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Am Hofe von England

Tagebuchnotizen.

27. Juli 1893.

Ich treffe um ½9 Uhr früh in Kiel ein und begebe mich sofort auf die »Hohenzollern« und begrüße den Kaiser. Um 11 Uhr geht die Fahrt an. Der Tag ist schön, die See ruhig. Es wird auf Deck promeniert, und ich spreche viel den Kaiser. Die für Cowes mitgenommene Matrosenkapelle spielt zu den Mahlzeiten.

In der Reisegesellschaft haben sich einige Veränderungen gemacht: die Adjutanten Seckendorff und Hülsen sind durch Arnim und Helmuth Moltke abgelöst. Dazu ist Kapitän Siegel gekommen.

Die Kaiserin war abends vorher nach Wilhelmshöhe abgereist.

Die Fahrt geht durch den kleinen Belt zwischen den dänischen Inseln hin. Die hübsche Landschaft bei sonniger Beleuchtung, die Städte und Orte am Ufer bieten ein abwechselndes, anziehendes Bild. Später geht die Fahrt an der Küste Jütlands hin. Abends wird eine große Zitherpartie mit dem Kaiser arrangiert. Ich spiele das Harmoniflüte dazu.

28. Juli 1893.

Um 5 Uhr kommt Emanuel Der Leibjäger. an mein Bett, da es stark schaukelt. Ich bleibe noch bis 7 Uhr liegen und stehe dann auf. Der Kaiser ist auf Deck. Es war ihm auch nicht wohl. Wir wanderten auf und nieder, und ich legte mich dann auf eine der vielen Chaiselonguen von Rohr, wo ich stundenlang liegenblieb. Um 1 Uhr frühstückte ich auf Deck mit dem Kaiser und Görz. Nachmittags wurde es mir langsam besser, so daß ich schließlich am Abendessen um 8 Uhr teilnehmen konnte. Fast alle litten an der schwankenden Bewegung des Schiffes. Die Bewegung war um so fataler, als eigentlich kein Seegang war. Wir hatten nur an der Nordspitze von Jütland Wellen. Später, als wir die ganze holländische Küste entlangfuhren, war nur geringe Dünung. Der Abend mit Mondschein bei klarem Himmel und mit den zahllosen Leuchtfeuern in Holland wäre herrlich gewesen, wenn nicht das ewige Ankämpfen gegen Übelkeit schließlich die Nerven ganz heruntergebracht hätte.

29. Juli 1893.

Ich erwache nach einer herrlich ruhigen Nacht. Das Schaukeln hatte nachgelassen. Beim Aufstehen ließ der Kaiser sagen, daß die englische Küste sichtbar sei. Ich ging auf Deck und sah Dover in seiner malerischen Lage auf den Kreidefelsen, vom alten Castle überragt. In der Nähe auf einer Sandbank blickten drei Masten eines gescheiterten Schiffes aus dem Wasser. Das Wetter war ruhig und ein wenig nebelig. Von Dover langten auf einem Kutter Botschafter Graf Hatzfeld und Legationsrat Graf Metternich an. Wir frühstückten und promenierten bei den Klängen der Marinekapelle an Deck mit dem Kaiser. Der Kurs ging an der englischen Küste entlang. Folkestone, Brighton wurden sichtbar. Um 1 Uhr wird gefrühstückt. Um 3 Uhr fahren wir zwischen zahllosen Schiffen und Yachten bei Osborne vorüber, das auf der Höhe der Insel Wight liegt, nach Cowes, wo wir vor Anker gehen. Die deutschen Kriegsschiffe salutieren. Es ist ein herrlicher Anblick – die schöne grüne Insel mit allen Fahrzeugen davor.

Bald nach der Ankunft erscheinen der Herzog von Connaugh und der Prinz von Wales. Der Kaiser empfängt sie, als englischer Admiral angezogen, und stellt uns vor. Im Lauf des Nachmittags kommen allerhand Engländer zur Meldung an Bord. Der Kaiser fährt zur Königin. Ich fahre mit August Eulenburg und einigen Herren ans Land, um uns einzuschreiben. Die Insel ist reizend. Es liegen zahllose Landhäuser im Grünen. Am schönsten aber ist der Park von Osborne und der des Landsitzes des Herzogs von Bedford Noris Castle.


30. Juli 1893.

Herrlicher Tag und festliche Beleuchtung. Um 1/2 11 Uhr ist Gottesdienst an Bord, den der Kaiser abhält. Die Musik spielt dazu Choräle.

Dann segeln wir bei ziemlich starkem Wind mit dem »Meteor«, der sehr hübsch, mir aber für den Kaiser zu unsicher scheint.

Um 1 Uhr frühstücken der Herzog von Connaught und die Herzogin (Tochter des Prinzen Friedrich Carl von Preußen), Prinz Christian von Holstein (Schwiegersohn der Königin) und dessen Tochter bei uns.

Später fahre ich an Land und besuche den geistreichen Botschafter Hatzfeld, der leider recht elend ist.

Zum Diner bin ich mit dem Kaiser und dem Prinzen von Wales auf der Yacht »Osborne«. Der Herzog von Connaught, Prinz Eduard Sachsen-Weimar Vetter des Großherzogs Karl Alexander von Weimar, geb. 1823. In englischen Diensten General. Verm. morganatisch mit der Tochter des Herzogs von Richmond, worüber die Königin wütend war und sie zur Prinzessin von Sachsen erhob, da sie sich in Weimar nur Gräfin Dornburg nennen durfte. und Prinz Heinrich Battenberg Gatte der jüngsten Tochter der Königin, Beatrice. Persönlich mit mir seit 1873 in Darmstadt bekannt. Ein sehr liebenswürdiger Mensch. nehmen daran teil. Die Prinzessin von Wales ist noch nicht hier.

Ich sitze neben Prinz Weimar und einem englischen Lord, mit dem ich mich recht gut unterhalte. Der alte Eduard Weimar, Oberstkommandierender a. D., ist ein vortrefflicher, alter und braver General, der kaum mehr deutsch versteht. Der Prinz von Wales ist sehr liebenswürdig zu mir.

Connaught ist ganz charmant und bei weitem der netteste der männlichen Königsfamilie.

Nach dem Diner spielt die Kapelle der »Hohenzollern« auf der »Osborne«.

Eine Depesche aus London, durch Sir Ponsonby, den Sekretär der Königin, an den Prinzen von Wales gebracht, fällt wie eine Bombe in die Gesellschaft: Frankreich scheint England den Krieg erklären zu wollen. Ich befand mich sofort mit Wales in sehr schlimmer politischer Unterhaltung. Wir kehren nach der »Hohenzollern« zurück und halten mit dem Kaiser bis 2 Uhr nachts Rat. Metternich (erster Sekretär der deutschen Botschaft), Kiderlen und ich. Ich schlafe wenig. Alles sieht sehr ernst aus.


Memorandum zum 30. Juli 1893.

Die brennende Politik.

Der Kaiser ging sogleich nach der Rückkehr auf die »Hohenzollern« mit mir in seinen Salon und hatte völlig die Nerven verloren. Ich habe ihn eigentlich niemals so fassungslos gesehen und mußte alle Gedanken zusammennehmen, um ihn mit vernünftigen Argumenten zu beruhigen. Es war nach dem Besuch der französischen Flotte in Kronstadt der zweite große Choc, der sich infolge der Nichterneuerung des Geheimvertrages mit Rußland einstellte.

Das Vorgehen der Franzosen in Siam, die Besetzung des Mekong-Ufers durch sie, die Stellung des Ultimatums an Siam kann nur bedeuten, daß Frankreich seine Machtsphäre in Hinterindien ausdehnen will, und zwar in Anlehnung an Rußland, das Indien im Norden bedroht, während Indien hier von Süden her bedroht erscheint.

Der Kaiser erklärte, »daß Englands Flotte schwächer als die Flotten von Frankreich und Rußland zusammen sei. Auch mit Hilfe unserer kleinen Flotte bliebe England schwächer. Die Franzosen wollten jetzt nun Rußland zu einer Aktion treiben, was bei der feindlichen Haltung Kaiser Alexanders gegen ihn glücken könne. Unsere Armee sei nicht stark genug, um gegen Frankreich und Rußland zu fechten. Die Franzosen hätten sich den Zeitpunkt geschickt ausgesucht. Untätig abzuwarten, daß die Wellen einem über den Kopf zusammenschlügen, sei unmöglich. Das ganze Prestige Deutschlands ginge verloren, wenn man nicht eine führende Rolle übernähme – und ohne eine Weltmacht zu sein, sei man eine jämmerliche Figur. Was soll man tun?«

Ich sagte dem Kaiser, daß in diesem Augenblick die Krankheit Hatzfelds ein Pech sei, weil man nicht mit ihm beraten könne, aber es sei immerhin kein Grund vorhanden, um zu verzagen. Besonders weil ich in der Lage gewesen sei, die Wirkung der bedrohlichen Nachrichten auf sehr maßgebende Persönlichkeiten, wie den Prinzen von Wales, beobachten zu können, nicht minder als auf den Zügen Ponsonbys, der geradezu erschüttert ausgesehen habe – von den anderen allen gar nicht zu reden. Danach sei ich der Meinung, daß England nicht kämpfen, sondern abwarten wird. Vorderhand seien wir Zuschauer, und glückte uns eine solche Rolle im Kriege der anderen Mächte, so würden wir nicht schlecht dabei fahren. Vor allen Dingen solle der Kaiser sich nicht hier für irgend bindende Erklärungen einfangen lassen, sondern möglichst schweigsam die Äußerungen der Engländer mit einem wohlwollenden Lächeln anhören.

Im übrigen dürfte ich wohl jetzt Kiderlen und Metternich holen. Ich zweifele nicht daran, daß sie, ohne daß ich mit ihnen gesprochen, auf meinem Standpunkt stehen würden.

Das geschah. Kiderlen blies in meine Flöte und Metternich (englischer als alle Engländer, die ich heute sprach) glänzte durch absolutes Schweigen sowie durch eines der »bedeutendsten« Gesichter, die er bei solchen Gelegenheiten zu machen in der Lage war.

Als sie gingen, schien der Kaiser ruhiger. Aber er sah miserabel aus – blaß und nervös an den Lippen kauend. Er fühlte sich, mit seinem großen Schriftstrara hier angelangt, plötzlich in eine bescheidene Enge getrieben und politisch ausgeschaltet.


31. Juli 1893.

Ich fahre um 10 Uhr mit dem Kaiser und Admiral von Senden auf die neue Segeljacht des Prinzen von Wales »Brittania«. Die Yacht ist etwas größer als der »Meteor«. Das »Race« begann gegen fünf Yachten gleicher Größe. Drei blieben bald zurück, und die »Brittania« kämpfte mit Lord Dunravens »Valkurie« und einem Amerikaner. Fünfzig Seemeilen wurde gefahren, und die »Brittania« siegte.

