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Der tote Jude

Als es zwölf Uhr schlug, sagte der Schauspieler: »Und nun ist der Tag gekommen, an welchem vor nunmehr –«

Aber der, den er anredete, unterbrach ihn: »Bitte, lassen Sie. Dieses Datum ist mir höchst zuwider.«

»Ah, er fängt an, sentimental zu werden! Steht Ihnen schlecht!« höhnte jener.

Der andere sagte: »Nein. – Aber es sind Erinnerungen –«

»– – so unerhört erschrecklicher Natur, dass Stein und Bein gefrieren«, lachte der Schauspieler. – »Wie alle Ihre Erinnerungen! Also bitte: erleichtern Sie sich.«

»Ich tu es nicht gern«, sagte er. »Das alles ist so masslos roh –«

»Oh, Sie Lämmerschwänzchen! Seit wann nehmen Sie Rücksicht auf unsere Nerven? Während alle auf seidenen Teppichen schreiten, stapft Ihr Lederschuh durch schlammiges Blut. Sie sind eine Mischung von Brutalität und Stilgefühl.«

»Ich bin nicht brutal«, sagte er.

»Das ist Geschmacksache!«

»So will ich schweigen.«

Der Schauspieler schob ihm das Zigarettenetui über den Tisch. »Nein, erzählen Sie. Es ist gut, dass man nicht vergisst, dass auch heute noch Blut fliesst in dieser besten aller Welten. Ausserdem ist das gar nicht wahr, dass Sie nicht erzählen wollen: Sie wollen sprechen und wir sollen hören. Also hören wir.«

Der Blonde öffnete das Etui. »Englischer Dreck!« brummte er. »Alles ist Dreck, was aus diesem verfluchten Lande kommt.« Er brannte sich seine eigene Zigarette an. Dann begann er.

Das ist nun schon manches Jahr her. Ich war damals ein krasses Füchslein, siebzehn Jahre alt. Ich war so unschuldig wie ein Känguruhchen in der Mutter Bauchtasche, aber ich spielte den zynischen Lebemann. So wie er sich darstellte in dem Känguruhköpfchen, es muss komisch genug gewesen sein.

Einmal bollerte es nachts an meine Türe.

»Aufstehn!« schreit es. »Sofort aufmachen!«

Ich fuhr aus dem Schlafe, alles schwarz ringsum.

»Aber so wach doch auf, zum Teufel!« – jetzt erkannte ich die Stimme meines Leibburschen – »Wie lange willst du mich hier warten lassen?«

»Komm herein,« antwortete ich, »ist ja nicht abgeschlossen.«

Krachend flog die Türe auf. Der lange Mediziner stolperte ins Zimmer und brannte die Kerze an.

»Raus aus dem Bett!« schrie er.

Ich warf einen entsetzten Blick nach der Uhr. »Aber erlaube mal, ist ja noch nicht vier Uhr! Ich habe kaum zwei Stunden geschlafen.«

»Und ich überhaupt nicht,« lachte er, »komme grad von der Kneipe. Raus aus dem Bett, sag ich dir, und geschwind in die Kleider, Füchslein!«

»Aber was ist denn los? Ein Vergnügen ist das nicht.«

»Soll's auch nicht sein. Zieh dich an, ich erzähle dir derweil.«

Während ich mühsam den Schlaf aus den Augen wusch und zähneklappernd in die Hosen fuhr, setzte er sich schnaufend auf den Sessel und paffte seine grässliche Brasilzigarre. Ich hustete und spuckte.

»Kannst wohl den Rauch nicht vertragen, Füchslein?« rülpste er. »Na, wirst dich schon dran gewöhnen! Also pass auf, heute morgen haben wir eine Pistolenkiste, draussen im Kottenforst. Ich bin Sekundant und der Gossler wollte auch mitkommen. Nun haben wir zwei durchgebummelt, um pünktlich zur Stelle zu sein, da ist der Kerl mir schlapp geworden. Das ist alles. Also eil dich!«

Ich unterbrach mein Gurgeln: »Ja aber – was soll ich denn dabei?«

»Du? – Herrgott, bist du ein Rindvieh! Ich hab doch keine Lust, allein da rauszufahren, stundenlang. Ich nehm dich mit. Fertig!«

Es war eine scheussliche Nacht. Regen, Wind und aufgeweichte Strassen. Wir liefen über die Gassen zum Korpshause, da wartete unser Wagen. Die andern waren schon vorausgefahren.

»Natürlich!« schimpfte der Leibbursch. »Da sitzen wir, nüchtern wie die Schweine, und der Korpsdiener hat den Frühstückskorb mit. Lauf hinauf, Füchslein, sieh zu, ob du im Kneipzimmer eine Flasche Kognak erwischst.«

Schellen, warten, fluchen, frieren; aber ich bekam meinen Kognak. Wir stiegen ein und der Kutscher hieb auf die Gäule.

»Heut ist der dritte November!« sagte ich. »Mein Geburtstag, der fängt nett an.«

»Trink!« rief mein Leibbursch.

»Und einen Jammer hab ich auch. Und was für einen!«

»Trink doch, Rhinozeros!« schrie er. Er paffte mir den ekelhaften Rauch ins Gesicht, dass ich fast seekrank wurde.

