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Höchste Liebe

Ich glaube, es sei kein Mensch auf der Welt, der nicht seinen Sparren habe; und ich kann bei meinem Birn wohl merken, wann andere zeitig sind.

H. J. C. von Grimmelshausen, Simpl. Simplicissimus.

 

Drei Jahre lang strahlte Hagen Dierks als großer Stern am Musikhimmel auf beiden Seiten des Atlantik. Drei Jahre lang zitterten die Auerschüler, die Elman, Heifetz, Rosen und Seidel; und Fritz Kreisler selbst fühlte an heißen Schläfen die kühle Luft dieser Adlerschwingen. Nur: der lächelte. Sagte: Einer war vor mir und einer wird nach mir kommen. Das ist er: Dierks.

Er war da – drei Jahre lang – und dann verschwand er.

Nicht daß er, ein blutjunger Geiger, wie fast alle die andern, vom Konservatorium weg, im Sturm das Publikum nahm und die Konzertsäle füllte. Als er das tat, war er bereits fünfunddreißig Jahre alt – und war achtunddreißig, als er abtrat.

Öffentlich gespielt hatte er freilich zum ersten Male mit achtzehn Jahren.

Damals war es gewiß kein Mißerfolg – und doch auch kein ganzer Erfolg. Er spielte dann überall herum durch lange Jahre, hatte einen bekannten Namen und wurde hier engagiert und dort. Aber er blieb stets in der zweiten Reihe.

Dann kam der Krieg und er war Soldat. Und nach dem Kriege spielte er wieder. Aber es war grade, wie es vorher gewesen war: aus der zweiten Klasse kam er nicht heraus.

Der reiche, alte Herr, der ihn hatte ausbilden lassen, war bei einigen Ausschnittbüros abonniert und sammelte alle Besprechungen ernster Kritiker. Es war erstaunlich, wie sich diese Herrn widersprachen – ob sie gleich in einem sich stets gleich blieben: daß nämlich dem Künstler irgendetwas fehle. Nur was dies eine grade sei – darüber sagten die Kritiker stets ein anderes. Bei dem einen Konzert wurde seine fabelhafte Technik gelobt, sein musikalisches Empfinden und sein künstlerisches Temperament – bedauert wurde nur der Mangel einer starken Persönlichkeit. An einem andern Abend wurde gerade diese außerordentlich hoch gestellt – dagegen ihm ein gewisser Mangel an Technik vorgeworfen. Wieder einmal sprach man ihm das Temperament ab oder auch ein tieferes musikalisches Gefühl – während zugleich wieder alles andere in den Himmel erhoben wurde.

Der alte Herr, selbst leidenschaftlicher Musikfreund und großer Kenner, mußte zugeben, daß die Kritiker recht hatten – alle. Die so überaus gegensätzlichen Besprechungen der Leistungen seines Schützlings hatten ihn so verwirrt, daß er eines Tages beschloß, sie nachzuprüfen, da war er ein ganzes Jahr lang mit dem jungen Künstler herumgereist und hatte jedes einzelne seiner Konzerte besucht. Er war wirklich so, wie die Zeitungen schrieben: jedesmal fehlte irgend etwas. Bald dieses und bald jenes – aber einen vollen, großen, reinen Kunstgenuß gab auch ihm nicht eines der Konzerte. Er wußte gut: sein Schützling, an dessen Kunst er dennoch glaubte, hatte alles zur Verfügung und alles in so überreichem Maße, wie nur einer in hundert Jahren. Trotzdem: nie konnte er das vereinigen; stets war bald dieses, bald jenes – unkontrollierbar ihm wie dem Künstler selbst – mangelhaft. Er glaubte, daß mit den Jahren das von selber kommen würde, aber die Jahre vergingen und es wurde eher schlechter als besser. Geradezu erschreckend aber trat dieser wechselnde Mangel in den Jahren nach dem Krieg in die Erscheinung.

Dann, an irgendeinem Oktoberabend in Wien hatte Hagen Dierks plötzlich einen ungeheuren Erfolg – er gab große, unantastbare, restlose Kunst. Und das tat er von nun an an jedem Abend, wo immer er spielte. Man rief ihn ins Ausland, erst nach Spanien, Holland und den skandinavischen Ländern. Er war dann der erste deutsche Künstler, der wieder nach London gebeten wurde, und gleich darauf mit nicht dagewesenem Honorar nach Amerika. Jedermann weiß das, und jeder, der ein wenig nur die Musik liebt, hat ihn gehört in jenen Jahren. Der Künstler war unermüdlich in dieser Zeit; nur zwei Monate im Jahre verbrachte er auf seinem kleinen Landgut am Niederrhein – durch zehn Monate spielte er jeden Abend vor Tausenden.

Dann starb er. Ganz unromantisch und prosaisch: er erkältete sich, überhitzt, nach einem Konzert in dem zugigen Künstlerzimmer; bekam Lungenentzündung; war tot nach vier Tagen.

Das ist das, was jeder weiß von Hagen Dierks. Mehr aber wußte keiner.

* * *

Man vergaß ihn nicht, o nein. Niemand, der ihn hörte in diesen drei Jahren, wird ihn vergessen können sein Leben lang. Wenn aber all diese Menschen tot sind, wird er noch weiter leben in Büchern von Musikhistorikern, die sich Mühe geben werden, das Phänomen zu erfassen, das Hagen Dierks hieß – diesen seltenen Meteor, den leuchtendsten seit Paganinis Tagen.

Einer hat das bereits getan. Herr W.T. Reininghaus, eben jener alte reiche Herr, der ihn einst ausbilden ließ. Er kannte ihn besser wie irgendein anderer Mensch und – er versuchte schon bei Lebzeiten seines Schützlings, das Rätsel zu ergründen, obwohl dieser nie ein Wort darüber sprach, auch zu ihm nicht. Der alte Herr glaubte, das Geheimnis gefunden zu haben; er sprach auch gelegentlich davon zu einigen Freunden. Die hörten still zu und lächelten – sie glaubten die Geschichte nicht recht. Wohl die Tatsachen – denn die hatte der alte Herr peinlich zusammengetragen – aber nicht die inneren Zusammenhänge, nicht die Folgerungen, die er daraus zog.

Der alte Herr zweifelte manchmal selber daran; so brachte er seine Geschichte nie zu Papier. Und darum werden tiefschürfende Musikhistoriker noch manchmal versuchen, das Rätsel des Geigenspielers Hagen Dierks zu ergründen; dieses musikalischen Phänomens, das mit achtzehn Jahren völlig fertig war, dann durch vierzehn Jahre – wenn man die Kriegsjahre abrechnet – sich nicht entfalten konnte, stets irgendeinen Mangel zeigte – und immer einen andern. Und das endlich ohne jeden sichtbaren Grund, von heute auf morgen die denkbar höchste Vollendung zeigte und die reinste Kunst in Jahrhunderten.

Aber immerhin mag die Geschichte des alten Herrn und väterlichen Freundes des Künstlers späteren Gelehrten manche Anhaltspunkte geben, die sie benutzen mögen, wie sie wollen.

