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Damaskus, 21. November 1871.
Wunderbar herrlich war das Bild, als wir die letzten öden Felskuppen des Antilibanon auf den uralten Kamelpfaden überschritten hatten und tief unter uns, in der weiten gelben Wüste abgezirkelt in einer großen grünen Oase, von blauen Kanälen des Barada durchzogen, das schneeweiße Damaskus lag.
Wir ritten, angestaunt von der Bevölkerung, in die Stadt hinein, denn Europäer in größerer Anzahl sind immer ein seltener Anblick. Auf der Straße begegnet man stundenlang keinem Europäer – nur Arabern, Beduinen und Türken. Es ist Ramadan, der neunte Mondmonat der Moslem. Bis Sonnenuntergang muß in dieser Zeit gefastet werden – nachher befindet sich die ganze Bevölkerung in einem Rausch von Vergnügungen, und es herrschte ein Leben in den Bazars wie bei Illuminationen in Berlin. Die Cafés am Abend, wo man mit den Leuten an der Erde hockt und Kaffee trinkt, während eine Musikbande von fünf Kerls einen Lärm verursacht wie schreiende Kinder bei uns – dazu Tamburinbegleitung –, das »Caraeosa«: ein Schattenspiel in diesen Lokalen, wo die dümmsten Sachen von dem dankbaren Publikum mit Entzücken betrachtet werden, das Herumziehen der Derwische auf den Straßen mit Geschrei und Tanz, das Probieren der gekauften Pferde durch Beduinen – alles das ist viel zu bunt und merkwürdig, um es in einem Briefe zusammenfassen zu können.
Doch von dem reizenden Hotel Dimitri, wo wir wohnten, muß ich Euch erzählen. Der Hof hat wie alle Häuser, die ich hier gesehen habe, in seiner Mitte ein schönes großes Bassin mit sprudelndem Wasser. Das Pflaster des Hofes besteht aus weißen und schwarzen Marmorplatten, aus denen hohe Zitronen- und Myrtenbäume hervorwachsen, die ihre obersten Zweige in die Stäbe der um den Hof laufenden Veranda strecken. Zu der Limonade, die man zur Kühlung gewiß zwölfmal täglich trinkt, werden die Früchte jedesmal von dem Baum gebrochen, und die Zitronen sind so süß, daß man keinen Zucker dazu nimmt.
Der italienische Konsul, Mr. Castelli, war sehr liebenswürdig und lud uns zum Tee. Er vertritt hier die preußischen Geschäfte, denn Deutschland hat kein Konsulat in Damaskus. Wiedebach, Bonin, Gutschmid und ich waren geladen, und wir fanden dort die Konsuln von Rußland und England. Madame Castelli ist eine sehr nette kleine Frau.
Gestern ging ich mit Baron Gutschmid, der wie ich Madame Digby El Mesuel – »die Königin von Palmyra« kennenlernen wollte, zu ihr, um der berühmten Frau unseren Respekt zu vermelden. Sie nahm uns in ihrem entzückenden Heim auf dem Marmorhofe an, in dessen Mitte am Brunnenbassin ihr Mann, der Scheich El Mesuel (der in der Wüste das Glück hat, noch mehrere andere Frauen zu besitzen), nach orientalischer Art an der Erde sitzend, mit den Fingern seine Mahlzeit einnahm. Sie stellte ihn uns vor, und er reichte uns mit einer europäischen Verbeugung seine braune, klebrige Hand.
Oben auf dem Balkon, wo wir uns niederließen, brachte in gewohnter Weise ein junger Araber Kaffee in silbernen, türkisenbesetzten Tassen und die Narghile.
