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IV. Smaragde

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»I looked on my left half as pe lady me taughte
And was war of a woman wortheli yeclothed,
Purfiled with pelure pe finest ypon erthe
Y-crowned with a corone pe king hath none better.
Fetislich hir fyngres were fretted with gold wyre,
And pere-on red rubyes as red as any glede,
And diamants of derrest pris, and double manere safferes,
Orientales and ewages enuenymes to destroy.«

Will. Langley (1377) ›Vision of William concerning Piers the Plowman.‹

»– und der Smaragdus birgt die Kraft des Glaubens im Kampfe gegen die Feinde.«

Rabanus Maurus, Erzbischof von Mainz (786–856 A. D.)

 

Sie hatten ihn gut und fest in Newyork – er war mitten drin in der deutschen Arbeit. Morgens, früh genug, brachte sein Sekretär die Post, las sie ihm vor. Er diktierte Briefe, dann Aufsätze für Zeitungen und Zeitschriften. Und Besucher, einer um den anderen, den langen Tag über. Abends Reden – in der Stadt, im Lande, wie es nötig war.

Man sandte ihm zu, was die anderen nicht mochten, alles, was etwas heikel war und schwierig. Alles auch, das ein wenig gefährlich war, das irgendwie anstoßen mochte, oben oder unten, an die rauhen Kanten des Gesetzes. Washington, kriechend in liebedienerischer Ehrfurcht vor England, voll neidischen Hasses gegen alles, was deutsch schien, wob aus seinen Millionen Paragraphen absurder Gesetze ein engmaschiges Netz, legte Fallstricke überall, stets bereit, ein paar armselige Deutsche zu fangen, die es wagten, für ihr Land zu arbeiten. Hielt man einen, – welch ein Geschrei, welch ein Jubel in allen Blättern. Wieder ein deutscher Verbrecher, ein Verschwörer, Hochverräter, Bombenwerfer und Mörder! Freilich, das Verbrechen wurde klein genug, wenn es endlich vor den Geschworenen stand. Irgendein winziges, kindisches, längst vergessenes Paragraphchen war verletzt worden. Aber immerhin: man hielt den Gesetzesbrecher, strafte ihn gut, schickte ihn auf lange Jahre ins Zuchthaus.

Hier war ein Platz, den er ausfüllen mochte, das war sicher. Er hatte kein Geschäft, war kein Kaufmann, kein Fabrikant: er war unabhängig, frei, und kannte keine Rücksichten. Es war gefährlich, gewiß, aber war es weniger gefährlich da drüben an der Front? Und dann: gerade für ihn war es nicht so schlimm. Er war nicht Deutschamerikaner wie die meisten andern, er brauchte nur eine Pflicht zu kennen, nur eine Loyalität: die für Deutschland. Und er hatte gute Bekannte, Freunde – auch auf der anderen Seite: die mochten helfen, wenn es nottat.

»Ihnen passiert nichts,« lachte der lange Tewes. »Ihnen nicht! Man läßt Sie nicht fallen.«

»So gut wie jeden andern,« erwiderte Frank Braun. »Wer soll mir helfen?«

Der Redakteur rief: »Wer? Der junge Hunston und Ralph Oakman und die Chutnams und Poates! Sie alle und der ganze Neuport-Set! Und Marion de Fox und die Marlborough und Susan Pierpont! – Alle die Leute kennen Sie persönlich, die aus Paris und aus Yokohama die andern. Freilich wissen sie kaum was Bestimmtes von Ihnen – nur, daß Sie jemand sind, und daß Sie irgendeinen Namen haben. Aber das genügt. Das ganze Pack würde hineinschwatzen in Ihren Prozeß – kaum zwei Jahre würde man Ihnen aufbrummen, wo ich vierzig bekäme. Und die zwei Jahre würden Sie auch nicht abbrummen! Eine Mordsreklame wäre es für Sie – das steht mal fest.«

Langsam war es gekommen, eins ums andere so, und ganz allmählich. Ohne daß er – oder irgendwer – recht wollte und wußte, was oder wie. Aber dann war es so, und so blieb es. Und schließlich: ihm gefiel es. Vor seiner Türe lungerten, nachtsüber und tagsüber, ein paar Detektive. Jämmerliche Aufpasser einer Privatgesellschaft, die nun für englische Rechnung arbeitete, arme verhungerte Teufel, die froh waren, einen Job zu haben und ein paar Dollar zu verdienen. Er machte bald genug Bekanntschaft mit ihnen, kaufte ihnen Zigarren, lud sie zum Whisky ein, einen erst und dann den andern. Und bald genug hatte er sie, wie er sie wollte. Sie folgten ihm nicht mehr überallhin, waren sehr zufrieden, wenn er ihnen täglich aufschrieb, wohin er ging und fuhr. So sparten sie das Fahrgeld, das sie der Gesellschaft hübsch anrechneten, Tram, Untergrund, Omnibus und manches Taxi – das war ein schöner Verdienst. Und ihr Bericht war in bester Ordnung stets, alles stimmte genau – nur, wenn er einmal etwas zu tun hatte, das sie nicht zu wissen brauchten, dann stand es nicht drin. Aber das war selten genug. Auch über seine Besucher konnten sie manches berichten, alles, was ganz harmlos war, erfuhren sie sicherlich. So wurden sie seine Freunde und Helfer, die stets bereit waren, zu tun, was er nur verlangte, die ihn bewachten, wie es ihr Auftrag war, wie treue Hunde vor seiner Haustür lagen und ihn vor jeder Gefahr sicher warnen würden.

Drinnen klang es: Pässe, Pässe und wieder Pässe. Man war klüger geworden, man schickte nicht mehr die Reservisten zu Tausenden in englische und französische Gefangenschaft. Nur einzeln noch sandte man sie hinüber, Offiziere zumeist, Leute, die in ihrer Person allein schon da drüben wertvoll sein konnten. Gut ausgerüstet mit Papieren aller Art, die sie wohl schützen mochten, wenn sie sonst ein wenig Glück hatten. Amerikanische Papiere, das war das Billigste und Schlechteste zugleich. Man konnte sie leicht kaufen überall in den Vorstädten, echt und gefälscht, wie mans haben wollte, da war kein Mangel. Aber er nahm sie ungern und selten genug, zu leicht durchschauten die Engländer den Schwindel. Und dann: nur mit ihren eigenen Papieren konnten sich die Yankeebehörden beschäftigen, erhoben ein großes Geschrei ob solcher Mißachtung des Gesetzes. Zeigten, daß sie die Macht hatten im Lande, schwatzten von Verletzung heiliger Rechte und bestraften die armen Kerle, die sie griffen, schlimmer als Mörder und Räuber. Aber russische Papiere – die waren gut. Wer nur ein paar Worte slawisch konnte, reiste mit russischem Paß, mit serbischem oder montenegrinischem. Schweizerische, holländische, skandinavische Pässe hatte man, auch spanische, italienische und – immer zwölf aufs Dutzend – solche der südamerikanischen Staaten. Wie es gerade paßte, suchte er aus, nach Alter und Aussehn und Beruf. Studierte die Leute ein, ließ sie die Nationalhymne ihres Paßvaterlandes lernen, machte regelrechte kleine Vorexamen mit ihnen für den Besuch der englischen Schiffsoffiziere. Manche wurden dennoch erwischt – aber Hunderte kamen hinüber, tropfenweise, einer um den andern.

Auch die Fanatiker sandte man ihm, die Streiks inszenieren wollten in den Waffenfabriken, auf den Werften und Schiffen, die die todbringende Fracht übers Meer brachten, – Flinten, Kanonen, Munition.

Schickte ihm alle die Leute hin, mit denen man nichts anzufangen wußte, Erfinder, Phantasten, Menschen, die krause Ideen hatten, wilde, wahnsinnige Gedanken, Verrückte mit großem Herzen und kleinem Kopfe, und wieder Schwindler und Betrüger und Lockspitzel. Alles schob man ihm zu. Er war der Unverantwortliche.