»Warte, mein Junge,« grinste er, »ich werde dir den Jammer vertreiben.«

Und nun erzählte er Medizinergeschichten vom Seziertisch. Ho, er war ein Kerl! Ass sein Butterbrot im Leichensaal, ohne die Finger zu waschen, mitten zwischen dem Präparieren. Ho, abgeschnittene Beine und Arme, blossgelegte Hirne, kranke Lebern und Nieren und Gebärmütter, das gefiel ihm. Je fauler, je besser, schön verwesen lassen, den Dreck. Und dann doch ein Präparat herauskitzeln, blitzsauber alle Muskeln und Venen.

Natürlich trank ich. Aus der Flasche, einen Schluck nach dem andern. Zwanzig Geschichten erzählte er mir und eine verfaulte Milz war noch das Appetitlichste, das darin vorkam. Verdammt noch mal, das lernt man im Korps; seine Nerven meistern.

Zwei Stunden, dann hielt der Wagen. Wir krochen hinaus und wateten vom Wege in den Wald hinein. Im dämmernden Morgennebel durch die kahlen Bäume.

»Wer knallt denn heute eigentlich?« fragte ich.

»Halt's Maul! Wirst es schon früh genug sehn«, brummte der Leibbursch. Er war plötzlich schweigsam geworden. Ich hörte, wie er laut schluckte und seine Trunkenheit hinunterwürgte. Wir kamen auf eine Lichtung, etwa ein Dutzend Menschen standen da herum.

»Fax!« rief der Leibbursch.

Unser Korpsdiener kam in langen Sprüngen hergelaufen.

»Soda!« Der Korpsdiener brachte den Korb; drei Flaschen Soda trank der Leibbursch.

»Schweinezeug!« brummte er und spie aus. Aber ich sah wohl: er war völlig nüchtern geworden.

Wir gingen über den Platz und grüssten. Da standen bei ihren ausgebreiteten Verbandskästen zwei Ärzte, der eine war ein Alter Herr von uns. Dann drei Korpsburschen von Marchia und deren Korpsdiener, der mit dem unsern plauderte. Und, ganz allein, abseits an einen Baum gelehnt, ein kleiner Jude.

Jetzt wusste ich, um was es sich handelte. Das war Selig Perlmutter, Stud. phil., und er sollte sich mit dem langen Märker schiessen. Eine Wirtshausgeschichte; die Märker hatten in ihrem Stammlokal gesessen, als Perlmutter mit ein paar Freunden hereintrat, laut begrüsst von wütenden: »Juden raus!« Die andern gingen, aber Perlmutter hatte schon den Hut an den Haken gehängt; er wollte nicht weichen, setzte sich und rief nach Bier. Da war der Märker aufgesprungen, hatte ihm den Stuhl von hinten weggezogen, dass er zur Erde fiel unter lautem Gejohle der Korpsbrüder. Hatte dann den Hut vom Ständer gerissen und zur Türe hinausgeworfen in den Kot. »Marsch nach, Saujud!« Aber der kleine Jude war kreideweiss aufgesprungen, hin zu dem langen Märker, und hatte ihm, klatsch! eine Ohrfeige mitten ins Gesicht geschlagen. Dann freilich war er unter Hieben und Tritten aus dem Lokal geflogen. Andern Tags hatte der Märker ihm seinen Kartellträger geschickt und der Jude hatte angenommen: fünf Schritt Distanz, dreimaliger Kugelwechsel.

Selig Perlmutter hatte bei uns Waffen belegt. »Was will man machen,« hatte mein Leibbursch gesagt, der als zweiter Chargierter alle Ehrenhändel zu erledigen hatte, »Waffenschutz muss man jedem honorigen Studenten geben! Und ein honoriger Student ist man, hol mich der Teufel, so lange man noch keine silbernen Löffel gestohlen hat, selbst wenn man Se – se – selig P – P – P – Perelmutter heisst!« Der kleine Jude stotterte nämlich derartig, dass er nicht einmal seinen eigenen Namen sprechen konnte, er hatte damals wohl eine Viertelstunde gebraucht, um sein Anliegen glücklich herauszubringen.

Da stand er an einen Baum gelehnt, den verschlissenen Mantelkragen hochgeschlagen. Herrgott, war er hässlich! Die schmutzigen Schuhe mit den schiefen Absätzen bogen sich nach innen, darüber schlotterten die zerfransten Hosen. Ein mächtiger Nickelkneifer mit langer schwarzer Schnur hing schief über der ungeheuren Nase, die fast die blauroten, zersprungenen Lippen bedeckte. Sein gelber, pockennarbiger und grässlich unreiner Teint schien noch eine Nuance fahler. Die Hände staken tief in den ausgeweiteten Manteltaschen, er starrte auf den lehmigen Boden.

Ich trat auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen: »Guten Morgen, Herr Perlmutter.«

»Wa – warum – warum eigentli – li – lich –« stotterte er.

»Leibfuchs, bring sofort den Pistolenkasten!« rief schrill mein Leibbursch.

Ich drückte kräftig die schmutzige Hand, die er mir zögernd bot. Lief zu unserm Korpsdiener, nahm den Pistolenkasten und brachte ihn dem Leibburschen.

