Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Hexen zu dem Brocken ziehn
Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün.
Dort sammelt sich der große Hauf,
Herr Urian sitzt oben auf.
So schrieb Dr. Kaspar Krazykat an seinen Bruder –
»Lieber Bruder: dank für Deinen Brief – den ersten seit acht Jahren, es mögen auch zehn oder zwölf sein. Und es ist sicher noch längere Zeit her, seit ich Dir geschrieben habe. Das ist gewiß gut so gewesen: da wir immer nur durch die Mutter voneinander gehört haben, uns also recht eigentlich nur mit ihren Augen gegenseitig ansehn, so ist stets eitel Harmonie und Eintracht zwischen uns gewesen, wir haben nur Liebe und Freundschaft füreinander gehegt. Die paarmal, die wir uns gelegentlich irgendwo in der Welt trafen, waren stets viel zu kurz, um auch nur den kleinsten Schatten auf dieses ideale Verhältnis werfen zu können.
Wenn ich Dir nun plötzlich Deinen Brief beantworte – und Dir so lange und ausführlich schreibe, wie ich es tun muß, so wirst Du begreifen, daß ein außerordentlich triftiger Grund dazu vorliegen muß.
Du schreibst mir, lieber Bruder, in heller Freude und Begeisterung. Du bist ja nun auch bald fünfzig, hast wie ich die Frauen in allen fünf Erdteilen kennen gelernt und darfst Dir also schon ein Urteil erlauben. Nun hast Du Dich verlobt, willst in wenigen Wochen heiraten. Die junge Dame ist aus bester Familie, sehr reich, sehr schön, blühend von Gesundheit und intelligent dazu. Du liebst sie abgöttisch – sie Dich noch mehr – was kann man mehr verlangen? Auf zehn engbeschriebenen Seiten schwärmst Du von Deinem großen Glück – und ich will Dir aufs Wort jede kleinste Einzelheit glauben, will nicht annehmen, daß Deine Begeisterung auch nur um ein I-Tüpfelchen übertrieben hat. Auf der andern Seite: Deine hohe Stellung, Dein Einkommen, Deine eiserne Kraft, Deine männliche Schönheit – entschuldige die Komplimente, aber jedesmal, wenn ich bei Mutter zu Besuch bin, muß ich Deine neuesten Bilder bestaunen und Dein begeistertes Loblied anhören! Sie ist mit Recht stolz auf Dich, und, ganz ehrlich gesagt, ich bin es nicht weniger. Also: Deine Auserwählte kann sehr froh sein, daß sie Dich bekommt – und der Altersunterschied macht dabei gar nichts aus. In Summa: nicht die kleinste Wolke am blauen Himmel Deines Glücks – ich sollte mich mit Dir freuen und Dir alle heißen Wünsche senden, daß es nur immer so bleiben möge!
Statt dessen: bitte ich Dich dringend und flehentlich: hebe sofort Deine Verlobung auf – heirate nicht!
Du, lieber Bruder, bist so kerngesund, wie ich es bin; mit einer ebenso gesunden Frau solltest Du gewiß starke und gesunde Kinder in die Welt setzen. Soviel Du weißt – und soviel ich bisher wußte – liegt in unserer Familie, weder väterlicher- noch mütterlicherseits, auch nicht ein einziger Fall vor, der Anlaß zu irgendeinem Bedenken geben könnte. Unser Vater selbst wurde alt genug und war stark und kräftig durch sein Leben hindurch, unsere Mutter ist über achtzig Jahre alt und dabei in der ganzen Stadt bekannt wegen ihrer erstaunlichen körperlichen wie geistigen Rüstigkeit und Regsamkeit. Dennoch: es ist ihretwegen, daß ich Dich warnen muß, lieber Bruder. Du weißt, daß irgendeine Krankheitsanlage, irgendeine seltsame Abnormität, was es immer sei, oft genug sich nicht von den Eltern auf die Kinder vererbt, sondern eine Generation überspringt: ich fürchte nun, daß die besondere Anlage unserer Mutter bei deiner Nachkommenschaft wieder herauskommen könnte.
Ich selbst, lieber Bruder, war drei- oder viermal in meinem Leben in genau der Lage, in der Du jetzt bist. Damals wußte ich noch nichts von dem, was ich jetzt weiß, nichts von der erstaunlichen Natur der Frau, die unsere Mutter ist. Es muß also wohl ein geheimer Instinkt gewesen sein, der mich jedesmal im letzten Augenblick glücklich davor bewahrte, den Schritt zu tun, den Du jetzt zu tun entschlossen scheinst: zu heiraten. Jedesmal kam mein Benehmen allen Freunden und Bekannten als völlig sinnlos, ja beinahe als verrückt vor. Es würde zu weit führen, Dir jeden Fall meiner Verlobungen und abrupten Entlobungen zu schildern. Nur von einem möchte ich Dir wenige Worte sagen – er ist auch für die andern charakteristisch. Damals sollte ich am nächsten Tage ein Mädchen heiraten, von der ich noch heute all das behaupten könnte, was Du in Deinem Briefe von Deiner Braut schreibst. Nur hatte ich damals zu einer Heirat noch viel triftigere Gründe, die bei Dir ganz und gar nicht vorliegen. Ich war vollständig ohne jede Mittel, hatte schon über ein Jahr nur von Schulden gelebt – ich glaube, ich habe auch Dich damals angepumpt. Meine Nerven waren völlig herunter, ich hielt mich seit Monaten nur mittels aller möglichen Stimulantien notwendig aufrecht. Recht eigentlich aber war es eben diese Frau, die mich am Leben erhielt – an die ich glaubte und die ich liebte.
Als ich am Vorabend des zur Hochzeit festgesetzten Tags zu Bett ging, hatte ich das sichere Gefühl: nun bist Du endlich heraus aus all dem Dreck. Ich drehte das Licht aus mit dem höchst angenehmen Bewußtsein, am andern Morgen zum ersten Mal etwas außerordentliches Gescheites zu tun. Wir sind ja, Du wie ich, sehr gute Schläfer; vielleicht ist es das, was uns so frisch erhält. Zwei Minuten, nachdem ich die Decken über mir fühle, bin ich gewiß fest eingeschlafen – so ist es heute noch und so war es von jeher. Dies war eine der wenigen Nächte in meinem Leben, in der ich nicht schlafen konnte. Nicht, daß ich über irgend etwas nachdachte. Aber etwas dachte in mir. Es war, als ob irgendein Fremdes in mir grüble, um aus einer verborgenen Tiefe einen schlummernden Gedanken herauszuholen. »Ich,« mein Bewußtsein, sah dem zu – ich hatte ein Gefühl seltsamer Neugierde, ob dieser Gedanke, der mir im übrigen völlig gleichgültig war, zum Vorschein kommen würde oder nicht. Das ging eine Weile, dann versuchte ich, davon loszukommen und mir bewußt etwas anderes vorzustellen. Das Naheliegendste war natürlich meine Braut – ich malte mir aus, wie ihr der Brautschleier und die Orangenblüten stehn möchten. In demselben Augenblicke empfand ich, daß der geheime Gedanke, der in meinem Unterbewußtsein spielte, eben mit meiner Braut – mit der Braut in Schleier und Orangenblüten – etwas zu tun haben müsse. Und gleich darauf sprang dieser Gedanke über die Grenze – krallte sich in mein Hirn, saß fest: »Hol sie nicht zum Standesamt! Bring sie nicht zur Kirche! Heirate sie nicht!«
Einen kleinen Moment erschrak ich. Dann aber schien mir der Gedanke so komisch, daß ich laut an zu lachen fing. Ich stellte mir vor, wie unglaublich dumm, wie absurd, wie grausam und gemein das wäre! Sie, die ich liebte und die mich ebensosehr, oder gar mehr noch liebte, würde ich für ihr Leben unglücklich machen, vielleicht im Affekt zum Selbstmord treiben. Und mich selbst – wirklich, in der Lage, in der ich mich damals befand, blieb mir nicht viel anderes übrig! Wie die Dinge lagen, war es kompletter Wahnsinn, auch eine Sekunde nur zu zaudern.
Dennoch – der Gedanke war da, blieb, starr und breit: »Heirate nicht!«
Ich versuchte nun nach irgendeinem Grunde zu forschen, warum ich sie wohl nicht heiraten sollte. Aber ich fand keinen einzigen. Was mir auch immer einfiel – stets war es eine große Stütze für das ›Ja‹! Aber das ›Nein‹ irrlichterierte so herum, hier auftauchend und da, nirgends greifbar.
Ich gab mir alle redliche Mühe, einzuschlafen. Es ging nicht. Ich stand auf, drehte das Licht an, nahm meinen Kimono und rannte so umher. Ich versuchte, zu lesen, rauchte eine Zigarette und noch eine. Ich lief von einem Zimmer ins andere, starrte jedes Bild und jedes Möbel an, öffnete ein Fenster, blickte hinaus – versuchte auf jede Weise, von dem Gedanken fortzukommen.
Aber der ließ mich nicht. Hielt mich fest: »Tus nicht!«
Schließlich saß ich am Schreibtisch. Ich schrieb einen langen Brief an irgendeine Frau, zu der ich einmal in Beziehung stand, erzählte ihr, daß ich heiraten würde, nahm Abschied. Es war ein sehr geschraubter Brief – völlig überflüssig, da ich mit der Frau seit Jahr und Tag nichts mehr zu tun hatte. Das war mir von der ersten Zeile an bewußt. Dennoch schrieb ich den Brief. Stellte mir dann vor, was sie wohl sagen möchte, wenn sie ihn bekomme. Und wieder, was sie sagen möchte, wenn ich ein paar Stunden später selber kommen würde, um ihr zu erzählen, daß ich doch nicht geheiratet habe?
Natürlich zerriß ich den Brief.
Dann nahm ich einen neuen Bogen – ich schwör Dir, daß nicht »ich« schrieb, ob auch meine Hand die Feder übers Papier gleiten ließ. Die schrieb an meine Braut: »Es geht nicht. Ich kann nicht heiraten. Ich weiß keinen Grund – aber ich kann nicht.«
Diesen Brief gab meine Hand in den Umschlag, schrieb die Adresse und klebte Freimarken darauf. Meine Beine trugen ihn hinunter, die Treppen hinab, auf die Straße – so kam er in den Postkasten.
Ich ging wieder hinauf, legte mich zu Bett; schlief im Augenblick.