Ein Alter kam, der ein Pulver erfunden hatte, das nur brannte, wenn es naß war. Er lief ins Badezimmer, ließ die Wanne vollaufen und streute sein Zeug hinein. »Versuchen Sie doch zu löschen!« rief er triumphierend. »Versuchen Sies doch!«

Nein, löschen konnte Frank Braun nichts. Er rettete, was er konnte, und ließ brennen, was wollte, Bademantel und Tücher. »Telephonieren Sie!« meckerte der Alte. »Rufen Sie die Feuerwehr! Hih! Die kann auch nicht löschen.«

Frank Braun war nicht sehr begierig, die Feuerwehr dazuhaben. »Löschen Sie doch selber!« sagte er. Aber das war es ja: selbst der Erfinder konnte nicht löschen.

»Das über London!« gickste er. »Zehntausend Tonnen von meinem Pulver über das nebelfeuchte London – herab aus den Zeppelinen! Ich muß dabei sein!«

Frank Braun ging zum Fernsprecher, rief seinen chemischen Sachverständigen auf. Da hörte er, daß man das Pulver lange kenne und daß es sehr leicht zu löschen sei, nur freilich mit Wasser nicht, aber mit Paraffinöl oder Kerosin.

»Schade um den Bademantel,« sagte er.

Aber der Alte spie: »Was geht mich Ihr Bademantel an? London will ich, London!«

Unterseeboote brachten sie, die auf ihren Papieren in einer Woche durch den Atlantik fuhren und wieder zurück. Und Torpedos, seltsame, wunderbare, mit immer neuen Zaubereigenschaften. Spottwohlfeil, alles aus Liebe zum alten Vaterland: nur ein kleiner Vorschuß von ein paar Millionen. Maschinengewehre, die ganze Regimenter umwarfen, gigantische Geschütze, die jedes Fort umbliesen im Handumdrehn. Gewaltige Äroplane auch, die –

»Wie soll ich sie nur hinüber schaffen?« fragte Frank Braun.

Je nun, das sei seine Sache. Sie waren Erfinder und nicht Verschiffer. Wo ein Wille sei, da sei – natürlich, das sei doch ganz gewiß! Aber er wolle nur eben nicht –

Einer, mit rotem Haar und stechenden kleinen Augen, brachte den großen Kreisel. Zwei oder drei ungeheure, urgewaltige Motore, die man nur einzubauen brauchte in deutsche Bergwerke. Der Mann ging langsam vor, Schritt um Schritt, klug und bedächtig. Die Hochbahn, ja – dort hinten an der Ecke, nicht? – nur zehn Häuser weit – und hier bebten die Wände! Das sei es. Und seine Riesenkreisel würden ein Beben machen, das ganze Städte umwerfe – ein herrliches Erdbeben, wann und wo es ihm beliebe. Von jedem seiner Erdmotore gingen die gewaltigen Wellen aus, harmlos, ziemlich harmlos, so lang sie für sich allein blieben. Wo aber die Wellen sich trafen und kreuzten, da müsse es losbrechen – da! Auf das Papier zeichnete er die Linien, eine, noch eine und wieder eine: da sank Paris in Trümmer.

Der Rothaarige war ängstlich und nicht sehr sicher. »Vielleicht ist doch ein Haken dabei,« meinte er. »Aber ich habe es durchgearbeitet, immer wieder, durch dreißig Nächte. Ich kann den Fehler nicht finden.«

Er sah ihn fragend an.

»Ich weiß nicht,« antwortete Frank Braun.

Der andere nahm seine Papiere, blickte über die Zeichnungen, durch alle die Berechnungen, viele Seiten wilder Zahlen. Scheu hob er den Kopf.

»Herr Doktor,« flüsterte er, »glauben Sie daran?«

Frank Braun sagte: »Ja. Ich wohl. Das ist so groß – und so schön – darum glaube ich es. Mit Haken – oder ohne – ich glaube es.«

Der Rothaarige faltete seine Zeichnungen zusammen. »Entsetzlich ist es. Schrecklich. Vielleicht habe ich mich doch verrechnet. Dann geht es nicht.«

»Lassen Sie mir die Papiere da,« sagte Frank Braun. »Ich werde alles durchprüfen lassen.«

Aber der andre wollte nicht. Er bot ihm Geld – vergebens.

»Nein,« sagte er, »es ist nicht ums Geld. Ich habe mein Auskommen – zwölf Dollar in der Woche. Wenn meine Rechnung stimmt, soll sie das Vaterland haben – so – ohne Geld. Aber – ich will sie erst noch einmal durcharbeiten – vielleicht ist sie dennoch falsch.«

»Und wenn sie richtig ist?« fragte Frank Braun.

Der andere sagte: »So bring ich sie wieder her. Oder – oder – ich – häng mich auf.«

Dann ging er. Er gab seinen Namen nicht und keine Adresse. Er kam nie wieder.

* * *

Und die andern kamen, die sehr Wilden. Die, die rot sahen, die, die Kanada erobern wollten, mit zwölf Säbeln und sechs Gewehren. Die Bomben legen wollten unter Gebäude und Brücken, die mit Flugzeugen über die Munitionsfabriken fliegen wollten, sie mit Granaten in die Luft zu sprengen. Ehrlich manche, mit warmblutendem Herzen, die bereit waren, alles zu tun und den letzten Tropfen Bluts zu geben für Deutschlands Sache. Und wieder feige Abenteurer und Agenten, bezahlt und nicht bezahlt, die eine Lockspeise hinwarfen, ihn zu ködern. Plump oder fein – wie sie's eben konnten.

Einer kam, der nichts wollte als reden. Ein Wiener war er, ein armer Teufel, der die Fiedel spielte. Er faltete Pakete auseinander – Zeitungsausschnitte, viele hundert. Lügen alles, infame Verleumdungen gegen Deutschland und Österreich und Ungarn, gegen Wien und Berlin und die zwei Kaiser.

»Was soll ich damit?« fragte Frank Braun.

»Hier – hier,« rief der Musiker. »Hören Sie nur –«

Er las.

»Ich kenne alles,« unterbrach ihn Frank Braun. »Dreiundzwanzig Blätter muß ich lesen am Tag! Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann?«

Dann kam es. Der arme Kaiser Franzl war so krank und so alt. Seine Frau hatten sie ihm gemordet und seinen einzigen Sohn. Und den Thronerben nun und –

Da saß er allein in seinem Schloß, ganz allein, und weinte. Die Russen brannten die Dörfer im Buchenlande und in Galizien, die Serben drangen über Sau und Drina und Donau. Überall, überall floh vor der Übermacht der Doppeladler. So stands in den Blättern.

Und der arme Kaiser Franzl war so krank und so alt, saß im Schönbrunner Schloß, ganz allein und weinte. Weinte – durch alle die Tage, durch die Wochen und Monde –

Wenn man ihm nur etwas schicken könnte, das ihm Freude mache! Daß der liebe, alte Herr doch nur einmal wieder lachen könne!

Ob er denn nichts wisse? Etwas ganz Besonderes – etwas, das gar kein anderer habe?

Nein, Frank Braun wußte auch nichts.

Aber, wenn man nun etwas fände – ob ers dann hinüber schicken könne? Ganz sicher, ohne daß es die Engländer stehlen würden?

Ein Geschenk für den Kaiser? O ja, das konnte man schon. Das versprach er.

»Ich finde es!« sagte der Geiger. Dann ging er.

Frank Braun sah ihn wieder, eine Woche später, auf der Polizeistation: man hatte ihn verhaftet wegen versuchten Diebstahls. Er war verhört worden, scharf genug – da hatte er auch seinen Namen als Zeugen angegeben.

Der Polizeihauptmann fuhr ihn an: »Nur heraus, was wissen Sie davon? Wir haben Sie schon lange im Verdacht. Sie sind mitten drin in allen deutschen Komplotten. Sie haben auch hier geholfen bei dem Blödsinn: Sie wollten das Biest rüberschicken!«

Er lachte, ein gutes irisches Lachen.

»Was für ein Biest?« fragte Frank Braun. Er war froh, daß er es mit einem Irländer zu tun hatte, da konnte es nicht so gefährlich werden.

»Das Nilpferd!« rief der Hauptmann. »Natürlich kams Ihnen nur auf das Leder an – das ist ja rar im Vaterland. Denn das glaubt doch keiner, daß der verdammte Kaisernarr in Wien sich von Nilspanferkelbraten nährt.«

Er schrie und lachte, und der Geiger weinte und schluchzte. Es war nicht ganz leicht, die Geschichte herauszubringen.

