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Der schlimmste Verrat

ἄλλο δέ τοι ἐρέω: φύσις οὐδενὸς ἔστιν ἁπάντω
θνητῶν, οὐδέ τις οὐλομένου θανάτοιο τελευτή.

Empedokles.

 

Man nannte ihn: Stephe. Das kam, weil sein Vorgänger so hieß; da hatte der alte Totengräber, viel zu faul, sich an einen andern Namen zu gewöhnen, dem neuen Gehilfen gesagt: »Ich nenn dich Stephe.«

In Ägypten geschah das. Nicht am Nil – im Staate Illinois. Im südlichen Teil: der heißt »Ägypten«, weil ein wildes Gemisch schlechter Rassen dort durcheinander wohnt. Schlechter, niederer Rassen – oder doch was der Amerikaner so ansieht: Kroaten, Slowaken, Ungarn, Tschechen, Walachen, Slowenen, Russen, Griechen, Italiener und Ukrainer. Aber der Yankee kennt diese Namen nicht; er hört nur, daß sie alle nicht englisch sprechen, sondern irgend ein wirres Durcheinander – das ist wie in Babel nach dem Turmbau. Und Babel, ja, das war in Ägypten, nicht wahr? Oder doch irgendwo daherum in der Nähe. Darum nennt er das weite Land Ägypten.

Der Amerikaner ist der Herr. Ihm gehört das Land, ihm alle die Bergwerke und Hütten und Zechen. Die »Ägypter« sind seine Sklaven. Die Negersklaven im Süden sind frei seit einem halben Jahrhundert – sie brauchen nicht mehr zu arbeiten; die Weißen aber, die Europa ausspie, die müssen arbeiten. Und wenn sie nicht wollen, wenn sie streiken, dann läßt der Herr Maschinengewehre auffahren. Schießt ein paar Dutzend tot, sperrt andere ins Zuchthaus – im Namen der Freiheit. In Ägypten und überall im Land.

Freilich, einige der Ägypter sind klug. Sie scharren ein wenig Geld zusammen, dann mehr und noch mehr. Werden schließlich selbst Amerikaner und Herrn. Freigelassene: nicht sozial gleichberechtigt, o nein – aber doch wirtschaftlich. Und die sind die schlimmsten; die verstehn es am besten, auch den letzten Saft aus den Sklaven herauszupressen.

* * *

Der Name der kleinen Stadt, vor der Stephe wohnte, klang gar nicht ägyptisch. Auch nicht englisch, auch nicht indianisch. Klang deutsch: Andernach. Hier hatten einmal pfälzische und rheinische Bauern gesessen vor langen Jahren – kein Mensch wußte mehr, wann das gewesen war. Aber sie waren längst fortgezogen, eine Familie um die andere, als die Industrie kam und mit ihr die Ägypter. Und nur ganz wenige der alten Siedler waren zurückgeblieben, zwei, drei deutsche Namen: die waren auch längst Amerikaner geworden. Reiche Herrn.

Dennoch: die Stadt sah anders aus, als alle andern ringsum. Keine Holzbaracken, keine Wellblechhütten. Richtige Ziegelsteinhäuser, mit Reben bewachsen; Gärten drumherum, Äpfelbäume, Birnbäume, Kirschbäume. Die niederen Rassen begriffen recht gut den Unterschied; zerstörten nichts; bauten hinzu, Häuser und Gärten; fühlten sich ein wenig als Menschen in Andernach – viel, viel mehr, als irgendwo sonst im Ägypterland.

Draußen, vor der Stadt, lag der Friedhof. Der war noch deutscher als die Stadt. Große Eichen standen da und manche Trauerweiden. Fast in der Mitte, einen kleinen Hügel hinauf, lagen die deutschen Gräber, und man las die Namen: Schmitz, Schulze und Huber. Sehr einfach alle Steine, aber gut gepflegt, so daß der Efeu, der allen Boden deckte, sie nirgend überwucherte. Eigentlich gehörte der Friedhof niemandem, keiner Glaubensgemeinschaft und keinem der Stämme der Ägypter. Die benutzten ihn alle – und bezahlten dafür an den alten Totengräber: der war der Herr. Zweimal im Jahre zahlte ihm die Bank der Stadt einen Scheck aus, aus Chikago überwiesen, oder war es aus San Franzisko? Als die Deutschen wegzogen, verkauften sie, einer um den andern, Haus und Garten – aber den Friedhof nicht. Den konnte keiner verkaufen – und so erwarb ihn auch niemand. Aber irgendeiner aus Andernach, irgendein Schmitz oder Huber oder Schulze, der irgendwo im Lande gestorben war, hatte ein gutes Vermächtnis gemacht: dessen Zinsen erhielt für seine Arbeit der alte Totengräber. So war er der Platzhalter von Toten, die für sich selber zahlten, war der Herr in seinem Lande – und also betrachteten ihn die Ägypter. Er verkaufte ihnen Grabstätten, wenn sie solche gebrauchten, nahm viel oder wenig, wie er grade wollte, und schrieb Kreuze und Steine und Säulen nach seinem Geschmacke und aus seiner Werkstatt vor.

Ein Böhme war er, Pawlaczek hieß er. War früh hinüber gekommen, hatte hier noch gehaust mit den Deutschen und war nun lange schon der Älteste in der Stadt. Sein Tschechisch hatte er vergessen durch vierzig lange Jahre, dann mühsam wiedergefunden, als die Ägypter kamen. Und sein Deutsch und Englisch warf er in einen Topf und machte einen fettigen Brei daraus. Er hatte eine Werkstatt für die Grabsteine und darin fünf italienische Steinmetzen. Hatte sechs Gärtner und ebensoviel Totengräber.

Einer davon war Stephe.

Stephe war kein Ägypter. Stephe war Amerikaner. Er hieß eigentlich Howard Jay Hammond, stammte aus Petersham, Mass.; zählte dreiundvierzig Jahre, als ihm dies passierte.

* * *

Der, der es niederschrieb, bruchstückweise, wie er es herausholte von Stephe, der es zum Teil selbst miterlebte, war Jan Olieslagers aus Limburg. Holländischer Nationalität also – doch ein Vlame. Und, in Kultur und Erziehung, deutsch. In deutschem Interesse hatte er während des Krieges gearbeitet, galt dann, als die Vereinigten Staaten auch losschlugen, als sehr verdächtig. Rechts und links wurden die Deutschen im Lande verhaftet und ins Gefängnis geworfen, viele davon seine guten Freunde. Jan Olieslagers sehnte sich wenig nach dem Zuchthaus – hielt es für angebracht, eine Zeitlang von Neuyork zu verschwinden.

So kam er nach Andernach ins Ägypterland. Große Farbwerke waren bei der Stadt, dort stellte sich Olieslagers vor. Er verstand nur herzlich wenig von der Chemie – aber er verstand es gut, den Anschein zu erwecken, als ob er etwas verstehe. Er kannte, sehr oberflächlich nur, den leistenden Direktor von Neuyork her; der wußte, daß er »Doctor« angeredet wurde und irgendwas mit der deutschen Sache zu tun hatte. So glaubte er einen sehr guten Fang zu tun: einen großen deutschen Chemiker, der manches Geheimnis wußte. Dafür konnte man schon eine Weile die Hand über ihn halten – was lag an dem einen Deutschen? Hier in Andernach konnte er gewiß kein Unheil anrichten. Freilich, seinen Vorteil nutzte er aus, zahlte dem neuen Chemiker nur knapp das, was zum Leben eben notwendig war, wies ihm ein kleines Zimmer in der Fabrik an.

Jan Olieslagers lungerte im Laboratorium herum, rührte nicht eine Hand. Endlich zur Rede gestellt, erklärte er, daß er nicht daran denken würde, unter irgendjemandem zu arbeiten. Er müsse seine eigenen Räume haben – und niemand dürfe ihm hineinpfuschen. Und so groß war, hier wie überall im Lande, die Hochachtung vor deutscher Wissenschaft, daß man seinen Wünschen nachkam, alles tat, um baldmöglichst große Resultate durch ihn zu erzielen.

Ein gutes Gedächtnis hatte der Vlame. Schnappte schnell Worte auf, griff ein paar schöne Phrasen; las sich bald aus den Büchern der Fabriksbibliothek eine buntlappige Gelehrsamkeit zusammen. Dann sandte er Bestellungen aus – aus aller Welt mußte dieses und jenes besorgt werden. So zog er die Wochen hin und die Monate.

Er verkehrte mit niemandem. Nur zum Abend ging er aus, sich die Beine zu strecken – kam dann gewöhnlich zum Friedhofe.

Dort hatte er Stephe kennengelernt.

Aus dem, was Jan Olieslagers niederschrieb, ist diese Geschichte gemacht. – Die Leute sind so töricht, sie fragen einen immer: ist denn das wirklich eine wahre Geschichte? Sagt man: ja – dann sind sie unzufrieden, weil es doch gar keine Kunst sei, irgendwas zu erzählen, was wirklich geschah. Und sagt man: nein – paßt es ihnen erst recht nicht. Denn dann, meinen sie, ist es doch nur dumme Lügerei. Sie fühlen sich betrogen, – so oder so! Die Leute sind so töricht; sie sollten doch wissen: es gibt gar keine wahre Geschichte. Denn eine Geschichte muß erzählt sein – und es; gibt keinen Menschen, der wirklich erzählen könnte, was war. Jeder Richter weiß das, weiß, daß nie vor seinem Tisch ein Zeuge stand, der nicht, hier und da, ohne sein Wissen und Wollen, abwich von der Wahrheit, nie einer, der nicht meineidig war im strengsten Sinne. – Dann aber: es gibt auch keine gute Geschichte, die nicht wahr wäre. Wenn sie nie passierte – sie hätte doch einmal passieren können – oder sie wird passieren – morgen oder übermorgen. Darum, für die törichten Leute: nie schrieb ich eine wahre Geschichte. Und ganz sicher nie eine, die nicht wahr war.

* * *

Jan Olieslagers saß mit Stephe manchen Abend auf der Steinbank unter dem alten Lindenbaum. Stephe hatte ein Geheimnis – das ärgerte den Vlamen. Er fühlte: es war ein Besonderes; so wollte ers gerne wissen. Aber Stephe sagte überhaupt nicht viel; durch Stunden saßen die zwei, ohne ein Wort zu sprechen. Olieslagers konnte nicht recht heran an den Kerl. Er suchte, suchte und fand nirgend eine Tür. Stephe trank nicht, rauchte nicht, kaute nicht und mit Weibern hatte er schon gar nichts. – Was kann man machen mit so einem?

Was Jan Olieslagers hinzog zu Stephe, hätte er in diesen Monaten schwer sagen können. Es war nichts Auffallendes an ihm, nichts, das ihn auszeichnete nach irgendeiner Seite hin. Wenn er jemals einen Paß gebraucht hätte, hätte man hineingeschrieben: Haar – braun: Stirne, Nase, Kinn, Ohren – gewöhnlich. Doch war er hübsch – irgendetwas war da, das ihn hübsch machte.

Eines war gewiß: etwas gab es, das diesen Menschen unablässig beschäftigte. Das war immer da, stärker manchmal und oft nur ganz schwach – aber es ließ ihn nie. Oder nur dann, wenn es, in seltenen Intervallen, Jan Olieslagers gelang, Stephes Gedanken auf etwas anderes zu lenken. So, wenn Stephe, abgebrochen, ohne Zusammenhang, seinem schwachen Gedächtnis kleinste Brocken aus seinem früheren Leben sich entreißen ließ.

Ja, aus Massachusetts stammte er; von methodistischen Eltern. – Hatte nicht viel gelernt, kam früh weg, trieb sich überall im Lande herum. War alles gewesen, was man so sein kann, ohne etwas zu können. Aufzugjunge, Geschirrwäscher, Zettelverteiler, Heizer auf einem Dampfer der großen Seen, Kuhjunge in Arizona, Platzanweiser in Kinos. Er hatte in allen möglichen Fabriken gearbeitet und in ebensovielen Farmen, von Vancouver bis San Augustin und von Los Angeles bis Halifax. Nirgends hatte er es lange ausgehalten; war dazwischen immer wieder herumgezogen als Streikbrecher und als Landstreicher. Jetzt aber, seit über zwei Jahren schon, hatte er seinen Beruf entdeckt: dieser Job in Andernach gefiel ihm gut und hier würde er bleiben sein Lebenlang.

Wie Stephe das sagte, flackerten kleine Flämmchen in seinen Augen, und über die Lippen kroch mühsam ein Lächeln. Dann saß er wieder und sann und sprach kein Wort.

Olieslagers begriff: hier war es. War das schwere siebenmal vergitterte Tor – und dahinter kauerte das seltsame Tier.

* * *

Dann kam die Musterung. Alle Männer mußten sich melden zum Militär, von achtzehn bis zu fünfundvierzig Jahren.

Stephe wurde unruhig – und diese Unruhe steigerte sich mit jedem Tage. »Warum willst du nicht Soldat werden?« fragte Olieslagers. Stephe schüttelte den Kopf, sehr entschlossen. »Nein«, brummte er, »nein.«

Und ein andermal sagte er: »Das ist es – ich will nicht weg von hier.«

Sonntag morgens klopfte er an die Tür des Laboratoriums, schloß sie sorgfältig, überzeugte sich, daß der Vlame allein war. Dann kam er heraus mit seinem Anliegen. Am Mittwoch müsse er sich stellen. Da solle der Doktor ihm was geben, daß er krank erscheine. Untauglich. Er wolle nicht fort von hier. Könne nicht.