Die Aufregung solcher »Segel-Races« ist außerordentlich groß. Aber ganz erstaunlich ist die Geschicklichkeit des Manöverierens der Mannschaften. Das ewige Umlegen des Segels, das schnelle Überlegen des Schiffes von einer Seite zur anderen macht den Aufenthalt an Bord nicht bequem, und ich habe mich um den lebhaften Kaiser so geängstigt, daß ich mehr tot als lebendig nach 4 Uhr wieder an Bord anlangte. Es ist eine schwere Verantwortlichkeit, die Senden auf sich lud, als er den Kaiser zu dieser Segelei brachte.

An Bord der »Brittania« war nur Wales, Mr. Jung (der eine Nordpolexpedition machte, ein alter Herr), ein Spiritusfabrikant, Mr. Jameson (der geschickteste Segler Englands, aber ein anrüchiger Mann, über den die Aristokratie außer sich ist), Adjutant Fortescua, der Kaiser und ich.

Der Kaiser blieb immer oben, und da Wales von 10 bis 4 Uhr unaufhörlich frühstückte, mußte ich stundenlang tête-à-tête mit ihm sitzen. Ich habe ihn gründlich kennengelernt. Ein kluger, liebenswürdiger, aber sehr verschlagener Mensch mit ganz üblen Verbrecheraugen – nicht unser Freund. Die Politik spielte eine große Rolle in unserer Unterhaltung. Die Aufregung über die drohende Kriegsgefahr mit Frankreich hatte sich nicht gelegt. Gott sei Dank traf bei der Ankunft in Cowes ein Brief von Lord Rosebery Minister des Äußeren. ein, der die Lösung brachte.

Um 8 Uhr fuhren wir zu der Königin nach Osborne Castle – in Gala. Wagen mit alten verbrauchten Pferden fuhren uns durch den schönsten Park der Welt auf der Allee entlang, die aus Araukarien, Zedern, Steineichen und Zypressen bestand. Im Schloß Versammlung in einem Salon mit der zahlreichen englischen Königsfamilie. Meine Vorstellung bei den Prinzessinnen erfolgt durch Battenberg und durch Connaught. Lange Unterhaltung mit der Herzogin von Connaught.

Die Königin erscheint in der Tür, macht einen Knix, den alles erwidert – und verschwindet. Wieder Unterhaltung.

Ich erhalte mein Placement und den Auftrag, die schöne Marchioness of Ormonde, Tochter des Herzogs von Westminster, zu führen und neben Prinz Christian von Holstein Bruder des »Augustenburgers« (Herzog Friedrich, Prätendent in Holstein 1863). Prinz Christian, geb 1831, war ebenso wie mein Vater 1860 Rittmeister bei den III. Garde-Ulanen in Potsdam, also mir aus der Jugendzeit sehr wohl bekannt. zu setzen, der, wie alle Schwiegersöhne der Königin, den Hosenband-Orden trägt Ich glaube, daß man in England nur deshalb bei Hof und feierlichen Gelegenheit Kniehosen trägt, um das blaue Strumpfband mit goldener Schnalle am linken Knie zu zeigen. Hat man aber so scheußliche Beine wie der alte Christian, so wäre es besser, die Aufmerksamkeit nicht durch ein blaues Band darauf zu lenken. .

Man wandert durch drei Säle in den indischen Speisesaal. Decke und Wände aus weißem Stuck, von Indern gearbeitet. Elektrisches Licht in den goldenen Tafelaufsätzen – sehr prächtig.

Ich sitze zwischen Lady Ormonde und der Hofdame der Königin, Lady Mac Haviel – zwei höchst liebenswürdigen und schönen Damen.

Es wird von gepuderten Dienern in roten Röcken und weißen Strümpfen serviert, dazu vier Inder und vier Schotten in Nationaltracht. Vortreffliches Dessert. Die Königin im schwarzen Samtkleid mit dem blauen Band des Hosenbandordens, weißem Schleier und prachtvollen Diamanten, auch kleinen Diamantlilien in dem weißen toupierten Haar. Sie steht auf und sagt. » I propose to drink to my dear grandson.« Alles steht auf und murmelt: » The german Emperor.« 5 Takte (!) »Heil dir im Siegerkranz« werden gespielt, und man setzt sich.

Sofort steht der Kaiser auf, sagt » The Queen.« Alles steht auf, jeder murmelt für sich. » The Queen« – und setzt sich wieder.

Als sich das Essen zum Ende neigt, verschwinden zwei Schotten von der Dienerschaft und kehren mit dem Dudelsack unter dem Arm zurück. Einer hinter dem anderen marschierend, in genauem Takt, fürchterlich kreischende Töne spielend. Sie marschieren dreimal um die Tafel, gehen hinaus und kommen zurück, um das Dessert weiter zu servieren.

Man steht auf. Der Kaiser reicht der Königin den Arm. Sie ist nicht größer als ein Kind von dreizehn Jahren. Sehr dick, sehr rot, stützt sich auf einen Stock. Sie reicht dem Kaiser, der englische Admiralsuniform trägt, bis an die Brust.

Man geht in den Salon zurück, wo sich die Königin auf einen kleinen Fauteuil am Kamin setzt, der auf einer Erhöhung steht. Um sie herum, auf der Erhöhung und daneben, waren hohe grüne Gewächse, Lorbeer und dergleichen, aufgestellt. Die Erhöhung war so hoch, daß die kleine dicke Dame sitzend mit ihrem Kopf sich etwa in der Höhe des Kopfes des mit ihr Sprechenden befand. Ihr schwarzes Samtschleppkleid hing ein wenig herab, so daß man den Eindruck einer gewissen Größe empfand.

In großem Kreise steht alles herum. Lady Ampthill (Tochter des Herzogs von Bedford, die frühere Botschafterin in Berlin, jetzt Oberhofmeisterin) tritt an die Königin und flüstert ihr den Namen desjenigen zu, der mit ihr sprechen sollte. Ich bin in langer Konversation mit der Herzogin von Connaught begriffen, die einen herrlichen indischen Schmuck von Smaragden und Perlen trägt. Lady Ampthill holt mich, und ich mache der Königin mein Kompliment, wie auf dem Theater stehend. Die Natürlichkeit und die Leichtigkeit, mit der sie nach der äußerst höflichen Verbeugung die Unterhaltung begann, überraschte mich. Sie begann mit den sehr höflichen Worten, daß sie viel von mir gehört habe. Sie sprach deutsch wie eine Deutsche – und unleugbar liebenswürdig.

Sie sprach von des Kaisers Interessen für die Marine, seiner Yacht – natürlich auch von meiner Musik (sehr beliebtes Thema von Prinzessinnen), von München, von der schönen Natur. Ich pries die herrliche Lage von Osborne. Sie sagte, ich müsse den Park gründlich sehen, den sie selbst angelegt habe – auch die Insel Wight. Sie sagte auch, daß die Kaiserin Friedrich ihr viel von mir gesprochen habe usw.

Wir sprachen »ganz gemütlich«, und doch lag in der Art der Königin zu sprechen eine gewisse Herbheit, eine Betonung, die mir das Gefühl erweckte, daß mit ihr nicht gut Kirschen essen sei.

Die kleine dicke, leidlich böse Frau ging mich gar nichts an und stellte sich mir daher nur als solche dar – und allerdings als das Phänomen, daß alles um sie herum vor ihr zitterte, tatsächlich alles, besonders ihre gesamte weitausgedehnte Familie und Verwandtschaft. Das aber erregte in mir bei ihrem Anblick eine gewisse Komik.

Ich hatte keine Veranlassung, mich vor ihr zu ängstigen, wie alles um sie herum. Ich war in der glücklichen Lage, sie lediglich menschlich zu betrachten, lediglich menschlich mit ihr zu sprechen. Und ich glaube, daß sie das empfand, denn sie unterhielt sich lange mit mir, zu lange, so daß ich die Ungeduld der Hofschranzen hinter meinem Rücken fühlte. Natürlich war die ganze anwesende Gesellschaft (einige dreißig Personen) daraufhin grenzenlos liebenswürdig und höflich mit mir, und ich mußte lachen, daß mich alle Herren auf meinen Orden anredeten, dessen schlichtes schwarzes Band zum silbernen Nordstern ihnen gewaltig imponierte.

Die Engländer haben nur Geschmack in bezug auf ihre Kleidung, daher spielt diese auch bei den Herren eine so überaus große Rolle. Uns deutschen Männern fehlt dieser Geschmack, doch gemeinsam mit dem Engländer haben wir das Gefühl dafür, uns »ordentlich anzuziehen«. Letzteres erhält hier in England aber seinen Ausdruck durch eine merkwürdige Uniformität der Mode und spielt nun auch eine, den Deutschen in Erstaunen setzende Rolle.

Während des Diners machte ich die Beobachtung, daß der Kaiser – sonst so frisch und munter und stets die Unterhaltung führend – neben der alten Königin in seinem Wesen, seiner Haltung, seinem Gesichtsausdruck mindestens wie ihr kleiner Enkeljunge aussah und auch in seiner Art zu antworten (denn die Königin anzusprechen, schien er gar nicht zu wagen), eine Art kindlicher Devotion zeigte, die mich fast rührte (wenn sie mich nicht geärgert hätte).

Es war doch wohl die gewisse »Familienangst«, von der ohne Ausnahme der ganze Clan Koburg beherrscht war, und ich begreife es bis zu einem gewissen Grade, wenn ich mir einen eisig-harten Blick vergegenwärtige, der stets eintritt, sobald die Königin aufhört zu sprechen und um sich blickt, und ich mir die Machtfülle zugleich vorstelle, die diese kleine dicke Dame in sich verkörpert. Machtfülle bezüglich Stellung- und Ehrenausteilung und Machtfülle des großen Geldbeutels, aus dem die ganze englische Königsfamilie und das Heer der Hofchargen gespeist wird – des Geldbeutels, den sie sofort zuschnürt, wenn eine von ihr abhängige Persönlichkeit ihr Mißfallen erregt oder sich ihre Sympathie verscherzt.

Mein Freund Lecomte, der bei der französischen Botschaft nun schon seit einer Reihe von Jahren arbeitet und genau durch private Beziehungen bei Hofe orientiert ist, erzählte mir, daß mit Zittern und Zagen jeden Morgen um 11 Uhr die ganze Familie der Königin am Fenster steht oder sitzt, um zu sehen, ob etwa ein gewisser bekannter Lakai der Königin mit einem Billett erscheint – oder ob der Kelch vorübergeht. Denn zwischen ½10 und ½11 Uhr schreibt die Königin ihre Billetts, in denen sie mitteilt, was ihr am vergangenen Tage »unangenehm aufgefallen‹ sei – und woran sich kleine Strafen knüpfen, die bisweilen sehr fühlbar sind. In diesem Frühjahr hatte der Herr Schwiegersohn, Prinz Christian von Holstein, Gatte der Prinzessin Helene, der mit dem Titel eines Gouverneurs und Jägermeisters in Windsor-Park das dazu gehörige Haus Cumberland-Lodge bewohnt, die Königin durch irgend etwas geärgert. Sofort entzog sie ihm die Wagenpferde – und da dieses Ehepaar vollkommen materiell von der gestrengen Mama abhängig war, so mußte es nun zu Fuß gehen, und das dürfte sogar noch jetzt andauern.