So war sie:

Der arme Musiker war zum Zentralpark gegangen, in die Menagerie – frühmorgens in der Dämmerung. War hinübergeklettert über das Eisengitter zu den Nilpferden. Vater – Mutter – und Kind – drei Monate alt oder vier. Das war so komisch, so drollig – war so ganz unmöglich: jeder Mensch mußte lachen, der es sah. Das wollte er stehlen, das Hippopotamusbaby, das wollte er einpacken und lebendig seinem Kaiser schicken. Dann mußte auch der lachen, der liebe, alte Herr!

Aber die Flußpferde im Zentralpark von New York haben eine sehr dicke Haut und haben gar kein Gefühl für das goldene Wienerherz. O nein, sentimental sind sie nicht. Gutmütig vielleicht – aber wenn man ihr Prinzchen rauben will, so werden sie böse. Sie grunzten und fauchten und rissen das Maul weit auf, daß dem armen Kunz Kauffungen recht angst und bange wurde. Da schrie er und jammerte laut – gottseidank! Denn die Wärter kamen und befreiten ihn – sonst wäre er nun – für seinen Kaiser – zerquetscht, zerbissen, zertrampelt worden von den zwei Behemoths. So kam er nur zur Polizei.

Der Polizeichef glaubte nichts von der Geschichte. Aber er ließ es gehn, daß man ein paar Ärzte rief, die den Geiger für geistesgestört erklärten. Ließ es gehn, daß man »für weitere gute Führung gutsagte«, daß man ihn freiließ und mitnahm.

Er war ein Ire und liebte die Deutschen. Bewunderte sie.

Er sagte: »Nur eins können sie nicht. Ganz und gar nicht – das sollten sie wirklich von uns lernen! Als Verschwörer sind sie der größte Mißerfolg, der je da war! Nur Blödsinn machen sie, nur gottverdammten Blödsinn.«

* * *

Die Farstin traf er nicht wieder. Er schellte sie an, doch sie war nicht zu Hause; da gab er der Zofe seinen Namen und die Rufnummer. Er wartete, aber die Diva rief ihn nicht an. Nur in der Oper sah er sie, auf der Bühne. Sandte ihr Blumen in die Garderobe, große Orchideen. Und seine Karte mit ein paar Worten. Der Logenschließer kam zurück, grinste.

»Antwort?« fragte Braun.

Der Kerl sagte: »Sie hat gemeint, es wäre keine nötig. Und sie hat die Blumen in die Ecke geworfen.«

Launen, dachte er. Bühnenärger. Aber es kränkte ihn doch. Was denn? Hatte er sie verletzt? – Und womit nur?

Er fand es nicht.

Aber Lotte kam eines Tages. Sie legte nicht einmal den Pelz ab, faßte seine Hand, nahm ihn gleich mit in ihren Wagen. Sie legte ihm die Hand auf die Lippen, als er sprechen wollte – feines weiches Rehleder, das nach Jicky duftete.

»Frag nicht weiter!« sagte sie. »Ich hab mirs ausgedacht: ich will dich – wie ich dich wollte – auch so.«

Er wiederholte: »Auch so!? Was soll das? Bist du eifersüchtig, Lotte? Und wer hat dir erzählt – von der Diva?«

O nein, sie wußte gar nichts. Aber nun mußte er berichten, alles und ganz genau. Sie lauschte still, leise atmend.

»Wie bist du weg von ihr?« fragte sie. Sie sah ihn an, scharf, lauernd, wie ein kluger Arzt. »Hast du sie geküßt – zum Abschied?«

Er lachte. »Weggelaufen bin ich, Lotte! Ich wachte auf – als sie schlief – da lief ich fort. Wie bei dir, Lotte!«

»Sahst du sie wieder?« fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. Sagte, daß er angerufen habe, auch Blumen geschickt. »Das ist gewiß: sie wollte mich in jener Nacht. Aber es scheint, daß sie nun nichts mehr von mir wissen will.«

Frau van Neß ließ den Kopf zurücksinken in die Polster. Sie seufzte auf, ein wenig spöttisch und doch mitleidig. Sie sagte: »Das kann ich mir denken!«

Er begriff nichts. »Was nur?« fragte er.

Da schaute sie ihn an, warm und mit großer Liebe. Sie zog ihren Handschuh aus und schob ihre kleine Hand in seine Hände.

Sie sprach; »Du brauchst keine andre Frau. Keine, hörst du? Ich bleibe dir – trotzdem!«

Er griff fest ihre Hand. Er verstand sie nicht, wollte lachen und fand den Ton nicht.

»Was ist denn nur?« rief er.

Da fragte sie: »Du weißt es nicht?«

Er wurde ärgerlich. »Aber nichts, gar nichts. Wenn du endlich die Güte haben wolltest, mir zu erklären –«

Ihre Fingerspitzen pulsten, er fühlte wohl, wie ihr Blut schlug, so leicht und warm an seiner Haut. In Wellen, kleinen schnellen Wellen.

»Du weißt es nicht?!« wiederholte sie. »Gut – gut!« Und plötzlich: »Bist du noch müde – in dieser letzten Zeit?«

Ihr Puls hielt ihn fest – durchströmte ihn in weicher Wohllust. Sie merkte es gut, preßte stärker seine Hand.

»Müde!« antwortete er. »O nein – jetzt nicht, wenn dein Blut heiß an mein Fleisch klopft.« Er flüsterte: »Als ob es hinein wollte.«

Sie bestand: »Aber sonst – bist du sonst müde? Sprich, mein Freund.«

Er schloß die Augen, fühlte nur, fühlte. Murmelte: »Sonst? Ach ja – manchmal – bisweilen.«

Und Lotte Lewi sagte: »Ich will dich heilen, weißt du? Heute. Und – immer von neuem. Ich bin dein Wein – trink!«

* * *

Auf ihrem Kissen lag sie im tiefroten Kimono. Seiner war violett, und er saß vor ihr mit untergeschlagenen Beinen. Rauchte, kleine japanische Pfeifchen, viele Dutzende. Ein Zug, einer nur – dann das helle Klopfen am Bronzerand der Aschenschale. Und wieder – klick! – wieder.

Aller Schmuck lag vor ihr – soviel Schmuck. Ringe und Ketten, Broschen, Armreifen und Ohrgehänge. Diademe auch, Spangen und Nadeln. Goldene Dosen und emailgefaßte, lose Steine, Perlen und Gemmen. Damit spielten sie.

»Komm, mein Freund,« sagte sie, »ich will dich schmücken. Morgen sprichst du im Cort-Theater, da mag es dir Glück bringen. Gib deine Hand.«

Sie suchte herum in ihren Ringen, nahm einen indischen, der einen großen Aquamarin trug. Aber sie legte ihn zögernd fort.

»Den?« sagte sie zweifelnd. »Nein, den nicht. Hellgrün – aber er sticht nicht, wie deine Augen tun. Wenn ein gelber Schein darin wäre, statt des blauen.« Sie griff einen andern Ring, aus dem ein Beryll leuchtete. »Den nimm. Er ist so gut dein Stein wie der da.«

»Nein,« sagte er. »Topas ist es, ich bin ein Novemberkind.«

Sie lachte. »Du irrst! Der Stein folgt dem Sternbild, und erst von der dritten Woche deines Mondes an herrscht der Schütz mit dem Topas. Du, aus der ersten Woche, folgst dem Skorpion. Du stichst.« Sie erschrak plötzlich, wurde fast ernst, als sie den Ring auf seinen Finger schob. »Immer trifft es zu,« flüsterte sie, »und überall – seltsam.«

»Was trifft zu?« fragte er.

Sie lenkte ab. »O nichts, nichts! Dein Sterntier sticht – wie du.«

Er blickte sie erstaunt an. »Ich steche?«

Sie streichelte seine Finger. »Ja, ja! Das tust du, mußt es wohl tun, weils in den Sternen steht.« Sie suchte in ihren Kameen, wählte eine kleine, in die ein Skorpion geschnitzt war. »Gibs in die Tasche. Verlier es nicht. Es macht dich stark.«

Sie hielt ihm den Stein hin, da stand ein kleines »J« unter dem Sternbild. »Was bedeutet es?« fragte er.