Jan Olieslagers überlegte nicht lange, sagte ihm zu im Augenblick. Nur eine Bedingung stellte er: zum Entgelt müsse Stephe ihm sagen, was denn eigentlich ihn hier fest halte?

Stephe schielte zu ihm hinauf; mißtrauisch genug. »Nein«, sagte er endlich. Und ging. Am nächsten Tage suchte ihn Olieslagers auf dem Friedhof auf. Diesmal sprach er lange auf ihn ein, versuchte ihn zu überreden mit allen Künsten. Aber Stephe wollte nicht.

»Schau!« rief der Vlame. »Du hast ein Geheimnis. Ich bin neugierig, ich will es wissen. Also sag mirs. Das kostet nichts. Und am Mittwoch ist kein Mensch zum Soldaten untauglicher wie du.« Stephe schüttelte ruhig den Kopf. Stand auf von der Bank.

Aber am andern Morgen war er sehr früh im Laboratorium. Er zog Scheine aus der Tasche, zweihundertdreißig Dollars, erspartes Geld. Der Vlame wies ihm die Tür.

Dann, zum Abende, kam der wieder auf den Friedhof. Er traf Stephe nicht auf der gewohnten Bank, so wartete er eine Zeitlang, ging dann, ihn zu suchen. Fand ihn endlich, auf einem frischen Grabe sitzend, vor sich hin brütend. Er rief ihn an: »Komm, Stephe«.

Stephe rührte sich nicht. Da ging der Vlame nahe heran, schlug ihn auf die Schulter. »Steh auf! Komm! Ich will dir geben, was du haben willst!«

Langsam erhob sich der Totengräber. »Gleich?« fragte er. »Morgen ist Ziehung.«

Der Vlame nickte. »Wächst Digitalis irgendwo?« – Stephe verstand ihn nicht. – »Fingerhut, meine ich.« Stephe führte ihn, brach die Blüten auf das Geheiß des Vlamen.

»Wo wohnst du?« fragte Jan Olieslagers.

Stephe ging voraus. Sie kamen, mitten im Totengarten, an das kleine steinerne Beinhaus. Stephe zog einen großen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf.

Sie traten ein. In einer Ecke standen ein paar Spaten, Hacken und Schaufeln, hinten lagen leere Säcke. Sonst war nichts in dem Raum. – »Hier wohnst du?« fragte der Vlame.

Stephe schloß eine zweite Türe auf, die in ein kleines, anstoßendes Zimmer führte. »Hier,« nickte er.

Ein Feldbett, ein kleiner Tisch, ein paar Stühle, ein Waschbecken auf einem. Ein alter Koffer, ein zerbrochener Kleiderständer, ein kleiner Eisenofen. Nichts hing an den Wänden.

»Hast du Spiritus?« fragte Olieslagers. »So koch dir einen Tee von dem Zeug. Trink ihn, ehe du zu Bett gehst.« Er erklärte ihm genau, wie er es machen solle, auch wie er sich benehmen müsse bei der ärztlichen Untersuchung.

Stephe wiederholte alles, laut und mehrmals. Dann sperrte er den Koffer auf, nahm sein Geld, bot es ihm nochmals.

Der Vlame schüttelte den Kopf. »Laß nur, Stephe. Ich tus für dich, weil ich dein Freund bin!«

Ging hinaus.

Draußen lief ihm Stephe nach. Seine Hand hielt ein kleines Korallenhalsband. – »Wollen Sie das, Herr?« Jan Olieslagers betrachtete es. »Wo hast dus her?« lachte er. »Von einer Braut?«

Stephe nickte.

»Und wo ist sie?« fragte der Vlame. »Tot,« sagte Stephe.

Olieslagers gab es ihm zurück. »Napolitanerin«, murmelte er, »eine aus Ägypterland«. Aber er fragte nicht weiter. »Behalts, Stephe, als Andenken! – Ich will nichts, ich sagte dirs ja! Nicht einmal dein Geheimnis – wenn dus nicht von selber sagst. Vergiß nicht, was du tun mußt – und viel Glück auf morgen. Wenn es spät wird – komm zu mir ins Laboratorium und erzähl mir.«

Dann ging er fort mit langen Schritten.

* * *

Spät genug kam Stephe zu ihm hinauf. Er war bleich und zitterte, aber ein zufriedenes Grinsen lag über seinem Gesicht. »Frei!« rief er.

Der Vlame beglückwünschte ihn. »Setz dich, mein Junge! Und nun wollen wir das Gift möglichst schnell wieder herausbekommen aus dem Leib – oder doch unschädlich machen!« Er hatte keine Ahnung, ob das nötig sei, oder was er zu diesem Zwecke tun solle. Aber er dachte sich: Alkohol kann gewiß nichts schaden. Und vielleicht auch wirds ihn gesprächig machen.

So mischte er Whisky. Stephe trank, schluckte ein Glas nach dem andern, wie Medizin. Aber er sprach kein Wort. Der Vlame war enttäuscht genug, doch ließ er sichs nicht merken. Er redete ihm zu, wie einer kranken Kuh, schenkte ihm immer von neuem ein; zwang ihn, erstaunliche Mengen hinunterzugießen. Stephe trank.

Als er ging, bedankte er sich. Seine Zunge stotterte und sein Leib torkelte, die Beine versagten den Dienst. Aber nur sein Leib war betrunken; was er sagte, war ganz vernünftig. Olieslagers hörte ihn auf der Treppe hinfallen, kam ihm nach und richtete ihn auf. Dann faßte er ihn fest um den Leib und schleppte ihn mühsam nach Hause.

Als sie am Friedhofstore waren, riß sich Stephe zusammen. »Danke, Herr«, sagte er.

* * *

Nie las Stephe ein Buch, nie eine Zeitung. Alles was außerhalb des Friedhofs zuging, war ihm vollständig gleichgültig. Er wußte: irgendwo in der Welt war Krieg. Wer Krieg führte und warum und wozu, das interessierte ihn nicht.

Doch hatte er von nun an für alles, was seinen Freund anging, ein gewisses Interesse, das schließlich so weit ging, daß er sogar Fragen stellte. Was er in der Stadt treibe? Warum er hier sei? Ob er viel Geld mache?

Olieslagers gab ihm Bescheid. Klar, einfach, so daß Stephe es bald begriff. Sicher fühlte er, daß der nie ihn verraten würde.

Aber es war bei dem Vlamen nicht etwa ein Wunsch, sich auszusprechen. Es war ein anderes. Stephe war besessen von irgendeinem Gedanken – und jeden Tag mehr kitzelte es Jan Olieslagers, das herauszufinden. Es war, als ob er selbst von dieser Sucht besessen sei. Er fühlte, daß ihm sein Fragen nie helfen würde, so hütete er sich wohl, diese verrückte Lust zu zeigen, die dennoch das einzige war, das ihn tagtäglich zum Friedhof trieb. Nie stellte er je eine Frage, nie mehr machte er eine leiseste Anspielung, daß er darum wisse, daß Stephe ein Geheimnis habe. Als aber der Totengräber ihn fragte, gab er ihm genaue Antwort, gab sich ihm ganz in die Hand. »Sieh, Stephe,« sagte er, »das ist mein Geheimnis. Ich sag dirs, weil du mein Freund bist und weil ich dir traue.«

Stephe nickte. Er begriff recht gut: wenn man einen Freund hat, muß man ihm vertrauen. Aber er sagte dennoch nicht ein Wort.

* * *

Dann kam der Tag, wo es aus war mit der Herrlichkeit im Laboratorium. Der Direktor hatte den Vlamen rufen lassen und ihm gesagt, daß er nun endlich Resultate sehen müsse. Nichts sei bisher geschehn, rein gar nichts! Er stellte ihm das glatte Ultimatum: entweder müsse er in der nächsten Woche beweisen, daß er arbeiten wolle – daß er das könne, daran zweifelte der Direktor auch jetzt keinen Augenblick. Oder aber: er werde ihn verhaften lassen. Er habe sich genau erkundigt in Neuyork, wisse gut, was jener getrieben habe in den letzten Jahren.

Also, er möge sich entscheiden. Und er möge bedenken, daß die Fabrik noch eine neue Anzeige gegen ihn machen würde: daß er nämlich sich hier eingeschmuggelt habe, um chemisch-militärische Geheimnisse herauszubekommen. Das sei schon nötig – irgendwie müsse man ja seinen Aufenthalt erklären.

Jan Olieslagers, eigentlich nur verwundert, daß sich diese Unterredung nicht schon vor Monaten abspielte, blieb sehr gelassen.

»Sie haben recht, Herr!« sagte er. »Und da ich nur wählen kann zwischen dem Zuchthaus und der Möglichkeit, Ihnen etwas Positives zu leisten, so müßte ich ein Narr sein, wenn ich das Zuchthaus vorziehn würde. Nur: eine Woche ist zu wenig. Ich benötige vier Wochen.«

»Ich gebe Ihnen zwei Wochen, Herr, und nicht einen Tag länger,« sagte der Direktor. »Guten Morgen!«

Noch vierzehn Tage also – der Vlame war ganz zufrieden damit. Nur Zeit – und jeder Tag war ein Gewinn. Er schloß sich ein in sein Laboratorium. Rauchte. Las.

Am Abend war er auf dem Friedhofe. Er erzählte Stephe alles, Wort für Wort, wie es sich zugetragen hatte. »Ich muß fort!«, schloß er. »Wenn ich nur eine Ahnung hätte, wie und wohin!«

Er überlegte laut; Stephe nickte zuweilen oder schüttelte den Kopf. Warf auch wohl ein Wort ein oder stellte eine Frage.

»Kanada?« schlug er vor.

Olieslagers lachte. »Ist auch im Kriege. Auf derselben Seite, wie die Staaten – die beiden sind eins heute. Und die mexikanische Grenze ist so besetzt, daß kein Hund durchkommt! Nein, ich muß schon im Lande bleiben, irgendwo unterkriechen in einer großen Stadt. Wenn ich nur nicht so gottverdammt bekannt wäre! Hunderttausend bezahlte Geheimagenten arbeiten im ganzen Lande – und ein paar Millionen freiwillige Spione helfen ihnen – mich suchen sie schon seit fast einem Jahre.«

Sie fanden nichts. Als der Vlame ging, preßte ihm Stephe – zum ersten Male – die Hand.

* * *

Am andern Abend wartete Stephe auf ihn auf der Bank. »Ich habs durchgedacht, Herr,« sagte er. »Sie müssen nicht weg. Sie müssen hier bleiben!«

Der Vlame sah ihn erstaunt an. »Hier? Wo hier?«

Stephe fuhr mit dem Arme im Kreise herum. »Hier!« wiederholte er. »Drei Gehilfen sind eingezogen worden. Der Alte nimmt Sie sofort; wird froh sein, eine Hilfe zu bekommen.«

»Als was?« fragte Olieslagers. »Als – Totengräber?«

Stephe nickte.

Der Vlame lächelte. Das schien so dumm nicht. Totengräber? Nun, dazu waren wenigstens keinerlei Spezialkenntnisse notwendig, wie zum Chemiker!

Und im Augenblicke sah er die Art, wie er den Sprung machen sollte.

Zwölf Tage Zeit – bah, das war übergenug!

Sie sprachen lange an diesem Abend. Ließen keinen kleinsten Umstand außer acht. Und nur über einen Punkt stritten sie hin und her: das war, wer die neuen Kleider bezahlen sollte, die Stephe kaufen sollte. Der Vlame wollte es nicht zugeben, aber Stephe setzte seinen Willen durch: er würde sie zahlen mit seinem eigenen Gelde. Würde sie dem Freunde schenken.

* * *

Früh am Morgen machte der große Chemiker Dr. Jan Olieslagers eine kleine Explosion in seinem Laboratorium, die wenig Schaden anrichtete, aber recht laut knallte. Die Leute liefen zusammen und schlugen an die verschlossene Tür; auch der Direktor war mit ihnen. Als die Türe endlich geöffnet wurde, fanden sie den Vlamen mit völlig verbundenem Kopfe; nur Nase, Augen und Stirne schauten heraus.

»Was ist geschehn?« fragte der Direktor.

Olieslagers hielt die Tür in der Hand. »Kommen Sie herein,« antwortete er. »Aber keiner außer Ihnen!« Er drängte die andern zurück und verschloß die Tür. »Was geschehn ist? Was in jedem Laboratorium jeden Tag geschehn kann! Verbrannt hab ich mich!«

»Ich werde den Arzt schicken«, rief der Amerikaner.