»Bist du verrückt?« zischte er mich an. »Was fällt dir ein, mit dem Judenbengel zu schwatzen?«

Der Unparteiische, der erste Chargierte der Preussen, sprach ein paar Worte mit den Sekundanten, dann mass er in langen Sprungschritten die Distanz. Die beiden Gegner wurden an ihre Plätze geführt.

»Meine Herrn,« begann der Preusse, »es ist meine Pflicht als Unparteiischer, wenigstens den Versuch zu machen, eine Versöhnung herbeizuführen.«

Er machte eine kleine Pause.

»Ich mö – mö – möchte –« stotterte leise der kleine Jude, »we – we – wenn –«

Mein Leibbursch sah ihn wütend an und hustete, so laut er konnte; verschüchtert schwieg jener.

»Also die Herrn lehnen eine Versöhnung ab«, stellte schnell der Unparteiische fest. »Ich bitte Sie nun auf mein Kommando zu achten, ich werde zählen: eins – zwei – drei. Zwischen eins und drei dürfen die Herren schiessen, nicht aber vor eins und nach drei.«

Die Pistolen wurden umständlich geladen, die Sekundanten losten darum. Mein Leibbursch brachte eine Pistole seinem Paukanten.

»Herr Perlmutter,« sagte er förmlich, »hier übergebe ich Ihnen eine Waffe unseres Korps. Es ehrt Sie, dass Sie sich entschlossen haben, auf studentisch-ritterliche Art Ihren Streithandel auszufechten, anstatt zum Kadi zu laufen. Ich hoffe nun, dass Sie unseren Waffen auch hier auf dem Platze Ehre machen werden.« Er drückte ihm die Pistole in die Hand. Herr Perlmutter nahm sie, aber sein Arm zitterte so, dass die Hand sie kaum zu halten vermochte.

»Zum Teufel, fuchteln Sie doch nicht so herum mit dem Schiessprügel!« fuhr ihn mein Leibbursch an. »Lassen Sie doch den Arm gesenkt. Auf das Kommando: Eins! heben Sie blitzschnell die Pistole und knallen los. Geben Sie sich keine Mühe auf den Kopf zu zielen, Sie können ja doch nicht schiessen. Zielen Sie ruhig auf den Bauch, das ist das sicherste! Und wenn Sie geschossen haben, halten Sie die Pistole hoch vor's Gesicht, das ist Ihre einzigste Deckung. Sie nutzt zwar nicht viel, aber möglich ist's doch immerhin, dass Ihr Gegner, wenn er später als Sie schiesst, statt Ihrer Person das Schiessgewehr trifft. Und ruhig Blut, Herr Perlmutter!«

»Da – da – danke –« sagte der Jude.

Mein Leibbursch fasste mich unter den Arm und ging mit mir in den Wald zurück.

»Ich möchte wirklich wünschen, dass unser Zinkenkönig dem Märker eins aufbrennt«, brummte er. »Ich kann den Kerl nicht leiden. Ausserdem ist er ganz sicher selbst ein Jud!«

»Aber er ist doch der grösste Judenfresser im ganzen S. C.« wandte ich ein.

»Eben darum! Ich habe die Märker schon lange in Verdacht, dass sie Juden nehmen. Guck doch mal seine Nase an! Getauft mag er ja sein, und die Eltern auch – aber ein Jud ist er doch. Und das schreit dann am meisten! Unsere stotternde Spottgeburt aus saurem Bier und Spucke ist mir ordentlich sympathisch, weil sie dem langen Märker eine geklebt hat. Und es ist eigentlich ein Skandal, dass wir den armen Teufel hier herausschleppen und wie ein Kalb zur Schlachtbank führen.«

»Ja – aber er wollte sich doch versöhnen«, meinte ich. »Wenn du nicht so gehustet hättest –«

Er schnitt das Gespräch ab: »Halt's Maul, Fuchs, das verstehst du nicht.«

Alle waren zur Seite in die Büsche getreten, nur die beiden Gegner standen allein auf der Lichtung in der grauen Dämmerung.

»Also Achtung!« rief der Unparteiische. »Ich zähle: Eins – – – Zwei – – –«

Der Märker schoss, seine Kugel klatschte laut in einen Baum; Herr Perlmutter hatte nicht einmal seine Pistole erhoben. Alle kamen auf die beiden zu.

»Ich frage an, ob von seiten Normannias geschossen wurde?« fragte der Sekundant der Märker.

»Der Paukant von Normannia hat nicht geschossen«, konstatierte der Unparteiische.

Wütend eilte mein Leibbursch zu seinem Klienten.

»Herr!« schnaubte er ihn an. »Sind Sie wahnsinnig? Meinen Sie, wir wollten wegen Ihnen solche Schweinereien im Paukbuch stehen haben? Schiessen Sie, wohin Sie wollen, aber knallen Sie los! Machen Sie sich meinethalben die ganze Hose voll, aber schiessen Sie, zum Teufel noch mal! Fühlen Sie denn nicht, dass Sie das ganze Korps blamieren, dessen Waffenschutz Sie gemessen?«

»Ich mö – möchte –« stammelte der kleine Jude. Von seiner Stirne tropften dicke schmutzige Tropfen.