Während ich bei dem Diner meine Beobachtungen anstellte, bemerkte ich auf einmal, daß meine schöne Nachbarin, die Marchioness of Ormonde, während sie mit mir sprach, fast immer zu der Königin hinüberschielte und einmal mitten im Satz die Unterhaltung plötzlich abbrach, Messer und Gabel wie erstarrt auf den Teller sinken lassend. Ich folgte ihrem vergeisterten Blick und entdeckte, daß die harten Augen der Königin, die uns schräg gegenübersaß, auf Lady Ormonde ruhten. Ich bin überzeugt, daß die Königin nichts Tadelnswertes an meiner ebenso vornehmen wie liebenswürdigen Dame finden konnte, die überdies allgemeine Achtung genoß, aber es war eben die Angst, »das Schicksal«, das sich in diesem Blick ausdrückte, wie die paura der Italiener, die nicht als eine Feigheit, sondern als eine Art berechtigte körperliche Erscheinung angesehen wird. Lady Ormonde als unabhängige Peeress und Herzogstochter brauchte schon deshalb nicht einen etwaigen Zorn der Königin zu fürchten. Ich verbiß mir die sehr naheliegende Bemerkung, »daß es doch wohl nur ihre Schönheit sei, die die Königin bewundert habe«, mußte aber konstatieren, daß die schöne Frau mindestens während zehn Minuten noch zerstreut meiner Unterhaltung folgte, und ich mußte zu meinem Erstaunen auch meine linke Nachbarin, die reizende Lady Mac Haviel, in Zerstreutheit ertappen, wohl nur aus Angst, daß der Blick der Königin von Lady Ormonde nun zu ihr hinübergleiten werde!

Als Erscheinung hatte die Königin allerdings an der Tafel in dem schwarzen Samtkleid mit dem blauen großen Band des Hosenbandordens, dem strahlenden Diadem und dem weißen Spitzenschleier etwas Imposantes, denn sie saß auch hier höher als die anderen, und hinter ihr standen regungslos zwei alte bärtige Inder in buntseidenen Gewändern und Turban mit Agraffe, die den Rang von »wirklichen Geheimen Räten« haben und zur Betonung der Würde einer Kaiserin von Indien nicht fehlen dürfen – Erscheinungen mit blitzenden Augen und stolzen Zügen. Neben ihnen noch zwei alte Hofbediente in goldgestickten Uniformen, die gleichfalls nichts zu besorgen hatten, als den Ausdruck ihrer Würde strahlen zu lassen. Dieser gesamte Aufbau erinnerte bis zu einem gewissen Grade an eine Sultanerscheinung, und rechne ich die allgemeine Angst dazu, so bewundere ich schließlich doch diese kleine dicke Frau mit den Hängebacken, die oft genug den entscheidenden Sitzungen des Ministeriums präsidierte und ihre Meinung entscheidend in die Wagschale großer politischer Fragen warf.

Tagebuch.

1. August 1893.

Der Lord-Kommandant der Flotte von Portsmouth, der sehr liebenswürdige Earl of Clanwilliam, hat uns ein Torpedoboot zur Verfügung gestellt, mit dem wir früh um 7 Uhr von der »Hohenzollern« nach Southampton fahren. August Eulenburg, Görz und ich. In London, wo wir nach einer Fahrt von zwei Stunden durch hübsches grünes Land eintreffen, empfängt mich der gute Lecomte, der noch erster Sekretär bei der französischen Botschaft ist, unverändert nett und sehr erfreut über meinen Besuch.

Wir essen zusammen in einem Restaurant und fahren spazieren, besuchen dann die unbeschreiblich schöne Westminster -Abbey mit ihrem Wald von Denkmälern und merkwürdigen Erinnerungen und fahren zum Abend in einen Vergnügungspark, wo die Bastille in natürlicher Größe mit der davorliegenden Straße aufgebaut ist.

Es wird dann die Flucht eines Gefangenen dargestellt, der sich von oben aus dem Fenster hinabläßt, woran sich ein Kampf und sodann die Erstürmung anschließt –- mit anhaltendem Schießen.

Nach dieser wirklich interessanten Schaustellung gingen wir zu einem großen Bassin, aus dem ein schräger Berg (den Niagarafall vorstellend) aufsteigt, in der Höhe eines mindestens dreistöckigen Hauses. Von dieser Höhe, zu der man auf schwindelnden Treppen hinaufsteigt, rollen kleine Boote auf Rädern mit toller Geschwindigkeit hinab in das Bassin. Durch das Aufschlagen der Boote auf das Wasser entstehen hohe Wellen, auf denen das Boot wie in wilden Galoppsprüngen in einer Wolke von Schaum vordringt und zum Ufer schwimmt. Echte Indianer in Nationaltracht lenken die Boote hinunter mit wildem Kriegsgeheul. Ich habe selten etwas Amüsanteres gesehen und niemals etwas Verrückteres, aber es war ein Hauptvergnügen hinunterzufahren. Diese Fahrt ist jetzt der große Sport der englischen Gesellschaft und besonders aller Damen (!!), wenn sie auch naß werden von oben bis unten.

Erst um 12 Uhr nachts kehrte ich nach Hause zurück, denn es war auch sehr lustig, am Ufer des Bassins die vor Aufregung verzerrten Fratzen der englischen Sporting-Misses mit ihren offenen Mäulern und Raffzähnen zu sehen. Die meisten von ihnen schrien wie am Spieß – wiederholten aber immer von neuem die Indianerfahrt, die übrigens einer großen Geschicklichkeit des steuernden Winetu oder Chingakgok bedurfte, um beim Aufschlagen des Bootes nicht umzuwerfen.

2. August 1893.

Ich machte früh einen Gang in den Hydepark, an dem mein Hotel liegt, und amüsierte mich über die mittelmäßigen Pferde, schlampigen Reiter und Reiterinnen in ihren ganz beliebigen, kaum für das Reiten adjustierten Anzügen, also völlig anders als was in Deutschland für englisch gilt.

Um 12 Uhr holte mich Lecomte ab, um die herrliche, nur auf besondere Einladung zugängliche Gemälde- und Waffensammlung von Sir Richard Wallace (dem illegitimen Sohn und Erben des sehr reichen Lord Hertford) zu sehen. Wallace starb vor einigen Jahren. Seine Witwe wird die Sammlung an Paris (wo er auch ein Palais besaß) und an London geben. Alle berühmten Meister der Alten sind in herrlichen Bildern vertreten. Dazu die berühmtesten modernen Meister (unter anderen zwanzig Meissoniers). Der Reichtum der Waffensammlung ist geradezu fabelhaft.

Wir trafen dort einen Lord Sommerset-Beauford, einen sehr vornehmen und sehr reichen Junggesellen, und die Marchioness of Shrewsbury, die Witwe des »ersten« Grafen Englands, eine Frau, die einst die Schönste von England genannt wurde, von der aber leider nur die Koketterie übrigblieb. Sie ist die Mutter der Lady Londonderry (der Gattin des reichsten Lords Englands), die nun auch die schönste Frau Englands sein soll. Ich finde es allerdings durchaus nicht. Ich lernte sie in Osborne kennen mit einem Diamantenschmuck, der einen Wert von mehreren Millionen darstellte.

Lord Sommerset lud uns und Lady Shrewsbury mit ihrer reizenden kleinen Enkelin von siebzehn Jahren zum Frühstück in sein sehr elegantes Haus. Dazu kam noch Oberst Slade von der englischen Botschaft in Rom. Es war recht lustig und angenehm – und höchst originell in dem vollkommenen sans gène, trotz neuer Bekanntschaft.

Gegen Abend fuhr ich zur Westminster-Abbey, die mich in dieser matten Beleuchtung von neuem entzückte.

Um 8 Uhr machte ich mit Lecomte, Görz, Cuno Moltke und Hülsen eine Partie in die Earlscourt Exhibition, wo wir von Lecomte zum Essen geladen waren.

Nachher wurde wiederum die Erstürmung der Bastille gesehen und die tolle Niagara-Indianer-Wasserfahrt gemacht. Erst um Mitternacht kehrten wir nach Hause zurück. Das Wetter ist immer herrlich.

3. August 1893.

Ich fahre morgens in den Tower, den ich nicht kannte. Die Fahrt bis dort durch die City war sehr mühsam wegen ewigen Encombrements von Wagen. Der Tower enttäuschte mich. Nur das Bewußtsein, an so unendlich erinnerungsreicher Stelle zu sein, war mir etwas wert. Die Kronjuwelen aber interessierten mich, da ich Edelsteine liebe.

Um 1 Uhr fahren wir: Lecomte, Görz, Cuno Moltke und Georg Hülsen, nach Windsor mit der Bahn. Wir haben eine besondere Erlaubnis von dem Kammerherrn der Königin und werden entsprechend honoriert und überall eingelassen.

Wir besuchen zuerst die St. Georges-Chapel, ein großes Meisterstück alter Gotik mit den Wappen aller Ritter des Hosenbandordens an den Wänden. Sodann die Grabkapelle des Prinz Consort Albert, eine von Pracht und schlechtem Geschmack strotzende Kapelle. Nachher findet die Besichtigung des Schlosses von Windsor statt.

Es ist ein sehr uraltes Castle – wohl aus der Römerzeit stammend – und wurde von Wilhelm dem Eroberer als festes Schloß bewohnt. Es befand sich völlig in Verfall, als die Königin Viktoria und ihr Prince Consort den Beschluß faßten, es zu ihrer Residenz und zum Sommersitz auszubauen.

Dieser innere und äußere Ausbau gehört keinem Stil an, bis auf das äußere Bild, in dem der beliebte Tudorstil festgehalten wurde, den bereits die festungsähnliche Anlage Windsors darstellte. Keinem Stil gehört der Um- und Ausbau deshalb an, weil die Epoche, die (französisch gedacht) Louis Philippe und Second Empire, d. h. etwa die Jahre 1835 bis 1860 umfaßt, ein nichtssagendes Konglomerat von Stilen darstellt. Man kann in der Ausgestaltung und dem Mobiliar der Räume alles finden: Biedermeier, Rokoko, Gotik – verarbeitet zu sonderbaren Mischungen großer Scheußlichkeit, doch bequem. Die großen Sofas, Fauteuils und Stühle waren immerhin gemacht, um darauf zu sitzen. Genau in den genannten Jahren, d. h. hier 1840 bis 1860, könnte man also diesen Stil Queen Viktoria- and Albert-Stil nennen, denn hier feierte die Geschmacksrichtung dieses jungen Ehepaares (es hatte 1840 geheiratet) seine Triumphe. Mit den denkbar größten Geldmitteln wurde die Burg Wilhelms des Eroberers (Herzogs von der Normandie, der sich 1066 in Westminister zum König von England krönen ließ) ausgebaut, hergerichtet und – was das Schlimmste ist: möbliert.

