und doch schüttelte er den Kopf. Sie war deutsch – das war es. Und es schien ihm, als ob die letzte Dirne in Deutschland eine Heilige sein müsse in dieser Zeit.

Aber sie wußte schon, wie sie ihn nahm. Sie richtete sich halb auf, schob sich hin zu ihm, die Arme nach hinten ausgestreckt, daß ihrer Brüste Pracht hell herauslachte über seine Schuljungenzweifel. Zog die Beine heran, gab ihm beide Füße auf den Schoß –

»Deine Füße sind schön,« sagte er, »süß sind sie wie – wie –«

Er suchte. O, es mußte das Süßeste sein, das es gab auf diesem Stern.

»Wie der Farstin Stimme,« entschied er. »Weiß der Himmel – sie singen, deine kleinen Füße.«

Und er summte die Melodie mit, die die Musik herüber trug, irgendwoher in das Liebeszelt: ›Auf dem Berge Ida droben –‹

O ja – sie saß vor ihm, die Göttin. Und er fühlte gut, daß er ihr den Apfel doch reichen würde – ihr, die des Meeres reichste Perlen schmückten –

Da sang die Frau zu ihm hin:

– »Doch Frau Venus stand daneben,
Still daneben und blieb stumm.
Ihr mußt ich den Apfel geben,
Kalchas, du weißt wohl warum!

Evoé! Que ces déesses,
Pour enjôler les garçons,
Evoé! Que ces déesses
Ont de drôles de façons!
– Ont de drôles de façons!«

Und ihre Füßchen kicherten, spielten, tanzten auf seinem Schoß.

»Weißt du,« flüsterte sie, »ich bekam einen Brief von dem Arbeitskomitee heute morgen. Sie brauchen Geld für ihre neue Preßkampagne – mich haben sie auf tausend Dollar eingeschätzt – die Ziffer grade, weil ich immer so viel gebe – nicht mehr und nicht weniger – für alle die Sachen. Ich will ihnen diesmal fünftausend schicken, wenn –«

Sie zog ihre Füße fort mit einem Ruck. Kniete auf, warf ihre Arme um seinen Hals, zog ihm die braune Kutte herunter. »Komm – was zierst du dich?«

»Warum willst du mich?« rief er.

»Bah –« lachte sie, »dich – und andere heute nacht. Dich will ich – weil es mir Freude macht, dich der van Neß wegzunehmen.«

»Wann schickst du den Scheck?« fragte er. Aber er fühlte gut, daß er sie küssen würde, um ihrer Füße willen und nicht um das Geld, das sie gab für die deutsche Sache.

»Morgen – sowie ich aufwache,« sagte sie. »Klingle nur an bei den Herrn!« Sie warf sich zurück – rollte sich über die Kissen. »O wie langsam du bist!« fuhr sie fort. »Und welche Idee – ein Frack unter der Mönchskutte! Da hatte es Venus bequemer, als sie ihren Paris küßte –«

Er kroch hinüber zu ihr, nackt wie sie.

Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, zog ihn herunter. »Wie küßt die van Neß?« fragte sie.

»Schweig!« zischte er.

Aber sie lachte ihn aus. Sie nahm die große Perlenkette vom Halse, hakte das Schloß auf, schlang sie um sich und um ihn. »Das ist mein Glück,« rief sie, »und meine Lust! Und Tränen den anderen Frauen! Ich bin das Leben – nimm mich!«

– – Langsam lösten sich ihre Leiber, fielen voneinander wie müde Schlangen. Er streifte die Perlen über den Kopf, hob sich halb.

»Champagner,« bat sie.

Seine Hand zitterte, verschüttete den Wein über ihren Leib. »Kühl, kalt!« sagte sie, trank gierig. Reckte die Glieder, ein wollüstiges Schauern lief durch ihre Haut. Langsam ließ sie ihre Perlen durch die Finger gleiten.