* * *

Hier ist sie:

An dem Abende seines ersten öffentlichen Auftretens begleitete Herr Reininghaus seinen Schützling zum Konzerthaus. Hagen Dierks, damals achtzehn Jahre und zwei Monate alt, war seiner Sache sehr gewiß. Er hatte jene unendlich glückliche Selbstsicherheit, die so viele junge Künstler in den ersten Jahren ihres Auftretens auszeichnet.

Als sie vor dem Konzerthause die Straße kreuzten, sahen sie ein altes Hufeisen auf den Steinen liegen. Herrn Reininghaus fiel die Anekdote ein, die man von dem Nigger Johnson erzählte, als er mit seinem Manager zu dem berühmten Wettkampfe in Rheno ging, bei dem er den Weltmeister Jeffries niederschlug. So lachte Herr Reininghaus und sprach wie Johnsons Manager: »Hebs auf! Tus in deinen Handschuh – vielleicht bringts Glück!«

Aber der junge Geiger gab dem Hufeisen einen verächtlichen Fußtritt.

Dann, im Künstlerzimmer, zwei Minuten vor dem Auftreten, sagte er plötzlich nachdenklich: »Wer weiß, vielleicht hätte ich das Hufeisen doch aufnehmen sollen!«

Dieser Abend war gewiß ein Erfolg, aber nicht ein so gewaltiger, wie die beiden sich geträumt hatten.

* * *

Es wurde dann in der Folge eine Manie bei dem jungen Geigenspieler, daß er jeden Talisman, den er nur auftreiben konnte, in der Tasche herumtrug. Er hatte rostige Nägel, vierblättrige Kleeblätter, kleine Belemniten; trug goldene Kreuzchen, Georgstaler, Stücke von Jade, Marienbildchen und kleine Holzbuddhas – wovon er nur immer hörte, das probierte er aus. Und warf es weg nach jedem Konzert. Er brauchte nicht die Kritiken am andern Morgen zu lesen: er wußte gut, was ihm gefehlt hatte an diesem Abend oder jenem. Und den kleinen Gott, den er vor ein paar Tagen eingesetzt, stieß er entrüstet wieder herunter von seinem Thron.

Nicht, daß er an die geheimnisvolle Hilfe irgendeines dieser Fetischdinger recht geglaubt hätte. Er mißtraute jedem einzelnen gründlich. Was er glaubte, war nur das: vielleicht gibt es, irgendwo, doch etwas, das mir helfen kann. Vielleicht –

Im Grunde war das nichts als die Elastizität der Jugend. War die ewige Hoffnung, die sich nicht unterkriegen lassen wollte. Er war – künstlerisch – irgendwie krank, und er tat alles, diese Krankheit zu erkennen. Er arbeitete in diesen ersten Jahren fieberhaft und nach jeder Richtung hin. Seine Technik suchte er immermehr zu vervollkommnen. Er studierte dazu auf allen Gebieten, suchte sich zu bilden, wo es nur ging, um seine Auffassung zu erweitern. Sehr bescheiden, gut erzogen, hübsch und von natürlicher Liebenswürdigkeit, hatte er das Glück, daß alle anerkannten Musikgrößen, die er kennen lernte, ihm zugetan waren, – ihm seinen Weg zu ebnen versuchten, ihm gern allerlei Winke, Ratschläge, auch Unterricht gaben. Er tat, was er nur konnte, befolgte jeden Rat, kurierte an sich herum mit den abenteuerlichsten Mitteln. Aber es nutzte nie etwas. Was eigentlich das war, das ihm fehlte, das begriff keiner – und er selbst am wenigsten.

Körperlich krank war er nie. Trotzdem pflegte er seinen Leib nach jeder Richtung, trieb jeden Sport, der nicht seine Hand in zu große Gefahr bringen konnte; besuchte in den Ferien ein Sanatorium nach dem andern. Versuchte die abenteuerlichsten Kuren, um dem Fehler, den er zeitweise in den Nerven vermutete, beizukommen. Aber nichts half, gar nichts.

Dennoch, die Hoffnung blieb: irgendwas wird ihn heilen irgendwo irgendeinmal –

Die Jahre gingen und nichts kam. Einmal – und dann noch einmal – und wieder – dachte er, eine Frau würde ihm helfen können. Aber die »große Liebe« half ihm so wenig wie ein rostiger Nagel oder eine Mücke in Bernstein.

– »Wissen Sie?« erzählte Herr Reininghaus, »vielleicht wars, weil er auch da mißtrauisch war vom ersten Augenblick an. Er glaubte nicht recht an die heilige Macht der Liebe! All seine Geschichten mit Frauen gingen sehr rasch zu Ende – und ich denke, daß er sie fortwarf wie die Goldkreuzchen und Glückspfennige – gleich nach dem Konzert.«

Langsam erlahmte er dann. Nicht daß seine künstlerischen Darbietungen schlechter wurden – sie blieben immer interessant genug. Blieben das, was sie stets waren: Elfzwölftelerfolge! Aber nur das letzte Zwölftel zählt – was nützt die schönste Himmelsleiter, wenn die obersten Sprossen fehlen? Hagen Dierks erlahmte in seiner Hoffnung. Nie verlosch diese ganz, flackerte immer wieder auf – aber nur kurz noch und in immer längeren Zwischenräumen. Er fühlte in langen Monaten, daß er das Höchste nie werde erreichen können – und nur das schien ihm lebenswert.

So kam es, daß ihm der Krieg wie eine Art Rettung erschien, die ihn mit Gewalt aus einem verfehlten Leben herausriß. Er trat sofort als Freiwilliger ein, zeichnete sich aus bei verschiedenen Gelegenheiten, wurde bald Offizier. Oft verwundet, kam er immer wieder zurück an die Front. Dann meldete er sich zum Fliegerkorps, wurde ausgebildet und galt bald als einer der fähigsten und waghalsigsten Kampfflieger. Dazu – das ist bemerkenswert – als der einzige Flieger hüben und drüben, der nie irgendeinen Talisman mitnahm. Es war, als ob er alle diese Dinge, die Glück bringen sollten, auf den Kehricht warf, als er den Frack des Virtuosen mit dem Soldatenrock vertauschte. Bisher stak immer so ein Zauber in seiner Tasche – nun nichts mehr. Alle die Kinkerlitzchen, die ihm schöne Frauen zur Front schickten, verschenkte er sofort. Oft genug sagte er dann dem Kameraden: »Vielleicht nützt es, ich weiß nicht. Jedenfalls – versuchs!« Gefragt, warum er denn selbst nichts versuchen wollte, zuckte er die Achseln. »Nein!« antwortete er. Und sonst nichts.

Doch geschah das keineswegs, weil er nun plötzlich über allen Aberglauben hoch erhaben sich gefühlt habe. An die Möglichkeit einer geheimnisvollen Hilfe durch diesen oder jenen Talisman glaubte er immer noch – genau so viel oder auch genau so wenig, wie er stets daran geglaubt hatte. Es war vielmehr so, daß es ihm nun nicht mehr darum stand, irgendwelchen Zauberschwindel auszuprobieren. Früher – ja, da ging es um die Kunst! Aber jetzt ging es ja nur um sein Leben.