Hierzu möchte ich nur nennen. die Bibliothek, bestehend aus gelben Schränken mit leichter Verzierung, in die alle vorhandenen kleinen Originalporträts von Holbein der gesamten englischen Aristokratie aus der Zeit Heinrichs VIII. eingelassen sind. Rücksichtslos auf Farbe und Stimmung der herrlichen Porträts, die durch das glatte rötlich-gelbe Holz geradezu vernichtet sind – ganz abgesehen davon, daß alle ursprünglichen Rahmen tatsächlich vernichtet wurden.

Noch ein anderes Kuriosum ist hier zu schildern, das nach sehr vielen Richtungen sehr sonderbar ist. Zunächst will ich bemerken, daß wohl sehr wenige Menschen eine lebensgroße Marmorgruppe zweier Figuren in einem Mahagonischrank gesehen haben dürften. Man tritt in Windsor-Castle in das große Vestibül – die Vorhalle –, aus der eine große Marmortreppe in das obere Stockwerk führt. Neben der Sohle der sich hinaufwindenden Treppe steht ein riesiger, sehr opulent ausgestatteter Mahagonischrank, dessen Zweck nicht sofort erkennbar ist. Jedenfalls habe ich niemals in einem Schloß mitten auf dem Flur, und zwar von Blattpflanzen umgeben, einen Mahagonischrank gesehen. »Was ist da?« fragte ich, und der ernsthafte Führer schritt mit einem Schlüssel darauf zu, schloß die beiden Türen auf – und zu meinem maßlosen Erstaunen saß eine zierliche weibliche weiße Marmorfigur in griechischer dürftiger Gewandung auf einem Postament und eine große männliche Figur, gleichfalls in griechischer Gewandung, sehr wenig bekleidet, hatte zärtlich den Arm über die junge Dame gelehnt und das schöne Haupt über sie gebeugt. » Her Majesty the Queen and the prince Consort«, sagte der ernsthafte große Schloßbeamte, machte die Türen des verdächtigen Mahagonischrankes wieder zu, schloß ab und steckte den Schlüssel bedächtig in die Tasche. Ich war sprachlos. »Wer hat den großen Schrank ...?«, fragte ich bescheiden. » Her Majesty«, sagte der ernste Beamte, als ob das alles ganz selbstverständlich sei. Die arme alte dicke Königin! So hat sie allerdings wohl niemals ausgesehen, so niedlich (wenn auch vielleicht so zärtlich): eine junge Nymphe, ein wenig traurig. Ich glaube, daß es etwa bedeutet Hektors Abschied von Andromache: »Will sich Hektor ewig von mir wenden« – dazu ist aber Andromache nicht traurig genug. Es kann eher heißen: ein großer junger Grieche will eine kleine Venus küssen, die er irgendwo gefunden hat.

Jedenfalls hat » Her Majesty« diese Porträtdarstellung später einmal »zu intim« gefunden und deshalb – einen Mahagonischrank bestellt. Abgesehen von diesem, immerhin erfreulichen Vorgang einer durch Mahagoni ausgedrückten Sittsamkeit bleibt die Aufstellung der Schloßbesitzer in dieser zärtlichen Stellung und in griechischer Kleidung (soweit von Kleidung die Rede sein kann) im Haupteingang eines alten Castles von Wilhelm dem Eroberer eine Groteske. Der Ideengang, das Griechentum – und zwar in dieser zärtlichen Form – in Verbindung mit Wilhelm dem Eroberer zu bringen, kann eigentlich nur durch eine historische Verwechslung erklärt werden. (Vielleicht 1000 Jahre vor und nach Christi Geburt.) Aber ganz abgesehen von den erschütternden historisch-stilistischen Irrtümern bleibt doch der Gedanke entzückend. als Hausherr und Hausfrau die eintretenden Gäste sofort in Marmor, griechisch, zu begrüßen und ihnen damit anzudeuten, wie innig das Familienleben in diesem Hause ist.

Ich habe niemals in meinem Leben etwas ähnliches erlebt. Es ist ein ganz einzig dastehender Vorgang, von welcher Seite man ihn auch betrachten möge. Er wird mir immer wieder von neuem allerhand köstliche Anregungen geben, denn er liegt so erfrischend ganz außerhalb der Gedankenmöglichkeiten, in denen wenigstens ich mich bisher zu bewegen imstande war.

Ich habe es deshalb für nicht ganz unangebracht gehalten, diesem Vorgang bei meiner Rückkehr nach Liebenberg eine längere Betrachtung zu widmen, als sie der Form und dem Umfang dieser, an meine Mutier gerichteten Tagebuchbriefe aus England entsprechen. Ich meinte, daß der Vorgang, auch abgesehen von allen überraschenden Gedanken und Empfindungen, die darin zum Ausdruck kommen, der Erwägung Raum gibt, daß man nach England reisen muß, um derartiges zu sehen – oder besser gesagt: zu erleben.

Es mag auch diese Betrachtung als ein Beleg für meine bereiis gemachte Bemerkung gelten, daß den Engländern völlig der Sinn für das abgeht, was wir mit Geschmack bezeichnen, daß sie nur den Geschmack für Kleidung und Parkanlagen haben, für andere Dinge, die der Welt der Kunst angehören, mit ganz geringen Ausnahmen nicht. Sie haben den Sinn für Kunstsammlungen, dies wohl aber, weil damit ein materieller Wert verbunden ist.

Windsor ist wirklich scheußlich. Wir gingen während zwei Stunden durch die Säle und Galerien – hin und wieder herrliche Gemälde, meistens Porträts, bewundernd, sonst aber ganz verzweifelt über den Anblick dieser hellgelben Gotik aus den vierziger Jahren – wirklich unerträglich. Nur der Blick von der Terrasse, den Söllern und Balkonen auf den riesigen Park ist unvergleichlich schön: der Eindruck einer herrlichen grünen Landkarte mit riesigen Alleen, Wiesenflächen und der sich schlängelnden, hier so lieblichen Themse.

4. August 1893.

Um 1 Uhr treffe ich auf der Bahn mit Görz und Cuno Moltke zusammen, um nach Cowes zurückzufahren. Sie wohnten im Hotel Albemarle, ich im Alexander-Hotel, um näher von Lecomtes Wohnung zu sein, der sehr beschäftigt ist, denn Siam ist im Gange.

Bei heftigem Sturm fuhren wir von Southampton nach Cowes hinüber, wo alle buntbeflaggten Schiffe und Jachten auf grünem Meer mit dem Hintergrund eines stahlgrauen Himmels einen entzückenden Anblick gewährten.

Ich meldete mich bei dem Kaiser, der höchst lustig und wohl ist, zog mich um und fuhr allein mit ihm zum Diner bei dem Prinzen von Wales auf der Yacht »Osborne« Ein Diner en famille – und daß ich allein mit dem Kaiser Gast war, war ziemlich auffallend. Ich führte Prinzessin Maud Die nachmalige Königin von Norwegen. (Tochter des Prinzen) und saß neben der bildschönen und liebenswürdigen Prinzessin von Wales, mit der ich mich vortrefflich unterhielt, wenn sie auch sehr taub ist. Es ist unglaublich, daß sie Mutter erwachsener Kinder ist, denn sie sieht wie ein junges Mädchen aus.

Die Herzogin von York (geb. Teck, eben, seit 6. Juli verheiratet) ist gleichfalls bildhübsch und nicht minder Prinzessin Maud; dazu sind die Damen sehr elegant, so daß das Gesamtbild außerordentlich angenehm wirkte. Die Prinzessin von Wales, die in einem dunkellila Samtkleid mit herrlichen Perlen erschienen war, erinnerte sich sehr genau meines Schwiegervaters Graf Sandels war damals kommandierender General und residierte in Helsingborg. Seine Tochter Augusta war seit 1875 die Gattin Philipps zu Eulenburg., von Helsingborg her, wo sie als dänische Königstochter in Kopenhagen Nachbarin war – auch Augustas.

Der Prinz von Wales war wieder sehr vertraulich mit mir, und die Politik spielte natürlich eine Rolle in unserer Unterhaltung.

Nachmittags fand in dem reizenden Salon des Schiffes die Vorführung von entzückenden japanischen Hunden und eines schrecklichen alten Pudels statt sowie des Lieblings der Prinzessin, eines chinesischen Hundes.

Dann zog ich mich schnell in einer Kabine um und fuhr mit dem Kaiser und Wales zum Klub, von wo aus wir das Feuerwerk besehen wollten, das den Abschluß der Cowes-Woche bildet. Es war zauberhaft schön. Alle Schiffe illuminiert bis über die Masten, und dazu das Feuerwerk, das etwa 200  000 Mark kostete! – eine wahre Sünde! – aber ein herrlicher Anblick auf dem glitzernden Meer.

Im Klub lange Unterhaltung auf der Terrasse mit der Marchioness of Ormonde-Westminster und der Marchioness Londonderry-Shrewsbury, den bekannten Schönheiten Londons, denen Wales sehr huldigt. Dann entdeckte ich unter der Damenmenge plötzlich im Pavillon Mrs. Helyard Die Gattin eines englischen Legationssekretärs in München, Freundin der reizenden Mrs. Cotton, die in München malte – auch ein Porträt von mir nicht ohne Talent zustande brachte. mit Mrs. Cotton. Ich arrangierte ihnen die Besichtigung der »Hohenzollern« für den nächsten Tag.

Nach einer Stunde Aufenthalt im Royal-Klub endlich Rückkehr auf die »Hohenzollern«, die bei Mondschein in elektrischem Licht herrlich strahlte.

5. August 1893.

Ich hatte mich mit Görz beurlaubt, um die Insel Wight zu sehen. Wir fuhren mit der Bahn von Cowes nach Ventnor. Die Insel ist im Innern nicht bemerkenswert, an der Küste jedoch herrlich. Wir nahmen in Ventnor einen Wagen und fuhren auf die steilen Höhen des Ufers, die von Kreidefelsen, wie bei Saßnitz, gebildet sind. Am Abhang des Randes liegen hübsche Miethäuser in grünen Gärten. Allenthalben wachsen Steineichen und immergrüne Büsche und wuchern Efeu und große Sträucher von blühenden Fuchsien, die hier zu Haus zu sein scheinen.