»Grüß Frau van Neß!« sagte sie nachdenklich. »Die ist eine kluge Frau – gewiß. Ich bin eine – Dirne, das weiß ich so gut wie sie. Sie hat dich – ich aber habe dich und viele noch. Viele Männer kommen zur Dirne – und eine Dirne braucht viele Männer.«

»Sentimental?« lachte er. »Elegisch?«

Sie nickte. Seufzte – lachte dann. »Immer ein wenig – hinterher, weißt du! Ich denke: dazu sind die Weiber gut – und zu nichts anderm mehr! Und die Männer – erst recht! Das ist das einzige, das es gibt im Leben – und nichts sonst – dazu allein sind wir auf der Welt. Warum ist nur die Lust so kurz?« Sie richtete sich auf, hielt ihm den Kelch hin. »Schenk ein!«

Sie leerte ihr Glas, atmete tief, daß sich die Brüste voll hoben. »Nun ists wieder gut – nun lache ich wieder. Bin bereit zu neuen Taten – wer sagt das noch? Reich mir mein Kleid.«

Er nahm es auf, hielt es ihr hin. Stutzte, sah auf die Zeltwand, die sich leicht bewegte. Ein leises Lachen scholl an sein Ohr. Und er sah – grade wie auf der andern Seite – ein kleines, kreisrundes Loch.

»Jemand ist daneben!« rief er. »Jemand hat uns belauert!«

Sie kniete im Augenblick. »Natürlich!« lachte sie fröhlich. »Dazu sind ja die Löcher da. Hoffentlich haben wir ihnen Spaß gemacht!« Sie kroch zu der Zeltwand, blickte hindurch. »Es ist die Gordon,« flüsterte sie, »sie hat den Maler da, den Italiener – der den Rodrigo Borgia spielte. Willst du zusehn?«

»Nein!« rief er kurz. Griff nach seinen Kleidern.

Aber sie kauerte, lauerte. Trank gierig das Schauspiel.

Er zog sich an, trank ein Glas Wein, brannte eine Zigarette an. Wartete.

Endlich wandte sie sich; ihre Augen funkelten.

»Sie ist ein Tier, die Gordon,« sagte sie. »Sie hat –« sie unterbrach sich – »ah, du bist schon angezogen? Hilf mir – bei mir geht's schnell – klipp, klapp – und ohne Zofe.«

Er hielt den Silberbrokat, sie schlüpfte hinein im Augenblick. Ging dann zu der kleinen Truhe, nahm einen großen Handspiegel heraus, Kämme, Puderbüchse –

»Wir haben an alles gedacht!« lachte sie. Stellte sich mitten unter die Ampel, zupfte ihr Blondhaar zurecht.

Legte plötzlich den Spiegel weg, griff eine Tasche, die ihr eng vom Gürtel herabhing. Nahm einen Platinrahmen heraus, in dem ein Papierblock steckte. Reichte ihm den hin und einen Bleistift dazu.

»Schreib,« sagte sie, »während ich mich aufputze. Deinen Namen, das Datum und die Stunde. Wenn du magst – schreib etwas hinzu – über mich!«

Er lachte, kam auf sie zu, küßte ihren Nacken. »Du bist prachtvoll, Aimée, grad so wie du bist! Das ist eine Sammlung – was? Autogramme von allen denen, denen du deine Gunst schenktest – niedergeschrieben gleich nach der Liebesstunde?«

Sie nickte: »Freilich, das ists! Meine schönsten Erinnerungen!«

Er setzte sich hin, sann einen Augenblick, schaute hinüber zu ihr, als ob er sie zeichnen wollte. Schrieb dann.

Sie puderte sich, legte neues Rot auf Lippen und Nasenflügel, fuhr leicht über die rosigen Nägel.

»Bist du fertig?« fragte sie. Er nickte, reichte ihr den Block zurück.

Sie las:

Für Aimée Breitauer.

»Ain Haupt von Behmerland
Zway weiße Ärmlein von Prafand
Ain Prust von Swaben her,
Von Kernten zwey Tüttlein ragend als ain Speer,
Ain Pauch von Österreich,
Zwai Pein von Flamland gleich
Und ein Ars von Polandt,
Auch ein bayrisch Fut daran,
Dazu zwey Füßlein von dem Rhein:
Das muß ein schöne Fraue gesein!«

»Das laß ich mir gefallen!« sagte sie. »Und der alte Dichter wußte doch, was Wert an Frauen! Heute schwatzen sie alle nur von Augen und Lippen und dünken sich wer weiß wie frei, wenn sie von Füßen reden und Brüsten. An die Hauptsache getraut sich nicht einer!«

Er lachte: »Recht hast du, Aimée! Aber der alte Dichter war selbst – eine Frau, hieß Klara Hätzlerin, lebte in Nürnberg, um die Zeit, die wir feiern heut nacht.«

Sie riß den Bogen ab, steckte ihn unten in den Rahmen.