Madame El Mesuel steht nunmehr in den sechziger Jahren, ist aber von einer so ungewohnten Schönheit, wie ich es bei einer alten Frau bisher nicht für möglich gehalten habe. Sie war halb europäisch, halb orientalisch gekleidet. Mit der größten Liebenswürdigkeit erzählte sie von den jetzigen politischen Verhältnissen der Beduinenstämme, dabei nur von »wir« redend. Sie zeigte uns einige von ihr gemalte, wahrhaft künstlerische Bilder – Landschaften aus der Gegend von Palmyra – und zuletzt ihren Stall mit den Vollblutarabern, deren jeder einzige von jedem Beduinen bis Bagdad hin bekannt ist. Dabei erzählte sie, durch welche Leistungen bei Verfolgung und in Kämpfen diese Tiere sich ihren Namen erworben hätten.
Sie machte uns einen Vorwurf wegen unseres kurzen Aufenthaltes und wollte uns gern Empfehlungen an die gewaltigen Scheichs der Wüste, über Palmyra hinaus, geben, die noch heutigen Tages jedem ihrer Worte gehorsam sind. Beim Abschied, als ich sie bat, mir zu erlauben, meinen Besuch, falls ich noch einmal Damaskus besuchen sollie zu wiederholen, sagte sie: »Wenn ich nicht in der Wüste bin, will ich alles tun, um Sie mit unserem Lande bekannt zu machen«.
21. November 1871.
Heute nehme ich nochmals von ihr Abschied! – Die Königin hatte »es mir angetan!«
Ich schließe an meine kurze Mitteilung des Besuches bei der Gattin des Beduinen-Scheichs El Mesuel (die sich selbst in Damaskus Madame Digby El Mesuel nennt, von aller Welt aber nur »die Königin von Palmyra« genannt wird) eine kurze Betrachtung des Schicksals dieser Dame, deren abenteuerliches Wesen und Leben nicht wie gewöhnlich mit einer Katastrophe oder einem materiellen, gesellschaftlichen oder sittlichen Untergang abschloß, sondern einen so seltsamen Erfolg darstellt, daß man wahrhaftig in Verlegenheit ist, welchen Charakter man einer solchen Persönlichkeit beilegen soll.
Das Leben der Madame Digbry El Mesuel ist, in großen Zügen gezeichnet, folgendes:
Sie war die Tochter eines englischen Lords Digby of Sherborne. (Der Titel eines Earl war sogar dieser Familie verliehen worden.) Ihr Vater war Admiral, ist sonst aber wohl nur durch seine unerhört schöne und vor Jahren ganz Europa beschäftigende Tochter Jane bekannt geworden. Lady Jane heiratete sehr jung den Earl of Ellenborough, der wohl »ein großes Tier« war, aber die junge Frau langweilte. Sie liebte zu reisen und hatte in Deutschland den reichen Freiherrn von Venningen kennengelernt, der in Württemberg, Bayern und Österreich Güter besaß. Sie fand ihn angenehmer als Lord Ellenborough und heiratete ihn deshalb im Jahre 1832. In München erregte ihre Schönheit, ihr Kunstsinn, ihre Originalität allgemeine Bewunderung, besonders auch bei dem kunstsinnigen König Ludwig I., der für seine berühmte Schönheitsgalerie das herrliche Porträt malen ließ, das jetzt noch eine Zierde dieser Sammlung bildet. Doch sie fand auch Herrn von Venningen langweilig, und da sie immer noch gern reiste, so fand sie in Italien einen Grafen, der anscheinend nicht so langweilig wie Venningen war, denn sie heiratete ihn schon nach einigen Jahren ihrer Venningenschen Ehe. Da sie aber Griechenland nicht kannte, wollte sie – hellenisch angehaucht und durch Lord Byron begeistert – auch diese heiligen Gefilde kennenlernen und fand dort einen Hellenen, der noch weniger langweilig war als der italienische Conte Die italienischen und griechischen Beziehungen näher festzustellen, war mir bis jetzt nicht möglich..