Ventnor selbst macht einen südlichen Eindruck, etwa wie ein Ort am Mittelländischen Meer. Wir fuhren über das reizend im Grünen gelegene Bernchurch mit poetischer Kirche und Friedhof nach Shanklin, einem anderen Badeort, der ähnlich wie Ventnor liegt. Hier verließen wir den Wagen und wanderten durch den Shanklin- Chine, eine Schlucht, die zum Strande führt. Mit ihren Ranken und immergrünen Bäumen, den großen Farren und Schlinggewächsen macht diese Schlucht fast einen tropischen Eindruck. Da wir aber leider nur wenig Zeit für die Partie hatten, mußten wir zum Zug eilen. Den sonnigen Strand entlang, bei den Badehütten vorüber, liefen wir den Weg zu der Station hinauf. Görz vergoß Ströme von Schweiß und war ganz außer sich. Der Zug hatte glücklicherweise Verspätung, und so kamen wir rechtzeitig zu der Abfahrt.

In Cowes trafen wir dann um 4 Uhr ein. Um 5 Uhr fand große » party« auf der »Hohenzollern« statt. Das Deck war hübsch mit Fahnen dekoriert. Fünf bis sechs Tische (mit Blumen in schönen Silbervasen) standen bereit für den Tee. Man war im Überrock und trug die blaue Klubmütze. Es erschienen Herzog und Herzogin von Connaught, Herzog und Herzogin von York (die Neuvermählten), Prinz und Prinzessin Battenberg, Prinz Eduard von Sachsen, Prinzessin Louise mit ihrem Gemahl Marquess of Lorne, Marquess und Marchioness Ormonde, geb. Westminster, Lady Gerard, Earl of Clanwilliam mit Frau, kommandierender General, Töchter und Sohn Lord Guilford, der soeben von der bei Tripolis in Syrien am 23. Juni untergegangenen »Victoria« kam – wie durch ein Wunder gerettet.

Er war Ordonnanzoffizier bei dem Chefadmiral Tryon. Das große Panzerschiff überschlug sich nach einer gewaltigen Kollision mit dem Panzer »Camperdown«. Er sah es über sich stürzen, wurde in einen Strudel hinabgerissen, plötzlich emporgeschleudert, geriet in einen Haufen Matrosen, mit denen er wieder versank und wurde dann durch den Luftdruck eines unter dem Wasser explodierenden Kessels wieder hinaufgeschleudert und gerettet. Admiral Tryon (gerühmt und bewundert) war ein gefährlicher Säufer sein Leben lang. Sein besoffenes Kommando verursachte die Katastrophe. Er mit 22 Offizieren und 238 Mann kamen um. Lord Guilford gestand es mir, zitternd vor Erregung.

Weitere Gäste waren Lord und Lady Waterfort, Marquis und Marquise Martinengo, aus Sizilien mit ihrer Yacht hier angelangt, Bekannte des Kaisers aus Rom. Die Marquise ist Palastdame der Königin von Italien, eine hübsche, sehr elegante Frau, Fürstin Doria, Tochter des Herzogs von Newcastle, eine kleine einfache blonde Frau, sehr angenehm und nett. Sie gab bei Anwesenheit des Kaisers in Rom das große Fest in ihrem berühmten Palazzo Doria.

Ich saß mit den Prinzessinnen Louise und Beatrix (Battenberg) an einem Tisch und unterhielt mich vortrefflich, besonders mit der charmanten Prinzessin Louise, die künstlerisch sehr gut veranlagt ist. Sie schuf das Denkmal der Königin, das vor dem Kensington-Palace steht. Ich muß hierzu in Paranthese eine kleine Geschichte erzählen.

Es ist kein Geheimnis, daß die alte Königin geizig ist. Sogar sehr geizig – nehmen wir an im Interesse ihrer vielen Kinder. Prinzessin Louise hatte den Erben des Herzogs von Argyll geheiratet – der alte Herzog aber wollte durchaus nicht sterben. So wurde denn der Marquess of Lorne alt, Prinzessin Louise blieb nicht jung – und das Ehepaar lag auf der Tasche der Königin, fast so schwer wie die Ehe Christian von Holstein (Prinzeß Helene). Während sechs Jahren war der Marquess of Lorne Vizekönig von Kanada. Da half das glänzende Gehalt. Aber weil er nicht ewig in Kanada bleiben konnte, entstand nach der Heimkehr wieder der alte Druck auf den großen Pompadour der Königin.

Eines Tages entdeckte die Gemeinde von Kensington in London, daß die Königin, da sie im Schloß zu Kensington geboren war, noch immer kein Denkmal im Kensington-Park habe. Man sammelte; ein schönes Geld kam ein, und man übergab der Königin die Summe mit der Bitte, den Künstler zu bestimmen. Da fiel der Königin ein, daß ihre Tochter Louise sehr gut malt, wahrscheinlich auch modelliert, denn sie war unleugbar genialisch. So nannte die Königin den Künstler. Louise, Marchioness of Lorne, und diese ging hurtig an die Arbeit. Das Denkmal, das sie zuwege brachte, war durchaus nicht schlecht.

Der Schlußakt dieses Dramas aber scheint mir fast noch besser zu sein als das Denkmal. Die Königin händigte der Prinzessin Louise die ausgesetzte Summe ein – gab ihr aber während zwei oder drei Jahren keine Zulage. Allerdings hatte die Prinzessin die Freude der Arbeit gehabt, auch die Freude einer Anerkennung. Was aber der Marquess of Lorne gesagt hat, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er nicht den alten Herzog von Argyll totgestochen, um sich zu retten – denn der lebt immer weiter.

Ich kehre nun zu der » party« auf der »Hohenzollern« zurück. Die Damen erschienen in kurzen Promenadekleidern, weiß oder marineblau, mit kurzen Paletots in gleicher Farbe oder in gelblichem Tuch. Sie trugen fast alle Matrosenhüte mit buntem Band. Gegen 8 Uhr war das Fest zu Ende.

Der Hauptmoment, der Clou des Festes, bestand in dem Erscheinen der Königin auf der Yacht »Alberta«. Sie wollte die »Hohenzollern« sehen, kann jedoch nicht die Treppen hinaufsteigen und umkreiste uns deshalb dreimal. Es wurde auf den deutschen Kriegsschiffen geschossen. Die Musik spielte: » God save the Queen« und die Matrosen riefen Hurra. Die Königin saß in einem schwarzen Kleide, ein weißwollenes Tuch um die Schultern und einen großen schwarzen heruntergeklappten Strohhut auf dem Kopfe, auf Deck und grüßte freundlich hinüber. Ich gäbe viel darum, zu wissen, ob sich die Inder so ihre Kaiserin vorstellen! Beatrice Battenberg mit ihren Kindern war von Bord der »Hohenzollern« gegangen, um die Königin zu begleiten. Auf dem Hinterdeck der »Alberta« standen Offiziere in roten gestickten Uniformen, salutierend, dazwischen Inder und Schotten. Es war ein hübsches, festliches Bild. Die Engländer, die ihre Königin fast niemals sehen, waren sehr aufgeregt und präokkupiert.

Der Kaiser fuhr gegen 8 Uhr zum Familiendiner bei der Königin. Nach 10 Uhr kehrte er auf die »Hohenzollern« zurück, wo ich noch eine Stunde mit ihm zusammensaß.

Es war Nacht geworden. Wir tranken, bei spärlicher Beleuchtung auf den bequemen großen Rohrsesseln sitzend, ein Glas Bier, während die unvermeidliche Erörterung der politischen Lage erfolgte, die trotz der Mitteilung Lord Roseberys, daß eine momentane Entspannung eingetreten sei, immer noch nicht geklärt erschien und dem Kaiser Kopfzerbrechen verursachte. Mehr als mir, denn ich sah momentan keinen europäischen Konflikt vor mir. Bei einer in kolonialen Fragen sich abspielenden Interessenpolitik Englands, Frankreichs und Rußlands, deren Mittelpunkt in Indien lag, sah ich – gottlob – keine Bedrohung unserer Interessen.

Vor allen Dingen wollen wir doch einmal, nach unserer glücklich unter Dach gebrachten Militärvorlage, die Armee verstärken und reorganisieren – dann läßt sich ja nachher meinetwegen auch einmal über Siam sprechen. Aber wenn zugleich und zu dem »sich in den Armen liegen in Cowes« der verdrehte Senden eine Kriegsflotte baut, so möchte ich wirklich wissen, mit was ich den Kaiser politisch beruhigen soll – und schließlich, womit ich mich noch beruhigen soll.

Es ging hin und her bei der Unterhaltung, und es war mir recht unangenehm, daß die Herren aus der kaiserlichen Umgebung, hin und wieder zu uns hinüberlugend, nicht stören wollten. Ich konnte sie natürlich nicht rufen.

Nun kam aber die Unterbrechung, wenn auch von anderer Seite. In der Dunkelheit zwischen den Yachten aus aller Herren Länder – viele Hunderte –, die in Form von langen Straßen vor Anker lagen, hörte man fast unaufhörlich Ruderschlag oder das stoßweise Dampfen der kleinen Pinassen, die späte Bordbewohner in ihre Kombüsen brachten. Plötzlich erhob sich in einiger Entfernung ein fürchterliches Schimpfen und Lärmen. Dazwischen das Dampfen einer Pinasse. Dann wieder verstummte alles. Nach kaum fünf Minuten wiederholte sich dasselbe an einer anderen Stelle. Nach weiteren fünf Minuten wieder noch an anderer Stelle – dazwischen tiefes Schweigen. Da es weiter so fortging, wurden wir unruhig und der Kaiser schickte eine Pinasse mit einem Offizier, um zu hören, was es gab. Nach einiger Zeit kehrte dieser zurück – und das sonderbare plötzliche Lärmen war verstummt.

Der Offizier meldete, »es sei von unserem deutschen Kreuzer ein Seekadett mit zwei Mann der Besatzung der Pinasse an Land gewesen. Bei der Rückfahrt sei ein kleiner Defekt an der Maschine eingetreten, der die Gefahr einer Explosion zeigte. Darauf seien die beiden Heizer über Bord gesprungen und von fremden Schiffsleuten aufgenommen worden. Der Kadett, der steuerte, habe nun versucht, zugleich auch noch die Maschine in Gang zu halten, soweit das möglich war. Hierbei sei er unter das Bugspriet einer Yacht geraten und der Schornstein habe sich dabei umgelegt und ihn eingeklemmt. Nun sei die Pinasse ohne Steuerung weitergefahren, habe verschiedene Schiffe angerannt, und da niemand ihn verstanden habe, sei die Pinasse mit Stangen und Haken von den Schiffsleuten fortgestoßen. Natürlich habe die Pinasse, weil keine Steuerung vorhanden war, zugleich die Feuerung aber funktionierte und der Kadett sich nicht rühren konnte, verschiedene Schiffe angerannt – bis zufällig ein deutsches Ruderboot die Lage des Kadetts entdeckte und die Pinasse zu ihrem Kreuzer gebracht habe.«

Der Kaiser war begeistert. »Der Bengel ist wirklich großartig! – Er muß sofort eine Belobigung von mir erhalten – auch die Medaille. Natürlich müssen die beiden anderen Leute eingesperrt werden, sobald sie sich wieder melden. Aber das muß ich sagen: eine solche Courage, ein solcher Schneid, wie ihn der Bengel hatte, bei der Gefahr der Explosion zu versuchen, erstens die Feuerung in Gang zu halten, zweitens auch noch steuern zu wollen, um die Pinasse nach Hause zu bringen – das muß hier bekanntwerden. Clanwilliam wird Augen machen!«

Der Offizier stand immer stramm. »Na also: – die Belobigung. Gute Nacht!« Der Kaiser begrüßte die neugierig herbeigeeilten Fahrtgenossen und ging mit jenem Schritt, der seine gute Stimmung kennzeichnete, zu Bett.