»Frei für den nächsten?« rief er.

»Ja!« erwiderte sie, ganz ernsthaft. »Der Schreibblock und ich – beide!« Sie legte Spiegel und Büchse in die Truhe zurück, schloß sie zu, schob die Kissen zurecht. »Und dies Nest hier auch. Wo sind meine Schuhe?«

Er hob sie auf, streifte sie ihr an, küßte noch einmal diese kleinen Füße.

Sie zog ihn hoch, bot ihm die Lippen.

»Du warst sehr lieb,« sagte sie. »Ich danke dir. Und auf Wiederschaun!«

* * *

Er ging durch die Säle zur Garderobe hin, ließ sich den Mantel geben. Aber wie ihm der Diener hineinhalf, rief ihn André an. »Bleiben Sie noch, Doktor, ich nehme Sie später mit in meinem Auto. Ich suche einen vierten Mann zum Mauschelspiel – mein Kapellmeister wartet und die alte Godefroy – sie sitzen oben. Ein Stündchen nur.«

Er zog ihm den Mantel wieder aus, schob den Arm unter seinen.

Da kam die Farstin vorbei, tief versteckt im Pelz, bei ihr ein junges Ding, zierlich und schlank, aber im Mantel vergraben, wie die Diva.

»Auch schon genug, meine Herrn?« rief sie. »Gute Nacht!«

»Unerhört haben Sie gesungen!« rief sie. Direktor, »über alle Beschreibung schön! Es gibt nichts, mit dem man Ihre Stimme vergleichen könnte.«

»Doch!« sagte Frank Braun. »Ihre Stimme ist süß, wie – wie die Füßchen der Aimée Breitauer.«

»Er muß es ja wissen!« lachte André. »Die hat ihn nämlich mitgeschleppt – in ihr Liebeszelt.«

Emaldine Farstin trat einen Schritt auf ihn zu, starrte ihn an. »Die?« Sie wandte sich scharf um, rief zurück: »Der gönn ichs!«

Legte ihren Arm um die Kleine, zog sie mit sich fort.

»Was hat sie denn?« fragte der Direktor.

Frank Braun zuckte die Achseln. »Sie haßt mich – mag der Himmel wissen, warum!«

André lachte. »Oh, diese Weiber! Haben Sie gesehn, wen die Farstin sich mitnahm? Nein? Die kleine Davies wars, die Kolombinchen spielte. Sie hat sie der Pierpont ausgespannt – die wird platzen.«

Sie gingen an der Bar vorbei, da saß, halbnackt, völlig trunken, die Marlborough, gröhlte laut »Tipperary« mit ein paar Männern. Als sie zur Treppe kamen, blieb André stehn – warf einen raschen Blick in den Liebessaal.

»Da verschwindet gerade die Gouraud,« lachte er. »Schaun Sie doch – sie zieht drei in ihr Zelt – drei auf einmal!«

»Wen denn?« fragte er.

»Diener,« antwortete der Direktor, »Chorherrn – was weiß ich! Die Gouraud geht nach der Größe!«

Sehr zahm und artig, in eine Benediktinerkutte gehüllt, kam der wilde Finne Hevonpää die Treppe hinab. Mit ihm Aimée Breitauer, die schwenkte ein graues Gummiband in der Hand.

»Wißt ihr, was das ist?« lachte sie.

»Nun?« fragte er.

Da rief sie: »Des Ringers Lendenschurz – ich hab ihn ihm abgenommen! Der ist bequemer wie du – trägt nur Adams Frack unter der Kutte!«

»Als ich noch den Siegfried sang, wars umgekehrt,« meinte André. »Damals nahm ich der Brunhilde im Ringkampfe den Gürtel weg.« Er griff ihre Hand, küßte sie höflich. »Sagen Sie mir,« fuhr er fort, »siegfriedgürtelraubende Brunhild – wollen Sie sich wieder beteiligen? Ich bringe in drei Wochen auf Broadway eine neue Schau heraus, gebe, wie gewöhnlich, die Hälfte auf Anteile. Wieviel nehmen Sie?«

»Soviel Sie mir zuschicken!« nickte die Breitauer. »Aber laßt mir nun meinen Recken: ich will sehn, wie er steht – im Feuerzauber!«

»Salvete, o gladiator! Gaudium multum habeas!« rief André dem Ringer zu.

