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Neapel, Mai 1907
Donald Mac Lean erwartete ihn im Kaffeehaus. Als Lothar eintrat, rief er ihn an:
»Endlich. Ich glaubte, Sie würden nicht mehr kommen.«
Lothar setzte sich, er stocherte in der Limonade, die ihm das Mädchen brachte.
»Was gibt es?« fragte er.
Mac Lean bog sich ein wenig vor.
»Es dürfte Sie interessieren,« sagte er. »Sie studieren doch die Verwandlungen Aphroditens? – Nun, Sie könnten vielleicht die Schaumgeborene in einem neuen Gewande sehen.«
Lothar gähnte:
»Ah! – Wirklich?«
»Wirklich«, sagte Mac Lean.
»Erlauben Sie einen Augenblick,« fuhr Lothar fort. »Venus ist Proteus echte Tochter, aber ich glaube, all' ihre Maskeraden zu kennen. Ich war über ein Jahr in Bombay bei Klaus Petersen –«
»Nun?« fragte der Schotte.
»Nun? – Sie kennen also Klaus Petersen nicht? – Herr Klaus Petersen aus Hamburg ist ein Talent, ein Genie vielleicht! – Der Marschall Gilles de Rais war ein Charlatan – an ihm gemessen!«
Donald Mac Lean zuckte mit den Achseln:
»Das ist nicht die einzige Kunst!«
»Gewiss nicht! Aber warten Sie nur. Oskar Wilde war mein guter Freund, wie Sie wissen. – Und Inez Seckel habe ich durch lange Jahre gekannt. Jeder Name sollte Ihnen eine Fülle von Sensationen geben!«
»Doch nicht alle,« warf der Maler ein.
»Nicht alle?« Lothar trommelte auf den Tisch. »Aber die besten wohl! – Also kurz: ich kenne Venus, die sich in Eros verwandelt, ich kenne die, die den Pelz anzieht und die Geissel schwingt. Ich kenne Venus als Sphinx, die ihre Krallen blutgierig in zartes Kinderfleisch schlägt. Ich kenne die Venus, die sich wollüstig in fauligem Aas wälzt, und ich kenne die schwarze Liebesgöttin, die bei Satansmessen des Priesters ekles Opfer über der Jungfrau weissen Leib spritzt. – Laurette Dumont nahm mich mit in ihren Tierpark, ich weiss, was wenige wissen, wie seltene Reize Sodom birgt! Noch mehr, ich habe in Genf der Lady Kathlin Mac-Mardochs Geheimnis gefunden, um das kein anderer lebender Mensch weiss! Ich kenne die verdorbenste Venus, – – oder soll ich sagen, die »reinste«? – – die die Blumen dem Menschen vermählt! – – Glauben Sie immer noch, dass der Liebe Göttin eine Maske wählen könne, die mir neu wäre?«
Mac Lean schlürfte langsam seine Strega.
»Ich verspreche Ihnen nichts«, sagte er. »Ich weiss nur, dass der Herzog Ettore Aldobrandini seit drei Tagen wieder in Neapel ist. Ich traf ihn gestern auf dem Toledo.«
»Ich würde mich freuen, ihn kennen zu lernen«, erwiderte Lothar. »Ich hörte schon oft von ihm, er soll einer von den wenigen Menschen sein, die es verstehen, aus dem Leben eine Kunst zu machen, – und die – Mittel dazu haben.«
»Ich glaube, man wird Ihnen nicht zu viel erzählt haben«, fuhr der schottische Maler fort. »Sie können sich bald selbst überzeugen: der Herzog gibt übermorgen eine Gesellschaft, ich will Sie einführen!«
»Danke,« sagte Lothar.
Der Schotte lachte.
»Aldobrandini war sehr aufgeräumt, als ich ihn traf. Dazu kommt, dass die ungewöhnliche Zeit, zu der er mich einlud – fünf Uhr nachmittags – ganz gewiss durch irgend etwas begründet ist. – Ich glaube daher, dass der Herzog für seine Freunde eine ganz besondere Überraschung hat; wenn das aber der Fall ist, so können Sie überzeugt sein, dass wir etwas Unerhörtes erleben. Der Herzog geht nie in ausgetretenen Wegen.«
»Hoffen wir, dass Sie recht haben!« seufzte Lothar. »Ich werde also das Vergnügen haben, Sie übermorgen in Ihrer Wohnung abzuholen?«
»Bitte sehr!« entgegnete der Maler.
* * *
»Largo San Domenico!« rief Mac Lean dem Kutscher zu. »Palazzo Corigliano!«
Die beiden stiegen die breite Barocktreppe hinauf, ein englischer Diener führte sie in den Salon. Sie fanden sieben oder acht Herren, alle im Frack; nur ein Priester in violettener Soutane war darunter.
Mac Lean stellte seinen Freund dem Herzog vor, der Lothar die Hand reichte.