Am andern Morgen erinnerte ich mich ganz genau an das, was ich getan hatte. Ich hatte nur ein Empfinden – den Erklärungen, den Auseinandersetzungen zu entgehn. Ich packte eine Handtasche, fuhr zum Bahnhof, nahm eine Fahrkarte, irgendwohin, und reiste ab.
Das ist nun viele Jahre her. Ich habe oft darüber und sehr eingehend nachgedacht; immer und immer wieder mußte ich mir sagen, daß ich gegen jede Vernunft gehandelt hatte, daß ich mein eigenes Glück wie das anderer in sinnloser, kindischer und grausamer Weise zertreten hatte. Und dennoch konnte ich zu gleicher Zeit das Gefühl nicht los werden, daß es – dennoch – das einzig Richtige und Mögliche war, ob ich nie auch nur den Schatten eines Grundes dafür finden konnte.
Ganz ähnlich, wenn auch nicht entfernt so kraß, handelte ich in den andern Fällen. Zunächst fest zu einer Heirat entschlossen, wurde mir, je näher dieser Tag heranrückte, um so unbehaglicher zumute, bis ich schließlich durch eine Absage mich befreite. Freilich suchte ich hier stets, unbewußt, nach einem Grunde – und fand ihn auch. Ich redete mir dann selbst ein, daß dieser Grund ein sehr triftiger sei; wenn ichs mir heute überlege, so waren alle meine Begründungen recht fadenscheiniger Natur. Einmal schrieb ich einen höchst sentimentalen Absagebrief, der in dem Satz gipfelte »daß ich meine Freiheit nicht aufgeben, mich nicht in einen goldenen Käfig einsperren lassen könne«. Ein ander Mal –
Aber ich möchte Dich nicht mit diesen Lebenserinnerungen langweilen. Genug, daß ich Dich versichere, daß ich stets mir selbst etwas vorlog, wenn ich mir einbildete, aus diesem oder jenem Grunde von der Heirat zurückzutreten. Ich sehe heute ein, daß alle die Einwände, die ich machte, barer Unsinn waren – sie überzeugten natürlich auch niemals die andere Seite. Heute aber weiß ich, woraus der instinktive Widerstand, der mich jedesmal von einem solchen entscheidenden Schritt zurückhielt, resultierte.
Ich bin nun seit über drei Monaten bei unserer Mutter zu Besuch; sah sie seit langen Jahren zum ersten Male wieder. Ich habe wenig zu tun; so bin ich täglich viele Stunden allein mit ihr beisammen. Ohne daß ich recht eigentlich wollte, ohne im entferntesten auch nur die Absicht zu haben, habe ich sie während all dieser Wochen sehr genau beobachtet. Ich hatte wieder einmal das unbewußte Empfinden, als ob ich etwas suchen müsse.
Ich suchte also. Und ich fand –
Das Ergebnis ist: Du und ich, wir beide dürfen nie heiraten. Deshalb nicht, weil die große Möglichkeit besteht, daß das eine oder andere unserer Kinder mit Überspringung einer Generation die Anlage unserer Mutter erben könnte. Das werden könnte, was sie ist – eine Hexe.
Gewiß wirst Du hier lachen. Vielleicht dann nach einer Weile ein ernstes Gesicht machen, den Kopf schütteln und einen mehr oder weniger gelinden Zweifel in meine Zurechnungsfähigkeit setzen. Seis darum! Mir selbst kam – als mir meine Entdeckung zum erstenmal klar vor Augen trat, dieses für unsere Zeit so sinnlose, komische, harmlose und kindische Wort »Hexe« nicht weniger lächerlich und absurd vor. Ich zweifelte selbst an meinem Verstande – genau wie Du es tun wirst. Aber lies nur weiter: wenn Du nach dem, was ich Dir mitteilen werde, noch zweifeln kannst, wenn es mir nicht gelingen sollte, Dich von der Wahrheit dessen, was ich Dir erzähle, zu überzeugen – nun, so tu leichten Herzens das, was ich ein Verbrechen an der Menschheit nenne: heirate! Zeuge Kinder, setze – Hexen in die Welt!
* * *
Du weißt natürlich, so gut wie ich, von dem erstaunlichen Zauber, der von unserer Mutter ausgeht, und dem sich nicht so leicht jemand entziehn kann. Jedes Kind in der Stadt kennt sie, so gut wie jeder Erwachsene. Wenn sie morgens mit ihrem Stocke ausgeht, so steht ganz gewiß an jeder Straßenecke irgendein weibliches oder männliches Wesen, das sie über den Fahrdamm hinüberführt und wohl acht gibt, daß nicht ein Auto, ein Fahrrad, eine Trambahn ihr zu nahe kommt. Wenn sie eingekauft hat, kommt ganz sicher irgendein Kind auf der Straße zu ihr und bittet, die Paketchen tragen zu dürfen. In der vollbesetzten Straßenbahn, im Omnibus, auf den Rheinschiffen steht nicht nur ein Herr, der gerade vor ihr sitzt, auf, um ihr seinen Platz zu geben – nein, alle Herrn und alle Damen wetteifern, ihr ihren Sitz anzubieten. Die Liebenswürdigkeit der Angestellten in der Oper, im Theater und den Konzertsälen, sowie in den Läden und den Restaurants, in denen wir zuweilen nachtmahlen, ist verblüffend, fast beschämend – es ist, als ob die Leute wetteiferten, unserer Mutter eine Freundlichkeit zu erweisen. Jeden Abend, wenn ich mit ihr ein Stündchen spazierengehe, erstaune ich von neuem. Bekannte Herrn oder Damen, auch Kinder, die grade Blumen in der Hand haben, eilen herbei, wenn sie sie sehn, um ihr die Blumen zu geben; es vergeht dabei nicht ein Tag, ohne daß man ihr Blumen in Vasen oder Töpfen ins Haus sendet. Ich werde jeden Morgen zum Begießen angestellt – und es nimmt mich fast vierzig Minuten, bis ich glücklich durch bin. – Ich weiß nicht, ob sie Dir jemals von ihren »Namenstagen« geschrieben hat. Vor ein paar Jahren überlegte sie sich, daß ein einziger Geburtstag doch sehr wenig sei in einem ganzen langen Jahre und beschloß daher, auch ihren ›Namenstag‹ zu feiern. Um den festzustellen, sah sie im Kalender nach – sie heißt, wie Du weißt, Johanna Nepomucena Hubertina Maria. Hubert – das gibts nur einmal, im November, und der Johann von Nepomuk ist auch nur einmal da. Aber all die andern Johannestage und Marientage – es ist eine wahre Freude! So erklärte sie, daß sie sich nicht für den einen oder andern Tag besonders entschließen könne – sie würde sie eben alle feiern! Das sprach sich rund – und seither schickt ihr zu jedem dieser Dutzende von Namenstagen die gesamte Verwandtschaft und Bekanntschaft und Nachbarschaft Blumen und Geschenke ins Haus. Ihr Balkon, der auf die Klostergärten hinausschaut, ist recht eigentlich ein Blumenkorb; sie sitzt mitten drin zur Teestunde mit jungen Leuten, Malern und Bildhauern, Musikern, Sängern und Schauspielern, Männlein und Weiblein. Auch anderen Leuten freilich – aber die Kunst gibt doch immer den Ton an. Und immer: Jugend – sie mag die alten Leute nicht. Du und ich – wir sind ihr eigentlich schon viel zu alt, nur sieht sie uns, als ihre Kinder, eigentlich immer noch als kleine Jungen. Und das ist gewiß, daß unsere alte Mutter zwischen allen immer noch die Jüngste ist – so lebhaft, so munter, so voll von sprudelndem Geist ist sie. Immer sagen die Leute, sie müsse ein geheimes Lebenselixier haben – dann lächelt sie.
Natürlich herrscht sie; duldet keinen andern Willen im Hause neben dem ihren. Was mich betrifft, so werde ich immer noch ›erzogen‹, bekomme täglich einen Strafzettel. Fünf Mark, weil ich zu spät zum Frühstück gekommen bin, zwanzig Mark wegen spöttischen Lächelns, dreißig Mark, weil ich den Kaffee nicht so vorzüglich fand wie gewöhnlich, zehn Mark wegen mürrischen Gesichts usw. Sie tuts billig, wie Du siehst, aber unter fünfzig Mark Strafe komme ich doch keinen Tag weg. Die Mutter Ist sehr vergnügt, diese neue Einnahmequelle entdeckt zu haben. Sie hat gar keinen Sinn für Geldeswert; hilft jedem, ders nötig hat und macht natürlich Schulden wie ein Student. Und genau so sorglos sammelt sie die Rechnungen und gibt sie mir oder Dir, lieber Bruder, wer von uns gerade zum Besuch kommt, zur freundlichen Begleichung.
Das alles ist freilich entzückend; genau wie jeder andere, bin auch ich von dem Charme dieser alten Dame, die wir Mutter nennen dürfen, bezaubert. Alles ist harmonisch an ihr; und manche kleinen Fehler dienen nur dazu, dies Gesamtbild noch anziehender zu machen. Und dennoch, diese Frau ist –
Ein wenig nach elf pflegt sie zu Bett zu gehn. Ich bringe sie dann in ihr Schlafzimmer, sage ihr Gutenacht und gehe hinauf in meine Zimmer. Vor einiger Zeit hatte ich irgendein Buch vergessen; ich ging also wieder hinunter, es zu holen. Kam durch den Flur, klopfte vorsichtig an ihrer Tür. Keine Antwort. Da sie kaum schon eingeschlafen sein konnte, wiederholte ich mein Klopfen, öffnete endlich vorsichtig die Türe. Das Zimmer war halb erleuchtet, das Bett unberührt. Ich ging durch das Eßzimmer in ihr Wohnzimmer; dort sah ich sie auf einem Sessel sitzen. Völlig angekleidet, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf in den Händen haltend. Ihre Augen waren weit offen – starrten ins Leere. Ich trat ein, leise erst; machte dann absichtlich ein Geräusch – sie schien mich nicht zu hören. Zunächst erschrak ich – sollte ihr etwas zugestoßen sein. Aber der nächste Blick beruhigte mich – sie lebte und atmete. Ich setzte mich also, ein wenig von ihr entfernt, auf ein Sofa und beobachtete sie.