»Gratiam tibi ago, artifex! Suum quisque optimum facit,« antwortete der Berserker feierlich. Winkte mit der Hand, folgte seiner Dame.

Frank Braun fragte: »Was, der Kerl spricht Latein?«

»Und Griechisch und Hebräisch!« nickte der Direktor. »Er hat Theologie studiert – verlor seinen Glauben und seine Stipendien dazu. Kam herüber – hier nutzten ihm die Kenntnisse seines Hirns nichts – da mußte er Arme und Beine tummeln, um den Wanst zu füllen.«

* * *

Ziemlich leer war der gelbe Saal. An drei Tischen nur pokerte man; ganz in der Ecke saß Kapellmeister Milan mit dem prächtigen, frühergrauten Wuschelkopf. Bei ihm, im Nonnenkleide, die Godefroy, die dicke Zigarre im Munde. Eine starke Fünfzigerin, immer lachend, immer vergnügt, überall dabei, wo es nur etwas gab. Und ganz gewiß dann im Spielzimmer nach kürzester Zeit.

»Endlich!« rief sie. »Sie geben, Direktor! Da sind Ihre Marken, bitte nachzählen. Zehn Dollar die blauen, fünf die gelben, drei die roten und einen die weißen. – Einladung!«

Sie spielten. André verlor und wurde immer vergnügter, je mehr er verlor.

Sie spielten, rauchten und tranken. Sie plauderten auch, die Godefroy kannte alle neuen Witzworte und jeden frischesten Klatsch in der Stadt. »Wissen Sie, wer sich heute nacht den hübschen van Straaten geangelt hat? Baron de Bekker und Baronesse de Bekker – beide friedlich zusammen.«

Eine Stunde verrann und noch eine. Sie spielten und lachten und tranken.

Da schlich Ernst Rossius hinten in den Saal. Sah sich scheu um, setzte sich an einen Tisch. Zog etwas aus der Tasche, legte es auf die Platte. Beugte sich nieder, als ob er schreiben wolle.

Direktor André rief ihn heran. »Na, wie amüsieren Sie sich?«

Das junge Gesicht strahlte, die Augen leuchteten. »Ich habe etwas erlebt,« stammelte er. »Ich hätte nie geahnt, daß so etwas möglich wäre.«

»Schießen Sie los!« rief André. »Wer war es? Wir sind schrecklich neugierig.«

»Eher ließ ich mir die Hand abschneiden,« sagte er feierlich, »ehe ich ihren Namen verriete! Eine Dame hat meine Lippen geküßt – eine Dame – die herrlichste Frau der Welt!«

»Geküßt nur, sonst nichts?« fragte der Kapellmeister.

Rossius lachte hell. »Sonst? Wenn Sie nur ahnen könnten! Nie hat ein Mensch Ähnliches erlebt!« Er breitete die Arme weit aus, als ob er die Luft umarmen wollte. In der Rechten hielt er einen kleinen Rahmen.

Der schönen Aimée Sammelblock –

»Was haben Sie denn da?« rief Frank Braun. »Geben Sie doch mal her!«

Der reichte den Block arglos herüber. »Das gab sie mir – ich soll ihr ein Gedicht hinschreiben und ihrs dann wiederbringen. Ein Gedicht über – o Gott! Aber kein Byron könnte das beschreiben!«

»Setzen Sie sich!« riet der Kapellmeister. »Essen Sie, trinken Sie – da wird Ihnen schon was einfallen!«

Und der Junge setzte sich, ließ sich von der Godefroy den Teller hoch füllen, aß mit gesundem Hunger. Frank Braun hielt den Silberblock unter den Tisch, zog neugierig die oberen Blätter weg. Ein Namenszug auf dem ersten Blatt – mit einer sehr mäßigen Zeichnung dabei. Dann, quer über die zweite Seite in großen Lettern, die sich mächtig taten und blähten, das eine Wort: AMATO. Amato, der herrliche Kinostern!

Aber das dritte Blatt zeigte mehr, in klarer, ausgeschriebener, schöner Schrift. Da stand:

Bibet, miscet ill' cum illa
Miscet servus cum ancilla!
Miscet coqua cum factore!
Miscet Abbas cum Priore!
Et pro Rege et pro Papa
Bibunt vinum sine aqua.
Et pro Papa et pro Rege
Miscent omnes sine lege.
Miscent, bibunt hoc in mundo
Donec nihil sit in fundo!