Aber niemand achtete auf ihn. Die beiden erhielten andere Pistolen und wieder zogen sich alle zurück.

»Eins – – Zwei – – und – – Drei.«

Gleich nach eins hatte der Märker geschossen, seine Kugel schlug in einen Stumpf ein, drei Meter von seinem Gegner. Perlmutter hatte wieder die Pistole nicht erhoben, sein Arm schlenkerte in nervösen Stössen hin und her.

– »Ich frage an, ob von Seiten Normannias diesmal geschossen wurde?«

»Der Paukant von Normannia hat es vorgezogen, auch diesmal nicht zu schiessen.«

Die Märker grinsten, der Preusse lächelte von oben herunter. Mein Leibbursch sah sie mit wütenden Blicken an.

»So ein Pack!« knirschte er. »Eine Schweinerei, dass ich der Bande nicht an den Hals kann!«

»Wieso?« fragte ich.

»Herrgott, so dumm kann nur ein krasser Fuchs fragen!« fauchte er. »Du weisst doch, dass hier Burgfriede herrscht, dass man während der Dauer einer Mensur nicht kontrahieren darf! – Aber heute abend erhalten die drei feinen Herrn von Marchia jeder eine schwere Säbelforderung von mir. Ich wette, da werden sie andere Gesichter machen. Zu Mus werde ich sie hacken, zum Henker noch mal! Schau doch, wie sie feixen, wie sie Triumph heulen über unsern armen Jammerlappen!«

Seinem Klienten gegenüber zog er diesmal eine andere Seite auf.

»Herr Perlmutter, ich appelliere jetzt nicht an Ihren Mut, das scheint ja nichts zu nützen, sondern an Ihren Verstand«, sagte er sehr ruhig. »Sehen Sie mal, Sie haben doch gewiss keine Lust, sich hier wie ein Schwein abstechen zu lassen. Nun haben Sie aber keine andere Möglichkeit, dem zu entgehen, als dass Sie selbst schiessen. Das muss Ihnen doch Ihr Selbsterhaltungstrieb sagen! Wenn Sie Ihren Gegner in den Bauch schiessen, garantiere ich Ihnen, dass er Ihnen nichts mehr tun kann, und ein gutes Werk haben Sie obendrein noch getan.« – Dann wurde er fast sentimental. »Es ist doch wirklich viel angenehmer für Sie, wenn Sie mit heiler Haut hier wegkommen, Herr Perlmutter. Denken Sie doch an Ihre armen Eltern!«

»Ich habe k – k – keine Eltern me – mehr«, sagte der Jude.

»Nun, so denken Sie an ihre Geliebte –« fuhr mein Leibbursch fort, aber er stutzte, als er des Juden hässliches Gesicht betrachtete, das plötzlich ein grauenhaftes, seltsam wehmütiges Grinsen entstellte.

»Verzeihung, Herr Perlmutter, ich verstehe ja, dass Sie mit Ihrem – na, wie nennen Sie's denn? – mit Ihrem – Ponem – keine Geliebte haben! Entschuldigen Sie – ich wollte Sie wirklich nicht verletzen. Aber etwas haben Sie doch gewiss – vielleicht – vielleicht einen – Hund?«

»Ich habe – einen k – k – kleinen Hund!«

»Also sehen Sie, Herr Perlmutter, etwas hat jeder Mensch. Ich habe auch einen Hund, und ich glaube nicht, dass es etwas gibt, das ich lieber hätte. – Denken Sie also an Ihren Hund! Stellen Sie sich die Freude vor, wenn Sie gesund wiederkommen, wenn das Viech an Ihnen heraufspringt und bellt und jubelt und mit dem Schwanze schlägt. Denken Sie an Ihren Hund und – – auf das Kommando: Eins! – schiessen Sie.«

»Ich we – werde schiessen«, würgte der kleine Jude. Zwei dicke Tränen kullerten über die Pockennarben und Hessen helle Streifen zurück. Er fasste die Pistole fester an, die ihm mein Leibbursch gab. Er sah ihn wehmütig, elend bittend an, irgendein Wunsch quälte ihn.

»Ich – – w – we – wenn –« stotterte er.

Aber mein Leibbursch half ihm. »Sie wollen mich bitten, für Ihren Hund zu sorgen, wenn Ihnen etwas zustossen sollte? Ist es das, Herr Perlmutter?«

»Ja!« sagte der kleine Jude.

»Nun, darauf gebe ich Ihnen mein Wort und werd's halten, so wahr ich ein Korpsbursch bin! Das Tier soll's gut haben, verlassen Sie sich darauf.« Er streckte ihm die Hand hin, die der Jude ergriff.

»Da – danke sehr.«

– »Sind die Herrn bereit?« fragte der Unparteiische.

»Jawohl!« rief mein Leibbursch. – »Schiessen Sie, Herr Perlmutter, schiessen Sie: es ist Notwehr. Denken Sie an Ihren Hund und schiessen Sie!«

Wir gingen wieder hinter die Bäume, der Unparteiische stand dicht neben mir. Meine Augen hingen an dem kleinen Juden.