»Ich danke Ihnen, dass Sie zu mir gekommen sind«, sagte er mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Ich hoffe, Sie werden nicht allzu enttäuscht sein.«
Er verbeugte sich und wandte sich dann mit lauterer Stimme an alle Anwesenden.
»Meine Herren!« sagte er. »Ich erbitte Ihre Verzeihung, dass ich Sie zu einer so unpassenden Stunde belästigt habe. – Ich befinde mich aber in einer Zwangslage: das kleine Rehchen, das ich heute Ihnen vorzuführen die Ehre haben werde, ist leider aus einer ausserordentlich guten und anständigen Familie. Es kann nur unter grossen Schwierigkeiten zu mir hinkommen und muss unter allen Umständen um halb sieben Uhr abends wieder zu Hause sein, damit Mama und Papa und die englische Gouvernante nichts merken. Das aber, meine Herren, sind Momente, auf die ein Kavalier Rücksicht nehmen muss! – Und nun bitte ich Sie, mich auf wenige Minuten zu entschuldigen, ich habe noch ein paar kleine Vorbereitungen zu treffen. Inzwischen haben Sie wohl die Güte, ein wenig den kleinen Erfrischungen da zuzusprechen!«
Der Herzog winkte seinen Dienern, machte wieder ein paar Verbeugungen und ging alsdann hinaus.
Ein Herr mit riesigem Viktor-Emanuelschnurrbart näherte sich Lothar; es war di Nardis, der politische Redakteur des Pungolo, der unter dem Pseudonym »Fuoco« schrieb.
»Ich wette, wir werden einen arabischen Scherz zu sehen bekommen,« lachte er, »der Herzog ist gerade aus Bagdad zurückgekommen.«
Der Priester schüttelte den Kopf.
»Nein, Don Goffredo,« sagte er, »wir werden ein Stückchen römische Renaissance gemessen. Der Herzog studiert seit einem Jahre Valdominis Geheimgeschichte der Borgia, die ihm nach langem Betteln der Direktor des Reichsarchives in Severino e Sosio geliehen hat.«
»Nun, wir werden ja sehen«, sagte Mac Lean. »Wollen Sie mir derweil zu morgen die Renntips geben, die Sie mir versprachen?«
Der Redakteur zog sein Notizbuch heraus und vertiefte sich mit dem Priester und dem schottischen Maler in ein eingehendes Turfgespräch. Lothar ass langsam Orangeneis von einem Kristallteller. Er betrachtete das hübsche goldene Löffelchen, das das Wappen der Aldobrandini zeigte, den gezackten Querbalken: zwischen sechs Sternen.
Nach einer halben Stunde schlug ein Diener die Portieren zurück.
»Der Herr Herzog lässt bitten!« rief er. Er führte die Herren durch zwei kleine Zimmer, dann öffnete er eine Doppeltüre, liess alle eintreten und schloss schnell hinter ihnen. Sie befanden sich in einem grossen, sehr langen Räume, der nur ganz schwach erleuchtet war. Den Boden deckte ein weinroter Teppich, die Fenster und Türen waren durch schwere Vorhänge von derselben Farbe verhangen, in der auch die Decke gemalt war. Die Wände, die völlig leer waren, trugen ebenfalls eine weinrote Stofftapete; mit dem gleichen Stoffe waren die wenigen Sessel, Diwane und Longchairs umkleidet, die an den Wänden herumstanden. Das hintere Ende des Zimmers war völlig verdunkelt, mit Mühe konnte man dort ein grosses Instrument erkennen, über dem eine schwere rote Decke lag.
»Ich bitte die Herren, Platz zu nehmen«, rief der Herzog. Er selbst setzte sich und die übrigen folgten seinem Beispiele. Der Diener trat rasch von einem der goldenen Wandleuchter zum andern und löschte die wenigen Kerzen.
Als der Raum ganz finster war, hörte man einen schwachen Akkord vom Klavier her. Leise flog eine Folge rührender Klänge durch den Saal.
»Palestrina«, murmelte der Priester leise. »Sie sehen, dass Sie unrecht hatten mit Ihren arabischen Vermutungen, Don Goffredo.«
»Nun,« antwortete der Redakteur ebenso leise, »haben Sie vielleicht besser geraten, als Sie an Cesare Borgia dachten?«
Man hörte übrigens, dass das Instrument ein altes Spinett war. Die einfachen Töne erweckten eine seltsame Sensation in Lothar, er sann nach, aber er konnte nicht recht herausfinden, was es eigentlich war. Jedenfalls war es etwas, das er lange, lange nicht empfunden hatte.
Di Nardis beugte sich zu ihm hin, dass der lange Schnurrbart seine Wange kitzelte.
»Ich habe es!« raunte er ihm ins Ohr. » Ich wusste gar nicht, dass ich noch so naiv sein könne!«
Lothar fühlte, dass er recht hatte.
Nach einer Weile brannte der stille Diener zwei Kerzen an. Ein matter, fast unheimlicher Schimmer fiel durch den Saal.