In dieser griechischen Ehe aber war sie »europamüde« geworden. Die Freiheit des Orients hatte sie bei einer Reise in Syrien kennengelernt, und der ganze Zauber der orientalischen Welt nahm sie gefangen. Seit ihrer Jugend an »das Pferd« gewöhnt, eine kühne, unerschrockene Reiterin, dazu reich und mit ganz ungewöhnlicher Energie begabt, hatte sie sehr bald nun auch den Hellenen langweilig gefunden und sich bei weiten Ausflügen im Gebiet des Libanon, des Hauran, bis in die Wüste bei Palmyra von Beduinen begleiten lassen, die in ihr eine Art übernatürliches Wesen sahen. Eine Frau von strahlender Schönheit, wie eine Königin befehlend, jedes Pferd bändigend und zugleich für den Stamm, dem sie sich anschloß, sorgend, Heilmittel in Krankheit anwendend, die den Wüstensöhnen fremd waren, sich der Weiber und Kinder annehmend – da konnte es nicht wundernehmen, daß sie in den Geruch einer Heiligen, einer Prophetin, einer Herrscherin kam, die bei jedem Stamm, mit dem sie in Berührung trat, unbedingten Gehorsam fand.
So geschah nach einigen Jahren das Wunder, daß die untereinander sich bekämpfenden und dadurch sich als Gesamtheit schwächenden Beduinenstämme zu einer Einheit zusammentraten und den Befehlen der »Königin« folgten. Auf dem weiten Wüstengebiet Syriens, bis hin nach Bagdad, erwuchs der türkischen Regierung eine Unbequemlichkeit. Die Paschas von Beirut und an den syrischen Küsten empfanden eine Bedrohung – und der Sultan sah sich veranlaßt, die englische Regierung zu ersuchen, seine Untertanin (die nach allen Scheidungen ihrer europäischen Ehen wiederum Engländerin geworden war) wegen Beunruhigung seiner syrischen Gebiete nach England zurückzurufen.
Das aber war nicht Lady Janes Sache. Der Orient gehörte ihr. Was sollte sie in England? – in Europa? Sie wollte in Syrien bleiben und fand auch hierzu das Mittel – ein Mittel, das ihr jedenfalls weder neu noch fremd war: sie heiratete den großen Scheich El Mesuel und wurde Untertanin des Großherrn in Stambul. Aber sie versprach auch, zu El Mesuels Harem zu gehören und nicht andere Stämme beherrschen zu wollen. Und dieses Versprechen hielt sie – ohne doch ihren Einfluß zu verlieren. In den Ruinen von Palmyra schlug der Scheich El Mesuel seinen »festen« Wohnsitz auf (soweit solches Beduinen überhaupt möglich ist).
Als aber Madame Digby El Mesuel älter wurde, zog sie stets für einige Monate in den Palast, den sie in Damaskus besaß, da war es doch etwas ruhiger als in den Ruinen von Palmyra. Da ließ ihr auch der Scheich »europäische Freiheit« – und die andern Damen seines Harems blieben in der Wüste. Er scheint ein rücksichtsvoller Herr zu sein, der sich wohl selten den Wünschen seiner »ersten Gattin« widersetzt haben dürfte. Das ist allerdings gegenüber Lady Jane überhaupt schwierig gewesen, denn als ich mit ihr den Stall in Damaskus betrat, wo etwa 25 Pferde standen und zahlreiche arabische Diener dabei, bemerkte ich in ihren Zügen einen merkwürdigen Ausdruck von Hoheit, den ich besser mit »Gewalt« bezeichnen will. Wie sie sich aufrichtete, die damals 62jährige Frau, wie es »in die Diener fuhr« und wie die Pferde unruhig wurden! – es lag etwas in dieser Gestalt, diesem königlichen Haupt, diesen Blicken, das fast auch »in mich fuhr«.