»Also Achtung: – – Eins – –«

Herr Perlmutter riss seine Pistole in die Höhe und knallte, die Kugel flog irgendwo hoch durch die Äste. Er stand da, den Arm weit ausgestreckt.

»Bravo!« murmelte mein Leibbursch.

»Zwei – –«

»Wenn der Märker einen Funken von Anstand im Leibe hat, schiesst er jetzt in die Luft«, brummte er wieder.

»Und – – Drrrei!«

Auf Schlag drei krachte des Märkers Schuss.

Selig Perlmutter öffnete den Mund, hell und klar kamen die Worte von seinen Lippen. Zum ersten Male in seinem Leben stotterte er nicht. Nein wirklich, er sang, sang ganz laut:

»Es leben die Studenten
Nur in den Tag hi – nein – –«

Die Pistole glitt ihm aus der Hand, mit einem dumpfen Krach fiel er vornüber. Wir sprangen auf ihn zu, sorgfältig wandte ich ihn um.

Die Kugel war ihm mitten durch die Stirn gegangen; ein kleines rundes Loch – –

»Das werd ich ihm halten, was ich ihm versprach«, flüsterte mein Leibbursch. »Der Fax soll den Köter heute noch holen, er wird schon Freundschaft schliessen mit meinem Nero. Und die beiden Biester werden sich freuen, wenn ich ihnen nächste Woche erzählen werde, wie ich die edlen Herrn von Marchia vermöbelt habe. – Gute Nacht, Selig Perlmutter,« fuhr er noch leiser fort, »du warst ein dreckiger Speiekel, der seinem Namen wenig Ehre machte! – Aber hol mich der Teufel, ein honoriger Student warst du doch, und die Märker sollen mir's entgelten, dass sie dich so elend zusammengeschossen haben. Das bin ich schon deinem Köter schuldig. – Hoffentlich hat das Viech nicht zuviel Flöhe. –«

Die Ärzte traten hinzu, tupften mit Watte an der Wunde herum, schoben ein Gazetampon hinein, um die Blutung zu stillen.

»Glatt Rest!« sagte unser Alter Herr. »Es bleibt nichts übrig, als den Totenschein auszustellen.«

»Wollen wir frühstücken?« schlug der Unparteiische vor.

»Danke sehr!« erwiderte mein Leibbursch sehr förmlich. »Wir müssen unsere Pflicht gegenüber unserm Paukanten erfüllen. Fass an, Leibfuchs!«

Wir nahmen die Leiche auf und trugen sie mit Hilfe der Korpsdiener durch den Wald zu der Strasse hin, hoben sie in unsern Wagen.

»Wissen Sie hier Bescheid, Kutscher?« fragte mein Leibbursch.

»Nee.«

»Aber irgendwo liegt doch hier im Wald ein Gemeindekrankenhaus?«

»Ja, Herr, das grosse von Denkow.«

»Wie weit von hier?«

»Na zwei Stunden!«

»Also dahin, das ist das nächste! Da werden wir ihn schon loswerden.«

Wir sassen auf den Rücksitzen, der Korpsdiener mir gegenüber. Auf dem andern Vorderplatz sass Herr Selig Perlmutter; es hatte einige Zeit gedauert, ihn in die sitzende Stellung zu bringen. Die Pferde zogen an, man musste ihn festhalten, dass er nicht vornüber kippte.

»Merkst du jetzt, dass es gut war, dass ich dich vorhin etwas abgehärtet habe, Leibfuchs? Jetzt kannst du deine Nerven gebrauchen. Fax, öffnen Sie den Frühstückskorb!«

»Ich danke«, sagte ich, »ich möchte nicht essen.«

»So?« fuhr der Leibbursch auf. »Du dankst? Und ich sage dir, du wirst essen und trinken, dass die Schwarte kracht! Ich habe die Verantwortung für dich, mein Junge, und ich habe keine Lust, dich mit einem Kollaps nach Hause zu bringen. Prosit!«

Er goss mir ein grosses Glas Kognak ein, ich stürzte es herab. Ich würgte an den Schinkenbroten; ich glaubte, ich würde nicht eines herunterbekommen, aber ich ass vier, spülte sie mit Kognak hinunter.

Der Regen hatte mit frischer Kraft eingesetzt, goss in Bächen gegen die zitternden Scheiben. Die Kutsche stolperte über die aufgeweichten Wege; abwechselnd musste einer von uns dem Toten gegenüber sitzen, um ihn festzuhalten. Um zehn Uhr sollten wir ankommen, einer nach dem andern zog die Uhr heraus. Keiner sprach, selbst mein Leibbursch vergass es, Witze zu machen. Nur: »Prosit, prosit!« Und wir tranken.

Endlich waren wir am Ziele und sprangen aus dem Wagen. Der Korpsdiener lief durch den Garten dem Hause zu, derweil gaben wir dem Kutscher zu essen und zu trinken.

Zwei Wärter kamen heraus und ein älterer Herr, der Leiter der Anstalt. Mein Leibbursch stellte sich vor und eröffnete sein Anliegen, das dem Arzte augenscheinlich sehr peinlich war.