»Sie werden den Teufel schicken!« entgegnete ihm der Vlame. »Glauben Sie, ich habe jetzt Zeit, mich mit Ärzten abzugeben? – Zwölf Tage habe ich noch – zwölf Tage – und ich bin fertig dann, verlassen Sie sich drauf! Alles andere geht Sie nichts an – ob ich mir die Schnauze verbrenne, kann Ihnen verdammt gleichgültig sein!«

»Gut, Herr, gut!« lachte der Direktor. »Ganz, wie Sie wollen! – Brauchen Sie irgendwelche Hilfskraft?«

»Keine Katze soll mir reinkommen!« schrie der andere. »Das fehlte mir noch gerade!« – Dann besann er sich. »Eins wäre mir lieb, Herr! Ich gehe nun zwölf Tage lang nicht hinaus aus diesen Räumen, geben Sie Order, daß mir Essen, Trinken und was ich wünsche, sofort hierhergebracht wird. Daß alle meine Anordnungen gleich befolgt werden – vor allen andern.«

Der Direktor nickte. »Soll geschehn, Herr!« – Er ging zur Türe, wandte sich noch einmal zurück. »Wenn Sie das fertig bringen, – es soll Ihr Schade nicht sein, Herr!«

Jan Olieslagers schloß sorgfältig hinter ihm. »Aber wenn dus nicht herauspressen kannst – sperrst du mich ins Zuchthaus, was?«

Er verhängte die Fenster sorgfältig, dann nahm er das Tuch vom Gesicht.

Zwölf Tage lang saß Jan Olieslagers in seinem Zimmer, aß, trank, rauchte und las. Er hatte nicht viele Wünsche; aber der Direktor schickte ihm Whisky, Wein, Zigaretten und allerhand Delikatessen. Der Verband lag ihm stets dicht zur Seite und er legte ihn sorgfältig um, jedesmal, ehe er die Tür öffnete.

Nicht ein Ding rührte er an, von all dem Zeug, das herumlag auf dem Tisch. Nur einen kleinen Spiegel hatte er hinübergenommen vom Schlafzimmer. Den griff er auf, alle paar Stunden; beobachtete sorgfältig, wie die Bartstoppeln ihm auf dem Kinn, den Lippen, den Wangen sproßten. Mit Genugtuung stellte er fest, daß sie viel dunkler waren als das blonde Haupthaar und viel schneller wuchsen, als er geahnt hatte.

Am Freitag nachmittag schickte er dem Direktor einen kurzen Brief. »Kommen Sie morgen zwölf Uhr zu mir ins Laboratorium.«

Der Direktor kam – und fand nichts. Jan Olieslagers war fort mit seinen paar Sachen. Die Anzeige wurde sofort erstattet, und man suchte sehr scharf nach dem Vlamen, überall in den achtundvierzig Staaten. Überall – nur nicht in dem kleinen Friedhof von Andernach.

* * *

Jan Olieslagers war in der Nacht übersiedelt kurz vor Sonnenaufgang. Stephe erwartete ihn, half ihm sofort beim Umkleiden. Ein paar plumpe Soldatenschuhe, dicke Hosen, blauer Sweater, Jacke, Mütze und Overall lagen bereit.

Sie verbrachten ein paar Stunden damit, das alles ein wenig angeschmutzt, gebraucht erscheinen zu lassen. Sowie der alte Totengräber aus seinem Hause kam, ging Jan Olieslagers auf ihn zu, bot ihm seine Dienste an.

»Wo kommst du her?« fragte der Alte. »Wer hat dich hergeschickt?« – Aber er erwartete keine Antwort, fuhr schnell fort: »Sprichst du deutsch?«

»Ja!« sagte der Vlame.

Der Alte rieb sich die Runzelhände. »Dacht ich mirs doch! Willst unterkriechen, was, für die Kriegszeit? – Mir solls recht sein! – Zwanzig die Woche – ich nenn dich Mike.« – Dann rief er durch die Büsche: »Stephe! Stephe!«

Der kam und der Alte sagte: »Da ist ein Neuer. Heißt Mike, wie der frühere. – Du kannst ihn gleich mitnehmen zur Arbeit.«

Stephe grinste: »Ja, Herr!«

Aber noch einmal hielt sie der Alte zurück. »Wo wohnst du, Mike?«

Der Vlame sagte: »Weiß nicht. Kann ich nicht das Zimmer des andern Mike haben?«

»Eben angekommen?« brummte der Alte. »Frühzug? – Das ist gescheit – und gleich hier hin?! Nein, das Zimmer von Mike kannst du nicht haben – der wohnte in der Stadt bei seiner Frau! – Mußt heute abend herumsuchen, wirst schon was finden.« Der neue Mike fragte: »Ist nicht hier draußen irgendein leerer Raum?«

Aber der Alte schüttelte den Kopf. »Nein. Gar nichts. Alle wohnen in der Stadt. Nur Stephe wohnt hier.«

Da sprang Stephe ein: »Er kann bei mir wohnen.«

So zog Jan Olieslagers zu Stephe, in den kleinen Raum bei dem Beinhause, mitten auf dem Friedhofe von Andernach im Ägypterland.

* * *

Ein wenig wohnlicher richtete er den Raum ein. Schickte Stephe in die Stadt, ließ ein Feldbett kaufen und ein paar andere Dinge. Auch zog er Drähte, verband sie mit denen im Beinhause, daß er eine kleine Lampe andrehn konnte. So konnte er lesen im Bett.

Stephe zeigte gut, daß er sein Freund war. Er war stets eine halbe Stunde früher auf, besorgte Wasser, reinigte Kleider und Schuh. Er machte alle kleinen Besorgungen in der Stadt. Da sie stets zusammen arbeiteten, so schaffte Stephe für zwei, erleichterte, wo es nur ging, dem Freunde die ungewohnte Arbeit. In diesen Wochen beobachtete Jan Olieslagers nichts besonderes an Stephe, nicht ein kleinstes Anzeichen von irgendeinem Verborgenen.

Dann, eines Abends, bemerkte Jan Olieslagers eine gewisse Unruhe an Stephe. An diesem Nachmittag hatte er Freizeit; war, zum ersten Male, ein wenig herausgelaufen, durch die Straßen der Stadt geschlendert. Sein Bart war stark geworden inzwischen; er brauchte nicht mehr zu fürchten, von irgendeinem erkannt zu werden. Als er zurückkam, saß Stephe auf seinem Bett, redete vor sich hin. Vor ihm stand, entkorkt, eine volle Whiskyflasche.

»Du trinkst, Stephe?« fragte er.

»Nein, Mike,« stotterte Stephe. Er nannte ihn nun zuweilen Mike, wie die andern taten. Dann, nach einer Weile, fuhr er fort: »Für Sie, Herr!«

Er stand schwerfällig auf, völlig unfähig, seine Aufregung zu unterdrücken.

Olieslagers dachte: trinken soll ich. Er will mich trunken machen. Er lächelte. »Komm, Freund, laß uns trinken.«

Sie setzten sich, mischten die Gläser, tranken. Stephe nippte kaum, es schmeckte ihm gar nicht. Aber Olieslagers tat dem Freunde den Gefallen, trank tüchtig drauf los. Er plauderte, erst von der Stadt, was er dort gesehn hatte. Sprach dann von allerhand, erzählte von Neuyork und manchen Städten. Stephe gab sich große Mühe, zuzuhören, ließ es dann gehn; das, was ihn beschäftigte, gab ihn nicht einen Augenblick frei. Langsam fühlte der Vlame eine leichte Trunkenheit, übertrieb die nach Herzenslust. Er lachte, sang, stand auf und torkelte. Endlich tat er sehr müde, warf sich aufs Bett. Er ließ sich ein Buch reichen, erklärte noch lesen zu wollen; auch mußte ihm Stephe noch ein volles Glas neben das Bett stellen. Das leerte er gemächlich, las dazu, während Stephe sich langsam auszog. Olieslagers fühlte, wie er ihn beobachtete, nicht einen Blick von ihm ließ. Endlich ließ er sein Buch fallen, schloß die Augen, gähnte, seufzte, drehte sich herum.

Spielte Opossum; tat als ob er schliefe.

Stephe setzte sich zu ihm ans Bett. Nahm seine Hand, hob sie, ließ sie wieder fallen. Blies ihn leicht auf die Augenlider. Dann, überzeugt, daß sein Freund nun sehr fest schlafe, drehte er die Lampe aus.

Langsam öffnete Olieslagers die Augen. Aber er sah nichts – es war völlig finster im Raume.

Doch hörte er gut, wie Stephe, Stück um Stück, sich wieder anzog. Hosen erst, dann Stiefel – leise, ganz leise – Sweater und Jacke.

Nun ging Stephe durch den Raum, öffnete die Tür, zog den Schlüssel ab. Ging hinaus und schloß zu von der andern Seite. Seine Schritte hallten, wie er durch das Beinhaus schritt – und hinaus von dort auf den Friedhof.

Dann war alles still.

Der Vlame überlegte. Sollte er ihm nachgehn?

Die Tür war verschlossen, aber er hätte durchs Fenster steigen können. Doch bis er sich angezogen hätte, würde Stephe längst hinaus sein aus dem Kirchhofe. Und dann: das war klar, daß Stephe sich schützen wollte vor jeder Beobachtung. Darum hatte er den Whisky angeschafft, darum –

Und er brauchte Stephe – der war sein Schutz nun. Mußte sein Freund bleiben, nicht sein Feind werden. Wenn es ganz sicher wäre, daß Stephe es nicht bemerken würde –

Aber der würde es bemerken. War argwöhnisch ohnehin und dazu nüchtern, während er selbst doch angetrunken genug war, um nicht sicher zu sein, irgendeinen Lärm zu vermeiden.

Nein, es war schon besser, er bliebe ruhig liegen.

Dann hörte er wieder Schritte draußen, lauschte scharf auf. Die Türe zum Beinhause öffnete sich, schloß sich wieder. Irgend etwas geschah da drinnen.

Ein Gehen. Ein Schlurfen. Und wieder nichts.

Ein Sprechen, halblaut, er konnte nicht verstehn, was es war. Still wieder.

Das ging so durch Stunden. Ab und zu auch irgendein Geräusch, das er nicht enträtseln konnte. Und dann ein Sprechen. Er glaubte, daß es Stephes Stimme war, aber vielleicht war das nur, weil er den dort vermutete. Er konnte auch nicht feststellen, wieviel Menschen es waren. Die Worte, die sein Ohr griff, waren ganz abgerissen, manchmal mußte er eine halbe Stunde auf eines warten. Und verstehn konnte er nicht ein einziges.

Endlich wieder das Tappen schwerer Schritte, ein Öffnen der Türe zum Friedhofe – diesmal blieb sie offen. Und, verhallend, die Schritte da draußen –

Jan Olieslagers hatte aufrecht gesessen im Bett, sehr angespannt gearbeitet mit dem einen Sinne. Als er nichts hörte, nichts, gar nichts mehr, seufzte er auf. Atmete schwer, wie befreit. Starrte ins Dunkel, minutenlang. Ließ sich dann zurückfallen. Schlief ein.

* * *

Stephe stand vor ihm, als er aufwachte. Er hatte die Decke ein wenig zurückgezogen, berührte unendlich vorsichtig seinen Arm. »Aufstehn, Herr!« bat er. »Es ist höchste Zeit.«

Er reichte ihm die Kleider, stellte ihm Wasser hin zum Waschen. Jan Olieslagers betrachtete ihn beim Ankleiden: Stephe sah rein aus und frisch gewaschen. Als sie hinausgingen zur Arbeit, warf er einen raschen Blick über das Beinhaus – es sah genau so aus, wie am Abend vorher. Die alten Säcke hinten in der Ecke und vorne ihre Hacken und Spaten, die sie stets dort hinstellten und morgens wieder mit hinaus nahmen.

Nichts sprach von Stephes nächtlichem Erlebnis. Doch – ein paar Blütenzweige lagen da herum.

Sie hatten an diesem Morgen stramm zu arbeiten, drei neue Gräber mußten ausgeworfen werden. Während der Spaten einsetzte, die lehmigen Klöße auswarf aus der Grube, Stich um Stich sich tiefer hineinfraß in die Erde, dachte Jan Olieslagers lange nach. Suchte sein Gedächtnis durch, ließ jede Minute Revue passieren, von dem Augenblicke an, in dem er nach Hause gekommen war gestern abend. Aber wie er suchte – er fand kaum etwas Greifbares. Stephe wollte ihn trunken machen, das war völlig klar, wollte das zu dem einzigen Zweck, daß er recht fest schlafen sollte und nichts merken von dem, was vorging nebenan in der Nacht.

Aber, was ging dort vor? Stephe ging fort – und kam zurück nach geraumer Zeit. Mit jemandem? Mit einem? Mit zweien? Er hatte Schritte gehört – aber er hätte nicht sagen können, wieviel Menschen es waren. Er hatte sprechen gehört – aber nur ein paar unverständliche Laute in langen Pausen – und nur ein einziges Mal hatte er Stephes Stimme genau erkannt. Immerhin: Stephe hatte Besuch. Denn ob es schon richtig war, daß Stephe oft genug vor sich hinredete, mutterseelenallein – so war es doch ebenso gewiß, daß dies stets nur ein leisestes Flüstern war, vielmehr nur eine Bewegung der Lippen zur Unterstützung schwerfälligen Denkens.

Stephe hatte Besuch, das stand fest, und einen Besuch dazu, den er durchaus verheimlichen wollte. Das war auch der Grund, der ihn festhielt auf diesem Gräberpark im Ägypterland – dieser nächtliche Besuch im Beinhaus!