Lady Digby El Mesuel hatte sich in ihrer Kleidung »ungefähr« der arabischen Tracht angepaßt. Zu ihrem dunklen Haar, den großen braunen Augen und fast schwarzen Augenbrauen (das alles durchaus nicht an England erinnerte, wie auch nicht die sehr weiße Gesichtsfarbe) stand ein kleines orangefarbenes Tuch von Wolle gut, das sie ganz eigenartig – fast wie eine Mütze – auf ihrem Kopfe drapiert hatte. Und als Zeichen ihres »Arabertums« befand sich an ihrer linken Schläfe und rechts am Rand ihres energischen Kinns ein ganz kleiner blauer tätowierter Stern. Sie trug auch eine weite Jacke von braunem Wollenstoff, wie sie die türkischen Frauen tragen, doch keine Pumphosen, sondern einen bis auf die Füße reichenden einfachen braunen europäischen Rock, dazu rote, spitze Lederschuhe; auf den Fingern aber wundervolle Ringe. Als sie mir oben in ihrem »europäischen« Salon ihre Bilder und entzückenden Kunstsachen von großem Werte zeigte, flimmerten die Edelsteine an ihrer Hand derartig, daß ich ganz zerstreut wurde. Sie war glücklich, mit mir über Malerei und Kunst sprechen zu können. »Es ist so selten, daß ich hier jemand finde, der mich versteht«, sagte sie sehr warmherzig.
Unvergeßlich bleibt mir aber die Wendung, die unser Gespräch nahm, als ich die Bemerkung machte, daß sie das Entbehren der Kunst doch wohl bisweilen nach Europa zöge. »Der Anblick eines Fiakers oder der Pfiff einer Lokomotive würde mich töten!« sagte sie mit einer Betonung von Haß und einem Blick, der mir den ganzen Abgrund öffnete, der diese merkwürdige Frau von der europäischen Kultur trennt. Sie liebte zweifelsohne ihren »Salon«, doch so wie jemand in Europa seine Sammlung orientalischer Fayencen lieben kann. Sie war vollkommen die »Königin von Palmyra« geworden, das hatte ich in ihrem – Stall bemerkt. Ob sie wohl bisweilen ihre Sklaven – denn ihre Diener waren tatsächlich nach dem Gesetz des syrischen Landes ihre Sklaven – prügelte? Ich leugne nicht, daß ich es für sehr möglich halte. Aber daß ihr Herr und Gebieter, der Scheich, es wagen würde, seine schwere braune Hand gegen sie zu heben, möchte ich bezweifeln. Und doch will ich nicht darauf schwören. Vielleicht ist sie nur bei diesem fünften Gatten geblieben, weil er es gewagt hatte. Denn es ist diese Dame in keiner Weise mit einem Maßstabe zu messen, der die Maße der europäischen Staaten anzeigt. Sie interessierte mich ganz außerordentlich. Ich glaube besonders, weil etwas in der schroffen Trennung von allem Zwang europäischer Art in mir anklang: meine Verzweiflung, als ich in den Zwang des militärischen Rockes geraten war. Nach Palmyra auszuweichen vermochte ich damals natürlich nicht. (Schon deshalb nicht, weil ich keine Lady Jane war, die ihre Familie im Stich ließ.) Aber als ich mich aus dem »ersten und elegantesten Regiment der Christenheit«, dem Regiment der Gardes du Corps plötzlich in das kleine, verschneite Städtchen Weilburg a.d.Lahn vor zwei Jahren vergrub und (unter Qualen!) Griechisch, Lateinisch und Mathematik wieder bei langweiligen Professoren lernte und das Abiturium machte, da haben viele »ein starkes Bestreben, sich zu bilden« darin zu erkennen geglaubt – aber sie irrten: es war eine Auflehnung gegen einen Zwang äußerer Formen, die innerlich zu einer Unerträglichkeit geworden waren. Auch ich machte mich frei, doch wie ein Mann es vermochte. Sie ging ihren Weg – ihren sehr seltsamen Weg, denn in ihrer Natur verflochten lag das, was die Griechen δαιμσν nennen. Wir haben es etwa mit »dämonisch« bezeichnet.