Sie rührte sich nicht. Ihre Züge waren regungslos, aber nicht starr; auch das Auge schien zu leben. Manchmal schien es, als ob ein unmerklicher Schauder sie ergriffe – doch mag ich da mich irren. Es war kein Licht im Zimmer, nur der volle Mondschein der Augustnacht fiel durch das weit geöffnete Fenster – sie saß mitten in diesem Silberlicht. Ich war so still wie sie; wartete, wartete, daß irgendetwas geschehn solle. Aber es geschah nichts. Ich hörte die Pendule im Treppenflur schlagen; es war gerade halb zwölf.
Ich fühlte mit einer festen Gewißheit, daß ich hier vor einem seltenen Geheimnis saß; aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Es geschah nichts, durchaus nichts. Endlich schien sie sich aus diesem Trancezustand zu lösen, seufzte ein- oder zweimal leicht auf, lächelte dann. Erhob sich, lächelte wieder, machte ein paar taumelnde Schritte dem Fenster zu. Sie war zweifellos nun völlig wach; ich sah sie ein paar welke Blätter von einem Geranium abbrechen und aus dem Fenster werfen. Dann kehrte sie um, ohne mich in meiner Ecke zu bemerken, ging mit festen Schritten ins Schlafzimmer.
Ich schlich zur Türe, lauschte. Ich hörte, wie sie sich wusch, auskleidete, zu Bett ging. Dann, nach sehr kurzer Zeit, die ruhigen Atemzüge der Schlafenden. Leise ging ich aus dem Zimmer; die Uhr zeigte noch nicht halb eins. Ihr Starrzustand mochte also höchstens vierzig Minuten gedauert haben.
An den nächsten Abenden setzte ich meine Beobachtungen fort; betrat leise ihr Wohnzimmer, nachdem sie sich zum Schlafe zurückgezogen hatte und wartete in meiner Ecke. Ich wartete viele Stunden – sie kam nicht. In der vierten Nacht jedoch trat sie ein. Nicht zu derselben Stunde, wie das erstemal, sondern einige Zeit später – augenscheinlich erwartete sie, bewußt oder unbewußt, das volle Aufgehn des Mondes. Sie trat still ins Zimmer und setzte sich auf einen Sessel – nicht auf den, auf dem sie das letzte Mal gesessen hatte, aber wieder in vollem Mondschein. Auch ihre Stellung war nicht die gleiche; diesmal griffen ihre Hände die Armlehnen – so starrte sie hinaus. Ich konnte genau die Zeit kontrollieren – sechsunddreißig Minuten verharrte sie, ohne sich zu rühren. Dann zog sie sich still wieder zurück.
Nichts in den nächsten Nächten und Wochen. Ich begriff, daß es irgendwie mit dem Vollmond zu tun haben müsse – so wartete ich bis zu dem des September. Da kam sie wieder; es war im allgemeinen das gleiche Schauspiel wie zuvor. In dieser Nacht geschah etwas, was mich dem Erfassen des Phänomens um ein Kleines näher brachte. Während die Mutter – diesmal hingen ihre blausilbernen Locken lang über die Schultern – sich in den Mondstrahlen badete, machte ich eine ungeschickte Bewegung, stieß ein kleines Tischchen um, auf dem zwei Blumenvasen standen. Aber trotz des überlauten Krachs rührte sich die Mutter nicht; sie hatte ganz offenbar nichts davon gehört. Ihr Körper saß da vor mir im Mondenlicht – aber ihr Geist war viele hundert Meilen entfernt. Ich horchte dann wieder, als sie in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt war, an der Türe – da hörte ich sie plötzlich der Türe sich nähern. Ich steckte rasch das Licht an, wandte mich zum Tisch, tat, als ob ich irgendetwas suche. Die Mutter öffnete die Türe. »Hast Du was vergessen?« fragte sie. Ihre Stimme klang ruhig, wie immer; nichts erinnerte an den somnambulen Zustand, in dem sie noch vor wenigen Minuten sich befunden hatte.
Ich antwortete, daß ich meine Füllfeder suche; sie lachte und meinte, daß sie ihre Uhr vergessen habe. Ich gab ihr noch einmal den Gutenachtkuß, und sie schärfte mir ein, nur ja nicht zu spät zum Frühstück herunterzukommen.
Es stand also fest, daß sie entweder nicht die geringste Erinnerung an ihren Trancezustand hatte, oder aber, wenn dies doch der Fall war, diesen Zustand längst so gewohnt war, daß sie ihm kaum noch Aufmerksamkeit schenkte, ihn wenige Minuten darauf wieder vergessen hatte. Zugleich aber war dieser somnambule Schlaf ein so fester, daß selbst ein so heftiges Geräusch, wie das Hinwerfen des Tisches mit den Vasen, sie nicht daraus zu erwecken vermochte. Und gewiß war, daß in diesen halben Stunden der Verzückung ihr Bewußtsein – ihr Geist, ihre Seele, wie Du es nennen willst – ihren Leib verließ, irgendwo anders weilte.
Wo aber? – Das galt es auszufinden.
Ich habe nun eine ganze Reihe merkwürdiger Einzelheiten zusammengesucht, die mich, sehr langsam nur, auf die Spur führten. Einiges davon habe ich erst jetzt beobachtet. Das meiste aber war mir seit langen Jahren bekannt; nur habe ich ihm nie irgendwelche Bedeutung beigelegt. Du weißt, lieber Bruder, daß wir viele Kröten und Unken in unserm Garten haben. Sehr schöne, große Kröten, mit grün- und gelbgoldenen Augen – ich muß gestehn, daß ich die Vorliebe der Mutter für diese Tiere durchaus teile. Erinnerst Du, wie wir als Buben ihnen Milchnäpfe hinstellten? Vermutlich wären ihnen Engerlinge und Regenwürmer viel erwünschter gewesen. Daß die Mutter manchmal in den Garten geht, sich freut, wenn eine Kröte über den Weg läuft, daß sie auch gelegentlich zu diesen Tieren spricht, weißt Du. Aber neu wird Dir etwas sein, was ich vor einigen Wochen beobachtete. Ich suchte um die Dämmerzeit die Mutter, um mit ihr spazierenzugehn, hörte dann ihre leise Stimme im Garten. Ich ging hinunter – sie schritt langsam über die Wege und hielt an einem Seidenbändchen eine mächtige braune Kröte, die sie wie ein Hündchen führte. Zu der sprach sie. Als ich zu ihr trat, lachte sie, sagte, daß die ›Lise‹ heute recht ungezogen sei und nicht recht mitwolle; sie erzählte mir dann, daß sie schon als kleines Mädchen sich damit amüsiert hätte, Kröten an der Leine herumzuführen. Sie machte das Tier dann los und setzte es unter die Fliegenpilze, die neben den großen Farn stehn: das ist auch so ein kleines Zeichen – diese Pilze! In welchem vernünftigen Garten werden Giftpilze geduldet? Unsere Mutter aber hat jahrein jahraus mit dem Gärtner einen Kampf gekämpft, daß er unter keinen Umständen die Pilze anrühren dürfe. Ich habe nun, als der Gärtner einige Tage später kam, um die Beete in Ordnung zu bringen, einmal gefragt, was für Arten von Schwämmen wir eigentlich im Garten haben. Es sind neben den Fliegenpilzen: Giftreizker, Pantherschwamm, Speiteufel und Satanspilz – alle sind giftig wie die Sünde. Aber nicht ein harmloser Pilz wächst in unserm Garten.
Das brachte mich nun auf den Gedanken, einmal ihre Zimmerpflanzen und Blumen näher zu betrachten. Da sind freilich eine ganze Menge, die völlig ungiftig sind; da ja alle Welt unserer Mutter Blumen ins Haus bringt, so ist das selbstverständlich. Ich brachte nun bei guter Gelegenheit das Gespräch darauf, welche Pflanzen und Blumen sie besonders schätze; die meisten ihrer Lieblinge kannte ich ja bereits seit vielen Jahren. Erinnerst Du Dich, lieber Bruder, daß wir, zu Weihnachten schon, in den Klostergarten oder den Park geschickt wurden, um dort nach den weißen Christblumen unter dem Schnee zu suchen? Die Weihnachtsrose war immer die erste Blume im Jahre, die die Mutter unter allen Umständen haben wollte – wie die Herbstzeitlose die letzte war. Und sie sind beide sehr giftig, wie Du weißt. Mächtige Buschen von Goldregen wachsen im Frühling aus ihren Vasen, später roter Fingerhut und blauer Eisenhut. Im Herbst und Winter stehn überall große Töpfe mit Alpenveilchen herum, sehr bald hat sie dann die kleinen Anemonen, die wir Windröschen nannten, sowie Rosmarinheide. Nun wohl – alle diese Blumen sind sehr stark giftig. Du wirst mir entgegnen, lieber Bruder, daß sie darum nicht weniger schön sind, und daß die Mutter ja auch neben diesen giftigen stets eine Menge harmloser Blumen dahabe. Zugegeben – ich will Dir darum auch noch ihren Nachtschatten und ihren Schierling preisgeben, obwohl Du die gewiß nicht in vielen Häusern finden wirst. Wo aber bleibt die Schönheit bei Wolfsmilch, wo bei Gottesgnadenkraut und Teufelsauge? Und die wachsen bei uns teils im Garten, teils in Töpfen. Das Erstaunlichste aber sind Töpfe mit dem abscheulichen Bilsenkraut. Du wirst mir zugeben müssen, lieber Bruder, daß man lange suchen muß, um das in irgendeinem andern Hause zu finden.
Das Merkwürdige ist nun, daß sie gerade diese Pflanzen am meisten schätzt. Sie mag Rosen – gewiß, aber ein voller Zweig mit den gelben Blütentrauben von Goldregen ist ihr viel, viel lieber. Und diese seltsame Vorliebe ist durchaus instinktiv: sie liebt diese Blumen keineswegs aus dem Grunde, weil sie eben giftig sind. Von einigen weiß sie das freilich, ohne aber diesen Gedanken irgendwelche weiteren Folgerungen zu geben. Auf der andern Seite aber habe ich einwandfrei festgestellt, daß sie von der Giftigkeit einzelner ihrer Pflanzen und Blumen überhaupt keine Ahnung hat. So war sie baß erstaunt, als ich ihr sagte, daß Christrosen und Windröschen giftig seien – daß Alpenveilchen das auch seien, wollte sie mir einfach nicht glauben. Es ist gar nicht anders denkbar: dasselbe geheime Empfinden, das ihr Kröten und Unken so sympathisch macht, läßt sie auch ihre Giftpilze und Giftpflanzen so lieb haben.