Auch ich begab mich zur Ruhe, war jedoch noch nicht ausgezogen, als an meine Kammertür geklopft wurde und ein paar Herren vom Gefolge eintraten. »Das ist eine schöne Geschichte!« tönte es mir lachend entgegen – und doch lag eine gewisse Unruhe in den Zügen.

»Es kam eben«, so lautete die Mitteilung, »von dem Kreuzer ein Leutnant, der Senden sprechen wollte. Das Pinassen-Abenteuer hat sich anders aufgeklärt. Der Seekadett und die beiden Leute hatten sich an Land schwer besoffen. Bei der Heimfahrt steuerte der Kadett und fuhr unter ein Bugspriet, der Schornstein legte sich um, der Kadett war aufgesprungen, stolperte und wurde unter den umgelegten Schornstein geklemmt. Die Feuerung geriet in Unordnung, der Dampf schlug an verkehrter Stelle hinaus und die beiden anderen Leute, schwer betrunken, sprangen aus Angst vor einer Explosion über Bord. Das wurde durch die Aussage des einen, der sich eben wieder an Bord des Kreuzers gemeldet hat, festgestellt. Natürlich hat die Pinasse, die wie ein wildes Tier ohne Steuerung gegen die verschiedenen Yachten antobte und mit Stangen und Rudern fortgestoßen wurde, allerhand Schaden angerichtet, der noch Ersatzansprüche zur Folge haben wird. Denn die Pinasse führte zum Überfluß auch noch die Kriegsflagge am Heck! – trotz der Dunkelheit! – und es war von den angerannten Dampfern festzustellen, wer das wilde Fahrzeug war.«

Ich kann nicht leugnen, daß mir die Sache fatal war. Mir tat der Kaiser leid, denn sein Flottenstolz hatte angesichts des »heldenhaften« Kadetten freudig aufgeleuchtet. Die Komik der Geschichte war allerdings groß, aber die Enttäuschung für den Kaiser doch wohl noch größer. Da ich von Sendens Seite (an den diese veränderte Meldung soeben gelangt war) nur immer das Ungeschickteste erwarten konnte, zog ich schnell meinen Rock an und eilte zu ihm. Er war natürlich im Begriff, dem Kaiser, der womöglich schon im Halbschlummer lag, das Ereignis zu »melden«. Ich machte Senden darauf aufmerksam, daß folgendes vorlag: 1. falsche Meldung des Kommandanten des Kreuzers, 2. die falsche Meldung, überbracht von unserem Hohenzollern-Leutnant, 3. die Verantwortlichkeit für die falsche Meldung seitens des Admirals Senden, der über den Kommandanten des Kreuzers stand, 4. die falsche Meldung des Kadetten, 5. die Besoffenheit der Pinassenbesatzung, 6. die Beschädigung an kaiserlichem Marine-Eigentum, 7. die Beschädigung fremder und »befreundeter« Fahrzeuge, 8. die Führung der Kriegsflagge bei einem besoffenen Abenteuer, 9. die Führung der Kriegsflagge bei Nacht – –

»Ach, lieber Eulenburg«, unterbrach mich der unglückliche Senden, »hören Sie bitte auf. Es hilft ja nichts – ich muß es eben doch an Se. Majestät melden!«

»Nein, lieber Senden«, erwiderte ich sehr bestimmt, »daß werden Sie nicht tun, denn der Kaiser hat sich eben niedergelegt und wird die ganze Nacht nicht schlafen, wenn Sie kommen. Ich schlage Ihnen vor, sofort einen Brief an den Kommandanten des Kreuzers zu schreiben und diesen zu beauftragen, Ihnen die Meldung schriftlich zu machen. Dann können Sie morgen nach dem ersten Frühstück, wenn der Kaiser sein Beefsteak verzehrt hat, ihm den Brief übergeben. Das ist der beste Augenblick, denn die Ordensverleihungen und Belobigungen des armen Kadetten (der wohl einen Tag eingesperrt werden dürfte), die der Kaiser noch etwa vor dem Frühstück beschließen wollte, gehen durch Ihre Hand und können sistiert werden.«

Senden sah mich mit seinen großen braunen schielenden Augen verdächtig an – zögerte etwas und ging dann schweigend schlafen. Eine halbe Stunde später war die ganze »Hohenzollern« nach dem »unerhört mutvollen« Ereignis in tiefen Schlaf versunken. Der Kaiser erwähnte den Vorgang niemals wieder.


6. August 1893.

Sonntag. Ich habe morgens mit dem Kaiser wieder ein langes mühsames politisches Gespräch. Er ist glücklich, daß ich »in die Intimität« seiner englischen Verwandten kam und behauptet, daß ich »den Vogel abgeschossen habe«. Das sei ihm sehr wichtig und erfreulich. Jedenfalls waren für mich diese Begegnungen interessant, aber ich kann nur sagen, daß ich den heutigen Tag begrüße, der der letzte sein wird, die hohe Verwandtschaft zu »genießen«. Jeden Tag zu Hause oder in Liebenberg genieße ich mehr. Auch über das Interesse an der »historischen« Persönlichkeit bin ich durch mein Leben in »historischen« Kreisen längst hinaus, und die Menschen in königlicher Gestaltung müssen doch immer erst den Beweis erbringen, daß sie auch würdig und angenehm sind. Da aber macht man doch manchmal recht sonderbare Erfahrungen!

Um 11 Uhr ist Gottesdienst, den der Kaiser abhält. Dann fahre ich allein mit ihm an Land zu dem Botschafter Hatzfeld, der noch immer krank ist. Dort interessante politische Gespräche. Um 1 Uhr fahre ich wieder allein mit dem Kaiser auf die Yacht zu Marquess und Lady Ormonde, wo wir frühstücken. Es sind nur Ormondes, die Schwester der Lady (jüngste Tochter des Herzogs von Westminster), Lady Gerard (eine immens reiche, vornehme und angestrichene Lady mit schönen Zügen – aber nicht so schön wie Lady Ormonde), ein junger Lord Winchester und ein Lord Wincroft dort. Wir essen ein, nach englischen Begriffen, sehr gutes Luncheon in der reizenden Eßstube der schönen Yacht.

Beim Kaffee erhalte ich einen Brief von Prinzessin Louise (Lorne), die mich zu sich einladet, um mir den, allen Sterblichen verschlossenen Park von Osborne zu zeigen. Ich verabschiede mich und fahre zur Landungsstelle, wo mich ein Wagen erwartet, der mich zu dem entzückenden Haus der Prinzessin fährt, in dessen Garten sie mit unendlich viel Verstand und Geschmack waltet. Sie zeigt mir selbstgemalte, auffallend gute Aquarelle, Darstellungen aus Kanada, wo ihr Gatte während sechs Jahren Vizekönig war. Nachher fahre ich mit ihr und Lorne im Park spazieren, der wirklich herrlich ist. Auf der Terrasse gehen wir spazieren und haben eine überraschende Begegnung mit der Königin in einem Rollfauteuil. Sie hat wieder den großen runden Hut auf, ist auffallend freundlich, spricht von ihrem geliebten Park, von Malerei, fragt nach München und meiner Familie und hat einige gute Worte für den Kaiser (ohne bösen Blick).

Der Park ist dadurch merkwürdig, daß er nur immergrüne Bäume und Büsche enthält. Alles aber ist wuchernd gewachsen: riesige Tujas, Steineichen, Korkeichen, Pinien, Lorbeer, Myrten usw. An den großen Mauern der Terrasse ist Tulpenbaum als Spalier gezogen. Es führte zu weit, die Schilderung dieses wunderbar schönen Parkes zu geben, der sich in sanften Abhängen vom Schlosse zu dem Meer hinzieht – und alles von der Königin gepflanzt und geschaffen!

Die liebenswürdige Prinzessin war unermüdlich, mir jedes zu erklären und zu zeigen. Der Marquess of Lorne ist ein sehr angenehmer und gebildeter Mann. Er lebt jetzt als Privatmann, da er wegen Kränklichkeit seines alten Vaters, des Herzogs von Argyll (dessen Erbe er ist) an die Geschäfte der Güter gebunden ist.

Um 5 Uhr mußte ich zurück sein, da Familie Wales zum Tee erscheinen sollte. Sie kam vollzählig mit zwei Töchtern und Yorks, dazu Connaughts. Ich saß mit Wales und der Herzogin York zusammen. Die junge schöne Frau ist herzlich langweilig (hoffentlich nicht dumm, denn ihr Vater, der Herzog von Teck, ist zwar ein »guter Kerl«, doch reichlich beschränkt) Er ist ein Sohn des Prinzen Alexander von Württemberg und einer Gräfin Rhédey (morganatisch vermählt), der den Titel Fürst von Teck erhielt. Als die Prinzessin Mary, Tochter des Herzogs von Cambridge, des Onkels der Königin Viktoria, 1866 heiratete, wurde er zum englischen Herzog mit dem Titel Hoheit ernannt. Ein sehr hübscher und eleganter Mann. Seine Tochter Mary wurde die Gattin des Herzogs von York – Erbe des Krone Englands., aber sie ist freundlich und nett, und die Lieblingsnichte meiner lieben alten Großherzogin von Strelitz, geb. Cambridge.

Um 7 Uhr trennte man sich. Der Kaiser fuhr zur Königin zum Essen, nur mit dem Adjutanten vom Dienst, was zufällig Cuno war, der nach dem Essen der Königin vorgespielt hat und große Begeisterung erregte.

Ich wollte zu Hatzfeld, der aber wieder elend wurde und mir absagen mußte. Die Herren von der Botschaft: Graf Metternich, Rücker-Jänisch, Erbprinz Hohenlohe-Langenburg und Herr von Eckardtstein aßen mit uns an Bord. Dann kam der Kaiser und wir blieben bis ½1 Uhr zusammen.

7. August 1893.

Wir gehen früh um 8 Uhr in See mit Kanonensalut und üblichem Lärm. Die Fahrt ist bei herrlichem Sonnenschein still und ruhig, und wir fahren sanft an der lieblichen grünen englischen Küste hin. In Dover verläßt uns der Lotse. Die französische Küste wird sichtbar, gegen Abend Holland. Der Tag vergeht in Gesprächen und Beschäftigungen aller Art. Abends ist wieder Zitherkonzert mit dem Kaiser. Briefe und Depeschen für den Kurier, den wir am folgenden Tage treffen sollen, werden erledigt und viel von Politik mit dem Kaiser gesprochen.