»Verehrter Herr Kollege«, sagte er, »die Angelegenheit ist recht unangenehm, wir sind durchaus nicht auf solche Fälle eingerichtet. Ich weiss wirklich nicht, wohin mit der Leiche. Könnten Sie nicht vielleicht –«

Aber mein Leibbursch blieb fest. »Unmöglich, Herr Sanitätsrat, wohin denn? Übrigens sind Sie verpflichtet, uns die Leiche abzunehmen und die Meldung zu machen. Das Duell fand in den Grenzen Ihrer Gemeinde statt.«

Der Chefarzt spielte mit seiner Uhrkette. Unvermittelt fragte er den Kutscher: »Können Sie mir die Stelle beschreiben?«

Der Kutscher tat das, so gut er konnte. Da hellte sich das vertrocknete Gesicht auf: »O, ich bedauere ausserordentlich, meine Herren! Aber diese Lichtung liegt gerade ausserhalb unserer Grenze, sie gehört zur Gemeinde Hugen. Fahren Sie dorthin, zur Provinzialirrenanstalt, dort wird man Ihnen die Leiche abnehmen.«

Mein Leibbursch biss die Zähne übereinander.

»Wie lange dauert es?«

»Nun, zweieinhalb bis drei Stunden, wenn Sie zufahren.«

»So – wenn wir zufahren? Das heisst wenigstens vier Stunden bei dem Wetter für unsere abgetriebenen Gäule, die seit fünf Uhr früh auf dem Weg sind!«

»Es tut mir sehr leid, meine Herrn.«

Mein Leibbursch nahm einen neuen Anlauf. »Herr Sanitätsrat, wollen Sie uns wirklich in diesem Zustand fortschicken? Ich lamentiere nicht gern, aber ich versichere Sie bei meiner Ehre, dass unsere Nerven auf der Fahrt zu Ihnen das äusserste geleistet haben.«

»Es tut mir wirklich sehr leid«, wiederholte der Arzt, »aber ich darf nicht einmal Ihnen die Leiche abnehmen. Sie müssen sie in dem zuständigen Gemeindebezirke abliefern. Ich kann die Verantwortung nicht auf mich nehmen.«

»Nun, Herr Sanitätsrat – – ich würde in einem solchen Falle dennoch die Verantwortung auf mich nehmen.«

Der alte Herr zuckte die Achseln.

Mein Leibbursch verbeugte sich stumm. »Also los, Kutscher, zur Provinzialirrenanstalt im Walde von Hugen!«

Nun aber streikte der Kutscher. Er wäre nicht verrückt, und er würde seine Gäule nicht zu Tode schinden. Mit einer halben Wendung blickte mein Leibbursch noch einmal den Sanitätsrat an, der zuckte wieder mit den Achseln. Da trat der Leibbursch an den Kutschbock:

»Sie fahren, verstehen Sie! Was aus den Gäulen wird, ist gleichgültig, das ist meine Sache! Und Sie bekommen hundert Mark Trinkgeld, wenn wir in vier Stunden in Hugen sind!«

»Jawohl, Herr Doktor«, sagte der Kutscher. Da drängte sich der Korpsdiener heran. »Ich möchte auf dem Bock fahren, wenn's den Herrn recht ist. Es ist doch bequemer für Sie zu drei, es ist ja so eng da drinnen.«

Mein Leibbursch lachte laut auf und fasste ihn an den Ohren.

»Du bist zu rücksichtsvoll, Fax, aber wir wollen dir nichts schuldig bleiben. Du könntest dich ja erkälten da oben im Regen, und da würde deine Hausehre jammern! Also marsch hinein in den Wagen!« – Er wandte sich noch einmal sehr kühl zu dem Anstaltsarzt. »Ich bitte Sie, Herr Sanitätsrat, unsern Kutscher genau über den Weg zu instruieren!«

Der alte Herr rieb sich die Hände. »Aber gern, verehrter Herr Kollege, von Herzen gern. Alles was ich für Sie tun kann –« Und er beschrieb in allen Einzelheiten dem Kutscher den Weg.

»O diese infame Canaille!« zischte mein Leibbursch. »Und ich kann ihn nicht einmal fordern.«

Wir sassen wieder im Wagen. Mit dem Plaidriemen, an dem der Korpsdiener den Frühstückskorb getragen hatte und mit unsern Hosenträgern banden wir den Toten so gut es gehen wollte in seiner Ecke fest, um wenigstens in etwas der grässlichen Aufgabe enthoben zu sein, ihn immerfort stützen zu müssen. Dann lehnten wir uns in die Ecken zurück.

Es schien überhaupt nicht Tag werden zu wollen. Immer noch herrschte diese drückende graue Dämmerung, der Wolkenhimmel lag fast auf der Erde. Die Strasse war von dem strömenden Regen so aufgeweicht, dass wir ein über das andere Mal im Kote stecken blieben, der Dreck spritzte in gelben Lehmstreifen hoch an die Fenster hinauf. Unsere Absicht, durch ein freies Fleckchen im Glase hinauszuspähen, blieb vergeblich, kaum vermochten wir die Bäume an den Seiten zu erkennen. Jeder von uns gab sich die unerhörteste Mühe, seiner Stimmung Herr zu werden; aber es ging nicht, die grässliche kalte Stickluft in dem kleinen Räume kroch in Nüstern und Mund und klebte auf allen Poren.