Im übrigen tut sie nichts mit diesem Giftzeug. Sie streichelt es manchmal, küßt auch eine besonders schöne Blume – aber das tut sie auch mit den harmlosesten Pfirsichblüten, mit Fuchsien und Löwenmäulchen. Die einzige der Giftpflanzen, mit der sie zuweilen sich näher abgibt, ist zugleich die häßlichste von allen – das Bilsenkraut. Was sie damit macht, konnte ich nie beobachten; doch habe ich gesehn, daß sie gelegentlich, einen Topf – sie hat vier davon – mit in ihr Schlafzimmer nimmt.
Ich muß abbrechen, lieber Bruder – die Mutter ruft.
* * *
Die Mutter rief – diesmal mußte ich mit ihr zum Zoologischen Garten gehn. Sie geht oft hin – und ich sage Dir, Bruder, die Tiere sind zu ihr genau wie die Menschen: jedes einzelne läuft heran, drängt sich ans Gitter, wenn sie kommt. Nun ist es richtig, sie nimmt stets ein paar große Handtaschen mit Futter mit. Diesmal mußte ich gar einen kleinen Sack mitschleppen – die Kastanien sind reif, und ich wurde erst in den Garten geschickt, um alle aufzusammeln, die von den Bäumen gefallen waren. Daß die Elefanten und Kamele, die Bären und Affen und Rehe und Hirsche bis herab zu den Kaninchen und Meerschweinchen jemanden kennen, der ihnen stets etwas mitbringt, ist gewiß nicht weiter verwunderlich, auch nicht, daß sie sich manierlich benehmen, wenn die Vorräte schon fortgegeben sind und das eine oder andere diesmal nichts mitbekommt. Woher aber kommt die Sympathie bei den Tieren, die nicht gefüttert werden dürfen oder denen, deren Fressen – rohes Fleisch oder Fische – man wirklich nicht gut mitbringen kann? Ich begreife, daß der kleine Waschbär Freudensprünge macht, wenn die alte Frau an seinen Käfig kommt, um ihm sein Stück Zucker zu geben, und daß er fast menschlich weint, wenn sie sich von ihm verabschiedet. Aber ich verstehe durchaus nicht, wieso der alte Marabu, der sonst den ganzen Tag auf einem Bein auf seiner Wiese steht und höchst verächtlich das menschliche Gesindel anschielt, plötzlich, wenn die Mutter daherkommt, sich besinnt, daß er noch ein zweites Bein hat. Daß er sogleich heraneilt, um einen verrückten Fakirtanz aufzuführen, zu dem er mit seinem alten Schnabel eine Melodie klappert! Warum erhebt sich der Tiger aus seiner dunklen Ecke, kommt nach vorne, streicht sich am Gitter vorbei und gibt fauchende Töne von sich, die man mit einigem guten Willen als ein Schnurren deuten könnte? Warum schwimmen die Seelöwen durch ihr Wasser, krauchen ans Ufer und bezeugen ganz offenbar ihre Freude? Sie wissen doch so gut, daß die Mutter keine Fische für sie hat, wie die Raubtiere wissen, daß sie kein Fleisch bringt!
Das einzige Tier im Garten, das diese Freudenstimmung nicht mitmacht, ist zugleich dasjenige, dem die Mutter ihre besondere Gunst geschenkt hat. Es gehört zu der Rasse der wilden andalusischen Bergziegen von der Sierra Nevada; es ist ein erstaunlich großer, grauweißer Ziegenbock. Der Kerl steht irgendwo hinten auf einem Felsen und denkt gar nicht daran herabzukommen, während das zu ihm gehörige Ziegenvolk sich um die Leckerbissen streitet, die ihm die Mutter reicht. Den Alten muß sie rufen, fast bitten, doch herzukommen. Endlich entschließt er sich, steigt sehr gravitätisch von seinen Steinen herunter und kommt langsam mit gemessenen Schritten zum Gitter. Er nimmt wohl den Zucker; aber er nimmt ihn, als ob er damit eine große Gnade erweise. Er hat einen prachtvollen Bart, eine große, krumme Nase und ein paar graue Augen. Die kurzen Hörner stehn über den struppigen Bocksohren in die Höhe – wirklich, der alte Kerl sieht ungeheuer menschlich aus, wie der große Pan selber. Er stinkt, das ist schon richtig, und die Mutter nimmt gern ihre Eau de Cologneflasche heraus, um ihn ein wenig anzuspritzen.
Übrigens beschränkt sich ihre Beliebtheit bei allem Getier durchaus nicht auf den Zoologischen Garten. Jeder Hund und jede Katze schließt im Augenblick Freundschaft mit ihr, wie es jedes Pferd tut, das auf der Straße vor einem Wagen steht. In dem wilden Wein und dem Efeu, der unser Haus an der Gartenseite berankt, sind Dutzende von Vogelnestern, wie auch in den Sträuchern und Bäumen unseres Gartens. Spatzen und Schwarzdrosseln sind stets zu Gast, wenn wir auf dem Balkon frühstücken. Ein kleines rotes Eichhörnchen, das irgendwo im Klostergarten wohnt, kommt tagtäglich in aller Herrgottsfrühe zu der Mutter ins Schlafzimmer und holt sich die Nüsse, die sie auf ihr Nachtkästchen legt; die Mutter sagt, daß es ihr »Weckhörnchen« sei. – In jedes Haus fliegt zur Sommerzeit durch das offene Fenster wohl einmal ein Schmetterling hinein; er benutzt dann gewiß die nächstbeste Gelegenheit, um wieder ins Freie zu kommen. Aber wir hatten in diesem Sommer stets Schmetterlinge im Haus. Einige blieben zwei, andere drei oder vier Tage; einer, ein hübsches Pfauenauge, hielt sich über eine Woche in Mutters Wohnzimmer auf. Seit einiger Zeit aber haben wir gar ein Heimchen im Zimmer. Es kam nicht von selbst wie die Schmetterlinge. Bei einem unserer abendlichen Spaziergänge kamen wir an einem Bäckerladen vorbei, wo es sein Liedchen zirpte. Die Mutter ging sofort in den Laden und erklärte dem Bäcker, daß sie das Heimchen haben wolle – der lachte und antwortete, daß ers ihr gewiß gern geben wolle, wenn ers nur erwischen könnte. Aber die Tierchen seien sehr schwer zu fangen – dies da sei nun schon seit manchen Wochen in der Backstube, aber gesehn habe es noch keiner. Die Mutter trat also in die Backstube – ich sage Dir, lieber Bruder, das kleine schwarze Tierchen war das erste, was wir auf dem Boden sitzen sahen. Es ließ sich von der Mutter ruhig greifen und in einer Streichholzschachtel nach Hause tragen.
»Zufall!« wirst Du rufen, lieber Bruder. »All das ist Zufall!« Ich sage durchaus nicht, daß es etwas andres sei! Jedes einzelne von dem, was ich Dir bisher mitteilte und was ich Dir noch schreiben werde, mag Zufall sein. Aber dann nimm alles zusammen – und sage mir, ob immer noch nur von ›Zufall‹ die Rede sein kann?
So sind der Mutter Beziehungen zu Menschen, zu Tieren und Pflanzen. Du wirst gleich sehn, wie sie sich zu andern Dingen einstellt.
Auf Schmuck legt sie nicht den allergeringsten Wert. Sie trägt immer noch eine kleine schwarze Emailbrosche mit Deinem – oder meinem? – ersten Zähnchen. Was auch immer sie an Juwelen besaß, hat sie längst verschenkt, vielleicht auch einiges noch irgendwo in einem Kasten liegen und völlig vergessen. Die Kunstgegenstände, die im Hause herumhängen und stehn, kennst Du. Die wenigen davon, die die Mutter selbst im Laufe ihres Lebens zusammengetragen hat, sind fast nur Tiere und Monstren. Kröten überall, aus Bronze und Porzellan, dann Schnecken, Heuschrecken, Eidechsen und andres Getier. Viel mehr aber noch alle möglichen Fabelwesen. Sie hat eine große, sehr schöne Göttin da, die Bast, das ist die ägyptische Dame, weißt Du, die mit dem Katzenkopf. Die Mutter behauptet, daß sie richtig schnurren könne: man brauche nur die Augen zuzumachen. Die Leuchtkörper auf ihrem Schreibtisch, am Bett und andern Stellen, sind bronzene Nachbildungen der Wasserspeier von Notre-Dame – und ich sage Dir, lieber Bruder, daß unsere Mutter mit allen wildesten Ausgeburten der Phantasie der Gotik auf du und du steht. Sie hat eine große Vorliebe für Fabelwesen aller Art, seltsame Mischungen von Mensch und Tier, ob diese nun ägyptischer oder assyrischer, chinesischer oder indischer Herkunft sind. Aber alles, was gotisch ist, scheint ihr doch am meisten zuzusagen. Sie hat ganze Mappen mit Abbildungen, Stichen, Drucken, Photos, was immer es ist, die sie gelegentlich einmal betrachtet und recht gerne zeigt; sie freut sich sehr, wenn ihr jemand ein neues Blatt bringt. Ich möchte sagen, daß, wenigstens was die ›Versuchung des Heiligen Antonius‹ anbetrifft, ihre Sammlung vollständig sein dürfte. Es ist dabei bezeichnend, daß ihr kein Buch lieber ist, als Flauberts, das dieses Thema behandelt – und Du wirst mir zugeben, daß es nicht grade eine leichte Lektüre ist. Sehr eigentümlich ist dabei, daß die Mutter die Namen all dieser wilden Teufelssekten, die Gnostiker und Manichäer, die Ophiten, Marconier, Priscillianer und wie sie alle heißen, ebensowenig im Gedächtnis behält, wie die ihrer Propheten und Zauberer Irenäus, Simon Magus, Apollonius, Valentinian, Marcus, Montanus und die andern. Aber: ihren Kult kennt sie sehr genau und erzählt ihn mit Flauberts Worten.