Die Musik ging weiter – –
»Und trotzdem« – flüsterte Lothar seinem Nachbar zu, »und trotzdem liegt eine seltsame Grausamkeit in den Tönen. Ich möchte sagen, eine unschuldige Grausamkeit.«
Der stille Diener brannte wieder ein paar Kerzen an. Lothar starrte in die rote Farbe, die den ganzen Raum wie ein blutiger Nebel erfüllte – –
Diese Blutfarbe erstickte ihn fast. Seine Seele klammerte sich an die Töne, die ihm die Empfindung eines mattleuchtenden Weiss erweckten. Aber das Rot drängte sich vor, gewann die Oberhand: immer mehr Kerzen brannte der stille Diener an.
»Das ist nicht mehr zu ertragen«, hörte Lothar den Redakteur neben sich zwischen den Zähnen murmeln.
Jetzt war der Saal halb erhellt. Das Rot schien alles drückend zu decken und das Weiss der unschuldigen Musik wurde schwächer – schwächer – –
Da tritt hinten an dem Spinett vorbei eine Gestalt hervor, ein junges Mädchen, in ein grosses, weisses Tuch gehüllt. Es schritt langsam mitten in den Saal, eine leuchtende, weisse Wolke in der roten Glut.
Dann blieb das Mädchen stehen. Es bog die Arme auseinander, dass das Foulardtuch rings herunterfiel. Wie stumme Schwäne küsste das Tuch ihre Füsse, aber das Weiss des nackten Mädchenleibes leuchtete noch mehr.
Lothar bog sich zurück, unwillkürlich hob er die Hand an die Augen.
»Das blendet fast«, hauchte er.
Es war ein junges, kaum entwickeltes Mädchen, von einer entzückenden, knospenden Unreife. Eine souveräne, keines Schutzes bedürftige Unschuld und wieder ein sicheres Versprechen, das einen masslosen Wunsch auf Erfüllung wachrief. Die blauschwarzen Haare, in der Mitte gescheitelt, wellten sich über die Schläfen und Ohren, um hinten in schwerem Knoten sich zu schliessen. Die grossen, schwarzen Augen blickten gradaus auf die Herren, teilnahmlos, ohne jemanden zu sehen. Sie schienen zu lächeln, wie die Lippen: ein seltsames, unbewusstes Lächeln grausamster Unschuld.
Und das strahlend weisse Fleisch leuchtete so stark, dass rings alles Rot zurückzuweichen schien. Es klang wie ein Jubeln aus der Musik. – –
Jetzt erst bemerkte Lothar, dass das Mädchen auf der Hand eine schneeweisse Taube trug. Es bog den Kopf ein wenig hinab und hob die Hand, da streckte die weisse Taube das Köpfchen vor.
Und die Taube küsste das weisse Mädchen. Das streichelte sie, kraute das Köpfchen und drückte das Tierchen leicht an die Brust. Die weisse Taube hob ein wenig die Flügel und schmiegte sich eng, eng an das leuchtende Fleisch.
»Selige Taube!« flüsterte der Priester.
Da hob – mit einer plötzlichen, raschen Bewegung das weisse Mädchen die Taube mit beiden Händen in die Höhe, grad über den Kopf. Es warf den Kopf weit in den Nacken, und dann, dann riss es mit einem starken Ruck die weisse Taube mitten auseinander. Das rote Blut floss hinab, ohne das Gesicht mit einem Tropfen zu berühren, in langen Strömen über Schultern und Brust, über den strahlenden Leib des weissen Mädchens.
Ringsherum schob sich das Rot zusammen, es war, als ob das weisse Mädchen in einem gewaltigen Blutbade unterginge. Zitternd, hilfesuchend kauerte es sich nieder. Da kroch von allen Seiten die wollüstige Glut heran, der Boden öffnete sich wie ein Feuerrachen; das schreckliche Rot verschlang das weisse Mädchen. – –
In der nächsten Sekunde hatte sich die Versenkung wieder geschlossen. Der stille Diener riss die Portieren zurück und führte die Herren schnell in die vorderen Zimmer.
Niemand schien Lust zu haben, ein Wort zu sprechen. Schweigend liessen sie sich ihre Mäntel geben und gingen hinunter. Der Herzog war verschwunden.
* * *
»Meine Herren!« sagte auf der Strasse der Redakteur des Pungolo zu Lothar und dem schottischen Maler. »Wollen wir auf Bertolinis Terrasse zu Abend speisen?«
Die drei fuhren hinauf. Schweigend tranken sie den Champagner, schweigend starrten sie auf das grausamschöne Neapel, das die letzte Abendsonne in leuchtende Gluten tauchte.
Der Redakteur zog ein Notizbuch heraus und schrieb ein paar Zahlen auf.
»Achtzehn = Blut, vier = Taube, einundzwanzig = Jungfrau«, sagte er. »Ein schönes Terno, ich werde es diese Woche im Lotto setzen!«
* * *