»Joseph,« sagte sie. »Das bist du.« Sein Auge fragte und sie antwortete. »Ja, Joseph, der Stärkste der zwölf Brüder. Der, der seinem Volk hilft – im fremden Lande. Hier – in Amerika – du – deinem deutschen Volke. Nimm!«

Da lachte er. »Joseph – ich?! Widerstand ich so gut deinen Reizen?«

Aber sie lachte nicht mit. Sie starrte geradeaus, schwieg lange genug. Sagte langsam: »Wieder stimmt es, und immer wieder. Stets von neuem, in allem, was dich angeht.« Sie führte die Kamee zu den Lippen, küßte sie. »Als ich sie schneiden ließ, dachte ich an dich mit keinem kleinsten Gedanken. Shoham heißt der Stein des Stammes Joseph – und es ist der Beryll. Das aber ist der Novemberstein, der Stein des Skorpion – so gab ich deinem Sternbild Josephs Zeichen.« Sie reichte ihm die Kamee hin und er nahm sie. »Wahr sie gut,« fuhr sie fort, »wahr sie gut! Damals ließ ich sie schneiden – sie und die andern elf – in Venedig. Als du mir fortliefst zum dritten Male.«

Er versuchte zu spotten. »War ich sehr keusch? Ließ ich dir meinen Mantel?«

Sie starrte ihn an. »Deinen Mantel nicht – aber deinen Gürtel vergaßest du. Willst du ihn sehn? – Und keusch? Ach ich weiß nicht, ob du nicht keusch bist – auch in deinen wildesten Sünden.« Sie griff in das Gold und die Steine – nahm Smaragde heraus, strahlende Smaragde in Reifen und Ringen. Und sie fuhr fort. »Keusch – das ist: unbewußt! Du bist unbewußt.«

»Sehr bewußt bin ich,« sagte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Was du tust, weißt du nicht. Deine Nerven tun – und dein Hirn weiß nichts davon. Und du entfliehst dir selbst, wenn dein Hirn kaum noch ahnt, was geschieht. So ist es – das hält dich jung.« Sie lachte leicht, das klang wie ein Läuten von Akazienblüten. »Du bist kein Zeugender, kein Befruchtender, du nicht! Du bist Boden, bist Weib und Mutterschoß. Alles nimmst du, alles befruchtet dich, liebend und gewaltsam, mit deinem Willen und gegen ihn. Wie die Erde bist du.«

Er sprach: »Die Erde ist eine alte Metze.«

Sie nickte. »O ja. Wie du. Und sie ist doch keusch an jedem jungen Tag. Wie du!«

»So bist du die Sonne,« sagte er, und es klang feierlich und lächerlich zugleich. »Strahle,« sagte er, »wärme, befruchte!«

Sie hielt Smaragde in beiden Händen, wog sie auf und nieder. »Die Sonne,« begann sie, »die Sonne? Nein. – Der Mond vielleicht. Der schafft Ebbe und Flut; der treibt der Erde Blut. Und das ist es, was du brauchst, du Kind der Erde.«

Sie hielt ihm die grünen Steine bin. »Da, schau, wie sie blitzen! Ich kaufte sie in Colombo, bei Mohammed Bachir, von dem du mir erzähltest. Herr Sidney van Neß zahlte sie, mein Gatte: dafür schlief ich bei ihm in jener Nacht.« Sie lauerte aus halbgeschlossenen Augen, sah wohl das leichte Zucken seiner Nasenflügel. »Tut es dir weh?« Und sie drängte: »Ja? – Ja? Schmerzt es dich? Ich verkaufte mich ihm – einmal und wieder – oft genug! O, er war ein guter Bürger – glaubte seine Gattin zu küssen, ahnte nicht, daß eine Dirne in seinen Armen lag. Aber du sollst es wissen – du! Deine Geliebte war ich – deine Frau – seit Anbeginn. Und ich schlief bei ihm – eine Hure. Reich und groß – und doch eine Hure – immer wieder – um Steine und Gold! Du machtest mich so – du! Du wolltest es –? O nein! Du willst nichts, du läßt es so gehn. Es quält dich wohl, schmerzt dich, reißt dir blutrünstige Striemen – und doch, doch – es reizt dich, kitzelt dich – wie Peitschenhiebe von Frauenhänden. Ist es nicht so? Vielleicht wird dir einmal ein Gedicht daraus – vielleicht wird Witz nur – irgendein paradoxer Gedanke. Das genügt dir schon, das allein. Und darum gehst du – und merkst es kaum – durch alle Qualen, trittst mit leichtem Fuß über jämmerlich Sterbende. O du – sehr Keuscher!«

Sie warf die Steine zurück, riß mit beiden Händen den Kimono herab. Saß da auf den Kissen, hoch aufgerichtet, im dünnen Hemdchen, spitzenüberdeckt.

»Schmücke mich,« lachte sie, »nimm die Smaragde. Nur die Smaragde und nichts sonst. Meine Steine. Schmücke mich.«

Er streifte die Ringe an ihre Finger, zog die grünen Bänder auf die nackten Arme. Große Gehänge gab er in ihre Ohrläppchen. Legte die schmale Kette eng um ihren Hals und zwei längere, breitere dazu, die hinabfielen über Nacken und Brüste. Schob ihr die strahlende Smaragdkrone ins rote Haar.

»Gib die Zehenringe,« befahl sie, »und die Knöchelreifen.« Er zog die Schuhe ihr ab und die Strümpfe. Er streifte ihr die grünen Reifen über die Füße, legte die Ringe an, einen um jeden Zeh.

»Bring die Karaffe,« sagte sie, »die große, geschliffene Crême de Menthe.«

Er holte sie und füllte die Gläser. »Trink aus!« lachte sie. »Das ist grün – grün wie nasse Wiesen am Junimorgen. Mein Mond – wenn der Krebs im Zodiak herrscht. Grün – füll noch einmal und trink! – grün wie meines Monats Stein: der Smaragd. Das ist der Bareketh, der erste der zweiten Reihe in meiner Platte. Und zugleich meines alten Stammes Stein; ist aller Priester Stein, der Stein Lewis.«

Sie setzte ihr Glas hin, griff eine große Dose aus getriebenem Golde, mit Sternsaphiren besetzt, öffnete sie, nahm eine seltsame Platte heraus. Viereckig war sie, eine Spanne hoch und eine breit. Die Platte war aus altem Gold, stark mit Silber legiert und mehr noch mit Kupfer. Ein goldener Ring war an jeder Ecke des Schildes und aus den beiden oberen Ringen fielen kleine goldene Kettchen. Eins schien alt, aber das zweite war ersichtlich nachgemacht vor wenigen Jahren erst. Und neu waren auch die schmalen, blaugrünen Seidenbänder; zwei davon setzten die Goldketten fort, die beiden andern liefen durch die untern Ringe der Platte, die mit zwölf bunten Steinen besetzt war.

Vier Reihen, und drei Steine in der Reihe, jeder Stein aber trug in hebräischen Lettern die Namen der Kinder Jakobs. »Das ist der Onyx, der Yahalom,« erklärte sie, »der Julistein des Löwen: Sebulon führt ihn. Und Ruben hat den Odem, den wir Karneol nennen, ihn schützt die Jungfrau. Benjamin bekam Yaschpheh, den Jaspis und den Widder, Gad die Zwillinge und Shebo, den Agat. Simeon hält die Wage, ihn schmückt der Chrysolith – Pitdah heißt er. – Ach, mein Vater hat mirs oft genug gezeigt – am Eiref manchen Festtages. Das war seine Art zu feiern.«

Er schaute auf: »Dein Vater? Ich wußte nicht, daß der sich um irgend etwas kümmerte, das jüdisch war.«

Sie lachte. »Das tat er auch nicht – gewiß nicht. Erst ich tus – weil du es mich lehrtest – und weil der Krebs mein Sterntier ist, das zurückläuft in alle Vergangenheiten. Mein Vater – hier die Platte war das einzige, das ihn interessierte am Judentum – und nur um der Steine, nicht um Jerusalems willen. Denn dies, siehst du, ist ein Heiligtum.«

Sie hob die Platte auf, legte sie mitten auf ihre Brust unter die Smaragdketten, hieß ihn die Bänder zuschnüren über Schultern und Rücken. Sie zog das Hemdchen hinab: neugierig wie zwei weiße Kätzchen lugten ihre Brüstchen über die bunten Steine.

»Ein Heiligtum,« lachte sie hell, »wenn – es echt ist! Und vielleicht ist es echt, wer weiß das? Viele hundert Jahre war es in Papas Familie, wanderte mit ihr durch ganz Europa. – Was möchte die Ostseite sagen, wenn sie wüßte, daß das da nun am Hudson ist: Choschen Hammischpath! Denk nur: zwei Millionen Juden leben hier und nicht einer weiß etwas davon.«

»Was ist es denn eigentlich?« fragte Frank Braun.