8. August 1893.

Nach einer ideal stillen Nacht langen wir früh um 9 Uhr vor Helgoland an. Die Admiräle Hollmann, von Valois und Mensing kommen an Bord. Um 11 Uhr gehen wir an Land, von den Badegästen stürmisch begrüßt. Die neuen Befestigungen werden besichtigt. Man fährt in einem Tunnel auf die Höhe der Insel, und es findet das »Anschießen« einer großen, oben aufgestellten Kanone statt. Das Geschoß fliegt 15 000 Meter, d. h. über 1-1/2 deutsche Meilen, und braucht unendlich lange Zeit, bis es auf dem Meer aufschlägt.

Nach zwei unangenehm dröhnenden Schüssen gehen wir durch die Kasematten zum Haus des Gouverneurs Admiral Mensing. Es findet ein Essen um 1 Uhr statt. Man bleibt bis 1/2-5 Uhr zusammen und wandert alsdann durch die Stadt zum Strand. Rudolf Lindau und Begas, der jetzt am Reiterstandbild Kaiser Wilhelm I. arbeitet, werden zu Tisch geladen, sie sind zur Kur auf Helgoland.

Aus Berlin sind allerhand Nachrichten eingegangen, die viel Arbeit mit dem Kaiser machen. Er ließ mich sogar aus dem Bad herausholen.

9. August 1893.

Herrliche Fahrt auf der spiegelglatten Nordsee. Kein Land sichtbar, wir steuern auf Skagen zu. Der Tag wird erzählend, schreibend, essend und ruhend verbracht. Es ist einer der seltenen stillen Tage auf offener See, wo mich keine Bewegung belästigt.

10. August 1893.

Ich erwache vom Stillstehen des Schiffes. Wir sind im großen Belt in Nebel geraten und müssen abwarten, bis alles klar ist. Das dauert zwei Stunden. Es wird viel geläutet und gepfiffen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Nach dem Frühstück geht es weiter.

Um 11 Uhr begegnen wir (natürlich sehr absichtlich) der Flotte, die leider ein Angriffsmanöver mit fürchterlichem Schießen macht, so daß einem die Ohren gellen. Admiral Schröder kommt an Bord zum Essen und die üblichen unerträglichen Marinegespräche beginnen. Wir fahren langsam mit der Flotte nach Kiel. Kein Lüftchen regt sich. Nachmiitags 4 Uhr trafen wir im Kieler Hafen ein. Prinz Heinrich, der das Panzerschiff »Sachsen« kommandiert, kam an Bord und erzählte entsetzliche Details von der Explosion des Geschosses an Bord der »Baden«. Wir aßen im Kreise der Marine. Es herrscht große Hitze an Land.

 

Am 14. August morgens erfolgt die Ankunft in Berlin mit dem kaiserlichen Sonderzug.

 

Am 16. August kehre ich nach Liebenberg zurück, wo ich bis zu meiner Rückkehr nach München am 23. August einige glückliche Tage im Kreise meiner Frau und Kinder verlebe und mich eifrig der Verwaltung und Beaufsichtigung der Bauten annehme. Der Wiederaufbau der durch Blitz zerstörten Kirche und die großen Veränderungen und notwendigen Anlagen von Straßen und Wegen, die durch den Bau der Chaussee nach Bahnhof Löwenberg bedingt sind, erfordern meine größte Aufmerksamkeit. Es sind Änderungen, die wohl durch Generationen hindurch die Gestaltung Liebenbergs bestimmen werden.

Aussee und Ischl 1895

(Fürstin Maria Hohenlohe. Carmen Sylva.)

Ich war am 29. Juli 1895 abends von einer vierwöchentlichen Reise mit Kaiser Wilhelm aus Schweden zurückgekehrt, endlich im Kreise meiner Familie in Liebenberg wieder angelangt, und wollte dieses Glück nun in Ruhe genießen, das mir mein unruhiges dienstliches Leben immer störte.

Zwei Tage waren vergangen. Am 1. August 1895 trifft das folgende Telegramm von dem Reichskanzler Fürsten Hohenlohe aus Aussee im Salzkammergut an mich ein:

Minister Graf Goluchowski wird mich am Sonntag, 6. August, hier besuchen. Sind Sie der Meinung, daß ich durch Sie Information erhalten würde, die mir für meine Unterredung mit Goluchowski wertvoll wäre, so würde ich Sie bitten, vor Sonntag hierherzukommen. Können Sie heute, Donnerstag, von Berlin abfahren, so sind Sie Freitag abend oder Sonnabend früh hier.«

Allerdings hatte ich ihm wichtige Information zu geben. – Und meine ersehnte Ruhe, mein Glücksgefühl im Kreise der Meinen schwand wieder wie ein Phantom vor meinen Augen dahin ...

Aus Briefen an den Kaiser.

Hallstadt (am Hallstadter See), 4. August 1895.

... Der Kanzler holte mich gestern mittag auf dem Bahnhof in Aussee ab, während alle Berge voll Wolken hingen. Er sah sehr frisch und wohl aus und hat während seines hiesigen Aufenthaltes drei Pfund zugenommen, an welcher Stelle, konnte ich nicht sehen. Leider hustet er noch und hat vor einiger Zeit einen recht bedenklichen Asthmaanfall überstanden. Geistig war er äußerst regsam, und wenn man sich momentan einbildete, er sei altersschwach, zerstreut, abwesend, so bewies er durch seine Antwort, daß er dann erst recht scharf aufgepaßt hatte.

Er wohnt in einem ehemaligen Bauernhaus, das die Fürstin durch ländliche rote Kattunbespannung und eigenhändige Jagdtrophäen – von Bärenpranken und Elch bis zur Gemse –– ausgeschmückt hat. Dazu wimmelt es, gackert es und girrt es ringsherum von Hühnern und Tauben, die ihr aus der Hand fressen, obgleich sie dabei ein bitterböses Gesicht macht. Sie eilt treppauf, treppab und stürzt alle fünf Minuten in das Arbeitszimmer des Fürsten. Sie unterbricht unsere Unterhaltung über Dardanellen, Rußland und Salisbury durch französische Fragen, die sich auf Frühstück, den dicken Bastard von Wachtelhund und Dachs, namens Zanker, beziehen oder in ein scharfes Klagegebelfere über die Russen ausartet, die sie nach wie vor beim Verkauf ihrer Güter betrügen. Schweigsam wie immer läuft die dicke Tochter Elisabeth hinter ihr her. Wenn der gute Fürst unter solchen Umständen trotzdem drei Pfund zugenommen hat, so muß er wohl eine Vitalität haben, die anscheinend größer ist als diejenige von Eurer Majestät und mir zusammengenommen.

Ich habe die allerhöchsten Aufträge neben dem Schreibtisch des Fürsten sitzend und trotz der französischen Unterbrechungen durch die Fürstin richtig ausgeführt.

... Anderes, was der Reichskanzler und ich miteinander verhandelt haben, hat wenig Interesse für Eure Majestät, ebensowenig als eine vergiftete Wurst, welche ich auf dem Wege nach Aussee, von Hunger getrieben, verzehrt hatte. Noch vertieft in bulgarische Mordtaten, wurde ich bei dem Mittagsmahl von unerhörten Koliken mit Schüttelfrost ganz plötzlich überfallen und flüchtete mich mit dem unangenehmen Gefühl ins Bett, unter den Fittichen der Fürstin und bei dem unaufhörlichen Girren der Täuberiche an meinem Fenster sterbenskrank zu werden. Der Vorteil, den mir dieser Zustand dadurch brachte, daß ich die Abendstunden am Kamin bei den Klageliedern der Fürstin vermeiden konnte, wog nicht die Unannehmlichkeit auf, lästig zu werden und mich krank in einem fremden Hause zu befinden.

Der gute Fürst begleitete mich die Treppe hinauf zu meinem Zimmerchen. »So leid es mir ist, daß Sie erkrankten, möchte ich Ihnen doch zu Ihrer Beruhigung sagen, daß meine Frau glücklich ist, wenn sie jemand kurieren kann«, sagte er mit dem sarkastisch-freundlichen Lächeln, daß ich so gern an ihm sehe.

Die Fürstin fand sich auch sofort an meinem Bette ein. Hinter ihr her trugen zwei Dienstboten eine Art verdeckte Bundeslade, die sie am Fußende meines Schmerzenslagers niedersetzten. » Voilá«, sagte sie nur, und begann dann ein Verhör über meine Zustände, das an Gründlichkeit einem Leibarzt Ehre gemacht haben würde. Sie war rührend in ihrer mütterlichen Sorgfalt.

Die Nacht war grauenvoll, da die Tauben der Fürstin auf dem kleinen Balkon meines Zimmers ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten und ich immer zweifelhaft war, ob das Girren, das ich hörte, auf dem Balkon oder in meinem Bauch stattfand.

Schon früh am Morgen trat mein Leibarzt wieder an mein Bett. » Guéri?« fragte sie mit einer Zuversicht, die mich stärkte.

» Oui, guéri.« sagte ich. Denn tatsächlich war die Macht der giftigen Wurst an den Mixturen der guten Fürstin gescheitert.

»Ich wußte es«, fuhr sie fort. Es sind Kräuter, die hier die Landleute gebrauchen. Wenn man so dumm ist, einen Stadtdoktor zu konsultieren, stirbt man jedesmal. Je connais ça«

In der Nacht um 2 Uhr war die Besserung eingetreten, und ich konnte heute früh unter den Segenswünschen der Fürstin abreisen, welche mir alle diejenigen Nahrungsmittel mitgeben wollte, mit denen man allenfalls auch eine Kanone laden könnte.

Ich fuhr sehr eilend davon, weil ich nicht mit Graf Goluchowski zusammentreffen wollte, der seinen Besuch für heute angefagt hatte. Es erschien mir richtiger, die Phantasie der Hundstagspresse durch meine Anwesenheit bei dieser Entrevue nicht noch mehr anzuregen, als es bereits der Fall ist.

Morgen um ½ 1 Uhr empfängt mich Kaiser Franz Joseph, nachher werde ich bei ihm essen.

6. August 1895.

An den Kaiser.

... Nach meiner Ankunft in Ischl begab ich mich in die kaiserliche Villa –ein mit Jagdtrophäen des Kaisers geschmücktes einfaches Landhaus in sehr hinter Bäumen versteckter Lage am Fuße eines bewaldeten Berges, der zum Park gehört und auf dem die Kaiserin als perpetuum mobile spazierengeht. In der Villa rüstete man sich zum Empfang der rumänischen Herrschaften, die zu meinem Schrecken gleichzeitig mit mir in Ischl eintrafen. Politisch war mir der Konflux von Österreich, Rumänien und dem Vertreter Eurer Majestät zu auffällig – privatim war mir die Begegnung mit der Königin (wegen eines von mir nicht beantworteten Briefes!) sehr fatal – er stellte wenigstens meine gesellschaftliche Routine auf die Feuerprobe.