Und darunter, in alten römischen Lettern, wie auf einem Grabstein, stand das breite Signum des gelehrten Ringkämpfers:

Sulonus Hevonpäus Helsingforsensis,
Qui studiosus Theologiae Dorpatensis,
Christum, Dominum, Sanctum Spiritum
Corde calidissimo quaesivit,
Studioque ardente. Quos atque perdidit.
Qui, doctus ludi Graeci-Romanique
Mundum percurrit, sed arte stultorum
Vivit. Qua nocte Coelum rapuit,
– Amato amatam Amatam amato –
Bibens, Amatam coiens.

Er steckte die Blätter sorgfältig zurück in den Rahmen, reichte Rossius den Block hin.

»Schreiben Sie,« sagte er, »ich weiß ein hübsches Gedicht für Sie!«

Der Sekretär nahm zögernd den Bleistift. »Ich sollte selber eins machen –« meinte er.

»Schreiben Sie nur,« lachte Frank Braun, »heut nacht fällt Ihnen ja doch nichts mehr ein. Und das, was ich Ihnen sagen werde, paßt wundervoll – schreiben Sie nur! Sie haben doch neulich erst Rabelais gelesen – erinnern Sie ein wenig die altfranzösische Orthographie? Die müssen Sie anwenden!«

»Das wird ja sehr gelehrt!« warf der Kapellmeister ein.

»Nicht gar zu sehr,« erwiderte Frank Braun. »Also los – mein Junge – wie ichs diktiere!« Er deklamierte:

»Nature n'est pas si sote,
Qu'ele faist nostre Marote
Tant solement por Robichon
Se l'entendement i fichon!
Ne Robichon por Mariete,
Ne por Agnès, ne por Perette!
Ele nous a faist, bele fille, n'en doutes,
Toutes por tous et tous por toutes,
Chascune por chascun commune
Et chascun commun por chascune!«

Ernst Rossius rückte unruhig auf seinem Stuhle, aber er schrieb weiter. »Ist es fertig?« rief er dann. »Das kann ich unmöglich abgeben!«

»Geben Sies nur ab,« sagte Frank Braun. »Schreiben Sie ›Le Roman de la Rose‹ darunter, Namen und Datum und vergessen Sie die Stunde nicht! – Aimée Breitauer wird sehr zufrieden sein mit dem Gedicht – und Sie wird Ihnen noch eine Stunde schenken – wenn Sie ihr sonst gefallen haben.«

Der Sekretär ließ die Arme sinken, starrte ihn an. »Woher wissen Sie den Namen, Doktor?«

»Weil ich diesen Block da kenne, mein Junge,« antwortete er. »Sie sammelt die Autogramme ihrer Liebhaber in einem wohlgefüllten Album!«

Da lachte der Direktor. »Der Breitauer Album? Ich steh auch drin – zweimal, glaub ich! Sie sind da in großer Gesellschaft, junger Freund, in guter und schlechter zugleich – wie überall in Neuyork.«

Ernst Rossius sprang auf, alles Blut wich aus seinem Gesicht. Er rang nach Worten, rief dann: »Das ist nicht wahr. Das ist eine Beleidigung, eine Infamie –« Er kam nicht weiter, die hellen Tränen brachen ihm aus den Augen.

»Gehn Sie,« sagte Frank Braun, »bringen Sie der schönen Frau ihren Liebesblock!«

* * *

Zum Tee bei Lotte am nächsten Tage.

»Du warst bei dem Fest der Monddamen?« fragte sie.

Er nickte. »Soll ich dir beichten, Lotte?«

Aber sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Zeig dein Messerchen.«

Er nahm es aus der Tasche, gab es ihr. Schaute neugierig zu, wie sie es herausnahm aus dem Ledertäschchen, die Watte weggab, die Klinge öffnete –

Die blitzte hell, leuchtete blank wie je, kein kleinster Fleck beschmutzte sie.

Sie gab es ihm zurück, sehr zufrieden schien sie. »Nun weiß ich gut, daß du mir treu warst!«

Er starrte sie an. »Aber Lotte,« begann er, »ich –«

Sie legte ihm die Hand auf die Lippen. »Schweig nur,« lächelte sie, »was weißt du davon? Das Messerchen erzählt mir mehr, als du kannst.«

Er dachte: ›Einen Schmarrn weiß dein Messerchen!‹ Aber er ließ sie bei dem Glauben, der sie glücklich machte.


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