Wie das klang – ›dieser nächtliche Besuch im Beinhause!‹ Jan Olieslagers lächelte – wenn man dicht daneben wohnte, war nichts Grauliches daran. Die Leichen wurden stets in der kleinen Kapelle aufgebahrt, am anderen Ende des Friedhofes. Nur in sehr seltenen Fällen, bei Unglücksfällen, Selbstmorden oder Verbrechen wurde das Beinhaus benutzt. So lange er nun hier war, hatte es nur ein einziges Mal die Leiche eines alten Mannes beherbergt – und das auch nur auf zwei Stunden an einem Nachmittage. Das Beinhaus war also im Grunde nichts anderes als irgendein leerer Raum, der gelegentlich benutzt werden konnte zu –

Aber welcher leere Raum hätte das nicht können?

Jan Olieslagers überdachte alles, was er wußte von Stephe. Nie hatte er ihn je mit einem Fremden sprechen sehn. Es war richtig, er blickte auf jede Frau und jedes Mädchen, lächelte dabei still vor sich hin – aber er redete nie mit einer und kannte keine. Er sprach gelegentlich mit dem alten Totengräber und mit den andern Gehilfen, aber auch da nur das Allernotwendigste, das, was eben nötig war zur Arbeit. Nur mit ihm allein hatte er hier und da über andere Dinge geredet.

Dennoch, das stand fest: er war nicht Stephes einziger Freund. Stephe hatte noch andere. Seltene, geheimnisvolle.

Und stärker wie je faßte den Vlamen die heiße Sucht: er mußte es finden. Mußte ergründen, was dieses Hirn ausfüllte, das neben ihm grub.

* * *

In dieser Woche sprach er wenig mit Stephe. Der Gedanke ließ ihn nicht, krallte sich fest, gab ihn nicht mehr frei. Tags über lief er herum wie ein Schlaftrunkener, nachts lag er schlaflos in seinem Bett, immer besessen von der quälenden Idee: ich muß es finden. Und diese Qual wurde stärker mit jeder Stunde fast; das Geheimnis des andern fraß ätzend in seinem Schädel.

Stephe merkte es wohl. Starrte ihn an, ängstlich, minutenlang.

Einmal, mitten in der Arbeit, stieß er den Spaten in die Erde. Fragte plötzlich: »Was quält Sie, Herr?«

Da sagte Jan Olieslagers: »Was soll ich lügen? – Es ist dasselbe, das dich quält, Stephe!«

Stephe antwortete nicht. Stand da, unbeweglich. Endlich rang sich ein Stöhnen aus seiner Brust.

Aber kein Wort. Kein kleinstes Wort.

Am Abende, während Stephe das Essen bereitete, hob der Vlame seinen Handkoffer auf das Bett. Er schloß auf, suchte herum, nahm seinen Rasierapparat heraus. Er öffnete das Kästchen, schraubte den Apparat ineinander, spielte damit. Ein hübsches Ding, vergoldet, hell blinkend –

Dann besann er sich: was wollte er nur damit? Er mußte nachdenken, ehe es ihm einfiel – ach ja, für Stephe!

»Stephe!« rief er. »Komm her!« – Er schob ihm das Ding in die Hand. »Da nimm, das wird dir Freude machen. Ich brauch es jetzt nicht. Du aber rasierst dich jeden Tag und dein Messer ist schlecht und sehr schartig.«

»Nein, nein!« stammelte Stephe.

Olieslagers bestand darauf. »Doch, du mußt es nehmen. Gabst du mir nicht alles, was ich am Leibe trage? Bin ich nicht dein Freund?«

Stephe dankte nicht. Sie aßen schweigend, gingen schweigend zu Bett. Aber am andern Morgen sah der Vlame vom Bett aus, wie Stephe sein Kästchen öffnete, wie er eine neue Klinge nahm, sich sehr wohlgefällig rasierte. Jedes einzelne Teilchen reinigte er sorgfältig.

»Gib meinen Koffer her!« sagte Jan Olieslagers. Dann nahm er die Puderbüchse und die Seifenschachtel heraus. »Hier, Stephe, das vergaß ich. Es gehört dazu.«

– Sie mußten fest zugreifen in diesen Tagen; noch ein Gehilfe war zu den Soldaten gekommen und es schienen mehr Leute zu sterben, wie sonst. Sie mußten früh hinaus, die offenen Gräber zuwerfen, dann neue Löcher schaufeln und die Särge hinablassen bei kurzen Totenfeiern. Sehr spät wurden sie fertig. Sie merkten sich die Namen derer, die sie begraben hatten den Tag über; wiederholten sie beim Abendessen, wie ein Zeichen für die tüchtige Arbeit, die man geschafft hatte. Dann vergaß man sie wieder.

»Orlando Sgambi, 58 Jahre; Jan Srba, 22 Jahre; Ferencz Kovacz, 60 Jahre –« sagte Jan Olieslagers.

Stephe nickte.

»Anka Savicz, 19 Jahre; Alessandro Venturini, 78 Jahre, Ossip Si–«

»Ja, ja!« brummte Stephe und goß den Tee auf. »Elf heute, elf.«

Der Vlame fühlte die Arbeit in allen Knochen. Er hatte wenig nur geschlafen in dieser letzten Woche, nun war er müde zum Umfallen.

»Wollen wir noch ein wenig auf unserer Bank sitzen?« fragte Stephe.

»Nein!« antwortete er. »Ich will zu Bett.«

»Gut!« sagte Stephe. »Ich auch.«

Sie zogen sich aus. Olieslagers sah Stephe noch herumarbeiten, die Kleider bürsten, die Stiefel reinigen. Dann legte auch er sich nieder; der Vlame hörte seine stillen Atemzüge, schließlich, wie stets, ein leises Flüstern im Schlaf.

Und er schlief selbst ein, sehr fest.

Mitten in der Nacht wurde er wach. Er hörte etwas – lauschte auf, rieb sich mühsam den Schlaf aus den Augen. Etwas sprach. Er hörte hin zu Stephes Bett – nein, es kam nicht daher. Nichts wieder – dann, plötzlich, zwei, drei abgerissene Worte. Nebenan, aus dem Beinhause. Und es war Stephes Stimme, die sprach.

Er riß die Decken fort, warf die Beine heraus, saß auf der Bettkante. Nun Schritte daneben, ein Schlurfen und Schleifen. Und noch einmal ein helles Wort von Stephe –

Was sagte der nur?

Dann ging die Tür des Beinhauses – er hörte draußen die Schritte. Im Nu war er auf, lief ans Fenster, riß es auf. Da sah er, durch die Sommernacht, Stephe schreiten. Der trug ein Schweres in seinen Armen, eingehüllt in weiße Laken – ah, eine Frau!

Und Jan Olieslagers begriff, im Zehntel der Sekunde –

»Anka Savicz,« murmelte er, »19 Jahre. Anka Savicz –«

Er preßte das Fensterkreuz mit beiden Händen, festgebannt. Er fühlte die Kühle der Nacht auf dem bettwarmen Leibe, schauerte, klapperte mit den Zähnen. Lauschte hinaus.

Endlich wieder – Stephes Schritte. Er wandte sich halb um, aber Stephe kam noch nicht – die Schritte gingen herum um das Beinhaus. Dann ein Heben und Knirschen – der Schwengel der alten Pumpe. Und das Wasser, das hell in den Eimer sprang.

Ein Reiben und Bürsten. Wasserplätschern. Und wieder Schritte. Nun öffnete sich die Türe des Beinhauses – nun schloß sie sich. Drei Schritte – und die Türe ging auf.

Er sah Stephe nicht, erkannte nichts in der Dunkelheit.

»Anka Savicz –« flüsterte er. »Wo ist sie?«

Aus der Finsternis sprach es: »Zu Hause«.

Er verstand es gut. Zu Hause – bei sich – im Sarg – und im Grabe –

Er antwortete nicht. Er ging zu Bett, grub den Kopf in die Kissen, zog die Decke hoch. Seine Schläfen trommelten, seine Lippen zuckten.

Dann biß er die Zähne zusammen. Schlafen, dachte er, schlafen, schlafen!

* * *

Irgendwie begriff Stephe, daß er nun sprechen müsse. Doch geschah das nicht, weder am nächsten noch am übernächsten Tage; dennoch schien es dem Vlamen, als ob er nur warte, ja, darum bitte, gefragt zu werden. Aber er fragte ihn nicht. Er schenkte ihm ein paar seidene Halsbinden, einen Ledergürtel, ein schönes Messer, allerhand Kleinigkeiten, die Stephes Augen strahlen machten. Er saß mit ihm auf der Bank, am Abend nach der Arbeit, erzählte ihm lange Geschichten – es war, als ob sein Freund, verschlossen durch so viele Jahre, nun langsam lernte, zuzuhören. Und endlich – selbst zu sprechen.

Dann, als Stephe begann zu erzählen, war es schwer und unendlich mühsam. Was Jan Olieslagers später auf wenigen Seiten niederschrieb, war das Ergebnis langer Wochen. Stephe mangelte völlig jedes Empfinden für Zusammenhänge – und die einfachsten Zwischenfragen, die ihm der Vlame stellte, verwirrten ihn oft so, daß er nicht imstande war, den Faden wieder aufzunehmen. Obwohl sich das Phänomen seines Seelenlebens ganz folgerichtig entwickelt hatte – begriff doch Stephe von dieser ganzen Entwicklung kein kleinstes bißchen. Er stand da nicht etwa vor einem merkwürdigen Rätsel: das alles schien ihm ganz natürlich und als das allein Verständliche und Richtige. Aber er hatte kein leisestes Gefühl für Ursache und Wirkung, vermochte oft kaum das, was wirklich geschehn war und was er nur in seinem Hirn erlebt hatte, auseinander zu halten. Dazu kam, daß manche ganz nebensächlichen Vorgänge sich in seinem Gedächtnis festgesetzt hatten, während andere höchst wichtige Geschehnisse ihm so völlig entschwunden waren, daß es gänzlich hoffnungslos erschien, sie ihm wieder zurückzurufen. Weder seines Vaters noch seiner Mutter Namen konnte sich Stephe erinnern, wohl aber des Namens eines der Lehrer seiner Schule – der dabei ihm selbst niemals Unterricht gegeben hatte. Irgendeiner Beschäftigung als Geschirrwäscher in einem Hotel in St. Louis – eine Stellung, in der er nicht drei Tage blieb, während welcher Zeit auch nicht das allergeringste Außergewöhnliche vorfiel – erinnerte er sich ganz ausgezeichnet, konnte genau beschreiben, wie der Raum aussah, in dem er beschäftigt war, wer mit ihm arbeitete, ja, er konnte die Marke auf den Tellern aufzeichnen – obwohl das nun vor elf Jahren geschehn war. Dagegen konnte er nicht zwei Sätze erzählen über sein Leben als Kuhjunge in Arizona, obwohl er dort es fast ein Jahr ausgehalten hatte, und das erst kurz, ehe er seinen Beruf als Totengräber fand.

Über das, was Stephe ihm erzählte, machte sich Jan Olieslagers allabendlich Notizen und allnächtlich ordnete er und sichtete das wachsende Material. Es schien ihm, als ob er an einer uralten Handschrift arbeitete, die in irgendeinem seltsamen Code geschrieben war, dessen Schlüssel kein Mensch kannte. Buchstaben auf Buchstaben mußte er mühsam erraten – fand dann ein Wort – und endlich einen Satz –

Es ist wahr, daß dem Vlamen diese Arbeit eine große Freude machte – wie einem Forscher, dem es gelang, in tropischem Urwalde eine seltsame grauenvolle Blume zu finden. Eine, deren Namen nur wenige wissen – und die nur selten in Jahrhunderten einmal einer gesehen hatte. Νεκροφυλη hieß seine Blume.

Der Staatsanwalt hätte von Verbrechen gesprochen, der Mediziner von Wahnsinn. Für Jan Olieslagers war es weder das eine noch das andere. Der Gedanke, die Taten Stephes moralisch oder gar ästhetisch zu werten, kam ihm gar nicht. Er begriff, daß, um sie zu verstehn, es nur eine Möglichkeit gab: die, mit Stephes Hirn zu denken und mit seiner Psyche zu fühlen.

Und das versuchte er.

So ist das, was der Vlame niederschrieb – ob es auch lückenhaft ist, ob es auch manche Fehler enthalten mag – dennoch viel mehr aus der Seele Stephes entwachsen, als aus der Jan Olieslagers.

* * *

Howard Jay Hammond aus Petersham, Mass., wußte wenig von Frauen. In der Zeit, als er noch als Heizer auf dem Michigansee fuhr, hatte er einmal mit Kameraden ein Bordell besucht. Jahre später, als er auf einer Kohlenmine in Kansas arbeitete, war er wieder in Beziehung zu einer Frau getreten. Er wohnte damals in dem einzigen Zimmer eines verheirateten Kameraden; der war richtiger Bergmann und hatte stets Nachtschicht tief in der Grube. Hammond aber arbeitete übertages und tagsüber. Und es machte sich so, wie selbstverständlich, daß die Frau zur Nacht zu ihm ins Bett fand, wie zu ihrem Mann am Morgen. Sie war keineswegs jung oder schön – ganz und gar nicht.