Das alles ist durchaus nicht verwunderlich. Warum sollte sie sich hierfür nicht grade so gut interessieren, wie für irgend etwas andres? Aber kann man dasselbe auch wohl sagen, wenn es sich um Besen handelt? In dem dunklen, engen Gange jedoch, der zwischen den andern Zimmern zu ihrem Schlafzimmer führt, hat die Mutter nicht weniger wie dreiundvierzig Besen, neue und alte – ich glaube in unserm Hause ist noch nie ein ausgedienter Besen abgeschafft worden. Sie werden pensioniert, wie Staatsbeamte, und hängen in Reih und Glied in dem schmalen Gange an beiden Seiten. Man sieht sie nicht, da von der Treppe aus ein Vorhang den Gang bedeckt – dennoch ist gewiß, daß im Hause sehr viel bessere Plätze für die Besensammlung zu finden wären. Der mächtige Speicher ist fast ganz leer, in den Räumen neben der Küche, dem Garten zu, ist ebenfalls eine Menge Platz – man könnte dort Hunderte von Besen bequem aufbewahren. Aber nein, sie drängt sie eng zusammen in dem kleinen, engen Gange dicht bei ihrem Schlafzimmer! Mehr noch – ein oder zwei große Besen stehn in ihrem Schlafzimmer selbst, hinter einem kleinen Vorhang in der Ecke, dort, wo ihr Toilettentisch steht.
Du weißt, daß einige sehr tüchtige Ärzte bei der Mutter ein- und ausgehn, nicht beruflich, sondern als ihre Freunde. Die sagt ihnen zwar stets, daß sie durchaus nichts verstünden, aber sie fragt sie doch bei jeder Kleinigkeit um Rat und befolgt diesen gewissenhaft. Sie hat gar keine Neigung für Kurpfuscher und Quacksalber – dennoch quacksalbert sie selber nach Herzenslust. Nie an sich selbst – aber an der ganzen Nachbarschaft und stets mit einem erstaunlichen Erfolge. Ihr Gebiet ist freilich sehr beschränkt – sie behandelt nur Hühneraugen, Gerstenkörner, Warzen und Sommersprossen. Für die Hühneraugen hat sie eine selbstzubereitete, braune Paste; wenn man die aufschmiert, muß man drei Paternoster beten. Bei den Gerstenkörnern scheint das Paternoster nichts zu helfen; die Kur ist etwas komplizierter und dabei das Ave Maria das geeignete Hilfsmittel. Sie streicht – drei Ave lang – mit ihrem Trauring über das Gerstenkorn, am liebsten bei Mondenschein. Die Warzenbehandlung dauert etwas länger: das bewarzte Wesen muß etwa vierzehn Tage lang jeden zweiten Morgen kommen und bekommt eine grünliche Salbe aufgelegt. Während diese trocknet – am besten in der Sonne – müssen De profundis gebetet werden. Daß die Kur hilft, ist fraglos; ich habe mit meinen eigenen Augen ein halbes Dutzend prächtiger Warzen langsam verschwinden sehn. Noch interessanter ist die Sommersprossenkur; sie wird nur im Frühling gemacht. In den drei letzten Aprilwochen müssen die jungen Mädchen – ich habe noch von keinem Buben gehört, der diese Kur gemacht hat – sich morgens und abends das Gesicht mit einer Salbe beschmieren, diesmal einer bläulichen, und dazu ein paar Salve Regina beten. Da die Mutter nicht nur brav katholische, sondern auch die Töchter protestantischer, jüdischer und freigeistiger Eltern zu ihren Patienten zählt, so läßt sie vorher dies Gebet hübsch lernen, ebenso wie die Aves und Paternosters. Am ersten Maitag muß das junge Mädchen sehr früh aufstehn und ohne vorher ein Wort zu sprechen in den Garten laufen. Dort muß es sich auf das Gras werfen und das Gesicht hin- und herreiben, hübsch baden in dem Tau des ersten Maitages. Nachher wieder drei Wochen salben und Salve Reginas beten – dann sind die Sommersprossen weg! Und ich sag Dir, lieber Bruder, sie sind wirklich verschwunden – genau wie die Gerstenkörner und Warzen und Hühneraugen. Die kleine Lotte, des Doktors Töchterchen, schwört auf die Mutter und behauptet, daß sie mehr könne wie ihr Papa, da der mit ihren Sommersprossen nichts anzufangen wußte – es sei eine ganz faule Ausrede, wenn er behaupte, daß er doch Nervenarzt sei und kein Hühneraugendoktor! Auch der Doktor selbst ist ganz zufrieden mit dem glatten Gesichtchen seiner Lotte und erklärt, daß er diese Konkurrenz gerne anerkenne und sogar die Salve Reginas und den andern Firlefanz dafür mit in den Kauf nehmen wolle. Die Mutter hat auch einen ganzen Kasten voll vertrockneter Seepferdchen da – die sind nämlich, eingenäht in Unterröcke oder Hosenböden, ein ganz ausgezeichnetes Mittel gegen Hämorrhoiden. Es scheint aber, daß dies Leiden wenig verbreitet in unserer Stadt ist. Jedenfalls kenne ich außer der alten Waschfrau keinen, der ein Seepferdchen in Gebrauch hat. Die freilich behauptet, daß es ein ganz vorzügliches Mittel sei –
Das alles ist eine artige Spielerei. Viel weniger harmlos aber ist etwas anderes. Die Mutter wahrsagt nie, liest nie aus der Hand, aus den Karten oder andern Dingen. Wenn die Rede darauf kommt, erklärt sie stets, daß das alles dummes Zeug sei. Dagegen – wünscht sie. Sie tut das gewiß nicht oft, nur ein paarmal im Jahre. Aber jedesmal mit einem verblüffenden Erfolg. Es ist ganz erstaunlich, was die Leute davon erzählen. Wenn jemand, der lieb zu ihr war, recht unglücklich ist, so wünscht sie ihm ›etwas Gutes‹. Nie etwas Bestimmtes, immer nur: irgend etwas. Ein junger Bildhauer verkehrte jahrelang in ihrem Hause; durch einen Zufall erfuhr sie, daß er regelrecht hungerte und seit langer Zeit auch nicht einen Pfennig verdiente. Als er das nächste Mal wiederkam, nahm ihn die Mutter allein in den Garten und sagte ihm, daß er in den nächsten Wochen viel Glück haben würde. Er fragte natürlich, was und wieso – aber sie antwortete, das könne sie nicht sagen. Nur: Glück würde er haben, sie würde es ihm ›wünschen‹. Im Laufe des Monats verkaufte der Künstler fünf Stücke in der Ausstellung, bekam außerdem einen Auftrag auf ein sehr großes Grabdenkmal und drei auf Porträtbüsten. Ich weiß diese Geschichte von ihm selber; die Mutter spricht nie über derartiges. Er fügte hinzu, daß er in demselben Augenblicke, als die Mutter im Garten zu ihm sprach, die felsenfeste Überzeugung gewonnen habe, daß sie ihm wirklich ›Glück wünschen‹ könne. Nun habe ich freilich festgestellt, daß, wenigstens in diesem Falle, die Mutter das Glück ein wenig korrigiert hat: zwei der Stücke in der Ausstellung waren auf ihre Veranlassung, das eine von einem Museumsdirektor, das andere von ihrem Bankier gekauft worden. Aber die übrigen? – Zufall! O gewiß, es ist alles nur Zufall!
Wie ist doch die Anekdote von dem Schuljungen, dem der Herr Professor den Begriff »Wunder« erklären will? »Stellt euch vor,« sagt er zu seiner Klasse, »daß ich auf den hohen Turm des Kölner Doms steige. Oben angekommen werde ich plötzlich schwindlig und falle hinunter. Aber, obwohl ich auf dem harten Steinpflaster lande, geschieht mir nichts – alles ist heil und gesund, und ich habe nicht einmal eine Schramme. Was ist das?« Und der kleine Moritz, aus skeptischem Geschlecht, antwortet: »Zufall, Herr Lehrer!« – »Gut,« gibt der Professor zurück, »es mag Zufall sein! Aber nun steige ich am nächsten Tag wieder auf den Turm, werde wieder schwindlig, falle wieder hinunter – und wieder geschieht mir gar nichts. Wie würdest du es jetzt nennen?« – »Glück!« antwortet der ungläubige Moritz. Aber der geduldige Lehrer läßt sich nicht aus der Fassung bringen. »Meinetwegen,« fährt er fort, »meinetwegen magst du es Glück nennen. Nun aber stelle dir vor, daß ich die nächsten Tage wieder auf den Turm des Kölner Domes steige, wiederum schwindlig werde und jedesmal wieder hinunterstürze. Ein drittes, viertes, fünftes Mal! Sanft tragen mich die Lüfte hinab und ich lande auf den Steinen in der Tiefe, ohne ein Härlein mir zu krümmen. Sage mir, Moritz, wie nennst du es nun?« – »Nun ist es schon – Übung!« antwortet der unverbesserliche Moritz.
Wirklich, lieber Bruder, bei der Mutter muß es auch schon mehr sein als ein reiner Zufall! Es muß wenigstens – »Übung« sein!