Immer lieber wurde ihm sein neuer Beruf. Schon im dritten Kriegsjahre hatte er seinem alten Freunde seinen Entschluß mitgeteilt, auch nach Friedensschluß dabei zu bleiben und nicht mehr auf das Konzertpodium zurückzukehren. So sehr war ihm der Gedanke an ein Wiederauftreten zuwider geworden, daß er es hartnäckig ablehnte, bei irgendwelchen Konzerten für das Rote Kreuz oder andere wohltätige Zwecke mitzuwirken.

Dennoch wurde er seiner Fiedel nicht untreu. Sie begleitete ihn an allen Fronten; er spielte oft genug, sowie ihn die Lust dazu faßte. Oft vor ein paar Kameraden, meist aber allein. Was er spielte, war Sehnsucht – und manchmal dennoch Hoffnung –

Aber diese letzte Hoffnung schien ihn vollends zu verlassen, als der Frieden ausbrach. Das Heer war zerschlagen, und die Offiziere pochten an alle Türen, um irgendwo Stellung zu finden. Auch er tat das, Hagen Dierks. Sang sein Liedchen wie es die andern taten: man möge ihm nur Gelegenheit geben, sich einzuarbeiten, dann werde er schon zeigen, was er leisten könne. Aber man lachte ihn aus: man habe Dutzende von Bewerbern für den Posten – und er sei der einzige, der einen guten Beruf habe und der sich jeden Tag leicht durchbringen könne. Und sie machten den Witz immer wieder: »spielend« könne er das – und freuten sich darüber.

Er suchte, suchte – und fand nichts. Es blieb ihm nichts andres übrig: er mußte zurück auf das Podium.

So stand er da, wo er vor fünfzehn Jahren gestanden hatte. Nur – damals war er sehr jung. Heute –

Heute spielte er, um sein Leben zu bestreiten. Er lebte so bescheiden, wie es nur möglich war, schränkte sich auf allen Seiten ein, um nur möglichst wenig vor die Öffentlichkeit zu kommen. Seine großen Vorzüge als ernster Künstler verschafften ihm bald genug Engagements – er war, was er stets, gewesen: gute zweite Klasse. Aber zugleich trat sein großer Mangel immer deutlicher in Erscheinung.

Es war um diese Zeit, etwa zwei Jahre nach dem Kriege, daß er Inge Asten kennen lernte. Er war etwa acht Wochen mit ihr zusammen – oder doch: er kannte sie so lange. Ob zwischen den beiden ein regelrechtes Liebesverhältnis bestand, vermochte Herr Reininghaus nicht mit voller Gewißheit festzustellen. Seiner Vermutung nach handelte es sich, wenigstens was Hagen Dierks betrifft, nur um ein ganz flüchtiges Abenteuer, bei dem kaum ein tieferes Gefühlsmoment mitspielte. Hier haben seine Nachforschungen beinahe nichts ergeben, während sie auf der andern Seite, der der jungen Dame, eine Reihe von immerhin interessanten Tatsachen zutage förderten.

Fräulein Inge Asten erschien eines Tages in einer Münchener Künstlerpension. Papiere hatte sie nicht; sie war von Riga geflohen, während der Periode der Bolschewistenherrschaft in der Stadt. Ihre Mutter war an ihrer Seite durch eine verirrte Kugel auf der Straße erschossen, ihr Vater und ihre beiden Brüder im Gefängnis zu Tode gequält worden. Sie lebte in München von dem Verkauf von Schmucksachen, wie so viele andere vertriebene Balten und Russen in jenen Jahren. Sie verkehrte mit wenigen jungen Malern und Musikern, die sie eben in der Pension kennen gelernt hatte, darunter Hagen Dierks.

Ihr Alter hatte sie auf zwanzig Jahre angegeben. Sie war sehr blauäugig, sehr weißblond und hatte die pfirsichblütene Gesichtsfarbe ihrer Nordrasse. Nichts von all dem Entsetzlichen, das sie durchgemacht, hatte sich ihren Zügen eingeprägt, noch ließ ihr Wesen etwas davon merken. Sie sprach fast nie davon. Nur mit Mühe hatte die Dame, die der Pension vorstand, Einzelheiten aus ihr herausgeholt – das war, als sie einige positive Angaben haben mußte, um dem Flüchtling eine längere Aufenthaltserlaubnis in München erwirken zu können. Dann freilich hatte das junge Mädchen in ihrer Gegenwart dem betreffenden Beamten eine solche Fülle grauenhafter Dinge erzählt, daß die beiden vom bloßen Zuhören seekrank wurden. Aber alles ohne jede Erregung, ganz ruhig, einfach und still – doch so, daß man nicht einen Augenblick an der absoluten Wahrheit all dieser Entsetzlichkeiten zweifeln konnte. Als die Pensionsdame dann mit ihrem Schützling in dem Paternoster des Polizeigebäudes hinunterfuhr, fiel ihr ein, daß Inge Asten nur über das Schicksal ihrer Familie, ihrer Verwandtschaft und Freundschaft gesprochen hatte – aber nicht ein einziges Wort über sich selbst gesagt hatte. Nur das, was ihre Augen gesehn hatten, hatte sie berichtet – nichts aber von dem, was ihr selbst geschehn war. Sie fragte sie also darnach. Die junge Baltin wurde sehr wortkarg; es schien, als ob sie nur antworte, um gegen die alte Dame, die sich ihrer so freundlich annahm, nicht unhöflich zu erscheinen. Aus ihren vagen Antworten konnte diese nichts Sicheres entnehmen, bestand auch nicht weiter darauf, um nicht weit offene Wunden noch mehr aufzureißen. Dennoch hatte sie das bestimmte Empfinden, als ob die persönlichen Erfahrungen ihres Pfleglings noch weit schlimmer sein mußten, als all das, was sie dem Beamten berichtet hatte. Irgendwie gewann sie dabei – durch ein paar hingeworfene Worte – den Eindruck, als ob die junge Baltin von einer Horde unmenschlicher Kerle auf das schwerste mißhandelt und vergewaltigt worden sei. So stark war diese plötzliche Erkenntnis, daß sie die ganze furchtbare Szene deutlich vor sich sah – so sehr, daß sie ihre Gedanken sofort aussprach und, sprudelnd und hastend, auf den Kopf dann dem jungen Mädchen das zusagte. Da faßte Inge Asten ihren Arm mit einer Hand, die leise zitterte. »Fragen Sie mich nicht!« bat sie. Und die alte Dame nickte und preßte sie an sich und küßte sie. Sie schluchzte und weinte dazu – und es war Inge Asten, die ihr die Tränen von den Wangen trocknete.