Noch ein- oder zweimal in seinem Leben hatte er, auf ganz kurze Zeit, eine Frau gekannt.

Aber nie war irgendein Gefühl des Genusses, der Freude, der Liebe irgendwelcher Art in ihm wach geworden.

Das atmete erst und lebte – als aus Howard Jay Hammond der Totengräber Stephe wurde.

– Eines Morgens – und die zarte Frühlingssonne küßte die jungen Blätter – stand Stephe in der Grube, in die er eben einen Sarg hinabgelassen hatte. Sonst hörte er nie zu, was der Geistliche sagte – an diesem Morgen lauschte er aufmerksam. Es schien ihm, als ob der Mann eine besondere Botschaft habe – gerade für ihn. Der Pastor sprach, was man so spricht am offenen Grabe. Aber dann kam das, was für Stephe bestimmt war.

Oh, des Kummers der Eltern, und des untröstlichen Witwers! Oh, der beiden kleinen, zurückgebliebenen Waisen! Oh, diese Blüte der Frauenschaft, von rauhem Sturmwinde gebrochen in jungen Jahren! Der fromme Mann überschlug die Stimme, wischte die Lippen, schluchzte sehr schön und malte den Schmerz der Verwandten und Freunde und der ganzen Gemeinde. Gab ein Bild dieser jungen Frau, schilderte die Tugenden ihrer Seele: Wohltätigkeit und Frömmigkeit, Kindesliebe, Gattenliebe, Mutterliebe. Pries in glühenden Farben die Güte und die Schönheit und den seltenen Liebreiz der Verblichenen –

Das war es.

(Jan Olieslagers schrieb nieder: ›Ob diesem Seelenhirten wohl jemals die Erkenntnis dämmern wird, daß er der große Galeotto war? Er der infamste Kuppler aller Zeiten?‹)

– Diese Phrase haftete in Stephes Hirn: ›die Güte und die Schönheit und der seltene Liebreiz der Verblichenen.‹ – Er sollte das Grab zuwerfen an diesem Abende. Er stand in der Grube, hob die Kränze und Blumen hinaus, die einstweilen auf dem Sarge lagen. Und bemerkte, daß ein, zwei Schrauben am Sarge lose waren.

Das kam öfter vor. Er nahm mechanisch seinen Schraubenzieher aus der Tasche, sie fester anzuziehn. Aber er setzte sein Instrument an andere Schrauben, schraubte nicht fest, sondern los. Er tat das nicht – etwas in ihm tat es. Er schraubte alle Schrauben los und hob den Deckel vom Sarge.

Dann starrte er auf die Tote.

Wie sie ausschaute? Das hatte Stephe längst vergessen, vermutlich schon in der nächsten Viertelstunde. In seinem Gedächtnisse lebten nur die banalen Worte des Geistlichen, und nur mit denen vermochte er dem Freunde sie zu beschreiben: ›Die Güte und die Schönheit und der seltene Liebreiz der Verblichenen‹.

Stephe starrte auf die tote Frau. Eine Locke war ihr über das Gesicht gefallen, die strich er zurück. (Die Farbe? – O nein, die Farbe wußte er nicht.) Aber seine harten Finger berührten diese bleiche Wange. Fuhren auf und nieder über das Gesicht. Eine Hand erst, dann beide.

Dann schloß er den Sarg. Schraubte alle Schrauben fest zu. Stieg hinaus aus dem Grabe, warf es zu.

Das war Stephes erstes zartes Abenteuer in dem Garten der Liebe.

* * *

Bis dahin war es Stephe völlig gleichgültig gewesen, wer begraben wurde. Irgendwas Totes lag da in dem Sarge und das mußte man zuschaufeln.

Nun aber lauschte er auf die Worte, die man am Grabe sprach. Oder auch, oft genug, nicht am Grabe, sondern in der kleinen Kapelle am Nordende des Friedhofes. Viele Feierlichkeiten fanden dort statt; dann blieben die aufgebahrten Särge oft über Nacht stehn, um erst am nächsten Morgen von den nächsten Angehörigen beerdigt zu werden.

Und manchmal waren es junge Frauen und Mädchen –

Er war der einzige Gehilfe, der auf dem Friedhofe hauste; es war seine Pflicht, jeden Abend vor dem Schlafengehn noch einen letzten Rundgang zu machen. Auch: in die Kapelle zu sehn.

Er ging in die Kapelle. Er trat nahe heran an den Sarg, schaute die toten Frauen an. Er schob die Blumen zurecht, glättete irgendeine Falte des Hemdes.

Und langsam, unendlich langsam, in langen Nächten, lernte er, wie ein halbwüchsiger Knabe, die Zärtlichkeiten der Liebe.

Lernte von stillen Lehrerinnen. Stillen, sanften, sehr gütigen.

Aus dem rauhen Tappen seiner harten Hände wurde ein zartes Streicheln; von seinen Lippen kamen, unbewußt, zärtliche Laute. Manchmal gar ein Wort.

Er berührte liebkosend diese bleichen Wangen, die Stirne, auch die Hände.

Aber nie hob er die Augenlider.

Ganz von selbst kam das alles. Nie nahm er sich vor, dies zu tun oder jenes: er tat es – und es kam ihm erst zum Bewußtsein, wenn es geschehn war.

Seine Hand streichelte den Hals und den Nacken. Seine Finger schoben zitternd das Leilach zurück, tasteten furchtsam über die quellenden Brüste –

Dann, einmal, bog sich sein Kopf herab. Und sein Mund küßte –

Er wußte nicht, was das war, was er zum ersten Male küßte. Die Schulter vielleicht – oder die Wange – oder –

Das wußte er nicht. Es war ein sehr Großes in seinem Leben – aber er wußte nicht, was es war.

* * *

Stephe schnitt Blumen im Friedhofe und brachte sie zur Nacht den Geliebten. Er schob die andern zur Seite und gab ihnen seine Blumen in die Hand –

Einmal, als sie noch lebten, gehörten diese Frauen andern Menschen. Eltern, Gatten, Verlobten. Jetzt aber niemandem mehr. Nur: ihm.

Stephe hatte ein sehr starkes Gefühl hierfür: sie kamen zu ihm, gehörten ihm, ihm allein auf der Welt.

Doch war das nicht herrschsüchtig, nicht tyrannisch. Es waren nicht Geschöpfe, denen seine Laune befahl – waren seltene Wesen, denen er diente.

Und die – dennoch – sein waren. Ihm gehörten, ihm ganz allein.

* * *

Die erste, die ihn zur Brautnacht lud, war eine junge, schwarze. Das wußte er, daß sie schwarzes Haar hatte – aber ihren Namen hatte er vergessen. Sie lag nicht in der Kapelle in ihrem Sarge. Lag schon in der offenen Grube.

Stephe ging zu ihr in der Nacht. Machte den Deckel los – und es war eine sehr mühselige Arbeit, weil es ein billiger schlechter Sarg war und weil neben den Schrauben schlechte Nägel verwendet waren, die sich krümmten.

Die Schwarzlockige lag da. Er gab ihr seine Blumen. Er streichelte sie und bedeckte sie mit zarten Küssen. Er sprach leise zu ihr.

Da bat sie ihn: »Nimm mich mit!«

»Wie bat sie dich?« hatte Jan Olieslagers gefragt. Und Stephe sagte:

»Sie bat.«

»So bewegten sich ihre Lippen?«

Stephe schüttelte den Kopf.

»Dann bat sie mit den Augen?«

Aber nein, nein – er hatte nie einer die Augenlider geöffnet, niemals.

»Wie denn bat sie dich, Stephe? Wie denn?«

Aber es kam keine andere Antwort. »Sie bat mich – sie bat.«

Sie bat ihn – da hob er sie auf. Trug sie durch die stillen Wege des Friedhofes, hinein in das Beinhaus. Legte sie nieder auf die alten Säcke –

Das war ihr Hochzeitsbett.

Aber viele Narzissen streute er darüber.

Tote Frauen lieben die Blumen –

Sie war die Erste, diese Schwarze. Dann kam eine, die hieß Carmelina Gaspari – das war die, die ihm die Korallenkette gab.

»Sie gab sie dir?«

Stephe nickte.

»Wie denn? Wie denn nur? Wie gab sie dir die Kette?«

Das wußte er nicht. Hilflos suchten seine Blicke umher. »Sie – gab – sie – mir –«

– Und eine Blonde kam. Und eine mit roten Haaren. Eine, die Milewa hieß, eine –

Sie brauchten nicht mehr zu bitten; Stephe wußte nun. Er ging hinaus in der Nacht, zu einem Grabe oder zur Kapelle. Nahm seine Beute, trug sie hinüber ins Beinhaus. Hielt sie für diese eine Nacht.

Nie vergaß er, Blumen zu streuen.

Und das war seltsam: sie sagten ihm, welche Blumen sie wollten. Rosen wollte die eine, aber nur sehr rote. Und die andere: Lilien, hochstämmige, schneeweiße, die hinter des alten Pawlaczek Hause wuchsen. Jasmin verlangte eine, und wieder eine große Glocken von Wysterien, die rankten über der Steinmetzwerkstatt. Tiefblaue Iris von den alten Gräbern der Deutschen, Lindenblüten von dem Baume über ihrer Bank, Goldregen, der neben dem Tore wuchs –

Aber nie, nie wollte eine Tuberosen.

Sie ›sagten‹ es ihm – wie sie ihn ›baten‹, wie sie ihm ›gaben‹. Sie sprachen die Sprache der Toten – und Stephe verstand sie.

* * *

Stephe war ein Kind, als er nach Andernach kam ins Ägypterland.

Eine Frau machte einen Knaben aus ihm – die lebte fort in seinem Herzen – mit ihrer ›Güte und Schönheit, mit dem seltenen Liebreiz der Verblichenen‹. Da sah er zum erstenmal mit staunenden Augen.

Und ein Jüngling wuchs aus dem Knaben in den stillen Nächten in der Kapelle. Er lernte der Toten Träume.

Nun war Stephe ein Mann – nun wußte er. Wußte sicher und stark.

Da draußen – da mochte es anders sein. Das verstand er nicht. Das ging ihn nichts an, mochte es sein wie es wollte. Seine Welt war hier – auf dem Friedhof von Andernach.

Und diese Welt war nur für ihn geschaffen und gehörte nur ihm allein. Unbedingt und ohne Widerspruch.

Er, Stephe, war ihr einziger Herr.

Dann aber erschloß sich ihm ein neues Geheimnis.

Er suchte nie, grübelte nie, wie das sein Freund tat, der Vlame. Wie die Blumen des Gräberparkes rings um ihn, so entschlossen sich ihm alle Rätsel. Die offene Rose lächelte ihn an, zu irgendeiner Stunde, eines guten Tages.

Nie schien ihm etwas seltsam und wunderbar. Es war alles so einfach, so offenbar. Nur Blüten brachen auf: das war alles.

* * *

Und der Vlame dachte:

Manche gibts: deren Liebe ist so stark, daß sie hinauswächst über das Leben, mitten hinein in das Reich des Todes. So stark, daß sie, für eine kleine Weile, die Toten wieder zurückruft ins Leben. Viele Dichter haben das besungen. Helge, der Hundingtöter, mußte zurück aus dem Totenland, zurück in den Hügel, in dem ihn Sigrun erwartete. Mußte, mußte, gezogen von ihrer großen Liebe. Einen Toten herzte die Gattin für eine Nacht.

»Ein Lager hab ich dir,
Helge, bereitet,
frei von Kummer,
du Königsproß.
Im Arm will ich,
Edler dir ruhn,
wie ich im Leben
Weilte bei dir!«

Und der Held antwortete:

»Nun will ich nichts
unmöglich nennen,
nicht jetzt noch je,
du junge Fürstin.
Dem leblosen
liegst du im Arm,
du hehre, im Hügel,
Hagens Tochter,
und lebst dennoch,
du lichte Maid!«

Und die Mutter im »Totenhemdchen« fiel ihm ein, die ihr Söhnchen zurückrief Nacht um Nacht – grade wie Sigrun den Gatten. Lenore, die ums Morgengrauen aus wilden Träumen emporfuhr und den toten Wilhelm zurücksehnte ins Leben. Poes Schattengestalten Ligeia und Morella, die – seltsam! – nur andere Namen waren für seine »Lost Lenore«.

Jan Olieslagers brauchte die Sage nicht und die Dichtung. Er hatte oft genug gehört von solchen Fällen und kannte wenigstens einen selbst recht gut. Den seiner Base. Die war jung, kaum achtzehn, als ihr Mann, ein hübscher Leutnant, starb, beim Rennen verunglückte. Sie war als Witwe sehr still und ruhig, machte kein großes Getue, lebte so ihr Leben hin. Nur, an jedem zwanzigsten des Monats, wenn der Abend fiel, schloß sie sich ein in dem kleinen indischen Zimmer ihres Elternhauses. Das war der Tag und war der Raum, da sie einst sich verlobt hatte. Und dann, wenn die Dämmerung sank, kam der Geliebte. Ihre Liebe zog ihn hervor aus dem Totenreiche, machte ihn lebend für eine kurze Stunde. Wenige nur wußten darum: ihre Eltern, ihr Vetter und wenige Freunde.