Leider beschränkt sich unsere Mutter durchaus nicht darauf, nur »Gutes« zu wünschen. Freilich muß sie jemand schon heftig verletzt haben, ehe sie sich entschließt, ihm »Böses« zu wünschen. Ich hätte mich gerne mit ihr einmal darüber unterhalten, aber sie lehnt es glatt ab, sich darauf einzulassen. Was ich also wiedergebe, ist nur das, was ich von andern gehört habe, da ich selbst noch nicht Gelegenheit hatte, einen derartigen Fall zu beobachten. Diese »andern« sind nun Leute aller Stände und Berufsklassen. Ich habe mir die Mühe gemacht, fast jeden, der ins Haus kommt, darüber auszufragen, von den Handwerkern und Nachbarskindern angefangen bis zu den unserer Mutter befreundeten Künstlern, Professoren, Ärzten, Anwälten und Bankiers. Je nach seiner Bildung und Verstandesrichtung legte ein jeder sich es anders aus. Der spricht achselzuckend von Zufall, während der oder die andere mit einem gewissen Schauder von einer geheimen Kraft redet. Aber – die Tatsache bestreitet keiner. Ein Beispiel: ein Dienstmädchen, dem die Mutter sehr viel Gutes getan hatte, lief eines Tages fort, nachdem es sie in der gemeinsten Weise bestohlen hatte. Als die Mutter sich von dem ersten Schreck erholt hatte und den Umfang der Diebereien einigermaßen festgestellt hatte, erklärte sie, daß der Käte, so hieß das Mädchen, sehr bald ein böses Unglück zustoßen würde. Noch nicht zehn Tage darauf wurde die Leiche des Mädchen aus dem Rhein gezogen. Es hatte mit andern eine Bootfahrt gemacht und ertrank, als der Kahn in den Wellen eines Dampfers umschlug, während alle andern gerettet wurden. Ein andermal stellte eine Base, die der Mutter die Bücher führt, fest, daß sie in einem Geschäft, in dem sie seit Jahren kauft, systematisch betrogen wurde. Die Mutter fühlte sich hierüber sehr gekränkt, keineswegs wegen des verlorenen Geldes, sondern nur darum, daß man sie für so dumm halten konnte, sich betrügen zu lassen. Drei Wochen später wurde in dem Geschäft eingebrochen und sowohl der Kassenschrank ausgeraubt, wie eine Menge wertvoller Sachen gestohlen. Man erwischte dann zwar die Diebe, aber erst, nachdem sie alles verjubelt hatten. – Ein Nachbarjunge, dem sie erlaubt hatte, in unserm Garten zu spielen, schnitt ihr eines Tages aus reinem Mutwillen eine junge Birke ab, ein Bäumchen, daß die Mutter selbst gepflanzt hatte und sehr liebte. Wenige Tage darauf bekam er zu gleicher Zeit Scharlach und Diphtherie. Er schwebte in schwerer Lebensgefahr, als die beiden Eltern des Jungen höchst aufgeregt ins Haus kamen – sie hätten gehört, daß die Mutter dem Jungen »Böses gewünscht« habe. Sie wußten von dem häßlichen Streiche ihres Kindes und waren klug genug, unserer Mutter auch nicht den kleinsten Vorwurf zu machen. Sie sagten nur, daß es ihr einziges Kind wäre, und daß die Mutter ihm doch vergeben möge und Mitleid haben solle. Natürlich hatte die Mutter sofort Mitleid und weinte mit den Eltern. Sie schickte sie dann fort, nachdem sie ihnen gesagt hatte, daß ihr Kind wieder gesund werden würde. Unsere Base Bertha, die bei dieser Unterredung zugegen war, erzählte mir, daß die Eltern voller Freude und in vollem Glauben an die Wahrheit dieser Worte weggegangen seien. Als sie hinaus waren, legte die Mutter ihren Kopf in beide Hände und verharrte für etwa fünf Minuten regungslos. Dann sprach sie mit der Base, als ob nichts vorgefallen sei, von etwas ganz anderm. In der Tat nahm die Krankheit noch am selben Tage eine Wendung; in kurzer Zeit wurde der Bengel gesund. Kusine Bertha ist übrigens eine von denen, die auf die »Wunschgabe« der Mutter schwören – sie hat ihre eigene Erfahrung gemacht. Eines Abends sollte sie sie zu einem Konzert abholen, wurde aber durch irgendeinen Umstand verhindert, so daß sie sich um eine Stunde verspätete – darüber hatte sich die Mutter wohl etwas geärgert. Freilich hält so etwas ja nie lange an bei ihr, und es tat ihr schon bald wieder leid. Auf dem Nachhauswege sagte sie zu ihr: »Du wirst bald krank werden – aber es ist gar nichts Gefährliches!« Eine Woche später bekam Base Bertha, scheinbar ohne jede Ursache, eine abscheuliche Erkältung; sie sagte mir, daß sie einen solchen Schnupfen gehabt hätte, daß sie kaum aus den Augen habe sehn können. »Ich bin froh,« fügte sie hinzu, »daß ich so leichten Kaufs davongekommen bin!«
Diese Beispiele, lieber Bruder, könnte ich durch viele Seiten aneinanderreihen. Geschäftliches Unglück, Unfälle, Krankheiten physischer und psychischer Natur in jeder beliebigen Variation. Bis hin zum Tode des »Verwünschten« – den ich, Gott sei Dank, nur in ganz wenigen Fällen feststellen konnte. Ist es immer noch alles nur » Zufall«, lieber Bruder? Oder meinst Du nicht, daß vielleicht auch ein ganz klein wenig » Übung« dabei sein könnte, wie der kleine Moritz das nennt?
Sie aber, die Mutter, scheint gefeit vor allem Unglück. Von ihrem Autounfall hat sie Dir gewiß geschrieben, aber vermutlich so in ihrer Art es als eine Bagatelle behandelnd und sich darüber lustig machend. Die Geschichte spielte sich so ab. An der Ecke der Marien- und Kreuzstraße überquerte die Mutter den Fahrdamm, wobei sie ein zehnjähriges Mädchen führte. Die beiden waren beinahe auf der andern Seite angelangt; das Kind stand schon auf dem Bürgersteig, während die Mutter selbst gerade hinauf wollte. In diesem Augenblicke kam in schärfster Fahrt ein Auto um die Ecke, dicht am Rande vorbei, um einem entgegenkommenden Lastwagen auszuweichen. Der Führer sah die Mutter, bremste sofort und lenkte nach links, warf seine Maschine gegen den Lastwagen. Zu spät! Die Mutter wurde von dem Vorderrad ergriffen und auf das Trottoir geschleudert; dort lag sie ohnmächtig neben dem Kinde, dessen Hand sie nicht losgelassen hatte. Das Kind sprang auf und schrie; Leute brachten sofort die ohnmächtige alte Dame in den Eckladen. Dort kannte man sie gut; man telephonierte sogleich nach Ärzten und nach einem Krankenwagen. Inzwischen flößte man ihr einige Schluck Rotwein ein. Aber nach wenigen Minuten kam die Mutter wieder zu sich. Ihre erste Sorge war, sich abbürsten zu lassen und sich die Hände zu waschen. Sie erklärte dann, daß man den Arzt und den Sanitätswagen wieder abbestellen solle, kaufte ein Dutzend Eier und ging ruhig, als wenn nichts passiert wäre, mit ihrer kleinen Begleiterin nach Hause. Ich traf sie gerade vor der Haustüre. Das Kind zitterte noch von dem überstandenen Schreck und war kaum fähig, ein Wort zu sprechen. Die Mutter nahm es mit herauf und schenkte ihm ein Märchenbuch und eine Tafel Schokolade – ich selbst erfuhr erst am andern Tage von ihrem Abenteuer. Das Automobil aber war völlig zerbrochen; der Lenker lebensgefährlich verletzt. Die Mutter besuchte ihn im Hospital. Er ist jetzt auf dem Wege der Besserung und wird, wie die Ärzte sagen, vollkommen geheilt werden – der Mann selber glaubt, daß für diese über Erwarten glückliche und schnelle Heilung er viel mehr unserer Mutter als den Ärzten zu danken habe.
* * *
Manchmal, in den Dämmerstunden, sitzt die Mutter im Garten und erzählt den Nachbarkindern Märchen. Die sitzen um sie herum mit großen Augen und offenen Mündern und starren sie an. Es interessierte mich, zu wissen, ob sie ihnen vom Sneewittchen erzählte, oder vom Rübezahl, vom standhaften Zinnsoldaten oder vom Rotkäppchen. So setzte ich mich eines Abends in die Nähe und verschanzte mich hinter eine Zeitung. Nichts von alledem erzählte sie. Kein Märchen von Grimm oder Bechstein oder Musäus, wie sie es uns vortrug, als wir noch Kinder waren. Keines von Andersen, von Wilde oder von Papa Dumas. Es sind überhaupt keine Geschichten, die sie erzählt. Die Kinder nennen es nur »Märchen«, weil sie keinen andern Ausdruck dafür haben. Es sind vielmehr ganz kurze lyrische Ergüsse oder auch Stimmungsgemälde in Worten, wenn man es so bezeichnen will. Aber die Wirkung ist eine erstaunliche: wenn die Mutter schweigt, sitzen die Kinder noch lange da, starren wie hypnotisiert in die Luft und sehen das seltsame Nachtbild, das die Stimme der alten Frau ihnen malte. Hinter meiner Zeitung habe ich mir einige aufgeschrieben. Eines lautete:
»Es saßen da ein Dutzend beisammen, Hexen und Zauberer. Die aßen Biersuppe. Und als Löffel hatte jedes den Vorderknochen eines Totenarms.
»Rot glühten die Kohlen im Kamin, die Lichter blakten und von den Tellern kam der Geruch frischer Gräber.
»Wenn der Maribas lachte und wenn er weinte, das klang, wie wenn ein alter Fiedelbogen über die drei Saiten einer zerbrochenen Geige ächzt.
»Der älteste der Zauberer aber schlug ein Zauberbuch auf, beim Scheine der Kerze. Darauf lief eine Fliege herum, der die Flügel versengt waren.
»Die Fliege summte; da kroch eine große Spinne heran, eine gelbe Spinne mit dickem, haarigem Bauche.
»Aber die Zauberer und die Hexen flogen hinaus durch den Schornstein, saßen rittlings auf Besen und Feuerzangen – der Maribas führte sie an.«
Oder die Mutter zeigt den Kindern ein Fingerspiel. »Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen –« erinnerst Du Dich, Bruder? Aber nein, die Kinder hören heute ein anderes unter dem alten Birnbaum.
»Der Daumen – das ist der dicke Baas, der Gastwirt unten vom Rhein, der ist feist und lustig und raucht und sitzt an der Tür seiner Kneipe und trinkt gutes Bier.
»Der Zeigefinger – das ist seine Frau, die ist lang und dürr wie ein Hering und schreit und keift den lieben, langen Tag.
»Der Mittelfinger – das ist der Sohn, so ein ganz baumlanger Kerl; der möchte gern Soldat werden, wenn er nicht Braubursch wäre.
»Der Ringfinger – das ist die flinke Tochter Katrin; die handelt mit Zwiebeln.
»Aber der kleine da, der Benjamin, der ist ängstlich und weinerlich und heult wie ein kleines Kind, das zwischen den Zähnen des Werwolfs hängt.«
Jeder Lehrer und jede Lehrerin wird ohne Frage solche Sachen für völlig ungeeignet für die Jugend erklären. Und sie sind gewiß »völlig ungeeignet«, wenn sie irgendein anderer erzählen würde. Wenn aber die Mutter sie erzählt, so blüht aus diesen kleinen Dingern eine Zauberwelt der Romantik auf. Die Kinder sehn den dicken Baas, sehn seine Frau, die so dünn ist wie ein Hering. Sie lachen laut über den langen Flegel von Sohn und über die flinke Tochter, die mit Zwiebeln handelt, und weinen mit dem kleinen, zimperlichen Jungen, den der Werwolf fressen will. Ich möchte wetten, daß, wenn noch nach dreißig Jahren eines von ihnen einem rundbäuchigen Bierwirt begegnet, es ihn »Daumen« nennen wird.