Sie trommelte mit den rosaroten Nägeln auf der Platte. »Ein Heiligtum,« wiederholte sie, »ein großes Heiligtum. Es ist die Brustplatte des Hohenpriesters! – Wie steht sie mir?«

Er meinte: »Es scheint dich nicht sehr heilig zu stimmen – dein großes Heiligtum.«

»Nein,« lachte sie, »das tut es nicht. Ich bin vom Priesterstamm und du weißt ja: Pfaffen untereinander! Aber vielleicht,« – sie wurde plötzlich ernst und der helle Stimmklang wurde tiefer – »vielleicht, weißt du, ist das Ding da mehr noch. Ich habe durchstudiert, was ich finden konnte über des Hohenpriesters Brustplatte – und keine Beschreibung stimmt überein mit meiner da. Der Midrasch Bensidbar Rabba erzählt von ihr und Flavius Josephus. Meine Platte ist anders.« Sie nahm seine Hand, zog ihn heran zu sich und ihre Stimme sank in ein leises Flüstern. »Schau, schau – sie ist kleiner, viel unscheinbarer. Nicht so kostbar, o lange nicht! Mein Stein, der Bereketh, ist nur ein armer Feldspat, wie ihn die Ägypter kennen als Uat – aber er ist grün, wie der Smaragd. Und Judas Stein, der Nophek, ist kein Rubin, sieh nur, der da: ein billiger Granat ists. Da ist ein brauner Agat, statt Isaschars Saphir, und hier ein Malachit an Stelle des Berylls. Und das bedeutet, mein Freund: meine Platte ist nicht die des zweiten Tempels. Nicht die des Hohenpriesters: es ist die alte, uralte selbst, die, von der die Bibel erzählt, die meines Stammvaters: Aaron!«

Ein Zwang lag in ihren Flüsterlauten, ein seltsamer Zwang, der ihn drückte. Er hatte ein Empfinden, als ob er sich freimachen müßte. »Und dann,« fragte er rasch, »was dann? Die oder jene – was macht es aus?«

Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, zog ihn hin zu sich, eng heran, daß ihre Smaragdaugen in seine glühten. »Was es ausmacht? O viel, viel! Dann, weißt du, dann birgt meine Platte – und sie allein nur – Urim und Thummim

Da lachte er auf. »Ah – das ist es. Und du, du weißt, was das ist? Seit dem heiligen Augustin zerbrachen sich tausend Doktores den Kopf darüber – aber keiner fand es.«

»Schweig!« rief sie. »Schweig! Ich weiß es nicht – so wenig wie einer. Aber ist es darum weniger da? Wer löst des Johannis Offenbarung? Und doch ist sie da in vielen tausend Sprachen! Ob ichs weiß, ob ichs nicht weiß – gleichviel – hier ruht der Zauber auf meiner Brust – hier, hier in Aarons Platte.«

Er zuckte die Achseln, spottete: »Wenn – sie echt ist.«

Sie lachte mit ihm, warf sich zurück auf die bunten Kissen, hob das linke Knie und gab das rechte Bein hinüber. Wippte mit dem kleinen Fuß auf und nieder, daß die Reifen leise klangen und die Smaragdringe funkelten auf ihren Zehen.

»Wenn sie echt ist – o ja! Aber gerade, daß ich das nicht weiß, und daß es keiner wissen kann – das ist es, was sie mir lieb macht. So glaube ich – o manchmal nur, wenns meine Laune ist! – daß es Aarons Wunderplatte sei – und dann – dann ist sie mir echt. Willst du ihre Geschichte wissen? In meinem Kopfe steht sie geschrieben und nirgend sonst. Im ersten Tempel lag sie seit Aarons Tode, tat Wunder, gab Orakel, bis zu der Zeit, als Baal stärker ward als Jehovah. Nach Babylon zogen die Kinder Israel als gefangene Sklaven und mit ihnen alle Schätze des zerstörten Tempels – nur diese kleine Platte blieb zurück, weggestohlen den Feinden, vergraben unter den Ruinen des Tempels von der frommen Hand eines meiner Ahnen. Israel kam zurück, baute den zweiten Tempel, schuf eine neue Brustplatte, größer, leuchtender, kostbarer, als diese da. Aber später fand man die alte unter dem Schutt, gab ein großes Dankfest und verwahrte sie gut durch manches Jahrhundert im heiligsten Schreine des Heiligtums. Bis Titus Jerusalem in Trümmer riß, bis er des Tempels Schätze nach Rom schleppte. Da lag sie – das erzählt Josephus – in der Konkordia Tempel, den Vespasian errichtete. Genserich, der Vandalenkönig, nahm Rom und all die Schätze, schleppte sie hinüber nach Afrika. Als das Räuberreich des rothaarigen Helden zusammenbrach, zog Belisar mit der großen Beute nach Byzanz, und Kaiser Justinian stellte die jüdischen Schätze auf in einer Sakristei der Hagia Sophia. Dann aber sandte er sie zurück nach Jerusalem, und man hütete sie in der heiligen Grabeskirche. Das alles las ich im Prokopius, der über den Vandalenkrieg schrieb.«

»Noch ein weiter Weg von da bis Manhattan,« sagte er.

Sie nickte. »Weit genug – und hin und zurück – wie der der Juden. Khusru, der Zweite, der Perserkönig, nahm Jerusalem, er schleppte alles, was der Tempel hielt, nach Ktesiphon, der schätzereichsten Stadt, die je die Welt sah. Aber nicht lange blieb dort meine Platte. Omar, der Araber, schlug das Sassanidenreich in Stücke, nahm die Hauptstadt und die gewaltige Beute. Weißt du, daß man seinen Raub an dem einen Tage auf über tausend Millionen schätzt? Aber meine armen alten Steine trugen nicht viel dazu bei. Das ist das Letzte, das ich finden konnte in der Geschichte. Doch ist es seltsam genug, denke ich. Anbeter des großen Baal nahmen des Aaron Platte, dann Römer, Wotanskinder, Arianer und wieder Anastasianer. Feueranbeter Zarathustras raubten sie und endlich Mohamets wilde Wüstenvölker. Und immer wieder kehrte sie zurück zum Judenvolk. Nun höre – Omars Söhne teilten das Reich und die Schätze. Heilig war diese kleine Platte dem Moslem, wie sie dem Juden war – so mag einer, irgendein Fürst oder Feldherr, sie mitgenommen haben ins Ägypterland, wo sie herkam, und wieder dann ein anderer auf dem Zuge durch Afrika. Und mit Tarik kam sie nach Spanien, lag versteckt in Cordoba oder Granada in den Schatzkammern der Omajaden und Nasseriden. Die katholischen Majestäten aber, Isabella und Ferdinand, nahmen sie, als die Alhambra fiel – sie legten ganz gewiß keinen Wert auf die armseligen Steine, selbst wenn sie wußten, was sie bedeuteten. So mag die Platte ein Hidalgo bekommen haben und dem oder seinen Kindern handelte sie ein jüdischer Leibarzt ab. Ein Sepharde, einer, der große Kunst kannte und manch christliches Leben rettete. Zum Dank dafür brauchte er dann bei keinem Autodafé als Fackel mitzuwirken, wurde sehr gnädig nur ausgeraubt und bettelarm aus dem Lande gejagt. Aber Aarons Platte nahm er mit, nach Amsterdam oder Hamburg vielleicht. – Und irgendwie bekam sie später einer meiner Urgroßväter, ein deutscher Jude, denn meines Vaters Leute sind Ashkenasim. Und so kam sie endlich, zum ersten Male, in das Yankeeland, mit einer halben Deutschen. Hier mag sie helfen, wenn sie das kann – dir und mir – allem, was jüdisch ist, und allem, was deutsch ist, auch! Und sie wird es tun – verlaß dich drauf.«

Ihre Stimme hob sich, klang sicher und hell. Sie richtete sich auf, knieend hob sie die Platte mit beiden Händen, führte sie zu den Lippen, küßte sie – inbrünstig fast.