Sie war völlig gesund und normal, seine Base. Nicht ein kleinster Gedanke flog jemals hinaus über irgendein Alltägliches. Nur diese eine Stunde im Monate –

Später, zehn Jahre später, lernte sie einen andern kennen, heiratete ihn – seither kam sie nicht mehr in das kleine Zimmer. Sie bekam drei Kinder, wurde glücklich genug.

Aber sie vergaß es nicht. Wenn sie, in langen Pausen, einmal den Vetter wiedersah, sprach sie davon mit ihm. Nur mit ihm.

Dann sprach er ihr, leise, die Zeilen Novalis':

»O sauge, Geliebter, gewaltig mich an,
daß ich entschlummern und lieben kann.
Ich fühle des Todes verjüngende Flut,
zu Balsam und Äther verwandelt mein Blut.
Ich lebe die Tage voll Glauben und Mut
und sterbe die Nächte in heiliger Glut.«

Sie antwortete nicht. Schweigend reichte sie ihm die Hand.

– Jan Olieslagers dachte oft daran in diesen Nächten. Das alles baute sich auf einem starken Empfinden, das kein anderes Denken und Fühlen neben sich aufkommen ließ. Unglückliche – ach, waren es nicht vielmehr sehr Glückliche? – waren besessen von diesem einen wilden Feuer, leugneten den Tod, schmiedeten einen stählernen Willen, gebaren aus sich heraus von neuem das verlorene Tote, fanden, wie Orpheus, den Schlüssel zum Tore der Schatten, Eurydike zu suchen.

Der große Wille des Lebens griff hinein in das Reich der Toten. Das war das Geheimnis.

* * *

Hier aber war es ein sehr anderes.

Stephe war Herrscher in den Gärten des Todes. Nun aber wuchs er, wuchs – und seine Macht ward so groß, daß sie weit hinübergriff in alles Leben.

Das kam, als man die Brüder Stolinsky beerdigte, zwei polnische Erdarbeiter, die bei einer Sprengung umgekommen waren. Da fiel Stephes Blick auf ein sehr junges Mädchen, das dicht am Grabe stand. Er sah sie lange an, dann lächelte er.

Wußte: ›Sie wird zu mir kommen. Sie gehört mir.‹

– Von nun an betrachtete er genau die Reihen der Leidtragenden, denen er sonst nie den kleinsten Blick geschenkt hatte. Mochte sich eine verstecken hinter schwarzen Jacken und Röcken – Stephe fand sie doch.

Und er sah die Frauen und Mädchen, die zum Friedhofe kamen, die Gräber zu schmücken. Schaute jede an, maß sie lange. Manchmal lächelte er; das war, wenn er fühlte: ›Die wird zu mir kommen.‹ Auch wenn er zu seltenen Besuchen in die Stadt ging, blickte er nach den Frauen. Die Straßen hinauf und hinunter, hinein in die Türen und Fenster. »Die da,« flüsterte er, »die da!«

Sein großer Tag aber kam vor Ostern; das war der Totentag. Alle Gräber wurden geschmückt und an allen Gräbern standen weinende Frauen. Da ging Stephe durch die Wege, Stunde um Stunde, blieb stehn eine kleine Weile, blickte sich um, lächelte.

Ein großer Liebesmarkt – viele gute Ware. Aber nur einer wußte darum – er, Stephe.

Wirklich nur er?

Es war, als ob auch die andern es wußten – die Frauen und Mädchen.

Nicht wußten – nein. Aber fühlten, ahnten – irgendein Schreckliches. Und das hatte mit dem Blick des Totengräbers zu tun, und mit seinem Lächeln.

In der Folge sah Jan Olieslagers viele Male diesen Blick und viele Male dies Lächeln. Er beobachtete es genau, viel genauer als irgendein anderer. Ob er aber schon der Einzige war, der seine Bedeutung kannte, vermochte er doch nicht ein einziges Mal dahinterzukommen, wieso es möglich war, daß jemand auch nur den kleinsten Eindruck davon haben könnte. Dieser Blick hatte nichts Grauenvolles, nichts Erschreckendes, dieses Lächeln nichts Herzbeklemmendes oder gar Diabolisches. Es war ein freundlicher, stiller Blick und ein gütiges Lächeln.

Dennoch – mit irgendeinem besonderen Sinn begriffen die Frauen und Mädchen. Ja, halbe Kinder begriffen, kleine Dinger mit langflatternden Haaren und kurzen Röckchen.

In der Kapelle, während des Gebetes fiel eine junge Frau in Ohnmacht unter diesem Blick. Das war nur einmal, und Jan Olieslagers dachte, daß es vielleicht auch eine andere Ursache haben könne. Vielleicht. – Aber das war ganz gewiß, daß die Mädchen auswichen, sowie Stephe daher kam. Daß die Kinder – o nein, nie die Buben – sich verkrochen hinter den Röcken ihrer Mütter, daß die jungen Mütter ein Kreuz machten, wenn sie ihn sahen. Selbst alte Weiber fürchteten sich, schraken auf, stießen einen kurzen Schrei aus.

Das ging so weit, daß die Mädchen in die Häuser liefen, wenn Stephe durch die Straßen ging. Ob man darüber sprach in der Stadt, konnte Jan Olieslagers mit Gewißheit nicht feststellen, da er es vermied, mit irgend jemandem dort zu reden. Doch erzählte Stephe selbst, daß, als er damals die Sachen für seinen Freund kaufte, die Verkäuferinnen zusammengelaufen seien und sich geweigert hätten, ihn zu bedienen. Das habe dann ein junger Mann getan, der außerordentlich freundlich zu ihm gewesen sei und sich lustig gemacht habe über die erstaunliche Dummheit der Weiber.

»Was machst du daraus?« fragte Jan Olieslagers. Stephe antwortete: »Sie wissen es – sie wissen – daß sie zu mir kommen.«

Nur ein einziges Mal hatte diese seltsame Furcht für Stephe eine kleine Verdrießlichkeit zur Folge. Stephe kam von der Arbeit heim, sah ein Pärchen an einem Grabe stehn, einen Rekruten und sein Mädchen. Sie wandten ihm den Rücken zu, brachen ein paar Epheuranken. Plötzlich, als ob sie seinen Blick gefühlt hätte, richtete sich das junge Mädchen rasch auf, wandte sich um, schrie auf. Der Soldat, der den Angstschrei hörte, seine Braut erbleichen und zittern sah, fragte: »Was ists?« und sie wies auf Stephe und flüsterte: »Der da! Der!« – Da ging er mit geballten Fäusten auf Stephe zu und schrie ihn an: »Du gottverdammter Schuft – wie wagst du es, meine Braut – meine –« Aber er sprach seinen Satz nicht zu Ende. Stephe erwiderte kein Wort und sein Blick war so still und milde, daß kein Mensch irgendetwas Freches oder Beleidigendes hätte finden können. Der Soldat unterbrach sich, ließ die Arme sinken, stammelte: »Verzeihung, Herr – es tut mir leid!« – Stephe ging ruhig weiter.

Recht eigentlich bewußt war sich Stephe seiner seltsamen Macht kaum. Er wußte schon, daß es so war, aber er legte weiter keinen Wert darauf, bekümmerte sich nicht darum. Es ist wahr: er lächelte – aber dieses Lächeln war ganz sicherlich nicht das einer bewußten stolzen Befriedigung. Und nicht ein einziges Mal konnte Jan Olieslagers auch nur ein kleines Zeichen irgendeines bewußten Herrscherwillens feststellen. Wenn er, in seinen Meditationen, Stephe den großen Herrscher im Totenlande von Andernach, den unentrinnlichen Tyrannen nannte – so war das doch nur aus seinem Hirn heraus und nicht aus dem Stephes empfunden. Kompliziert erschien das alles nur, wenn er es überdachte, doch wurde es einfach und natürlich, je mehr er versuchte, sich in Stephes Ideenwelt einzuleben. Wenn er alle Hemmungen ausschaltete – und das war ganz gewiß, daß Stephe nicht eine einzige kannte – dann wurden Stephes Gedanken und Handlungen ihm zu denen eines Kindes, eines stillen Kindes, das seine eigenen Spiele spielte. So seltsame, so ungeheuerliche freilich, daß sie dem Weltmanne Jan Olieslagers wie die Taten eines schwarzen Gottes erschienen.

Wie Knospen waren alle diese Frauen und Mädchen. Sie wuchsen und reiften und erschlossen sich zur vollsten Blüte – – das war dann, wenn sie starben, heute eine und morgen wieder eine. War dann, wenn sie hinausfuhren aus der Stadt, hierhin zu ihm, für den allein sie blühten, zu Stephe. Und Stephe, der die Blumen liebte, brach sie –

Dann welkten die Blüten – und Stephe warf sie fort. Vergaß sie, ganz und gar. Er kannte nicht einmal ihre Gräber, keines –

›Das ist sehr seltsam,‹ dachte Jan Olieslagers. »Wo ruht die Carmelina Gaspari?« fragte er.

Stephe schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht.«

»Und wo die Milewa? – Oder die Anka Savicz?«

Nein, nein, nicht eines der Gräber kannte Stephe. Es fiel ihm nie ein, irgendeines davon mit Blumen zu schmücken. Das war Sache der Gärtner – er war Totengräber. Aber: er kannte gut die Ruhestätte des alten Deutschen Jakob Himmelmann oder die des Fabrikherrn J. T. Campbell – oh, eine ganze Reihe von Gräbern kannte er.

›Sehr untreu ist er!‹ dachte Jan Olieslagers. Und überlegte: ›Ist ein Kind treu seinen Spielsachen? Es liebt sie mit aller Liebe – und wirft sie fort im nächsten Augenblick.‹

Dann auch: ›Ist je ein Gott treu dem Tand, mit dem er spielt?‹

* * *

Doch sich selbst ist der Gott getreu, wie es das Kind ist.

Und als, eines Tages, Stephe sich selbst untreu wurde, da fiel alle Göttlichkeit von ihm. Und alle Kindlichkeit.

Und er wurde ein Mensch. Und fühlte wie ein Mensch. Und tat wie ein Mensch.

Da zerbrach alles.

* * *

Das geschah im späten Indianersommer, der im Ägypterland sich bis tief in den November hineinzieht. Bis dahin lebte er, neben dem Menschen Olieslagers, sein eigenes Leben der Nacht.

Er fühlte sich leicht nach all seinen Beichten. Sein Freund war ein guter Beichtvater und Stephe empfand wohl, daß der ihn lieb hatte grade um seiner Geheimnisse willen. Stets blieb er der Untergebene, stets erfüllte er dem Freunde jeden kleinsten Dienst, den er sich ausdenken konnte. Er suchte Pilze für ihn auf den Wiesen und große Brombeeren, stellte ihm Blumen auf seinen Tisch. Er merkte bald, wie viel Wert der Vlame auf alle Reinlichkeit legte und sorgte dafür, daß alles stets blitzsauber war. Das ging so weit, daß Stephe, der durch zwanzig lange Jahre um Schmutz oder Nichtschmutz sich nie gekümmert hatte, nun auch seinen eigenen Leib wusch und rein hielt – nicht aus eigenem Instinkt, sondern nur dem Freunde zuliebe.

Sie lebten sehr zusammen in dieser Zeit. Und allein blieb Stephe nur in solchen Nächten –

Dann sagte er dem Freunde: »Sie wird zu mir kommen, heute nacht!«

Der Vlame fragte: »Welche Blumen will sie?«

»Seerosen,« sagte Stephe, »aus dem kleinen Teiche.« – Oder auch: »Flieder, viel Flieder!« Sie gingen zusammen aus, sie zu holen. Sie trugen sie in das Beinhaus, breiteten die alten Säcke auf den Steinboden und streuten die Blumen darüber.

Dann ging Olieslagers in das Zimmer. Legte sich zu Bett, versuchte zu schlafen. Las. Rauchte, Spielte eine Schachpartie mit sich selbst. Lauschte auch – gegen seinen Willen –

Einige Male versuchte er das. Aber es ging nicht – ging gar nicht.

Dann lief er in einer solchen Nacht umher, durch den Friedhof und über die Wiesen. Und ein andermal trug er sein Bett hinaus, stellte es in der kleinen Geißblattlaube auf, legte sich dort hin. Aber er schlief nicht. Immer glaubte er die Laute zu hören, die aus dem Beinhause kamen. Glaubte zu sehn –

Einmal überlegte er: ›Es ist nur, weil ich es nicht sah – so reizt es meine Einbildung. Ich habe schlimmere Dinge gesehn, als das – und es hat mir nichts ausgemacht. Ich werde hingehn, werde zuschaun – dann werden meine Nerven sich beruhigen.‹

Er eilte zum Beinhause. Er griff die Klinke und hielt sie in der Hand, öffnete nicht. Ging vorbei – hörte Stephes Stimme – kam zurück. Fünfmal – sechsmal –

Fluchte endlich, öffnete die Tür kräftig genug.

Die kleine Birne erhellte den Raum. Er sah eine Gestalt auf den Säcken liegen, zwischen gelben Rosen. Und Stephe kniete vor ihr.

Er rief ihn an. Aber Stephe hörte ihn so wenig, wie das Öffnen der Tür.

Er trat näher heran, nun sah er gut das Gesicht des Freundes.