* * *

Marcel Allaround brachte die beiden zusammen, Hagen Dierks und Inge Asten. Er hieß nicht so; er hatte sich diesen Namen nur fürs Varieté zugelegt. Moritz Benedict nannte er sich im bürgerlichen Leben – aber jeder sagte, daß er noch anders gehießen habe, als er vor manchen Jahren aus Budapest gekommen war. Immerhin: Allaround war ein guter Name für ihn: er ritt in allen Sätteln. Er hatte Medizin studiert und alle Examina gemacht, ohne jemals sich um praktische Ausübung zu kümmern. Er spielte ein halbes Dutzend Instrumente, dirigierte und komponierte auch; dabei zeichnete er, malte, radierte und schrieb zwischendurch Gedichte und Theaterstücke. Er gab gern hypnotische Sitzungen; seinen Lebensunterhalt aber verdiente er am Varieté – als Grotesktänzer. Mit dem Geiger verband ihn eine leichte Freundschaft – vom Kriege her, als sie beide Flieger waren.

Damals hatte ihm Dierks ein geweihtes Kreuzchen geschenkt, das ihm eine seiner Verehrerinnen gesandt hatte. Marcel wollte wenig davon wissen. »Paßt nicht für mich,« sagte er. »Habs schon mit dem Mogen Dovid versucht – nicht mal der hat geholfen!« »Versuchs immerhin!« lachte Dierks, »Jedesmal ist was los mit deiner Klamotte – keiner hat mehr Pech wie du! Es ist ein Wunder, daß sie dich nicht längst abgeknallt haben. Versuchs also, vielleicht ists grade das Richtige für dich.«

Murrend steckte Marcel das Goldkreuzchen ein. An dem Tage klappte es und es klappte immer seither. Er ließ es nicht mehr aus der Westentasche und schwor heilige Eide darauf.

Als er Jahre später den Geiger in München wieder traf, merkte er gleich, daß irgendwas nicht stimmte – und fand bald heraus, was es war. »So ist es nun einmal,« schloß Dierks resigniert. »So ist es – und so wird es bleiben. Schicksal – und fertig!«

»Nein, nicht fertig!« rief Marcel. »Schicksal – meinetwegen – aber das fliegt so, wie der Wind bläst!« Er schwieg ein paar Augenblicke, überlegte. Dann sagte er: »Ich kannte einmal eine – Inez hieß sie. Ein großes Luder, nahm den Leuten das Geld ab und warf es zum Fenster hinaus. Aber ihr Handwerk kannte sie gut – machte es fast zu einer Kunst. Sie hatte die beste Sammlung pornographischer Japandrucke, die es gab in Europa; ihre schwarze Folterkammer war erstaunlich. Es gab keine wildeste Perversität, die sie nicht übte – nie war eine raffinierter als sie. Die große Inez –«

»Denkst du, daß mich das sehr interessiert?« sagte der Geiger.

»Warte nur,« rief der andere. »Es wird dich interessieren.« Und er fuhr fort, das Lob der Priesterin zu singen. Erzählte von ihrer Bibliothek, von ihren Gastmahlen, beschrieb ihr Schlafzimmer und ihre Marterwerkzeuge. »Sie ist die einzige, die je wissenschaftlich arbeitete. Sie war während zweier Jahre Sekretärin bei Lombroso – und fast ebenso lange bei Krafft-Ebing in Wien. Alle Psychiater Europas kannten sie – und viele schickten ihre Patienten hin. Denn das war der Inez' Marotte: kranke Männer zu heilen.«

»Wovon?« fragte Dierks.

Marcel sagte: »Frage! Vom Verlust ihrer Mannheit natürlich – wovon sonst? Jeder Sexualpsychologe hat das Sprechzimmer voll sitzen von solchen Leuten – vielen darunter, mit denen er nichts anzufangen weiß. Oft jungen, völlig gesunden, starken – irgendein Rädchen ist los und da gehts nicht mehr. Wenn die Ursache der Impotenz sich feststellen läßt, ists ja leicht, zu helfen, oder wenigstens zu verkünden, daß aus dem und dem Grunde eine Heilung unmöglich sei. Wenn aber der ganze Bengel so gesund und kräftig sich durchs Leben sielt wie ein Aal im Teich – wenn man weiter nichts rauskriegen kann, als daß der Kerl schrecklich gern möchte und nur nicht kann – wenn man nur so allgemein auf Nerven hin behandelt, auf Neurasthenie, auf eine mutmaßliche Zwangsvorstellung – ja dann ist der Erfolg ein Lotteriespiel. Solche unmöglichen Fälle aber behandelte Inez. Das war ihr Steckenpferd – und ihr Stolz zugleich. Sie sprach mit solchen Leuten, stundenlang. Dann sperrte sie sich ein, empfing niemanden, zermarterte ihr Gehirn. Und fand – am nächsten Tage schon – manchmal auch erst nach Wochen – irgendeinen wilden Wahnsinn. Etwas ganz Unmögliches, lächerlich Absurdes oft – bald ein unglaublich Schmutziges und bald ein fast kindlich Naives – aber immer etwas, was diesem Mann das wiedergab, ohne das ihm das Leben nicht mehr lebenswert schien. Ah – ich glaube, diese Frau hätte selbst Abälard wieder glücklich machen können – dann freilich hätten wir nie Heloisens hübsche Episteln lesen können!«

Der Geiger lachte. »Herrgott – in der Beziehung hat sich noch keine Nonne über mich beklagt! Ich sehe also nicht recht ein, was deine Zauberin –«

»Die nicht!« unterbrach ihn der andere. »Die kann kaum helfen in deinem Falle. Aber die Sache ist am Ende genau dieselbe. Nimm so einen Mann – du hast sicher dutzende kennen gelernt mit den Jahren. Etwas ist in Unordnung: plötzlich oder auch ganz allmählich gehts nicht mehr. Manchmal lacht er – und manchmal heult er, wie grade sein Temperament ist. Läuft zu Freunden, zu Ärzten. Doktert an sich herum. Versucht tausend Mittel und noch eins. Frißt jeden Rat und jede Medizin – wird immer unglücklicher und verzweifelter. Und keiner kann ausfinden, wo der Fehler steckt. Bis vielleicht so ein Freudianer kommt und den Schleier lüftet – aber ich sage dir, die Methode der Inez ist mir lieber. Die psychoanalytische Kur nimmt verdammt viel Zeit weg – und ich hab da manche Heilung gesehn, die nur sehr scheinbar war. Was hats dir denn geholfen? Die Inez aber bekümmerte sich den Teufel um Oedipus- und Narzißkomplexe, sie dachte nicht daran, das Unkraut auf dem Seelenacker zu suchen und dann auszujäten. Sie ließ wachsen, was wachsen wollte, je wilder je besser. Sie lief herum mit ihrer Wünschelrute und suchte. Fand einen Quell und bohrte tief, ließ das Wasser hervorsprudeln und machte den dürren Acker von neuem blühn. Dieser geheime Quell sah manchmal sehr trübe aus, war oft recht schmutzig und giftig – aber es scheint ja, als ob Mist und Schmutz und Blut die besten Düngmittel seien. Wie immer er war – er kam aus der Seele selbst und war sicher für diesen Leib das einzig richtige Mittel.