Der Kaiser empfing mich in seinem Arbeitszimmer so sehr ohne Zeremoniell, daß ich nach Beendigung der Audienz nicht einmal einen Lakaien fand und deshalb auf einen falschen Gang geriet, durch den ich in das Turnzimmer der Kaiserin gelangte. Gott sei Dank hing ihre apostolische Majestät nicht mit dem Kopfe nach unten am Reck – das Zimmer war leer, und ich kam ungesehen hinaus.

Der Kaiser war unendlich freundlich, gütig und vertraulich. Er sprach auch so offenherzig über alle Fragen mit mir, daß es mich beglücken mußte.

...Ich war am Tage des Empfanges zur Hoftafel geladen. In dem kleinen Eßsaal konnte die Gesellschaft höchstens aus zwanzig Personen bestehen, und so waren nur die notwendigsten Hofchargen befohlen. Man versammelte sich in einem winzigen Vorzimmer. Die Kaiserin erschien jugendlich schlank, graziös, lächelnd, das schöne braune Haar ohne eine Spur ihres Alters und ihres Schicksals. Sie trug ein kurzes schwarzes Kleid ohne Schmuck. Die hohe Frau schritt sofort auf mich zu und sprach in ihrer flüsternden Sprache über die Dichtungen von Carmen Sylva, die sie unendlich hochstellt. Der Kaiser, Prinz und Prinzessin Leopold von Bayern, Erzherzog Ludwig Viktor, Erzherzog Franz Ferdinand und Erzherzogin Valerie waren anwesend, dazu das rumänische Gefolge sowie Generaladjutant Graf Paar, Oberhofmeister Graf Bellegarde, Hofdame Gräfin Mikes und Graf Goluchowski. Jetzt wurden die Türen geöffnet, und König Karl mit der Königin traten ein. Die Königin mit ihrem stark geröteten Gesicht, den glänzend weißen Zähnen und dem sonnenstrahlartig von dem Kopf aufstrebenden, kurz beschnittenen grauweißen Haar, dazu ein hellila Seidenkleid mit Spitzen, das eine kurze Taille hatte ( à l'enfant, glaube ich, nennt man das), war so absolut genau das Bild der Marquise de Pompadour im Affenthater – des großen weißen Pudels, dem der kleine, scheu um sich blickende Affe die Schleppe trägt –, daß ich meine Fassung erst wieder fand, als sie zärtlich von den langen Armen der Kaiserin umschlungen wurde. Aber kaum war diese zärtliche Zeremonie beendet, so setzte die Königin herausfordernd ein Pincenez auf, grüßte freundlich das Gefolge und schritt direkt auf mich zu, mit hörbarem Ruck stehenbleibend. Wurde sie noch röter oder wurde sie blau – das weiß ich nicht. Aber es war eine grelle Farbe, die vor meinen Augen war, als sie mit einem entzückend weichen Organ sagte: »Wir kennen uns lange – Sie wissen von mir, und ich singe Ihre Lieder.« Ich machte eine sehr triviale Verbeugung und eine noch trivialere Phrase. Ich hasse es, absichtlich eine geistreiche Bemerkung zu machen, und wollte es auch durchaus vermeiden, innerhalb der ersten Minute unserer Bekanntschaft, mit Carmen Sylva auf dem Pegasus zu reiten. Leider fand dieses dennoch annähernd statt. Die Königin war krampfhaft geistreich empfindsam – wegen eines Briefes, den ich nicht beantwortete, von dem sie nicht wußte, ob ich ihn erhielt, wonach sie andererseits auch nicht fragen konnte Der hier erwähnte Brief der Carmen Sylva ist der einzige, den P. Eulenburg von ihr erhielt. Er war von durchsichtiger Anonymität und so exaltiert, daß P. Eulenburg es vorzog, in nicht zu beantworten. Erst nach diesem Brief lernte er sie in Ischl kennen und hat sie nie wiedergesehen. Eine, vielleicht von ihr erwünschte, Korrespondenz hat ebenfalls nicht stattgefunden, wie E. Wolbe in seinem Buch »Carmen Sylva« (Verlag Köhler u. Amelang, Leipzig) völlig unrichtig behauptet, wobei er es sogar noch fertigbringt, diese erdichtet Korrespondenz mit Details auszuschmücken! Der Herausgeber. –, eine starke Verlegenheit, die andere Menschen verstummen läßt, führte sie, der jeder Ausdruck jeden Moment zu Gebote steht, eigentümlich gewaltsam hinaus aus dem Konventionellen der Situation. Ich muß gestehen, daß mich dieses »zurhandsein« eines wirklich geistreichen Materials in einer nicht leichten Minute in große Bewunderung versetzte. Nur eine hochbegabte Frau ist imstande, in einem solchen Augenblick und von jedermann beachtet, ein solches Feuerwerk von Gedanken abzubrennen, die wirklich Gedanken waren und völlig natürlich, ungekünstelt zutage traten. Das einzig Unbemessene war die Dauer. Ich sah Kaiser und Kaiserin unruhig werden, den Haushofmeister die Türen zum Eßsaal öffnen – da bemerkte sie meinen zerstreut werdenden Blick und brach ab; so wie eine schnell ausgegossene Karaffe plötzlich leer wird. Sie begrüßte nun mit eigentümlicher Grazie die Erzherzoginnen, und man ging zum Essen. Die Kaiserin und die Königin sich freundschaftlich umschlungen haltend wie zwei Pensionsfreundinnen, die sich beobachtet fühlen – denn man führte sich nicht.

Bei der Tafel saßen die beiden hohen Frauen zusammen in der Mitte, Kaiser Franz Josef und König Karol daneben, dann die übrigen Herrschaften. Ich hatte die rumänische Obersthofmeisterin Madame Mavrogeni neben mir, eine Tante des Königs von Serbien, eine wirklich vornehme Dame, die, wahrscheinlich, um dem Hof ein gutes Air zu geben, stets auf Reisen mitgenommen wird. Zu Hause tut sie keinen Dienst. Die erste Hofdame der Königin, Madame X., ist eine liebenswürdige, gut aussehende Dame, die viel lacht, um ihre guten Zähne zu zeigen. Nach den Lokalzeitungen soll ich ihr den Hof gemacht haben, aber sie dürfte hiervon nichts gewahr geworden sein. Man nennt sie in Rumänien »die Mutter des Kabelkindes«. Das hat folgende Bewandnis: Ihr Mann ließ sich in einer hohen Stellung verleiten, eine Kasse anzugreifen, die nicht ihm gehörte. Er ging deshalb für einige Jahre nach Amerika. Nach einer Trennung von eineinhalb Jahren erhielt er eine Depesche seiner Gattin des Inhalts: »Ich habe die Freude, dir mitzuteilen, daß ich Mutter geworden bin.« Als korrekter Gatte antwortete er: »Ich hoffe zur Taufe unseres Kindes zurück zu sein.« Was auch geschah. Die Ehe soll sehr glücklich sein. Von der Kasse spricht kein Mensch mehr.

Abends wurde in dem kleinen Theater, das mit Tannenzweigen und roter Seide allerliebst dekoriert war, das Lustspiel »Zwei glückliche Tage« gegeben. Man saß wie auf dem Präsentierteller und wurde von einem erschreckenden Bataillon von Judenweibern begafft, die hier in Sommerfrische sind. Diese selben zweihundert fetten Judenweiber begrüßten »als Überraschung« in der obersteierischen Tracht den Kaiser und die Herrschaften an der Promenade, als am folgenden Tag ein Ausflug auf den Schafberg gemacht wurde. Es war ein Anblick, um Steine zu erweichen. Besonders wenn man sich vorstellt, daß sie alle von Koschat sangen »Verlassen, verlassen, verlassen bin i«. –

Am folgenden Tage hatte ich bei den rumänischen Majestäten um eine Audienz gebeten, wurde aber von jedem der Majestäten besonders empfangen. Die Königin war ganz allein – wieder à l'enfant in hellila –, und ein neues geistreiches Feuerwerk wurde abgebrannt. Ich kann nicht leugnen, daß der Zauber der merkwürdigen Frau ein ganz eigener ist, und daß ich soviel Begabung bewundern muß.

Friederike Kempner Eine sehr naive schlesische Dichterin, deren poetische Ergüsse vielfach zitiert und belacht wurden. sagt einmal:

»Im Schatten der Palme dort riesengroß
erblühet die Wundermimos'«

davon hat die Königin etwas. Sie ist eine »Wundermimose«.

Nach einer Unterhaltung, in der ich alle geistigen Vorgänge erfuhr, welche die Königin von der ersten Konzeption eines Gedichtes bis zu seiner Fertigstellung durchzukämpfen hat, wollte sie mir vorlesen, aber es waren nur zwei Missales da, die sie selbst geschrieben und selbst gemalt hatte. Sie malt seit ihrer Krankheit, und zwar erstaunlich phantasievoll und begabt, so wie wohl alles von Begabung zeigt, was sie beginnt. Aber der Mangel an Technik ist zuweilen erschreckend, und ich begreife wohl das Urteil der Maler, welche ihr sagten. »Wir kritisieren nicht, weil wir die Kindlichkeit stören würden.« Es ist nämlich manches schauderhaft.

Erzherzog Ludwig Viktor unterbrach unsere Unterhaltung für einen Augenblick, dann setzte die Königin ihren Vortrag weiter fort. Der Erzherzog war ganz hingerissen: » C'est magnifique! – wie deliciös! Ah, mais quel talent! Eure Majestät sind bewunderungswürdig – welcher Farbensinn – oh, c'est magnifique!«

Jetzt schickte der König nach mir. Er hatte über die Länge der Audienz die Geduld verloren.

Was wir sprachen, habe ich Eurer Majestät bereits untertänigst gemeldet.

Mit diesem Tag war meine offizielle Aufgabe erfüllt.

Der Eindruck, den mir die neue Bekanntschaft der Königin brachte, war interessant, aber nicht angenehm. Die maßlose Eitelkeit der hohen Frau verletzt. Diese beherrscht sie ganz, was auch wieder Friederike Kempner so wirkungsvoll ausspricht:

»Die gelben Blätter der Geschichte fallen,
das eine, Prinz, es ist ganz voll von Dir!«

Ich besuchte nun meine alte Freundin, die Fürstin Dietrichstein, sprach lange mit Goluchowski und anderen Leuten, horchte hier und dort und verließ Ischl, nachdem ich noch der Baronin Kiß, alias Frau Schratt, einen längeren Besuch abgestattet hatte. Sie sieht täglich beide Majestäten, auch die Erzherzoginnen. Es schien ihr mein Besuch zu schmeicheln, und sie begann in ihren Mitteilungen vertraulicher zu werden. Es ging aus ihren Erzählungen hervor, daß das ausschließliche Thema der Konversation Ferdinand von Bulgarien und die Lage in Sofia ist. Diese Nachbarschaft ist in der Tat unendlich unbequem geworden.

(gez.) Philipp Eulenburg.


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