Stephe starrte auf die Tote – angespannt waren alle seine Züge. Er krampfte die Hände zusammen – es war sichtlich, daß er angestrengt lauschte.

Dann kam ein leises »Ja« von seinen Lippen und noch einmal »Ja« –

Ah, die Tote erzählte ihm – und Stephe lauschte.

Eine Viertelstunde – eine halbe Stunde – Jan Olieslagers lehnte an der Wand, zählte leise, um sich irgendeinen Begriff von der Zeit zu machen. Aber es ging nicht.

»Ja,« flüsterte Stephe. – Und einmal hörte er: »Liebling.«

Dann kam ein Zucken in Stephes Körper. Er bog sich vor und zurück. Laute kamen aus seinen Lippen, wirr, abgebrochen, unverständlich.

Irgend etwas ging vor. Was nur?

Jan Olieslagers biß die Zähne zusammen, preßte die Hände, schloß die Augen, um alle Nervenkraft zu sammeln. Etwas ging da vor, und er mußte finden, was es war.

Wieder klang es »Ja!« Lauter wie sonst.

Der Vlame blickte auf. Da sah er, wie die Tote sich aufsetzte, beide Arme Stephe entgegenstreckte. Aber er sah – zu gleicher Zeit – daß sie still und steif auf den Säcken lag, wie zuvor. Daß sie sich nicht regte und sehr tot war.

Und bewegte sich dennoch und lebte dennoch und bot beide Arme dem Geliebten und die nackte Brust –

Jan Olieslagers griff mit beiden Händen an die Schläfen. Er sah das eine und, zugleich, das andere.

Beides sah er, beides –

Rückwärts ging er, der Türe zu, langsam, Schritt um Schritt –

Er sah, wie Stephe die Arme hob, ausbreitete, wie es die Tote tat, genau so. Wie er sich vorbeugte, wie sie, den Kopf langsam vorschob – wie sie es tat –

Sie – die dennoch unbeweglich, starr und steif auf dem Boden lag –

Dann schrie Stephe auf. Griff mit beiden Händen nach ihr, riß sie an sich, stürzte sich über sie –

* * *

Jan Olieslagers lief über die Wege, kam zum Tor, kletterte hinüber. Blieb stehn, schöpfte Atem. Ging dann, mit langen Schritten, rings um den Friedhof.

Umkreiste ihn, dreimal und noch einmal. ›Wie ein Wachthund,‹ dachte er.

Er überlegte das, was er gesehn; fand sehr bald die Erklärung.

Was er sah, Dr. Jan Olieslagers, das war das, was war. War die Tote, die tot dalag. Aber was er zugleich sah: die Tote, die sich aufrichtete, die die Arme öffnete und Stephe hinzog zu sich – das erblickte er nicht mit seinen Augen.

All diese Wochen über hatte er versucht, sich hineinzudenken in Stephes Seele, zu fühlen, wie er, um so das Phänomen zu begreifen.

Und er sah, in dieser Nacht, wie Stephe sah – empfand, wie er empfand.

Nun verstand er gut, wie Stephe das meinte, wenn er sagte: »Sie gab mir die Korallenkette.« Oder: »Sie bat mich –« Oder: »Sie sagte –«

Es war schon so: diese Toten sprachen zu Stephe. Und Stephe lauschte. Und tat, was sie verlangten.

Was machte es aus, daß er, Olieslagers, auch sah, daß diese Wahrheit eine Lüge war? Zu gleicher Zeit das sah – wie im Gangarausch –

Eine Lüge nur für ihn – und dennoch die einzige Wahrheit für Stephe.

* * *

Und – vielleicht – die letzte. Denn nun geschah es, daß Stephe untreu wurde.

Es geschah das Lächerlichste, das Banalste, das Allerdümmste von allem: Stephe verliebte sich. Verliebte sich, recht und schlecht, wie irgendein Kaufmannslehrling oder ein Soldatenjunge, in ein lebendiges, gesundes, ziemlich hübsches Mädchen.

Gladys Paschitsch hieß sie. Ein Ägypterkind – aber eines von Eltern, die klug waren und darum bald sehr reich. Ihr Vater hatte schon ein hübsches Vermögen vor dem Kriege und hatte das während dieser Jahre verhundertfacht. Pesce Cane nannten ihn die italienischen Ägypter und die andern hatten wohl ihre andern Namen dafür. Die Amerikaner schalten ihn »Profiteer« und wenn noch Deutsche in Andernach gelebt hätten, hätten sie ihn vermutlich »Schieber« genannt. Seine Dollarnoten waren sehr fettig und schmutzig, von dem Arbeitsschweiß und von Blut und Tränen seiner besonderen Landsleute wie aller andern Ägypter – aber sie waren darum nicht weniger vollwertig. Längst war die Paschitschfamilie sehr amerikanisch – darum hieß die einzige Tochter Gladys und darum besuchte sie auch eine beliebte Damenhochschule in Neu-England.

Stephe hatte sie schon vor zwei Jahren gesehn, als sie noch auf die Schule ging. Nun war sie in den Ferien zu Hause.

Ein Flieger war abgestürzt und es war eine besondere kleine Feier in der Kapelle. Viele patriotische Reden für den Helden, der eigentlich noch kein Held war, aber doch einer hätte werden können und darum sicher all die Lorbeerkränze reichlich verdient hatte. Auch Gladys Paschitsch war dabei und überreichte einen großen Kranz mit riesigen Schleifen von irgendeinem Frauenklub.

Da sah Stephe sie wieder. Da verliebte er sich.

Nicht, daß er nun etwa gehandelt hätte, wie irgendein anderer Verliebter es vielleicht getan. Er tat nichts anders, als was er immer tat. Er sagte seinem Freunde: »Sie wird kommen.« Und darauf wartete er.

Aber – und das war es – er dachte nur an sie. Und vergaß die andern. Vernachlässigte sie, kümmerte sich nicht mehr um sie. Er scharrte ihre Gräber zu, wie leere Gruben, warf zur Nachtzeit kaum einen Blick in die stille Kapelle. Und das Beinhaus blieb leer.

Gladys Paschitsch fuhr zurück zu ihrem »College«, kam zu Weihnachten für eine Woche nach Hause und dann wieder zu Ostern.

Und Stephe blieb ihr treu all die Zeit über. »Sie wird kommen!« sagte er.

Zur Osterzeit kam Gladys einige Male auf den Friedhof. Es waren mittlerweile eine ganze Reihe Rekruten aus dem benachbarten Übungslager gestorben – für diese Gräber sorgte der Frauenklub. So kam es, daß Stephe sie sah.

Es ist sicher, daß Gladys Paschitsch dasselbe Angstgefühl empfand, das alle Frauen überfiel, wenn Stephe in der Nähe war. Aber sie war ein »Collegegirl«, selbstbewußt, unabhängig und – gebildet. Und sie wußte, daß das – dummes Zeug war. So ging sie einmal festen Schrittes auf Stephe zu und sprach ihn an. Jan Olieslagers sah, wie sie sich zwang, ruhig mit ihm zu sprechen – völlig gleichgültige Fragen über die Soldatengräber an ihn richtete. Stephe blieb still, fast unterwürfig. Aber dennoch zitterten die Hände der Studentin, dennoch seufzte sie befreit auf, als sie nach wenigen Minuten »Guten Abend« sagte.

»Was hat sie dir gesagt?« fragte der Vlame.

Stephe murmelte: »Sie wird kommen –«

Aber es schien nicht, als ob Gladys Paschitsch sich damit beeilen wollte. Sie blieb sehr gesund und ihr Schritt war fest und leicht.

– Jan Olieslagers war unzufrieden. Stephe langweilte ihn. Und am Ende war diese Geschichte mit Stephe noch das einzige, das ein klein wenig Abwechslung gebracht hatte in diese Rattenfalle, in der er steckte. Er versuchte einmal über das andere, Stephes lächerliche Treue zu erschüttern, erzählte ihm Wundergeschichten, wie schön die tote Frau sei, die gerade in der Kapelle lag – Stephe zuckte die Achseln. Was ging ihn das an?

Einmal kam Jan Olieslagers von der Stadt zurück. Er erzählte ihm, daß er Gladys gesehn habe mit einem Hauptmann. Sie habe sich verlobt, würde nächstens heiraten. Es war kein Wort davon wahr, aber er wollte seine Eifersucht wecken.

Aber Stephe blieb völlig gleichgültig. Das interessierte ihn kein kleines bißchen. Mochte sie doch einen andern küssen, sich ihm hingeben. Sie würde doch zu ihm kommen.

Und der Vlame begriff: Stephe liebte Gladys Paschitsch, o ja! Aber: in der Lebenden liebte er dennoch nur – – die künftige Tote.

Die allein. Auf die wartete er durch den langen Winter, durch den Frühling und Sommer. Ihr blieb er treu und für sie fastete er und kasteite seinen Leib. Denn sie würde kommen – sie mußte kommen. Das wußte er ganz gewiß.

* * *

Und sie kam, Gladys Paschitsch.

In diesem Spätsommer des letzten Kriegsjahres zog eine Seuche über den Kontinent, die die Leute die spanische Influenza nannten. Es sei nur eine Grippe, sagten die Zeitungen, freilich eine recht gefährliche. Viele Leichen wurden blauschwarz – davon schrieben die Zeitungen nichts. Aber jeder wußte es. Und die Menschen starben. Und die Totengräber hatten zu tun.

Auch ins Ägypterland kam die spanische Grippe. Auch nach Andernach. Hundert Soldaten gab man dem alten Pawlaczek zur Hilfe; die schnitten Bretter, schlugen Särge zusammen. Fuhren sie mit Karren durch die Stadt, sammelten die Leichen; gruben Gräber und scharrten sie zu. Tagsüber, nachtsüber – ununterbrochen. Und Stephe und Mike und die andern – jeder kommandierte ein Dutzend amerikanische Soldaten. Die lärmten und sangen, und der stille Friedhof hallte von ihrem Gebrüll. Es war nicht sehr patriotisch, was sie sangen:

»If you're dirty and you're hungry
and you don't know, what to do –
Join the army! Join the army!
If your bestgirl gets a baby
and it does'nt look like you –
Join the Navy! Join the Navy!

Das alte Beinhaus war überfüllt von Gästen, wie die Kapelle; immer wurden Särge hineingebracht und andere herausgeholt.

Es war aus mit dem Frieden und aller Ruhe. Jan Olieslagers dachte, daß vielleicht eine stille Gefängniszelle besser gewesen wäre. Aber Stephe lächelte vor sich hin – das große Sterben war da und sie würde kommen – sie mußte kommen.«

Jeden Morgen und jeden Abend, wenn der Vlame die Zeitung las, mußte er nun die Spalten durchsehn mit den Namen der Verstorbenen, mußte sie laut vorlesen. Stephe kannte ihren Namen gut: Gladys Paschitsch.

Doch war es nicht in dieser Spalte, wo Olieslagers zuerst den Namen fand. Vielmehr vorn auf der ersten Seite – und es war ein ganzer Artikel, der von ihr sprach. So voll klang schon der Name in der Stadt. Sie sei erkrankt, hieß es – die ersten Ärzte der Stadt seien. Doch sei nichts Ernstes zu befürchten.

Aber schon am Abend war sie tot.

Nun geriet Stephe in eine seltene Unruhe und Aufregung, die sich steigerte mit jeder Stunde. Sie mußte kommen – es war strengste Anweisung der Sanitätspolizei, daß alle Leichen sobald wie tunlich aus den Wohnungen herausgeschafft werden müßten. Aber der Morgen verging und der Nachmittag und der Abend –

Dann, nach zehn Uhr, kam der alte Pawlaczek zum Beinhause. »Mike!« rief er, »Stephe!« Stephe stellte den siedenden Teekessel hin, seine Hände zitterten. »Sie kommt,« flüsterte er, »sie kommt.« Rannte hinaus zum Baas.

Er hatte recht. »Sie kam« – war schon im Anzuge von der Stadt her. So gewichtig war der schwere Reichtum des Paschitsch, daß sein Wille das Niedagewesene möglich machte: eine Nachtfeierlichkeit in der Kapelle. Nun galt es, die Kapelle auszuräumen; der Alte nahm Stephe gleich mit, während er Mike ausschickte, ein Dutzend Soldaten zu holen, die in schnell aufgeschlagenen Zelten beim Kirchhoftor kampierten.

Man trug die vollen Särge aus der Kapelle ins Beinhaus, schichtete sie dort zu dreien und vieren übereinander, man schleppte die Kübel mit Pflanzen und Gewächsen heran, die zu jeder Feierlichkeit aufgebaut wurden, richtete alles her, wie es sich gehörte. Endlich kam die Trauergesellschaft, ein Wagen um den andern. Man bahrte den Sarg auf, der bereits geschlossen war. Stephe kannte ihn gut: es war der reich mit Silber beschlagene Prachtsarg, der schon seit Jahren das Schaufenster des Leichenbesorgers in der Stadt zierte. Jetzt hatte er endlich einen Käufer gefunden, und es deuchte Stephe, als ob es so hätte sein müssen und als ob kein anderer in diesem schönen Sarge hätte ruhen dürfen.