»Nun sieh: etwas ist los mit deiner Kunst! Du hast dich, durch all die Jahre, genau so benommen, wie alle die armen Kerle, die dem Traume ihrer Mannheit nachliefen. Hast gelacht und geheult – vermutlich beides. Hast gearbeitet an dir, hast gedoktert, hast dein Leben vergiftet, bist herumgelaufen, hast allen Rat eingestopft. Hast dich überfressen an Medizin – bis sie dir zum Ekel wurde. Dann: rostige Nägel, Jadestücke, Georgstaler, Heiligenbildchen – jeder dümmste Blödsinn war dir recht; nichts hast du unversucht gelassen. Hast dich elend gequält, warst sehr unglücklich und verzweifelt. Und nichts half – bis zu dieser Stunde – gar nichts! Stimmts?«

Hagen Dierks seufzte: »Es stimmt!« sagte er. »Weißt du eine Inez für impotente Geigenspieler?«

Dr. Marcel Allaround wiegte den Kopf. »Vielleicht – vielleicht! Ich weiß, wie sie arbeitete. Wie sie erst alles erwog – nur mit dem Verstand. Wie sie mit beispiellosem Gedächtnis aus ihrer Erfahrung schöpfte, Vergleiche anstellte, jeden kleinsten Umstand scharf untersuchte. Und wie sie schließlich sich somnambul in sich selber verkroch, tief untertauchte in irgendeinem unfaßbaren Glauben. So fand sie, was so viele Professoren von Weltruhm vergeblich gesucht hatten: das seltsame Heilmittel für ihre Kranken.«

»Und du,« sagte der Geiger, »du willst –?«

»Ja, das will ich!« nickte Marcel. »Ich habe es immer mal versuchen wollen. Nur weißt du, es stand mir nicht drum in dem Spezialgebiet der schwarzen Inez. Ob halbe Männer ganze Männer werden – du lieber Gott, das ist mir höchst gleichgültig. Aber ich meine, es wäre der Mühe wert, aus dem halben Künstler Hagen Dierks einen ganzen zu machen! Und darum will ichs versuchen.«

»Also schön!« lachte der Geiger. »Das ist sehr lieb von dir. Kann ich irgendwie dabei mithelfen?«

Dr. Allaround schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er ruhig. »Oder doch nur, wenn du die ganze Sache nicht gar so lächerlich nehmen wolltest. – Ob mirs gelingen wird, weiß ich nicht. – Aber versuchen werde ichs, ob du nun magst oder nicht.«

* * *

Zwei Tage später stellte er dem Freunde Inge Asten vor.

»Hat die etwas mit deinem Versuche zu tun?« fragte der Geiger.

Marcel antwortete: »Das weiß ich nicht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Übrigens gehts dich nichts an. Sei lieb – spiel ihr vor oder schenk ihr ein paar Konzertkarten; sie kann sichs nicht leisten, welche zu kaufen und sie verdient, daß man sich etwas kümmert um sie.«

An diesem Abend fuhr er auf einen Monat nach Hamburg, um ein Gastspiel zu absolvieren.

* * *

Was er wußte, erfuhr Herr W.T. Reininghaus von der alten Dame, die die Pension leitete, von Dr. Benedict-Allaround, sowie von ein paar Leuten, die auch in der Pension wohnten und die die eine oder andere Einzelheit beisteuerten.

Sehr übereinstimmend waren diese Berichte in vielen Stücken. So, daß Inge Asten im allgemeinen sehr still und zurückgezogen gelebt habe, oft wochenlang nur zu den Mahlzeiten aus ihrem Zimmer herausgekommen sei. Daß sie eigentlich immer wie im Traume herumgelaufen sei und kaum jemals sich über etwas richtig gefreut oder herzhaft gelacht habe. Jede kleine Einladung habe sie zwar stets dankbar angenommen – habe auch immer wieder einen ernsthaften Versuch gemacht, sich mit diesem oder jenem zu beschäftigen, um sich auf irgendeine Weise zu zerstreuen. Aber das sei ihr kaum je gelungen. Alles dauerte nur für eine kurze Weile – dann gab sie es auf.

Am längsten, erzählte die alte Dame, habe sie einmal ihr zuliebe ausgehalten. Sie sei auf einige Zeit zu dringendster Erholung aufs Land gegangen; die junge Baltin habe sich erboten, während dieser Zeit die Pension zu leiten. Und sie habe das in geradezu musterhafter Weise getan. Der Urlaub war auf vier Wochen berechnet – zwei Tage vor seinem Ende habe Inge Asten sie durch ein dringendes Telegramm zurückgerufen. Es war nichts passiert; alles war in denkbar bester Ordnung – nur würde es nicht einen Tag länger gehn, erklärte das junge Mädchen.

In andrer Beziehung aber liefen diese Berichte diametral auseinander. So sagte ihm ein junger Jurist, daß er nie eine Frau gesehn habe, die einen so instinktiven Abscheu, ja Ekel vor jeder Berührung eines Mannes gehabt habe. Diese Beobachtung wurde von der Pensionsdame bestätigt. Sie habe es oft bemerkt, erzählte diese, daß Fräulein Asten sich habe überwinden müssen, einem fremden Herrn, der ihr grade vorgestellt wurde, auch nur die Hand zu reichen. Sie habe mehr wie einmal gesehn, wie sie zusammenzuckte, sich schüttelte und aufsprang, wenn sie unversehens ein Herr in der harmlosesten Weise berührte.

Demgegenüber erklärte eine junge Sängerin, daß das alles blühender Unsinn sei. Sie wisse ganz genau, daß Inge Asten ihre Tugend nur im Hause selbst zur Schau getragen, aber außerhalb recht wenig Gebrauch davon gemacht habe. Sie habe Herrn, die sie kaum gekannt habe, von Zeit zu Zeit besucht – und dann weiter keine großen Umstände gemacht. Und sie nannte lachend die Namen einiger Maler und Schauspieler, denen sie ihre Liebe – stundenweise – geschenkt habe.

Dr. Benedict-Allaround zuckte die Achseln, als ihn Herr Reininghaus dieserhalb befragte. »Das mag schon sein!« meinte er. »Die beiden Beobachtungen sind vermutlich alle beide richtig; schließen sich jedenfalls nicht aus. Ihr beispielloser Ekel vor einer körperlichen Berührung von Männern war ganz sicher echt; ich habe das selbst dutzendmal beobachtet. Es ist sehr leicht erklärlich, wenn das, was sie der Pensionsdame erzählte – oder wenigstens zugab – richtig ist; und ich habe nicht den leisesten Grund, daran zu zweifeln. Ich vermute vielmehr, schließe das aus gelegentlichen Andeutungen, die sie mir gegenüber machte, daß es mit der einen schauderhaften Szene, die unserer guten Pensionsmama ein paar schlaflose Nächte kostete, also noch in die Ferne wirkte, nicht getan war. Fräulein Asten hat vielmehr, um den Versuch zu machen, ihren im Gefängnis schmachtenden Vater und Brüdern zu helfen, mit einem der Kerle, vermutlich einem etwas höherstehenden, eine Art Pakt geschlossen – vielleicht auch, um so wenigstens den andern zu entgehen. Das mag durch Wochen so gegangen sein, bis die Mobherrschaft in Riga zusammenbrach. Einen ihrer Brüder, einen Jungen von fünfzehn Jahren, hat sie auch wirklich aus dem Gefängnis retten können – er starb freilich schon, ehe sie nach Königsberg kamen.