Er spottete: »Wie ein Prophet! Aber vergiß nicht, das waren Männer und du –«

Da rief sie: »Und Deborah? Deborah? Ein Weib, wie ich! Ihre Hände troffen von Blut und ihr Herz war voll von Haß gegen ihres Volkes Feinde. Wie meines!«

Ein klein wenig zog sich seine Lippe. »Du!« sagte er. »Du? Mischblut – Lotte Lewi!«

»Und gerade darum!« gab sie ihm zurück. »So kann ich doppelt fühlen. Mit meines Vaters Volk, das sie jämmerlich zu Tode martern in Polen und Rußland – und mit dem meiner Mutter, das um sein letztes Leben kämpft gegen die ganze Welt.«

Er empfand gut, wie ernst es ihr war – das reizte ihn. So klang es verächtlich genug, als er sagte: »Sentimentalitäten – anerzogen und anererbt!«

»Nein,« rief sie, »nein! Nichts war jüdisch an meinem Vater, der längst getauft war, ehe ich zur Welt kam. Nichts, außer Namen und Nase. Nicht Liebe – Verachtung für alles, was jüdisch ist – das hätte ich von ihm geerbt. Und anerzogen? Im Tiergarten zu Berlin? Du weißt es am besten, du, wer allein mir sagte, daß ich Jüdin sei! Du, der alles Jüdische wachrief in mir – und mich erst machte zur Jüdin!«

Er höhnte: »Hab ich vielleicht dich auch zur Deutschen gemacht?«

Aber sie blieb ruhig und sicher genug. »Nein, das tat der Krieg. Ich bin, was ich bin: Halbblut. Aber ich habe mein Vaterland, habe mein Volk – zwei Völker, wenn du willst.«

Er goß die Gläser voll. »Trink, Lotte, trink! Auf dein Vaterland!«

Sie tat ihm Bescheid. »Und auf deines!«

»Ich habe keines, glaub ich,« sagte er achselzuckend. »Was ich auch rede und tue – es ist doch ein Spiel nur, Lotte. Arbeit – Bewegung – Lust am Abenteuer. Aber Glauben – und Liebe zu meinem Lande? Nein – nein!«

»Du hast es verloren,« sprach sie, »nie gehabt vielleicht. Ich werde dich hinführen.«

Er lachte auf. »Der Weg ist weit, Lotte, wie der deiner Steine.«

Aber sie bestand. »Und doch sollst du ihn gehn. Mit mir.« Und wieder klang aus ihrer Stimme dieser drückende Zwang.

Er füllte seine kleine Pfeife, brannte sie an. Tat einen raschen Zug, klopfte sie aus an der Bronzeschale. Dann begann er. »Ich werde ihn nicht gehn, nie. Du hast recht, ich habe das, was man Vaterland nennt, nie und nimmer gekannt. Aber ich habe es gesucht, sehr heiß gesucht, in diesem Jahre. Gesucht mit Hirn und mit Herz, wie jeder, der deutsch ist, irgendwo in der Welt. Und ich weiß nun: ich kann nie etwas finden, das es nicht gibt. Viele suchten es, durch alle Zeiten, kluge Leute – und keiner fand es. Nur Narren träumten ein Nebelland.«

»Wer suchte es, wer?« fragte sie. »Wer suchte es heiß und fand es nicht?«

Er antwortete: »Soviel Namen du willst, will ich dir nennen, und jeder hat einen guten Klang! Was war Friedrich dem Großen das Vaterland? Ein lächerlicher Scherz! Er, der kaum deutsch konnte, französisch sprach und schrieb, er, der nicht Lessing zum Bibliothekar nahm, sondern einen unwissenden französischen Mönch. Dieser kluge Hohenzoller, der den blutigen Witz machte, er habe die ›Nation Prussienne‹ erschaffen. Und Lessing sagte, der deutsche Lessing: ›Ich habe von der Liebe zum Vaterlande keinen Begriff, sie scheint mir höchstens eine heroische Schwachheit zu sein.‹ Das paßt gut zu dem, was sein Freund Nicolai schreibt, der gewiß kein Talent hatte, wohl aber scharfen Verstand: ›Deutscher Nationalgeist ist ein politisches Unding!‹ Willst du stolzere Namen? Goethe? Er, der Napoleon bewunderte, schrieb in den Xenien: ›Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergeblich!‹ – Und noch viel schärfer und stärker schrieb euer Schiller an Jacobi: ›Es ist das Vorrecht und die Pflicht des Philosophen und Dichters, zu keinem Volke zu gehören!‹ Das, das, Lotte, sagte der deutscheste unserer deutschen Dichter – o, und du glaubst nicht, wie sehr deutsch das ist.«

Sie wiegte leise den Kopf hin und her. »Es ist echt deutsch. Wie es echt jüdisch war, als sich mein Vater – taufen ließ.« Überlegen klang es, herausfordernd fast. Er stutzte, begriff im Augenblick nicht, wo sie hinaus wollte – das nahm ihm die Sicherheit.

»Was soll das?« fragte er ungewiß.

»O nichts?« lachte sie. »Sag mir doch – seit wann glaubst du an Autoritäten? Du – Frank Braun?« Und da er schwieg, fuhr sie fort: »Lessing, Schiller, Goethe, Friedrich der Große! – Sag mir doch, kommen die Namen nicht auch in deinen Volksreden vor? Sollte ich mich irren, mein Freund – ich meine, so etwas gehört zu haben!? Und da sagen sie ganz etwas anders, nicht wahr? Antworte doch!«

Er biß sich die Lippen, suchte nach einer Antwort. »Für die Masse,« stotterte er, »für die Plebs –«

»Ja doch, ja, mein Herr und Gebieter! Ja doch! Und meinst du, daß ich so sehr zur Masse gehöre, daß du auch mir solche Weisheiten auftischen willst? Mir – die ich deine Schülerin bin – denken und fühlen lernte – nur durch dich? Mir?« Weit offen standen ihre Augen – leuchteten grün und herausfordernd wie ihre Steine. »Wach auf, Meister,« rief sie. »Wach auf!«

Er griff sich an die Stirne, strich hart darüber; es war, als ob er einen Schwindel fortwischen wollte. »Du hast recht,« sprach er. »Ich werf mich fort. Dumm macht mich das alles und kindisch. Es muß ein Ende haben.«

»Was?« fragte sie.

Er sagte: »Meine Arbeit, meine sogenannte deutsche Arbeit.«

Sie nahm seine Hand, aller Triumph schwand aus dem Klang ihrer Stimme. Still sprach sie und ernst. »Nein, nein, Freund, du wirst sie weiter tun – und mehr noch als bisher. Einem Gedanken dienst du und einem Glauben – der dich gebraucht. Du bist ein Werkzeug: du mußt arbeiten.«

Er seufzte leicht: »Es wird mich zugrunde richten.«

Aber sie sagte: »Dich – nie! Mich vielleicht.« Sie wartete seine Frage nicht ab. »O, du wirst es verstehn, später einmal. Nicht mein Geld – o nein. Ich gebe mehr, und viel Kostbareres – um dich stark zu machen zu deiner – Arbeit.« Wieder schnitt sie seine Frage ab. »Ich werde es nicht sagen, nein. – Aber warum ich es tue, das will ich dir sagen.«

Sie strich mit der Hand durch seine blonden Haare, streichelte leicht seine feuchte Stirn. »Höre, mein lieber Junge, hör zu. Ich bin deine Braut und deine Mutter, bin deine Geliebte und deine Schwester in dieser Zeit. Und ich bin deine Prophetin auch. Dich will ich stark machen und groß – und das kann ich, wenn ich dich deutsch mache. Denn ich weiß es gut: das wird dich heben – weit, weit über dich selbst hinaus.«

Er trotzte. »Versuch es doch, wenn du magst und kannst.«

Aber ihr Vertrauen blieb sicher genug. »Ich kann es, ich allein. Ich kann dich deutsch machen.« Ihre Hand zitterte, sie ließ seinen Kopf, griff an die Steine ihrer Platte. Und es klang seltsam, visionär fast, als sie sprach: » Ich hab ein Zeichen

Sein Auge fragte: »Du?«

Und sie nickte. »Ja – ich! O, es ist nichts Geheimes, kein Mysterium. Was ich weiß, ist vielen bekannt, Millionen vielleicht, seit dreitausend Jahren und mehr. Aber keinem fiel es auf, und keiner verstand den Sinn – kein Jude und kein Deutscher. Ich fand ihn, ich allein.«

Wieder hob sie ihre Brustplatte, strich mit liebkosenden Fingern darüber hin. »Die zwölf Stämme lagerten in der Wüste, ein jeder für sich und doch alle für einen im Kampfe gegen die übermächtigen Feinde ringsum. Wie die Deutschen heute – die Bayern und Sachsen und Preußen und Österreicher. Und wie den Haufen ihres Stammes Fahne voranleuchtet, Schwarzweiß und Grünweiß, Schwarzgelb und Blauweiß – so führte ein jeder Stamm der Kinder Israel seine eigene Flagge. Rot wehte über den Zelten von Rubens Kinder, Himmelblau über denen Judas. Weiß war Sebulons Farbe, Schwarz die Isaschars. Einfarbig war das Tuch all ihrer Fahnen – und nur ein Stamm, ein einziger nur, hatte eine bunte Flagge.«

»Welcher?« fragte er.