Aber noch fand die Feierlichkeit nicht statt. Man mußte erst auf den Geistlichen warten, dann auf die Vorsitzende des Frauenklubs, dann wieder – Hin und zurück von der Stadt fuhren die Wagen.

Es war zwei Uhr vorbei, als man anfing; und dann dauerte es sehr lange. Stephe stand mit seinem Freunde in der Tür der Kapelle, wartete. Plötzlich wandte er sich: »Ich muß Blumen schneiden,« sagte er.

Jan Olieslagers fragte: »Hat sie dirs gesagt?«

Stephe nickte: »Ja. – Gladiolen. Viele Gladiolen.«

Er kam zurück, beide Hände voll von Blumen, verbarg sie vor der Tür unter einer Steinbank. »Sind sie noch nicht fertig?« fragte er.

Aber noch jemand sprach und noch jemand – ach, diese Feierlichkeit schien nie aufzuhören!

Endlich kam der Geistliche heraus; er stieg mit den Eltern in den ersten Wagen. Unendlich langsam kamen dann die Leute, fuhren fort. Andere wieder mußten lange warten, bis die Wagen zurückkamen von der Stadt, sie abzuholen. Stephe war so aufgeregt, daß er nicht eine Sekunde ruhig stehen konnte, unaufhörlich vor sich hinredete. Sehr auffällig benahm er sich.

»Geh auf deine Bank, Stephe!« riet ihm der Vlame. »Ich warte hier. Wenn der letzte fort ist, ruf ich dich.«

Jan Olieslagers setzte sich auf eine andere Bank gleich neben das Kirchhofstor, ging auch zuweilen den Weg zurück zur Kapelle, grade wie die letzten Leidtragenden taten. Er sah die Mitglieder des Frauenklubs einsteigen, dann sah er ein paar Soldaten einen starken gelben Kasten in ein Auto tragen und mit ihm davonfahren. Auch den Direktor der chemischen Fabrik sah er; der kam dicht an ihm vorbei, erkannte ihn nicht.

Da trat der alte Pawlaczek auf ihn zu. »Sie sind alle fort,« brummte er. »Schließ das Tor, Mike.«

Jan Olieslagers sprang über die Gräber. »Die Kapelle ist leer, Stephe,« rief er. »Komm – sie wartet.«

Stephe erhob sich, taumelnd. »Ich will –« begann er.

»Was willst du?« drängte der Vlame.

»Sie will es, sie –« stotterte Stephe.

»Was will sie denn?«

Und Stephe sagte: »Nicht in der Kapelle – nicht im Beinhaus. In – in unserm Zimmer –«

Das war Olieslagers sehr wenig sympathisch. Er war müde genug, wollte schlafen ein paar Stunden – wenigstens versuchen zu schlafen. Aber die Augen Stephes bettelten und flehten, wie Kinderaugen. Er klopfte ihm auf die Schulter: »Gut, Stephe, gut! Nur – eil dich, sieh, schon dämmerts! – Ich nehme deine Blumen mit hinüber.«

»Danke, Herr, danke!« sagte Stephe.

Stephe lief in die Kapelle; der Vlame nahm die Gladiolen. Er trug sie hinüber, streute sie über Stephes Bett und über den Boden hin. Sein Bett rückte er dicht an die Wand.

Dann kam Stephe, zitternd am ganzen Leibe – mit leeren Armen.

»Was ist geschehn?« fragte Olieslagers.

Und Stephe flüsterte: »Der Sarg ist leer!«

Einen Augenblick besann sich der Vlame. Ah, das war es, was die Soldaten heraustrugen! Der schöne große silberbeschlagene Sarg war nur ein Schaustück – und die Kiste darin barg die Tote! Sie sollte vermutlich irgendwo anders beerdigt werden –

Er sagte es Stephe; der verstand ihn nicht gleich. Er mußte es zweimal wiederholen, bis Stephe ihn begriff.

»Wo denn? Wo?« fragte er. »Wo soll sie beerdigt werden?«

»Wie soll ich das wissen?« antwortete sein Freund.

Stephe stammelte: »Ich – ich –« Dann ging er zur Tür.

»Wo willst du hin?« fragte der Vlame.

Stephe sagte: »Sie haben sie geraubt. Ich muß sie finden.« Und ging.

Jan Olieslagers rief ihm nach, aber der andere hörte ihn nicht. Er überlegte: »Jetzt wird er irgendeine gewaltige Dummheit machen. Ich muß ihn schützen – er ist mein Freund.«

Aber was sollte er tun? Er zog sich aus, wusch sich; zog sich wieder an. Steckte ein paar Apfelsinen in die Taschen, setzte die Mütze auf, ging hinaus. Das Friedhofstor war geschlossen, er selbst hatte den Schlüssel in der Tasche – so war Stephe hinübergeklettert. Er schloß bedächtig auf und hinter sich zu. Schlug den Weg zur Stadt ein – dort mußte Stephe sein.

Er schälte seine Orangen und aß sie. Dachte nach. Wenn Gladys Paschitsch irgendwo anders beerdigt werden sollte, so konnte es sicher nicht in Andernach sein. Dieser Friedhof war der einzige der kleinen Stadt; es gab keine andere Möglichkeit. Dann aber – ja dann mußten sie den Frühzug benutzen, den, der hinauf nach Chikago fuhr. Er kannte gut jeden einzelnen der wenigen Züge, immer bereit, bei einer drohenden Entdeckung mit dem nächsten abzufahren. Fünf Uhr zweiunddreißig fuhr der Schnellzug.

Er sah auf die Uhr – er mußte sich eilen. Schritt schneller, lief manchmal ein Stückchen – blickte scharf über den geraden Weg, ob er vielleicht Stephe vor sich entdecken könnte. Aber er sah ihn nicht – der war gewiß gerannt bis zur Stadt hin. Er bog von der Hauptstraße ab, machte eine kleine Abkürzung zum Bahnhofsplatz. Es war hell genug nun, er blickte auf die große Bahnhofsuhr: noch achtzehn Minuten zur Abfahrt.

Er ging durch die Wartesäle und über die Bahnsteige. Es waren nur wenige Leute da, und er sah weder Stephe, noch irgendeinen Menschen, der etwas mit einer Leichenüberführung zu tun zu haben schien. Er ging wieder zurück zur Straße – da fuhren ein paar Autos vor. Schwarze Männer und Frauen in Trauerkleidung stiegen aus. Er erkannte den Vater Paschitsch und seine rundliche Frau, er erkannte auch Dan Bloomingdale, den ersten Anwalt der Stadt, den er öfter auf dem Kirchhofe gesehn hatte. Aus dem nächsten Auto stieg ein Offizier und ein paar Soldaten, aus dem dritten einige Damen und Herren mit Totenkränzen. Und er sah, hinten über den weiten Platz her, Stephe heranlaufen. Er winkte ihm, ging dann der Trauergesellschaft nach, die in die Bahnhofshalle trat. Alle traten in den Wartesaal, nur die Soldaten eilten in den Gepäckraum. Er sah, wie sie dort die große Kiste auf einen Karren luden und zum Bahnsteig fuhren.

Der Zug ratterte ein, die Soldaten schoben ihren Karren zum Gepäckwagen hin; drei Herren schritten hinterher, die Arme mit Kränzen behangen. Der Rechtsanwalt sprach mit dem Zugführer, zeigte ihm die amtlichen Dokumente für die Erlaubnis der Überführung.

In diesem Augenblick kam Stephe an, völlig hinter Atem, unfähig ein Wort zu sprechen. Er stöhnte, schluchzte auf, griff mit beiden Händen nach der Sargkiste.

»Hände weg!« rief der Offizier.

Stephe krallte sich fest, riß an dem Sarge, als wollte er ihn fortschleppen. Schaum troff ihm von den Lippen, aus seiner Brust brach ein tiefes Röhren.

Zwei Soldaten faßten ihn an, Stephe stieß sie zurück.

»Räuber!« brüllte er, »Diebe! Hurensöhne!«

Sie warfen sich auf ihn – ein Schreien, Zerren und Stoßen. Sie rissen ihn zu Boden – aber er brüllte weiter: »Räuber! Hurensöhne!«

Aber Dan Bloomingdale, der Rechtsanwalt, wollte keinen Skandal.

»Laßt ihn los, Leute!« befahl er. »Seht ihr nicht, daß er übergeschnappt ist? Ein verrückter Liebhaber!« Er wandte sich an Stephe: »Nun, mein Junge, was ist es? – Hast du sie geliebt?«

Im Augenblick schien Stephe zahm. »Ja, Herr,« stammelte er, »ja, Herr!«

»Nun,« beschwichtigte ihn der Anwalt, »das ist schon begreiflich, sie war ein hübsches Kind – werden wohl noch manche sie geliebt haben! Aber du mußt einsehn: sie ist nun tot! Tot, wie eine Ratze! Mausetot!«

»Ja, Herr, ja!« flüsterte Stephe sehr sanft. »Ja – – –« Dann besann er sich; bescheiden, wie ein Knabe, bat er: »Darf ich mitfahren, Herr?«

Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf, man sah ihm an, daß er eine große Sympathie mit diesem wilden Liebhaber hatte. »Ich weiß nicht, mein Junge – wirklich, ich weiß nicht, ob sich das machen läßt – vielleicht –«

Stephe unterbrach ihn mit einem neuen Gedanken: »Herr – wenn Sie mir nur sagen wollen, wo sie beerdigt wird – ich will Blumen – Blumen hintragen.«

Der Anwalt griff seine Hand und drückte sie: »Du bist ein braver Bursche, wirklich, ein braver Junge! Beerdigt – nun, sie wird nicht beerdigt werden, siehst du! Wir fahren nach Chikago – zum Krematorium. Verbrannt wird sie werden!«

Es war, als ob einer eine schwere Axt ihm auf den Kopf geschlagen habe. Stephe taumelte, brüllte wie ein Stier, fiel um – einer der Soldaten fing ihn auf.

»Ver – – verbra – –!« stöhnte er. »Nein – nein! Sie darf nicht – sie will nicht – will nicht –«

Dan Bloomingdale hob die Mütze auf, die zu Boden gefallen war, setzte sie Stephe auf den Kopf. »Doch, mein Junge, gerade sie wollte es! Ich bin Rechtsanwalt, siehst du, und Notar – ich habe ihren letzten Willen aufgesetzt! Schau her« – er griff in die Tasche, nahm ein Aktenstück heraus – »schau her – das hat sie selbst diktiert! Sie bestimmte es, daß sie verbrannt werden sollte –«

Stephe riß die Augen weit auf – und die Lippen – aber kein Ton kam heraus. Sie hoben die Sargkiste in den Gepäckwagen, setzten Stephe vorsichtig auf die Karre. Er ließ die Arme fallen, starrte gradeaus.

Das Abfahrtsignal – und die Leute drängten in die Wagen. Nur die Soldaten blieben zurück, gingen langsam fort. Und der Zug fuhr ab.

Jan Olieslagers trat hin zu Stephe, richtete ihn auf. »Komm, Stephe, komm!« Er führte ihn in den Wartesaal, bestellte Kaffee. Aber Stephe rührte nichts an.

»Komm nach Hause!« sagte der Vlame endlich. Stephe schüttelte den Kopf. Sprach dann, still und ruhig – nein, er würde nie wieder auf den Friedhof gehn.

»Wohin denn?« fragte Olieslagers.

»Ich weiß nicht.« sagte Stephe.

»Wollen wir wegfahren?« sagte Olieslagers. »Du und ich – zusammen? Irgendwohin!?«

Er wartete die Antwort nicht ab. Fuhr hinaus zum Friedhof, packte seine Sachen und die Stephes – zwei kleine Handkoffer. Kam zurück zur Stadt – fand Stephe unbeweglich auf demselben Stuhle.

»Sie hat mich verraten!« murmelte er. »Verraten –« Und dies Wort wiederholte er, als ob nichts anderes mehr Platz habe in seinem Hirn.

Jan Olieslagers nahm Karten für den Zehnuhrzug. Er zwang Stephe ein wenig zu essen, führte ihm die Tasse zum Munde, fütterte ihn, wie ein Kind –

»Verraten –« flüsterte Stephe »verraten –«

Sie stiegen in den Zug. Jan Olieslagers sagte: »Wir fahren nach Chikago. Später nach Baltimore. Dort –«

Stephe antwortete: »Verraten – sie hat mich verraten –«

Sehr müde war der Vlame: er rechnete nach – es waren nun dreißig Stunden, daß er nicht geschlafen hatte. Er lehnte sich zurück, nickte ein.

Immer wieder wachte er auf, blickte auf den Freund. »Verraten –« hörte er. Und als er schließlich doch einschlief und sehr tief schlief, klang es in seinen Ohren: »Verraten – sie hat mich verraten – ver–ra–ten –«.

* * *

Der Schaffner rüttelte ihn wach. »Chikago!« rief er. »Aussteigen, Herr!« Jan Olieslagers reckte sich hoch. »Wo ist Stephe?« fragte er, »wo ist mein Freund?«

»Ausgestiegen!« sagte der Schaffner. »In – in –« Er wußte die Station nicht mehr. Aber es war schon vor vier Stunden gewesen, oder vor fünf.

Jan Olieslagers blickte umher – auch Stephes Köfferchen fehlte. Das hatte er also mitgenommen – Nie sah er ihn wieder.


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