Das aber erklärt das eine wie das andere. Erklärt ihren Widerwillen gegen alles Männliche, der oft bis zum Übelwerden sich steigerte – und zugleich auch, zu gewissen Perioden, das nymphomanische Sichaufdrängen und Sichhingeben an fast völlig unbekannte und ungeliebte Männer.«

Besonders über ihr Verhältnis zu dem Geiger befragt, bedauerte Dr. Benedict, keine genaue Auskunft geben zu können, da er hur auf Mutmaßungen angewiesen sei. Er verreiste am selben Abende, als er die beiden miteinander bekannt gemacht hatte, war über sechs Wochen fort und sah Fräulein Asten erst wieder, als Hagen Dierks schon München verlassen hatte. »Doch ist ganz gewiß,« sagte er, »daß sie ihn liebte – ja, daß er der einzige Mann war, den sie jemals geliebt hat. Auf der andern Seite habe ich die feste Überzeugung, daß sie grade aus diesem Grunde sich ihm nicht an den Hals warf. Wie weit sie einer großen Liebe fähig war, weiß ich nicht; doch begriff sie sicher recht gut, daß der Leib, den sie in Studentenbuden und Malerateliers oft verschenkt hatte, keine große Gabe für den Mann sei, den sie wirklich liebte. Und sie liebte den Menschen wie den Künstler Hagen Dierks – an dessen große Kunst sie fest glaubte. Als ich Hagen ihr verstellte, geschah es sicher mehr um ihret- als um seinetwillen – aus einer Art gutmütigen Mitleids heraus. Was ihn betrifft, so war meine Empfindung, daß ihm diese Frau vielleicht einmal helfen könne, nur eine sehr vage und ungewisse. Ich fühlte, daß in beiden Schicksalen eine gewisse Ähnlichkeit lag – so seltsam das auch klingen mag; und ich glaubte, daß sie irgendwie harmonieren würden. Das taten sie. Doch vergaß ich, daß, falls sich Fräulein Asten wirklich in ihn verlieben würde, gerade diese Liebe ihrer aus vielen Wunden blutenden Seele eine neue hinzufügen mußte, die so schlimm brannte, wie nur eine der andern.«

In der Tat machte Inge Asten bei dieser Unterredung – die übrigens die letzte war, die sie mit Marcel Benedict oder irgendeinem andern Menschen hatte – nicht das geringste Hehl aus ihrer starken Zuneigung zu dem Geiger. Zugleich sprach sie sich ebenso offen darüber aus, daß diese Liebe von ihm kaum geteilt würde. Hagen Dierks sei sehr lieb und gut zu ihr gewesen – diese wenigen Wochen seien die schönsten ihres Lebens gewesen. Dennoch bilde sie sich keineswegs ein, daß seine Gefühle zu ihr über eine zwar nicht ganz gleichgültige, aber doch nur lauwarme Freundschaft hinausgingen. – Die ganze Unterhaltung drehte sich nur um die Person des Geigers. Sie fragte immer von neuem – und Dr. Benedict gab ihr bereitwillig jede Auskunft. Er erzählte ihr von der grotesken Lebenstragikomödie des Künstlers und vergaß auch nicht all die kleinen Zaubermittel, die er jetzt so konsequent verachtete, nachdem er sie früher der Reihe nach durchprobiert hatte. Er zog dabei sein eigenes Goldkreuzchen heraus, das ihm der Freund geschenkt und das ihm selbst so gute Dienste geleistet hatte.

»Glauben Sie dran?« fragte die junge Dame.

»Glauben?« lachte er. »Welche Frage! – Manchmal lache ich drüber. Manchmal kommt mirs für Augenblicke vor, als obs für mich kein besseres Heil- und Schutzmittel gäbe auf der Welt.«

Er ereiferte sich. Bah, er wisse recht gut, daß jeder darüber lache. Aber lache nicht jeder über die Torheiten der andern – und nur deshalb, weil sie ihm fremd und unbegreiflich erschienen? Jeder Primaner wisse heute etwas von den Perversitäten der Sexualpsyche – nun: es brauche dazu des Geschlechtes nicht! Perversitäten der Seele gäbe es überall und nach jeder Richtung hin. »Nur auf das eine kommt es an,« rief er »für jeden krummsten Topf den passenden Deckel zu finden. Gelingt das, so endet alles in schönstem Glück, genau wie im ›Sommernachtstraum‹!«

Dann erzählte er ihr, wie er Hagen Dierks erzählt hatte, von der Methode seiner alten Freundin Inez. Verstand – Glauben – Erfahrung, das sei das dreieinige Zeichen und der große Schlüssel zum Glück.

Und dann plötzlich –

* * *

Der Portier des Grand Hotel lief Hagen Dierks nach, als er gerade über den Kärntnerring ging, um zu seinem Konzert zu fahren. Gab ihm einen Eilbrief aus München.

Es waren nur drei Zeilen: »Ich bitte Dich, beiliegendes am Abend Deines Konzertes in der Tasche zu tragen, öffne es nicht, ehe Du nicht Nachricht von mir hast. Marcel.«

Das »Beiliegende« war in weißes Papier gewickelt und sehr sorgfältig versiegelt. Hagen Dierks gab es mit dem Brief zurück in den Umschlag und steckte diesen in die Tasche. Zwei Minuten drauf hatte er es völlig vergessen.

Aber er dachte daran am andern Morgen – denn dieses Konzert brachte ihm den großen Erfolg und machte ihn in wenigen Stunden zu dem besten Geigenkünstler seines Jahrhunderts. Er fühlte das, als er die Geige ans Kinn setzte, und wußte es fest nach dem ersten Stück.

Etwas war geschehn, ein Großes, Seltsames. Und es war ihm ein Geschenk gegeben worden, das nun sein eigen war und das ihm nie wieder jemand würde nehmen können.

Die Menschen rasten. Ließen ihn nicht mehr herunter vom Podium, verlangten ihn wieder und immer wieder. Er spielte unermüdlich – er hätte die ganze Nacht durchspielen können. Er gab eine Zugabe um die andere; und als man das Licht ausdrehte, um das Publikum zum Gehn zu bewegen, schrien sie doch nach ihm, und er spielte im Dunkeln weiter. Dann zerrissen sie ihn fast in Stücke im Künstlerzimmer.