»Warte,« sagte sie, »warte! Als das verheißene Land erobert war, als man es aufteilte unter die Stämme, in zwölf gleiche Teile, da bekam der Stamm Josephs, des größten der Brüder, zwei Teile. Einen für jeden seiner beiden Söhne, für Ephraim und Manasse. So mußte ein anderer Stamm leer ausgehn, das war mein Stamm: Lewi. Er ward der Priesterstamm, ward gesetzt über alle andern, ward der bindende Kitt in Israel. Und dieser Stamm war es, der Stamm Lewis, der in der Wüste schon das dreifarbene Tuch führte. Kennst du die Farben? Schwarz – Weiß – Rot!«

»Das ist nicht wahr!« rief er.

»Das ist wahr,« antwortete sie. »Ich will es dir zeigen im Sepher Midrash Rabba, ah, in Dutzenden uralten Schriften. Schwarz, Weiß und Rot ist Lewis stolze Flagge – dreimal meine – und deine dazu! Viele wußten es, lasen es durch Jahrtausende. Aber keiner, keiner sah die Deutung: ich fand sie zuerst und ganz allein – weil mein Herz an Aarons Platte schlägt, die Urim hält und Thummin.«

Sie hielt ihm ihr Glas hin und er füllte es mit flüssigem Smaragd. Sie sprang auf, streckte den nackten Arm weit aus. »Schwarzweißrot wehte hoch in der Wüste über allen anderen Fahnen Israels! Was möchte Bismarck gesagt haben, wenn er das gewußt hätte, er, der bei des neuen Reiches Gründung diese Farben wählte, und nicht schwarzrotgold. Und was Lord Beaconsfield, sein großer Zeitgenosse, der Jude Disraeli! Er, der zuerst von allen Menschen es aussprach, daß nur zwei Völkern die Welt gehöre, beiden zusammen, eng vereint, dem germanischen und dem jüdischen. – Durch meine Adern fließt, gut vermischt, beider Blut, ich bin Deutsche und Jüdin zugleich. Und ich, ich fand die Deutung von der Sendung meines Stammes für diese Zeit – lange lebe mein deutsches – lange lebe mein jüdisches Volk! Lewis stolze Fahne führe sie – beide vereint – durch alle Wüsten – in das verheißene Land – das ist: die Herrschaft der Welt! Dafür – dafür – gebe ich dich – und mein Leben!«

Sie leerte ihr Glas in einem Zuge – warf es weithin durch den Raum. Und sie stand, hocherhaben, mit aufgereckten Armen – wild, halbnackt, ekstatisch, unbeweglich.

»Deborah,« flüsterte er, »Deborah!«

Dann zitterte sie, ihre Knie schwankten. Sie ließ die Arme fallen, sank zurück in die Kissen. Sie schloß die Augen, lag da, heftig atmend, ein starkes Zucken schüttelte ihren Leib.

Und über Aarons uralte Steine hin schluchzten ihre süßen Brüste.

* * *

In der Dämmerung ging er über Madison Square – da, wo Broadway und Fünfte Avenue, ein paar Block weit, eins werden. Hinten hob sich, die beiden Riesenstraßen trennend mit Messerschneide, das mächtige Bügeleisenhaus, das einzige Gebäude der gewaltigen Stadt, das einen eigenen, starken Gedanken hatte. Durch den eisigen Schneesturm kroch er entlang an den Häuserwänden, Schritt um Schritt sich weiterarbeitend, tief tappend in die weiße Fläche. Drüben, an der Nordseite, sah er, rings von Säulen umfaßt, den starken Backsteinbau des Madison-Square-Gartens, der den Alkazar von Sevilla nachahmte und die Giralda noch dazu gab. Da, fiel ihm ein, da hatte er vor Jahren gesessen und getrunken, oben auf dem Dachgarten, durch eine wilde Nacht, mit Stanford White, dem Erbauer, und mit der schlanken Evelyn Nesbit Thaw, der kallipygischen. Mit White, dem berühmten Baumeister, dem Stolze Neuyorks, den am nächsten Tage – und auf demselben Stuhle – die todbringende Kugel Harry Thaws traf, ihres Gatten. Wer wußte seinen Namen heute noch – wer sprach von ihm? Kaum noch, wenn wieder einmal, in einem anderen Staate, sein millionenreicher Mörder, der den Wahnsinnigen spielte, von einem Gericht freigelassen wurde. Oder wenn Evelyn Nesbit im Vaudeville ihre schalen Lieder abkrächzte –

Und, unweit des Alkazarbaus, der griechische Tempel des Obergerichts und der andere der Presbyterianerkirche, vier hochstrebende mächtige Marmorsäulen. Aber beide Gebäude, erdrückt, totgequetscht von den himmelhohen Massen des Metropolitanbaus, abgeschmackt, billig und nachempfunden, nur hoch, nur groß und riesenhaft, überragt von dem vierkantigen Babelturm, dessen Spitze in einer rotflammenden Fackel auslief, diesem ungeschlachten Baukastenturm, dessen protzig strahlende Riesenuhr alles zusammenschlug, was am Platz nur Stil, Form und Farbe hatte.

Da, an der Ecke der Dreiundzwanzigsten Straße, schrie, eingeduckt in sein Haustor, ein jüdischer Zeitungsjunge Blätter hinaus in den Schneesturm. Seine jüdischen Blätter »Wahrheit«, »Zukunft«, »Vorwärts«, mächtige Zeitungen der Ostseite in jüdischer Sprache und hebräischen Lettern, die in Auflagen von Hunderttausenden erschienen. Er kaufte ein paar der Blätter, las die frohlockenden Überschriften: »Hindenburg gibt Fonjes ihre tägliche Portion!« – »Daitsche geben Großfürst Pätsch!«

›Fonjes‹ – das waren die Moskowiter und ›Pätsch‹ bekamen sie, gründliche Keile. Da jubelten die Millionen des Neuyorker Ghetto!

Das wußte er wohl, daß es nur ihr Haß war, ihr rasender Haß gegen das mörderische Rußland, das ihre Brüder und Väter und Mütter und Schwestern hinschlachtete wie Hammel im Schlachthaus, nein, mit Knüppeln totschlug, wie räudige Hunde in der Abdeckerei. Und dennoch: sie standen Seite an Seite mit seinem Volke – da war keine Nummer dieser Blätter, die nicht offen kämpfte für Deutschlands Sache – o, entschiedener noch, wilder und rücksichtsloser, als selbst die deutschen Zeitungen im Lande.

Er kämpfte sich mühsam durch den Sturm, quer über den Platz. Eine Melodie summte er vor sich hin, einen alten Gassenhauer, der ihm durch den Kopf fuhr. Er suchte die Worte – – es mußte irgendwas sein, das mit dem zu tun hatte, das ihn eben beschäftigte – mit Juden und mit Deutschen. Dann fiel es ihm ein, langsam, Zeile um Zeile – mit dem Rhythmus erst fand er auch die Worte, die seiner Zunge schwer genug fielen:

»Ti kolinšti židí
křestány vrazdejí!
holku podřezali
krv jé vycedili
do vody hodili!«

Das – ja doch – das hatte er singen hören, wieder und immer wieder, im Böhmerland. So, wie in diesem Jahre auf allen Straßen und in allen Lokalen, von Drehorgeln und Grammophonen, von Klavieren und Geigen, von Musikbanden und allen Menschenkehlen, gesungen, gepfiffen und gespielt, überall, nachts- und tagsüber das Schlachtlied der Alliierten diese Stadt erfüllte: »Tipperary« und wieder »Tipperary«!

