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Evangel. Matth. V. 8
Port-au-Prince (Haiti), Juni 1906
Als der Hapagdampfer im Hafen von Port-au-Prince lag, stürmte Blaubändchen in den Frühstücksaal. Atemlos lief sie herum um den Tisch.
»Ist Mama noch nicht da?«
Nein, Mama war noch in ihrer Kabine. Aber die Offiziere und Passagiere sprangen alle auf, um Blaubändchen auf den Schoss zu nehmen. Nie war eine Dame an Bord des »Praesident« so gefeiert worden, als ihre sechs lachenden Jahre; aus wessen Tasse Blaubändchen seinen Tee trank, der war glücklich den ganzen Tag. Sie trug immer ein weisses Batistkleidchen und die kleine blaue Schleife küsste ihre blonden Locken. Man fragte sie hundertmal am Tage: »Warum heisst du Blaubändchen?« Dann lachte sie: »Damit man mich wiederfindet, wenn ich verloren gehe!« – Aber sie ging nicht verloren, obwohl sie in jedem fremden Hafen allein umherlief; sie war ein Texaskind und klug wie ein Hündchen.
Keiner am Tisch konnte sie heute erwischen. Sie lief an die Spitze der Tafel und kletterte dem Kapitän auf den Schoss. Da lächelte der starke Friese; Blaubändchen bevorzugte ihn immer und das war das einzige, auf das er stolz war. »Tunken!« sagte Blaubändchen und stippte ihren Zwieback in seine Teetasse.
»Wo warst du denn heute früh schon wieder?« fragte der Kapitän. »O, o!« sagte das Kind, und seine blauen Augen leuchteten noch heller wie das Band in seinem Haar. »Mama muss mitkommen! Ihr müsst alle mitkommen! Wir sind im Feenland!«
»Im Feenland – Haiti?« zweifelte der Kapitän. Blaubändchen lachte. »Ich weiss gar nicht, wie das Land hier heisst – aber das Feenland ist es! Ich hab sie selbst gesehen, die wunderschönen Ungeheuer, sie liegen alle beisammen auf der Brücke am Marktplatz. Eines hat Hände so gross wie eine Kuh und das neben ihm einen Kopf wie zwei Kühe! Und eines hat eine Schuppenhaut wie ein Krokodil – o, sie sind noch schöner und wundervoller wie in meinem Märchenbuche! – Willst du mitkommen, Kapitän?«
Dann sprang sie auf die schöne Frau zu, die eben in den Saal trat. »Mama, schnell, trink deinen Tee! Schnell, schnell! Du musst mitkommen Mama: wir sind im Feenlande!«
Alle gingen mit, sogar der erste Ingenieur. Er hatte gar keine Zeit und war nicht einmal zum Frühstück erschienen; irgend etwas stimmte nicht in seiner Maschine und das musste er in Ordnung bringen, so lange man im Hafen lag. Aber Blaubändchen mochte ihn gut leiden, weil er so hübsche Schnitzarbeiten machte aus Schildkrot. Und deshalb musste er mitkommen, denn Blaubändchen führte das Kommando an Bord. »Ich werde eben die Nacht durcharbeiten«, sagte er zu dem Kapitän. Blaubändchen hörte es und nickte ernst: »Ja, das kannst du tun. Dann schlafe ich doch.«
Blaubändchen führte und sie eilten durch die schmutzigen Hafengassen, überall steckten die Nigger neugierige Fratzen aus Fenster und Türen. Sie sprangen über die breiten Gossen und Blaubändchen lachte vergnügt, als der Doktor fehl trat und das schmutzige Wasser ihm weit hinauf auf den weissen Anzug spritzte. Sie schritten weiter, zwischen den elenden Buden des Marktes, durch einen ohrzerreissenden Lärm kreischender Negerweiber.
»Seht, seht, da sind sie! O die süssen Ungeheuer!« Blaubändchen riss sich los von ihrer Mutter Hand, stürmte hinauf zu der kleinen Steinbrücke, die über den vertrockneten Bach führt. »Kommt alle, kommt schnell, seht die Wundergeschöpfe, die herrlichen Ungeheuer!« Sie klatschte vor Lust in die Hände und sprang mit schnellen Schritten durch den heissen Staub.
– – Da lagen die Bettler; sie stellten ihre entsetzlichen Krankheiten hier zur Schau. Der Neger geht achtlos vorüber, aber kein Fremder kann an ihnen vorbei, ohne tief in die Tasche zu greifen. Das wissen sie wohl. Und sie schätzen ihn ein: der, der zurückprallt, bei ihrem furchtbaren Anblick, wird schon einen Quarter geben und die Dame, die seekrank wird, wenigstens einen Dollar.
»O schau nur, Mama, den da mit der Schuppenhaut! Ist er nicht schön?«
Sie zeigte auf einen Nigger, dem eine grässliche fressende Flechte den ganzen Leib entstellt hatte. Grünlichgelb sah er aus und der verharschte Schürf hing wirklich in dreieckigen Schuppen über seiner Haut.
»Und der da, Kapitän, sieh doch, der da! O wie lustig ist er anzuschauen! Er hat einen Büffelkopf und die Pelzmütze ist ihm gleich festgewachsen!« Blaubändchen klappte mit ihrem Sonnenschirm einem riesigen Schwarzen auf den Kopf. Er litt an einer entsetzlichen Elephantiasis und sein Kopf war angeschwollen wie ein Riesenkürbis. Dazu waren die Wollhaare verfilzt, dicke, lange Lappen hingen von allen Seiten herunter. Der Kapitän suchte die Kleine von ihm abzuziehen, aber sie zerrte ihn, zitternd vor Lust, zu einem andern hin.
»O lieber Kapitän, hast du je solche Hände gesehen? Sage doch, sind sie nicht wunder – wunderschön?« – Blaubändchen strahlte vor Begeisterung, sie beugte sich tief zu dem Bettler hinab, dessen beide Hände die Elephantiasis zu ungeheuerlichen Formen hatte anschwellen lassen. »Mama, Mama, schau nur: seine Finger sind viel dicker und länger als mein ganzer Arm! O Mama, wenn ich doch auch solch schöne Hände haben könnte!« Und sie legte ihr Händchen in die weit ausgestreckte Hand des Niggers, wie ein kleines, weisses Mäuschen huschte es auf der ungeheuren braunen Fläche.
Die schöne Frau schrie hell auf, in tiefer Ohnmacht fiel sie in die Arme des Ingenieurs. Alle beschäftigten sich um sie, der Doktor füllte sein Taschentuch mit Eau de Cologne und legte es ihr auf die Stirne. Aber Blaubändchen suchte in den Taschen der Mutter, nahm das Riechfläschchen heraus und hielt es ihr dicht unter die Nase. Sie kniete am Boden, und grosse Tränen tropften aus den blauen Augen und netzten der Mutter Gesicht.
»Mama, liebe, süsse Mama, bitte werde wieder wach! Bitte, bitte, bitte, Mama! O werde rasch wieder wach, liebe Mama, dann will ich dir noch so viele von den wunderschönen Geschöpfen zeigen! Nein, du darfst jetzt nicht schlafen, Mama: wir sind ja im Feenland!«
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