Wie er nach Hause kam, wußte er nicht. Aber er lag in seinem Bett, als er aufwachte. Er besann sich auf alles – und dann fiel ihm auch der Brief Marcel Benedicts ein. Er nahm gleich das Telephon und gab ein Telegramm an ihn auf. gab Bericht über sein Spiel und bat um sofortige Nachricht.

Bis die ankam, vergingen vier Tage, während der er zwei weitere Konzerte hatte.

Beide mit demselben rauschenden Erfolge.

Dann kam der Münchener Brief. Er las:

»Lieber Freund Hagen!

Ich versprach Dir zu helfen. Daß es mir gelang, ist nur zum kleinen Teile mein Verdienst. Du magst das Ding nun aus dem Papier nehmen: es ist nichts als ein kleines Stückchen gelber Seidenschnur. Ein kleines Teilchen des Stricks, an dem sich Fräulein Inge Asten vor nun zwölf Tagen erhängt hat. Ich bat Dich, das Papier vorher nicht zu öffnen, weil ich sehn wollte, ob die von mir vorausgesehne Wirkung auch dann eintreffen würde, wenn Du nicht die leiseste Ahnung davon hattest, was Du eigentlich in der Tasche trugst.

Hier die kurze Schilderung der Vorgänge. Ich traf Fräulein Inge Asten nach meiner Rückkehr nach München in der Pension, in der ich wieder abstieg, und ich lud sie zum Abendessen ein. Wir speisten in der Odeonbar, sprachen eigentlich nur über Dich – das einzige, was sie zu interessieren schien. Ich geb Dir mein Wort, daß ich den pathetischen Schluß keineswegs beabsichtigte, daß ich überhaupt ohne jede Absicht mit ihr sprach: das alles machte sich aus sich selbst.

Ich würde, im Gegenteil, mir viel großartiger vorkommen, mir ordentlich imponieren – wenn ich die ganze Sache inszeniert und von vornherein beabsichtigt hätte, aber leider war das gar nicht der Fall. Obwohl ich die alleinige Ursache, obwohl ich der durchaus ›Schuldige‹ bin, bin ich dennoch völlig ›unschuldig‹, da mir in meiner – soll ich sagen: Dummheit? – auch nicht für einen Augenblick während des ganzen Abends zum Bewußtsein kam, wie wundervoll geschickt ich für Dich arbeitete. Als ich sie nach Hause brachte, und mich vor ihrer Zimmertür von ihr verabschiedete, hatte ich auch nicht die allerleiseste Ahnung davon, daß ich irgendetwas getan hatte!

Also: wir unterhielten uns von Dir. Das heißt: ich erzählte – und sie hörte zu. Da ihr Interesse für Dich und Dein Spiel wirklich ein tiefgehendes war – ich denke, sie hat Dich sehr geliebt – so machte es sich, daß ich ihr Dich schilderte, wie Du bist, den Künstler und den Menschen, und lange und breit auch von dem seltsamen ›Mangel‹ erzählte, der Dein Leben vergiftet hatte. Ich sagte ihr, daß ich Dir versprochen habe, zu helfen, und daß ich Dir von der Methode meiner alten Freundin erzählt habe –

– ein Versprechen übrigens, das ich nicht hielt und eine Methode, die ich nicht anwandte –

Glauben, Verstand, Erfahrung –

Und dann plötzlich kam es. Ich sagte ihr, daß Du alle perversen Zauberkinkerlitzchen ausprobiert habest – Marienbildchen, Seepferdchen, Nephritsplitter – da fragte sie, ob Du es jemals mit dem Strick eines Erhängten versucht habest? Ich weiß nicht, ob das je der Fall war, doch ich sagte: ja! Aber es hätte so wenig genützt, wie alles andere! ›Es muß eben in irgendeinem Zusammenhange stehn,‹ sagte ich, ›sonst wirds nie helfen! Mein Kreuzchen half mir – vielleicht nur, weil grade er mirs gab! Was soll ihm ein Strick nützen, an dem irgendein Mensch gehangen, den er nie gekannt? Wenn sich für ihn jemand aufhängen würde – nur für ihn – und nur zu dem Zweck, daß ihm die Schnur endlich das Glück bringen soll, das er seit soviel Jahren vergebens sucht –‹

Ich redete das so hin, ohne mir das allergeringste dabei zu denken. Auch fiel mir nicht im entferntesten auf, daß diese Worte einen besonderen Eindruck auf sie gemacht hätten. Sie blieb ruhig wie zuvor, und wir plauderten weiter noch zwei Stunden lang. Dann gingen wir nach Hause – ich legte mich schlafen und dachte mit keinem kleinsten Gedanken daran, daß meine Worte den Grund dazu gaben, daß, ein paar Zimmer nebenan, ein schönes junges Weib für Dich sein Leben opferte.

Man fand sie am nächsten Mittag. Dazu einen Brief an die alte Pensionsinhaberin, die sie in wirklich rührender Weise für die Unannehmlichkeiten um Verzeihung bat. Sie hatte all ihre Sachen hübsch geordnet – übrigens genug Schmuck, um noch für zwei Jahre leben zu können. Einen Grund für ihre Tat gab sie nicht an. Sie bat darum, verbrannt zu werden – all ihre Habseligkeiten vermachte sie der alten Dame. Für Dich – oder für mich – kein Wort.

Wir hatten einige Aufregung in der Pension, Scherereien mit der Polizei usw. Endlich wurde die Leiche freigegeben und ist inzwischen verbrannt worden.

Das, lieber Freund, ist alles.

Geholfen ist Dir. Wie – das weiß ich nicht – Nichteinmal recht wer es tat. Aber das ist gleichgültig. Was Du jetzt hast, war immer da: nie kann aus einem Menschen etwas herauskommen, was nicht in ihm steckt. ›Gegeben‹ hat Dir also niemand etwas; nur: irgendeine verschlossene Tür wurde aufgestoßen –

Dein Marcel B.«

* * *

Hagen Dierks fuhr am nächsten Tage nach München. Er traf seinen Freund dort nicht; der war wieder fort auf Gastspiel. Aber er sprach mit der alten Dame und bekam von ihr die Urne mit der Asche. Sie wollte zunächst sich durchaus nicht davon trennen; erst, als der Geiger erklärte, daß er das Studium ihres einzigen Neffen bestreiten wolle, eines armen Burschen, der eben das Gymnasium verlassen hatte, glaubte sie, dies Angebot nicht zurückweisen zu dürfen, und willigte ein.

Die Aschenurne gab Hagen Dierks einer Bank zur Aufbewahrung; holte sie aber nach wenigen Wochen wieder ab, als er von seiner ersten kurzen Gastspielreise zurückkehrte. Um diese Zeit erwarb er das kleine Landgut am Niederrhein; dorthin brachte er all seine Habseligkeiten und auch die Urne. Sie fand in dem Garten Aufstellung, auf einem niedern Sockel. Geißblatt ließ er herumpflanzen.