»Ich glaube, er stinkt schon«, sagte ich.

»Na, das hat er im Leben wahrscheinlich auch getan«, antwortete mein Leibbursch. »Da, brenn dir eine Zigarre an!« – Er sah mich und den Korpsdiener an: ich glaube, unsere Gesichter waren nicht weniger bleich wie das des Toten. – »Nein«, sagte er, »so geht's nicht weiter. – – – Machen wir einen Frühschoppen!«

Die Rotweinflaschen wurden entkorkt, und wir tranken. Der Leibbursch kommandierte:

»Wir singen als erstes offizielles Lied: Weg mit den Grillen und Sorgen!«

Und wir sangen:

»Weg mit den Grillen und Sorgen!
Brüder, es lacht ja der Morgen
Uns in der Jugend so schön!
Ja so schön!
Lasst uns die Becher bekränzen,
Lasst bei Gesängen und Tänzen
Uns in die Unterwelt gehen,
gehen,
Bis uns Zypressen umwehn!«

– – – »Schönes Lied ex! Ein Schmollis den fröhlichen Sängern!«

Ja, wir tranken! Einer Flasche nach der andern brachen wir den Hals und tranken. Dazu sangen wir. Wir sangen und tranken. Wir soffen und brüllten.

– »Ein Trauersalamander auf das Wohl unseres stillen Gastes, des Herrn Selig Perlmutter! – Ad exercitium Salamandris eins – zwei – drei! – Salamander ex est! – Der Fax hat nachgeklappt, Rest weg!«

– »Na, zum Teufel, Perlmutter, alter Bierschisser, Sie können doch wenigstens Prost sagen, wenn man einen Salamander auf Sie reibt? Da trink mal, du Knacker!« Der Leibbursch hielt ihm sein Glas unter die Nase. »Willst nicht, Freundchen? Na warte!« Und er goss ihm den roten Wein durch die Lippen. »So – prosit! Und wohl bekomm's!«

Der Korpsdiener, längst völlig betrunken, krähte vor Vergnügen. »He, he! Rauchen gefällig?« Er brannte sorgsam eine lange Virginia an und klemmte sie dem Toten zwischen die Zähne: »Wein und Tobak, da lebt sich gut!«

»Sakrament, Kinder!« rief der Leibbursch dazwischen. »Ich habe ja ein Spiel Karten bei mir, wir werden einen Skat kloppen! Zu Vieren, einer passt!«

»Das wird wohl meist der Herr Perlmutter sein«, sagte ich.

»Was fällt dir ein? Der spielt so gut wie du. Sollst mal seh'n! – Los, du gibst, Leibfuchs.«

Ich verteilte die Karten und nahm zehn für mich auf.

»Nichts da, Füchschen, die gibst du dem Herrn Perlmutter. Steck sie ihm nur in die Finger; er spielt selbst. Freilich ist er etwas abgespannt heute, was wir ihm nicht weiter übelnehmen dürfen. Deshalb musst du ihm ein wenig helfen.«

Ich nahm des Toten Arm auf und steckte ihm die Karten zwischen die Finger.

»Passe!« sagte der Leibbursch.

»Tournée!« rief der Korpsdiener.

»Grand mit Vieren!« erklärte ich für Herrn Perlmutter.

»Donnerwetter noch mal! So ein Duselfritze!«

»Ouvert! Schneider und Schwarz angesagt!« fuhr ich fort.

»So ein Sauglück!« gröhlte mein Leibbursch.

»Jetzt gewinnt der Jude noch nach seinem Tode ein Vermögen.«

Wir spielten ein Spiel nach dem andern und immer gewann der Tote. Nicht ein Spiel liess er aus.

»Himmelherrgott«, fluchte der Korpsdiener, »wenn er nur halb so gut hätte schiessen können. Ein Glück, dass wir ihm nichts zu bezahlen brauchen.«

»Nicht bezahlen?« schnaubte mein Leibbursch. »Nicht bezahlen willst du, infamige Laus? Weil der arme Kerl tot ist, willst du dich vom Bezahlen drücken? Sofort heraus mit dem Geld und gib es ihm in die Tasche! Wieviel macht es, Leibfuchs?«

Ich machte die Rechnung, und jeder steckte die Silberstücke in des Toten Tasche. Mein Blick fiel auf die Karte, auf der ich angeschrieben hatte, es war die Einladung einer befreundeten Familie, die mich heute zur Feier meines Geburtstages zum Essen gebeten hatte. Unwillkürlich seufzte ich.

»Was hast du?« fragte mein Leibbursch.

»Ach nichts, mir fiel nur eben wieder ein, dass heute mein Geburtstag ist.«

»Ist ja wahr, ich habe es ganz vergessen. Also, prosit Füchslein, sollst leben! Ich gratuliere.«

»Ich gratuliere auch«, rief der Korpsdiener.

Da erscholl aus der Ecke eine stockernde Stimme:

» Ich g – g – gr – gr – gratuliere auch.«

Wir liessen die Gläser fallen. Was war das? Wir blickten in die Ecke. Starr hing der Tote in den Riemen; der Körper schwankte, aber keine Regung bewegte das Gesicht. Die lange Virginia klebte noch zwischen den Zähnen. Ein dünner schwarzer Blutstreif triefte seitwärts über die Nase und die aschfahlen Lippen. Nur der kotbespritzte Nickelkneifer, den er auch im Falle nicht verloren, zitterte ein wenig hin und her.