Tipperary – das Schlachtlied der Alliierten, und – natürlich! – das aller Yankees gegen Deutschland. Sie sangen es, weil es Mode war – aber auch um ihrer Liebe zu England, Rußland und Frankreich, ihrem Haß gegen Deutschland lauten Ausdruck zu geben. Genau wie das böhmische Volk sein Haß- und Hetzliedchen sang gegen die Juden.

»Von Kolin die Juden,
die schlachten die Christen.
Sie schnitten den Hals ab dem Mägdelein,
sie zapften das Blut in ein Eimerlein,
sie warfen es tief in den Brunnen hinein.«

So empfand das Volk, so und nicht anders. Und es glaubte felsenfest an alle Geschichten vom Ritualmord – schlagt ihn tot, den Jud!

Was – was wollte da Lotte Lewi – mit ihrem großen Bund, ihrem stolzen Traum von Liebe und Verbrüderung? Eine Narretei war es, eine kindische Albernheit!

Aber nein, nein! Nicht dem Christen – dem Deutschen allein wollte sie Israel verbinden. Die aber, die dies Liedchen sangen, waren nicht Deutsche, waren Tschechen, Slawen, wie die Progrombanden des Zaren. Hatten nicht gleich zu Beginn des Krieges tschechische Regimenter gemeutert – waren mit fliegendem Banner übergelaufen zum Feinde? Sie haßten die Deutschen nicht weniger als die Juden.

Er überlegte, dachte zurück an seine Prager Zeit. Krawalle Tag um Tag, Schlägereien mit den buntbemützten deutschen Studenten, deren unbekümmerte Grabenbummel den Mob aufreizte. Steine und Stöcke – manchmal auch Messer und Kugeln. Und immer: ein deutscher Student gegen ein Dutzend Tschechen. Wer waren diese deutschen Knaben, die sich nicht fürchteten, die hellachend ihr rotes Blut – und vielleicht ihr Leben – aufs Spiel setzten um den deutschen Ruf der ältesten deutschen Universität? Diese hochgewachsenen Landsmannschafter und Korpsstudenten, Turner und Burschenschafter in Stürmern und Mützen, deren schleppende Schläger hell über das Pflaster klirrten? Wer waren diese Prager Deutschen, die für ihre Sprache und Sitte kämpften, jahraus und jahrein, mitten im Slawenlande? Juden waren es, rassenreinste Juden zu neun Zehnteilen. Ihnen gab der Tscheche die süßen Namen »nemecky psi prašivci, všiváci, roštáci«: lausige, räudige, im Dreck sich sielende deutsche Hunde! Sie empfand er als Deutsche – ach, all der slawische Deutschenhaß war nur Antisemitismus im letzten Grunde. Und Juden, die sich Deutsche fühlten, fochten an heißester Stelle für des Deutschtums Sache: Lewis Kinder für Schwarzweißrot! Juden und Deutsche gegen das Slawentum – war das nicht der tägliche Schrei der jüdischen Zeitungen – der heiße Wunsch der Millionen des Neuyorker Ghettos? Juden als Deutsche – als ein gleichberechtigter Stamm im Deutschtum, wie der Schwabe und Franke, wie der Steirer und Pommer und Tiroler – war das nicht Lotte Lewis prophetischer Traum? Hier war er erfüllt an der ältesten Stätte deutscher Wissenschaft – Jahre vor dem Kriege! Unbeachtet – unbemerkt kaum von hüben und drüben: und dennoch klar und offen, mit Händen zu greifen.

Und wieder: war es nicht, als ob ein uraltes Wort zum zweiten Male wahr werden sollte – größer, stärker als das erstemal? Damals, im kleinen Palästina, bekam Lewis Stamm keinen Teil am Lande, er ward verschmolzen in alle Stämme, bildete ihren guten Kitt. Lewis Stamm, dessen Flagge in deutschen Farben wehte. Konnte es wieder so werden in naher Zukunft? Israel, ein deutscher Stamm, vermischt durch alle, sie fester und enger zusammenschmiedend!?

Ein fremdes Element?! Ein Stück asiatischer Rasse?! O, das schreckte ihn nicht. Diese Kindereien von Rassefragen hatte man sich an den Schuhsohlen abgelaufen vor dreißig Jahren schon. Das war geschehn in den Jahrhunderten, mehr als einmal – und was geschah, konnte wieder geschehn. Im neunten Jahrhundert trat in der Krim das mächtige ugrische Volk der Chasaren zum Judentum über: heute gab es nicht bessere Juden als diese blonden, blauäugigen Karaim aus Südrußland. Ah – möglich war es, das stand ganz gewiß fest.

Und dann – dann?

Deutschland war Israels Zion – und das verheißene Land – war die Welt.

* * *

Um die Ecke bog er, zum Gramercy-Park. Einer ging vor ihm. Im schwarzen Guinmiraglan, der den Schnee abwarf. Den weichen Filzhut tief in die Stirn. Schlürfend, watschelnd, hinkend, fallend fast. Nicht trunken, stolpernd nur, mühsam aufrecht in dem eisigen Schneesturm. Frank Braun schritt ihm nach, halb zu ihm hingewandt, ob er ihm helfen könne. Da lachte der Schwarze – nein, ein Gröhlen war es, ein schleimiges, sabberndes Grunzen. Das klang ihm in den Ohren, wie des Fischermessers Reißen beim Ausweiden häßlicher Rochen – glatt und grau und doch knirschend und schiebend. Sehr ekel – und bekannt ihm genug. So lachte sein Onkel – so der Mann im Pullmanwagen. Er sah sich um – sprangen nicht schwarze Mäuse durch den Schnee?

Nichts – nichts. Frank Braun blieb stehn, wartete, ließ ihn herankommen. Aber nein, der Mann spuckte nicht. Er schnalzte vorbei, grunzte wieder. Nun sah er im Flackerlicht sein Gesicht. Ein Chinese war es, wohlgemästet und überfett. Er hielt sich fest an dem Gitter, hing da, schwappend, wie an der Reeling eines schwankenden Schiffes. Bog dann ab, segelte hinüber, quer durch die Straße, der Zweiten Avenue zu, hinunter nach Chinatown.

Frank Braun sah ihm nach. Aber kein Spucken, nein – blank blieb der weiße Teppich. Nur, weiter nun, und noch weiter, schlug ihm das ekele Grunzen um die Ohren, zerfetzt, in Stücke zerrissen vom jagenden Schneewind.

Keine Autos mehr, keine Wagen, Omnibusse und Straßenbahnen. Leer, leer alles, und immer stärker das eisige Heulen, das nichts dulden wollte in allen Gassen neben sich selbst. Das peitschte die Flocken, das spie von allen Seiten, jagte die Steinwände hinab und hinauf, riß an Laternen, Gittern, Bänken und Bäumen. Formte auch, für Minuten nur, phantastische Figuren rings durch den Parkplatz, riß sie wieder zusammen, schaffend und zerstörend zugleich.

Eines hob sich, ein gewaltiges Tier, hinter dem schneeverklebten Gitter, in entlaubtem Busch. Wie ein Bär, wie der ewige Eisbär, den er täglich sah in den Zeichnungen der Tagesblätter als Rußlands reißendes Symbol. Und da, an die Laterne gelehnt, stand einer im Schneemantel, wie ein vergessener Posten in der Winternacht. Etwas lugte heraus unter dem Mantel her, schwarz und spitz, wie ein Bajonett. – Dann, von der Westseite her, ein neuer Stoß. Da sprang es auf, dünne Gestalten aus Schnee – stürmte hinüber, brach zusammen an dem klirrenden Eisengitter. Aber neue jagten heran, mehr, mehr wuchsen aus dem Boden, blendend weiß. Rasten herüber, an ihn, gegen ihn, durch ihn hindurch. Neue Schneescharen, neue und neue. Das faßte ihn, warf ihn zu Boden, riß ihn herum, wie einen plumpen Balken, klebte ihn fest an den weißen Boden. Mühsam kniete er, kroch vorwärts, rutschend, kriechend. Noch einmal und wieder, über ihn weg, Tausende, Hunderttausende weißer Reiter. Das raste, das heulte und schrie –

Da brach hinter ihm das Eisengitter –

Nur hinüber – dreißig Schritte nur – über die Straße. Da war sein Klub – da konnte er warm werden. Grog trinken. Poker spielen.


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