Zwei Monate eines jeden der drei nächsten Jahre verbrachte der Geiger auf diesem Landsitz, und zwar stets August und September. Er hatte nie Besuch, sah während dieser Zeit keinen Menschen mit Ausnahme einer Frau in mittleren Jahren, die ihm die Wirtschaft führte. Es war die ganz alleinstehende und vollkommen mittellose Witwe seines ersten Musiklehrers, der im Kriege gefallen war. Sie war zu ihm ins Künstlerzimmer gekommen, um seine Hilfe zu erbitten, gerade als er das Landgut gekauft hatte – er engagierte sie sofort. Nur seine Agenten kannten seine Adresse, und die hatten strengen Auftrag, jeden Besuch ihm fernzuhalten. Anfang Oktober zog er hinaus – dann gehörte er wieder der Welt.

Er ließ seiner Wirtschafterin genug Geld zurück, um während seiner Abwesenheit Haus zu führen. Während dieser Zeit erhielt sie stets nur einen einzigen Brief von ihm, der sich jedes Jahr wiederholte und immer den gleichen Wortlaut hatte:

Liebe Frau Walter,

vergessen Sie nicht, für den Garten zu sorgen. Es sollen viele Blumen blühn. Nehmen Sie eine kleine Handvoll Asche aus der Urne und streuen Sie die über alle Blumenbeete.

Mit besten Grüßen
Ihr H. Dierks.

Dieser Brief kam regelmäßig im frühen Frühling an; Frau Walter befolgte gewissenhaft seine Anweisung.

Und die Blumen blühten –

* * *

Einmal an jedem Tag ging Hagen Dierks in den Garten. Nicht um eine bestimmte Stunde – meist am späten Nachmittage oder am Abend. Ein paar mal früh auch am Morgen und einmal oder zweimal gerade um Mittag in leuchtender Sonnenpracht.

Dann spielte er.

Manchmal auch stand er in Mondnächten auf. Nahm seine Geige, ging ans Fenster. Spielte hinaus in den Garten.

Die Witwe des Musikers Walter fragte nicht. Hagen Dierks, den sie als kleinen Jungen gekannt hatte, war sehr gut und freundlich zu ihr. Er war nicht verschlossen, aber still und schweigsam, und sie begriff, daß dies einsame Landgut, diese Urne im Blütengarten und dieses Geigenspiel etwas sei, das ihm gehöre, und an das sie nicht rühren dürfe. Über alles sprach sie mit ihm – nur dieser Kult der Geige wurde nie erwähnt zwischen ihnen.

Doch ließ sie ihre Arbeit ruhn und unterbrach ihren Schlaf, wenn er spielte. Sie zeigte sich nie, saß hinter den Vorhängen ihres Fensters, lauschte still und ergriffen. Sie hatte einst selbst ein Konservatorium besucht und war durch sechsundzwanzig Jahre die Frau eines Orchestergeigers gewesen – so kannte sie gut jedes einzelne der Stücke, die er spielte.

Oft hatte sie das gehört – und von vielen guten Künstlern.

Aber das, was sie hörte in diesen Sommerwochen – ah, ein ganz anderes war das.

Manchmal spielte er Wieniawski; so weich war der Sommerabend. Mazurken, Polonaisen oder die Legende. Die Mollakkorde schmeichelten durch die Zweige, und alle Düfte des Gartens wiegten sich in schwebendem Reigen. Unbestimmte, lyrische Sehnsüchte –

Oder sie hörte ihn Boccherini spielen – und dann die Mozartkonzerte. Wie ein Dank für den Tag – oder das Leben. Fröhlich und sorgenlos – dann brummten die blanken Rosenkäfer.

Einmal, um Mittag, als das Gewitter immer noch nicht kam und die Schwüle wie Nebel drückte, spielte er Brahms-Joachim. Gerade dann: die ungarischen Tänze.

Jeden Tag spielte er und manche Nacht. Spielte Veracini, Giacomo di Paradiso, Geminiani. Spielte Tartinis Teufelstriller – und es schien Frau Walter, als ob zwei grüne Augen aufleuchteten im Gebüsch.

Palestrina und Orlandus Lassus –

Dann wieder spielte er Schubert. Ein Lied und noch ein Lied. Viele, viele. Die Frau hinter dem Vorhang preßte die Hände zusammen. Zuletzt war es der ›Leiermann‹. – Und sie saß noch lange da, unbeweglich; eine um die andere liefen die Tränen über ihre Wangen. Sie starben nicht, diese Klange – lebten weiter durch die stillen Lüfte.

Er spielte Spohr und Mendelssohn und die Schumannsche Phantasie. Aber nur in tiefer Nacht spielte er Beethoven – immer vom Fenster aus.

Erst die Romanzen und hinterher das D-Dur-Konzert. Sie dachte: das ist kein Mensch mehr, der so spielt. Dies Adagio in G –

Nun ist er allein, dachte sie – nur er ist da und die Gottheit. Abgestreift sind die irdischen Hüllen – versunken ist nun die Welt.

Und die Blumen wagten nicht mehr zu duften. Und der Rhein hielt seinen Atem an.

Je schneller aber die Zeit nahte, in der er wieder abfahren mußte, hinaus in die laute Welt – um so mehr spielte er Bach.

Dann ging er in den Garten zur Nacht. Stand ein paar Schritte vor der Steinurne, hob seine Geige. Fugen und Sonaten – da vermählten sich die Klänge den Mondesstrahlen. Ein Dom wuchs auf, rein wie Bergkristall, hoch hinauf von der Erde, bis ihn der Himmel deckte. Die ›Chaconne‹ spielte er – und die lauschenden Blumen begriffen, daß es ihr Leid war, das er sang, und ihre Freude. Die ›Air‹ spielte er – da wußten die Blumen, daß sie keine Blumen mehr waren. Daß sie eines waren – und ein süßer Duft– und daß dieser Duft eine Seele war. Die reine Seele einer toten Frau –

Aber die Seele war glücklich.

Die Konzerte spielte Hagen Dierks, A-Moll und E-Dur. Da schwebte mit diesen Klängen die Seele hinauf: denn sie war die große Beichte, die er der Gottheit schenkte. Und der Gott aller Welten und Ewigkeiten küßte die süße Seele – da jubelte unten die Geige.

Jubelte: Vergebung. Jubelte: Befreiung.

So spielte Hagen Dierks.

* * *

Das ist alles, was Herr W. T. Reininghaus feststellte und was er öfter seinen Freunden erzählte. Ein einziger kleiner Umstand blieb ihm unbekannt – den hatte ihm Dr. Marcel Benedict-Allaround verschwiegen. Er erwähnte ihn später einmal, dem, der diese Geschichte niederschrieb.

Das war es:

Als die Münchener Polizei die Leiche Fräulein Astens vorläufig beschlagnahmte, nahm sie auch den Strick mit. Und soviel Mühe sich auch Dr. Benedict gab, ihn zurückzubekommen, es gelang ihm nicht – er war verloren oder hatte schon andere Liebhaber gefunden. So schnitt er von irgendeiner harmlosen und völlig unschuldigen gelben Seidenschnur ein Stückchen ab – das sandte er dem Freunde.

Und das –


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