Mein Leibbursch fasste sich zuerst. »So ein Blödsinn!« sagte er. »Mir war, als ob – – – Ein anderes Glas!«

Ich nahm ein neues Glas aus dem Korbe und goss es voll.

»Prosit!« rief er.

» P – Pr – Prosit!« – klang es aus der Ecke.

Der Leibbursch fasste sich mit der Hand an die Stirn, dann goss er schnell den Wein hinunter. »Ich bin besoffen«, murmelte er.

»Ich – auch«, stammelte ich und drückte mich fest in die Ecke, möglichst weit fort von dem grässlichen Nachbar.

»Einerlei!« schrie mein Leibbursch. »Wir spielen weiter. Fax, Sie sind am Geben.«

»Ich mag nicht mehr spielen«, wimmerte der Korpsdiener.

»Angströhre, wovor fürchten Sie sich? – Vielleicht, dass Sie noch mehr verlieren?«

»Er mag all mein Geld haben – aber ich rühre keine Karte mehr an«, heulte jener.

»Memme!« rief der Leibbursch.

» M – M – Memme!« stotterte es aus der Ecke.

Eine entsetzliche Angst packte mich. »Kutscher«, schrie ich, »Kutscher! Anhalten! Halt! Halt! Um Gottes willen Halt!« Aber der hörte nicht, klatschte weiter auf die Gäule durch Regen und Kot.

Ich sah, wie mein Leibbursch sich in die Unterlippe biss, zwei Blutstropfen krochen über das Kinn. Er richtete sich steif auf, füllte von neuem sein Glas.

»Ich werde euch zeigen, dass ein Korpsbursch von Normania keine Angst kennt.« Dann wandte er sich zu dem Toten. »Herr Selig Perlmutter«, sagte er langsam und jedes Wort mühsam betonend, »ich habe Sie heute als durchaus honorigen Studenten schätzen gelernt: gestatten Sie, dass ich Ihnen Schmollis anbiete?« Er goss den Rotspon hinunter. – »So! Und nun, lieber Perlmutter, bitte ich dich, uns nicht mehr zu belästigen. Wir sind zwar alle total besoffen, aber soviel Direktion habe ich doch noch im Leibe, dass ich genau weiss, dass ein toter Jude nicht mehr reden kann! Also halte gefälligst das Maul!«

Da grinste Selig Perlmutter und lachte ganz laut:

» Ha – ha – ha!«

»Still!« schrie mein Leibbursch. »Still, du Hund, oder –«

Aber Selig Perlmutter feixte:

» Ha – ha – ha!«

»Den Pistolenkasten! – Wo ist der Pistolenkasten?« Der Leibbursch zog den schmalen Kasten unter dem Sitze hervor, stiess ihn auf und riss eine Waffe heraus. »Ich schiess dich tot, du Aas, wenn du noch ein Wort von dir gibst!« schrie er in wahnsinniger Wut.

Aber Selig Perlmutter krähte:

» Ha – ha – ha!«

Da hielt er ihm den Lauf gerade ins Gesicht und schoss los. Es krachte, als ob der ganze Wagen auseinanderfliegen müsse.

Aber durch den Pulverdampf hindurch klang noch einmal das entsetzliche Lachen des Selig Perlmutter – lange – lange, als ob er nie wieder aufhören wolle:

» Ha – ha – ha – ha – –«

– – – Ich sah, wie mein Leibbursch vornüber fiel, stöhnend, über des Toten Knie. Ich hörte aus der andern Ecke das jämmerliche Winseln des Korpsdieners – – –

Und durch viele Ewigkeiten hin fuhren wir weiter, immer weiter durch den furchtbaren grauen Regentag – – –

– – Wie wir ankamen – – das alles erinnere ich nur wie im Nebel: ich weiss, dass man uns den Toten abnahm und dass man den Leibbursch auch heraustrug. Ich hörte ihn schreien und brüllen, ich sah, wie er um sich schlug und wie ihm der Schaum vor den Mund trat. Ich sah, wie sie ihm die Zwangsjacke anlegten und in die Anstalt brachten. Er ist heute noch dort. Akute Paranoia, hervorgerufen durch chronische Alkoholvergiftung, stellten die Ärzte fest.

– Den Hund nahm ich zu mir, es war ein grässlicher kleiner Bastard. Zehn Jahre lang habe ich ihn gehabt, aber er hat mich nie leiden mögen, was ich auch immer anstellte, um sein Wohlwollen zu gewinnen. Immer schnappte er nach mir und kläffte mich an. Einmal fand ich ihn in meinem Bett, das er völlig verschmutzt hatte. Als ich ihn wegjagen wollte, biss er mir die Finger blutig, da hab ich ihn erwürgt, so, mit meiner Hand.

Das war vor vier Jahren, an einem Gedenktage, dem dritten November – –

Verstehen Sie nun, meine Herren, warum gerade dieses Datum einen so hässlichen Beigeschmack für mich hat?

* * *


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