Aber der ganze Schrecken der Nacht wird wach, wenn die Mutter beginnt: »Es saßen ein Dutzend beisammen, Hexen und Zauberer. Sie aßen Biersuppe –« Keines von den Kindern hat jemals Biersuppe gegessen, die ja ganz aus der Mode gekommen ist. Aber jedes kann sich wohl vorstellen, was das ist und wie es schmeckt. Hexen und Zauberer gibt es in allen Märchenbüchern, aber sie wohnen sehr weit weg in irgendeinem Mondland. Hexen aber, die Biersuppe essen, die wohnen am Niederrhein und in Holland und Flamland – denen kann man in jeder Nacht begegnen. Diese Kinder da unter dem Birnbaum werden die Geschichten von Dornröschen und Sneewittchen und Rotkäppchen nur behalten, weil sie sie im Theater sehn, und werden die schönen Märchen von Dickens und Hauff und Wilde so völlig vergessen, daß sie sie kaum mehr ihren eigenen Kindern werden erzählen können. Aber das Bild, wie die Hexen Biersuppe löffeln und wie über das Zauberbuch hin die haarbäuchige Spinne der Fliege, deren Flügel versengt sind, nachkriecht – das wird ihnen nie wieder entschwinden.
* * *
Laß mich, lieber Bruder, hier noch einmal kurz die Momente zusammenfassen, die ich Dir soweit mitteilte. Du kannst Dich, wenn Du das nächste Mal hierherkommst, sehr leicht selbst überzeugen, daß ich auch nicht in einem kleinen Punkte ein wenig zu stark aufgetragen, vielmehr eher abgeschwächt habe, da ich mir Mühe gab, alles so nüchtern wie nur möglich zu betrachten.
Die Mutter erfreut sich einer ganz außergewöhnlichen Beliebtheit bei allen Menschen, die sie kennen, jeden Alters und jeden Geschlechts. Mit derselben merkwürdigen Liebe hängen alle Tiere an ihr. Es scheint fast, als ob selbst die Pflanzen dieses Empfinden teilten: sie blühen schöner und halten sich viel länger bei ihr, als ich es jemals in einem andern Hause beobachtete. Unter den Tieren sind Katzen, Kröten und Ziegenböcke ihre ausgesprochenen Lieblinge; unter den Pflanzen alle möglichen Giftpilze und Giftpflanzen. Die Mutter beseitigt mit sicherem Erfolg Warzen, Sommersprossen, Gerstenkörner und andere üblen Dinge und verwendet dazu ein immerhin recht ungewöhnliches Verfahren. Während sie selbst, trotz ihres hohen Alters, sehr rüstig und gesund und geistig wie körperlich so erstaunlich frisch ist, daß die Leute sie immer wieder nach ihrem »Lebenselixier« fragen, während sie auch vor allen möglichen Unfällen gefeit erscheint – vermag sie andern Leuten im Handumdrehn Krankheiten und andres Böse »anzuwünschen«. Wie sie ihnen auf der andern Seite »Glück wünschen« kann. Die Mutter hat ferner ein sonderbares Interesse für seltsame Fabelwesen. Sie bereitet merkwürdige Salben und hat eine kuriose Sammlung alter Besen. Während gewisser Stunden beim Vollmond gerät sie in einen ekstatischen Zustand und ist dann mit ihrem Geiste weit weg von dieser Erde.
Der zehnte Teil alles dessen hätte natürlich vor wenigen hundert Jahren genügt, um sie als Hexe auf den Scheiterhaufen zu bringen. Inzwischen sind wir ja so unendlich klug, so erstaunlich gebildet geworden, daß wir nur mit mitleidigem Lächeln an diese dunklen Zeiten des »Hexenwahnes« denken können. Freilich haben wir heute, in allen Städten Europas und Amerikas, Hunderttausende von Zauberern und Zauberinnen, die von diesem Handwerk sich ausgezeichnet ernähren: es gibt keine Straße in einer großen Stadt, in der nicht Horoskopsteller, Kartenschlägerinnen, Zukunftverkünder und Wahrsagerinnen aller Art wohnen. Die theosophischen und mystischen Sekten wachsen wie Pilze überall, blühen manchmal zu mächtigen Religionsgemeinschaften auf. Neulich wohnte ich einer theosophischen Versammlung bei, in der nach dem Vortrage des Vorsitzenden über hundert Menschen der, o je!, so gebildeten Klassen im tiefsten Ernste über die Unterschiede der sogenannten weißen und schwarzen Magie diskutierten – wobei die letztere sehr verdammt wurde. Nicht einer von all diesen Leuten hatte eine kleine Ahnung davon, daß der ganze gloriose Unterschied nur einem komischen Druckfehler zu danken ist, insofern als das Wort Nekromantie im Mittelalter in Nigromantie korrumpiert wurde. Wunderdoktoren gibt es in unseren Tagen viel mehr als je zu einer andern Zeit, und alle machen ganz ausgezeichnete Geschäfte. Vor wenigen Tagen erst hat der »Jesus vom Niederrhein«, der für zwanzig Mark durch eine Postkarte den Patienten an seinen heiligen Körper »anschloß«, das Geschäft zugemacht und sich nach der Schweiz zurückgezogen. Dieser Biedermann hat kaum ein Jahr in unserer Stadt praktiziert und in der Zeit einige Millionen verdient. Zu allen diesen Schwindlern läuft dasselbe Publikum in hellen Scharen, das sich tief beleidigt fühlen würde, wenn man ihm zumuten wollte, an Hexen zu glauben. Gar zu gern hängen sich die Heiligen unserer Zeit ein indisches Mäntelchen um, ohne ein Gefühl dafür zu haben, wie ungeheuer wesensfremd alle indische Lehre unserm Abendlande ist. Und daß das kleine Körnchen Wahrheit, das allen ihren Charlatanerien doch zugrunde liegt, eben aus dem Mittelalter stammt, davon haben sie nicht die allerleiseste Ahnung. Geschweige denn davon, daß das Mittelalter wieder seine korrumpierte Weisheit über manche Umwege aus der Gnosis bezog, daß diese auf die Chaldäer und Babylonier zurückging, die ihrerseits von den Akkadern schöpften –
Aber die Gotik ist nun einmal nur in der bildendenden Kunst wieder in Mode gekommen, im übrigen aber äußerst verachtet. Darum werden die Indizien, die ich zusammentrug, Dir ebensowenig beweiskräftig erscheinen, wie irgendeinem andern Kinde unserer Zeit. Dennoch bin ich begierig, lieber Bruder, zu hören, was Du vom folgendem Vorkommnis hältst.
Wir saßen neulich nach dem Nachtmahle um der Mutter Tisch, etwa acht Damen und Herrn. Man sprach über indische Gauklerkunststückchen und einer der Herrn zeigte den bekannten Nadeltrick, stach sich lange Hutnadeln durch die Backen und machte die Muskelpartie des Unterarms zu einem hübschen Kissen für Stecknadeln. Die indischen Fakire machen das ja in schöner Vollkommenheit und sind scheinbar unempfindlich für weit empfindlichere Verletzungen mit Nägeln, glühenden Kohlen und allen möglichen Dingen. Der Trick, den ich oft gesehn und selbst versucht habe, ist denkbar einfach: es ist nichts dahinter als ein wenig Übung und Willensstärke. Die kleine Verletzung der Epidermis schmerzt freilich immer ein bißchen, aber dieser Schmerz ist sehr leicht auszuhalten. Man wählt natürlich solche Stellen des Körpers, bei denen die Verletzung irgendeines edlen Teiles ausgeschlossen ist, am liebsten Muskelfleisch, bespickt sich mit Nadeln, Nägeln, Schusterahlen und lächelt freundlich dazu – es wirkt immer wieder verblüffend. Die einzige Gefahr ist die einer Blutvergiftung; man tut daher gut, die kindlichen Marterinstrumente vorher zu desinfizieren. Sticht man aber unversehens einen dieser unempfindlichen Gaukler mit der kleinsten Nadel, so kann man wetten, daß er den Stich empfindet und aufschreckt. Das brachte mich auf den Gedanken, einen kleinen Versuch mit der Mutter zu machen. Sie ist sehr empfindlich für den kleinsten Schmerz. Wenn sie sich beim Nähen in den Finger sticht, stößt sie gewiß einen lauten Schmerzensschrei aus. Nun hat sie am Halse ein kleines, sehr blasses Muttermal. Als ich ihr den Gutenachtkuß gab, und beide Arme um ihren Hals legte, pickte ich dahinein mit einer kleinen Nadel. Sie fühlte nichts. Ich tat also besonders zärtlich, ließ sie nicht los, küßte sie ein um das andere Mal – und stieß ihr bei der Gelegenheit an diesem Flecke sehr heftig die Nadel ins Fleisch – zuletzt bis zum Knopfe – sie bemerkte es überhaupt nicht. Du weißt, daß der Henker vor jeder Folter die Hexen entkleidete und mit Nadeln nach sogenannten Hexenmalen, völlig unempfindlichen Stellen auf dem Körper, suchte – bei unserer Mutter hätten er und die Richter sich ihr Urteil sehr schnell bilden können.
An diesem selben Abend konnte ich die Mutter wieder im Vollmonde beobachten. Ich saß versteckt in dem Ecksofa, sah, wie sie die Türe ihres Schlafzimmers öffnete und hereintrat. Sie setzte sich auf ihren Sessel, mitten ins Mondlicht, strich sich die Silberhaare unter dem schwarzen Spitzentuch zurecht und starrte durch das offene Fenster – sie sah wundervoll aus, unsere Mutter. Unbeweglich saß sie da; totenstill lag die Straße, tiefste Ruhe im Zimmer. Dann begann Mutters Grille zu singen, ganz fein und zart, viel, viel leiser als sie gewöhnlich zirpt. Aber es war, als ob das Tierchen erschräke, diese heilige Stille zu brechen. Es brach schnell wieder ab. Mein Blick suchte herum durch den Raum nach dem Heimchen. In dem Augenblick, als er wieder auf die Mutter fiel, sah ich etwas von ihr – neben ihr? über ihr? ich weiß nicht – herabspringen. Nicht die Grille, o nein, etwas Großes, Graues. Es fiel auf den Teppich, aber ich hörte nicht das kleinste Geräusch. Dann sprang es auf das kleine Ruhebett an dem offenen Fenster, kauerte eine kleine Weile auf dem gelben Guanakofell – da sah ich, daß es eine große Katze war. Im nächsten Augenblick saß das graue Tier auf der Fensterbank – dann sprang es hinaus. Unwillkürlich erschrak ich. Aber auch jetzt hörte ich nicht das kleinste Geräusch. Ich eilte sofort ans Fenster – stutzte einen Moment, weil ich in der Höhe meines Ohres ein deutliches Schnurren hörte. Ich wandte mich um – dicht neben mir stand die Bast, die katzenköpfige Göttin, von der die Mutter behauptet, daß sie schnurren könne. Ich hörte nichts mehr, es war wohl nur eine plötzliche Einbildung. Ich ging weiter zum Fenster, schaute hinaus. Dicht unter dem Fenster saß die graue Katze, die sich dann langsam aufrichtete und ruhig daherschritt. Der Sprung vom ersten Stock auf die Steine hatte ihr augenscheinlich nicht geschadet. Ohne mir recht über den Grund meines Handelns bewußt zu sein, lief ich die Treppe hinunter, öffnete das Haustor und eilte auf die Straße; ich sah die Katze ein paar Häuser weiter den Fahrdamm überschreiten. Ich folgte ihr in einiger Entfernung. Sie ging durch die Straßen, als ob sie ein ganz bestimmtes Ziel habe. Sie strich nicht, nach Katzenart, an den Häusern vorbei, sondern schritt ruhig und stolz durch die Mitte der völlig menschenleeren Gassen.
Ich überlegte mir, wie sie wohl ins Haus gekommen sein konnte. Denn obwohl die Mutter alle Katzen sehr gerne mag, hat sie doch selbst nie eine im Hause. Ich verstand nun endlich, wohin das Tier wollte; es ging gradewegs dem Kirchhof zu – vielleicht will sie da wildern, dachte ich. Dicht vor dem Friedhof hörte ich ein paar betrunkene Männerstimmen, sah dann, wie zwei Herrn einen hübschen braunen Dachshund auf die Katze hetzten, die sich aber in ihrem ruhigen Gang durchaus nicht stören ließ. Der freche, kleine Dackel sprang sofort zu; ich konnte in dem hellen Mondschein deutlich sehn, wie er sie mit den Zähnen an dem linken Ohre packte. Aber die Katze schüttelte ihn ab, sprang zur Seite und griff nun an. Im Augenblick saß sie im Nacken des Hundes und schlug sich mit ihren Krallen fest, der arme Kerl bekam einen solchen Schreck, daß er davonstob, so schnell er konnte. So ritt die Katze auf dem krummbeinigen Reitpferde in den Kirchhof hinein. Hinter den Büschen hörte man ein erbärmliches Jaulen und Winseln, dann kam der Dackel, überall blutend, mit eingeklemmtem Schwanze und sehr beschämt über seine schmähliche Niederlage, zurück. Er sah so komisch aus, daß ich mit den Herrn, die ihn gutmütig trösteten, lachen mußte. Dann schritt ich weiter, den Gräbern zu. Aber die Katze war fort; so ging ich langsam wieder nach Hause.
Als ich in der Mutter Wohnzimmer trat, saß sie noch immer in derselben regungslosen Stellung. Ich trat zu ihr hin, küßte sie auf die Stirne – da sah ich, daß ganz oben an der Muschel ihr linkes Ohr blutete –
Grade an der Stelle hatte der Dackel das Ohr der grauen Katze –
Was denn? Was denn –?
Die Mutter saß hier, hier auf dem Fleck, hatte sich nicht gerührt all die Zeit über, heute so wenig wie in den andern Nächten. Ihr Leib nicht, der nicht! Aber – ihr Geist?
Und von hier aus – von hier aus – war die graue Katze –
Dann war die Mutter, unsere Mutter –
Reime Du das zusammen, Bruder, wenn Du kannst! Eine graue Katze strich über die Gräber.
* * *
Mit leisem Herzklopfen kam ich zum Frühstück am andern Morgen. Ah, vielleicht hatte ich das alles nur geträumt.
Da saß die Mutter, trank ruhig ihren Tee. Oben, am linken Ohre hatte sie ein kleines, schwarzes Pflaster.
»Was hast du am Ohre?« fragte ich.
»Ich weiß nicht,« antwortete sie völlig unbefangen. »Ich muß mich verletzt haben und weiß nicht wie. Mein Kopfkissen war ganz blutig heute morgen.«
Das klang völlig harmlos, so durchaus echt – nein, das konnte sie nicht spielen!
– Es ist schon so, die Mutter ist ein Werwolf und weiß es nicht!
* * *
An diesem Abend saß ich allein mit der Mutter. Wir plauderten lange und sehr herzlich, tranken dabei wie gewöhnlich ein Glas Mosel. Ohne daß es mir auffiel, hatte ich schon eine zweite und dritte Flasche entkorkt. Die Mutter lachte. »Du trinkst ja heute!« sagte sie. »Wirklich!« antwortete ich, »ich habs weiß Gott nicht gemerkt!« – »Trink nur,« nickte sie, »es freut mich, wenn dir der Wein schmeckt!«
Sonst trinke ich nicht mehr wie die Mutter auch; zwei, höchstens drei kleine Gläser – an diesem Abend trank ich, ohne die geringste Veranlassung, vier Flaschen. Und dann tat ich etwas, was ich noch nie tat in meinem Leben: ich trank allein. Als ich hinaufkam in meine Räume, bekam ich eine plötzliche Lust auf einen Highball. Ich holte Whisky und ein paar Flaschen Soda und mischte mir ein Glas.
Ich mußte ein paar Stunden warten, bis der Mond aufging. Ich saß in meinem Zimmer, rauchte und trank ein Glas Whisky nach dem andern. Dennoch fühlte ich mich, als ich endlich wieder hinunter auf meinen Beobachtungsposten ging, völlig klar und frisch – es war mir im Gegenteil, als ob ich heute nacht viel schärfer sehn und denken könnte.
Bald kam die Mutter. Saß wieder in ihrem Lehnsessel, wie gestern abend. Das schwarze Spitzentuch auf den Silberhaaren – mitten im Mondschein. Und sie rührte sich nicht.
Dann sah ich, plötzlich, an den Sessel gelehnt, einen alten Besen. Ich begriff nicht, wie der dahin gekommen war – aber da war er. Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen – stand dann auf, ging zu ihr hinüber, griff mit beiden Händen den Besenstiel, um mich völlig zu überzeugen. Vor ihr auf dem Tische bemerkte ich eine kleine runde Büchse; ich öffnete sie: es war eine grüne Salbe darin. Langsam ging ich wieder zurück auf meinen Platz.
Dann sah ich, wie die Mutter beide Arme hob, das Spitzentuch vom Kopf nahm. Wie sie, eine um die andere, die Nadeln aus dem Haare zog; die fielen wirr herunter. Sie griff den Besen, nahm die kleine Büchse – und mit der grünen Salbe salbte sie den Besenstiel. Ich weiß nicht, wie das war – aber nun saß sie darauf, rittlings, flog auf, flog hinaus durch das offene Fenster.
Ich hörte ihre Stimme, die rief:
»Auf und davon! Hui, oben hinaus und nirgend an!«
Und ich sah, wie sie durch die Lüfte ritt.
Da waren noch andere, ritten auf Besen und Feuerzangen – doch waren Wolken da und Nebel, und ich konnte sie nicht genau erkennen.
Aber die Mutter ritt vorauf, allen vorauf; sie führte den Zug.
Da war ein Hügel, kurze Erlenstämme standen herum. Ein Bock, ein großer Bock in der Mitte – ah, der andalusische aus der Sierra Nevada! Seine kurzen Hörner leuchteten über der Versammlung –
Und die Hexen tanzten im Kreise, das Gesicht nach außen gekehrt. »Harr, harr!« schrieen sie. »Teufel, Teufel! Spring hie, spring da! Hüpf hie, hüpf da! Spiel hier, spiel da!
Aber ich sah es wie durch wirre Schleier, weit hin über den Erlenwiesen –
– Und doch saß sie vor mir, die Mutter, unbeweglich auf ihrem Sessel, dort in den Mondesstrahlen.
* * *
Ich weiß nicht, wann ich einschlief in dieser Nacht. Ich wachte früh auf am andern Morgen, doch war es schon hell. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen, fand mich zusammengekauert, fröstelnd in meiner Sofaecke.
Ich stand auf; die Mutter war längst fort.
Aber bei ihrem Platz stand der alte Besen, auf dem Tische die Büchse mit grüner Salbe.
Es war mir, als lachten sie mich aus.
Langsam schritt ich durch die Zimmer, ging hinauf. Entkleidete mich, wusch mich, legte mich zu Bett. Schlief bis zum Mittag an diesem Tage.
* * *
Das, lieber Bruder, ist alles. Ich weiß nicht, ob es Dich überzeugt hat. Was immer Du tun magst – überleg es wohl.
* * *
Drei Wochen später erhielt Dr. Kaspar Krazykat diese Antwort:
»Wie Sie wissen, lieber Schwager, sind wir seit gestern verheiratet. Mein Mann gab mir Ihren langen Brief gleich nach dem Eintreffen. Wir lasen ihn zusammen durch. Wir lachten zunächst und betrachteten das alles skeptisch genug. Aber ich muß gestehn, daß wir die Sache viel ernster ansahen, je mehr wir lasen. Wir haben uns alles, was Sie uns von der Mutter mitteilten, sehr reiflich überlegt, haben wieder und noch einmal Ihren Brief gelesen. Um es kurz zu machen, lieber Schwager, Sie haben vollkommen erreicht, was Sie wollten: Sie haben sowohl Ihren Bruder wie mich durchaus überzeugt.
Nur lieber Schwager, haben wir daraus einen andern Schluß gezogen.
Wir haben geheiratet, und ich hoffe meinem Mann Kinder zu schenken. Vielleicht sind auch ein paar Mädel darunter – und dann habe ich keinen sehnlicheren Wunsch als den, daß sie alle genau so liebe, nette Hexen werden möchten wie die Mutter.«
* * *
Dr. Kaspar Krazykat las das und schüttelte bedenklich den Kopf.