Nachschrift.
Eine sehr dumme Redensart ist, wenn sich zwei Menschen in fernen Orten begegnen oder weitliegende Anknüpfungspunkte zwischen sich entdecken: »Wie klein ist doch die Erde!« Dem lieben Gott mag sie allerdings klein erscheinen, aber für uns dumme Menschen ist sie gerade groß genug. Immerhin kann man bisweilen durch fernliegende Zusammenhänge seltsam berührt werden – und deshalb will ich folgendes Begebnis hier verzeichnen.
Ich war im Herbst 1873 zum Besuch bei lieben Verwandten und Freunden in Schlesien. Kurz vor dem Essen war ich angelangt; wir saßen etwa acht Personen um den Tisch. Ich saß zwischen der Hausfrau und ihrem Bruder, meinem Freunde Eberhard Dohna, der mich im vergangenen Jahre so treulich während meiner schweren Erkrankung in Kairo gepflegt hatte. Zwei Herren an dem Tisch waren mir fremd, man hatte uns kurz vor Beginn des Diners einander flüchtig vorgestellt.
Die Unterhaltung wendete sich im Lauf des Essens dem Orient zu, und ich erzählte mit gewohnter Lebhaftigkeit allerhand lustige Begebenheiten von meiner Reise – und zwar laut, allein sprechend. Ich sprach auch zufällig das Wort »Damaskus« aus und erhielt dabei plötzlich von meinem guten Eberhard einen auffallenden Stoß unter dem Tisch. Irgend etwas Besonderes mußte ihn dazu bewogen haben, und ich brach die Erzählung unauffällig ab. Sofort flüsterte er mir leise und eindringlich ins Ohr: »Sprich um Gottes willen nicht von der 'Königin von Palmyra'! – rechts neben Toni Die Hausfrau, Gräfin Saurma geb. Gräfin Dohna. sitzt ihr Sohn.«
Ich hielt Eberhards Bemerkung für einen Scherz – aber er sah so tiefernst aus, daß ich vorzog, von Damaskus zu schweigen. Der Nachbar Tonis war der Baron Heribert von Venningen, der Verwandte eines Laskowitzer Vetters, den dieser zur Jagd hierher mitgenommen hatte. Tatsächlich der 1833 geborene Sohn der »Königin«!
»Wie klein ist doch die Erde!« – hätte ich fast gesagt.
Damaskus, 23. November 1871.
Hatte ich von der Existenz der »Königin von Palmyra« erst in Damaskus selbst etwas vernommen, und hatte mich dieses allerdings in eine wohlberechtigte Neugierde versetzt, so befand sich doch meines Wissens noch eine andere Persönlichkeit in Damaskus, deren Heldentum in meiner Kindheit in aller Munde war. Es war darum mein stiller Wunsch, diesen fast sagenhaft umwobenen Helden zu sehen. Abd el Kader, den Führer und Herrscher über viele Araber- und Kabylenstämme in Algier, der nach der nominellen Eroberung Algiers durch die Franzosen 1830 – noch unter der Regierung König Karls X. von Frankreich – seit 1832 einen kühnen Guerilla-Krieg führte, der es den Franzosen nicht ermöglichte, »ihr« Algier unter französische Verwaltung zu stellen. Abd el Kader hatte sogar 1836 einen Sieg erfochten, der die gesamte Franzosenherrschaft in Algier in Frage stellte. Das Unglück traf ihn erst 1844. Er wurde in einer Schlacht geschlagen und 1847 gefangen. An alle diese Ereignisse knüpften sich die sagenhaften Erzählungen, die mich als Knaben entsetzlich aufgeregt hatten.
Abd el Kader war bis 1852 in Frankreich gefangen gehalten worden. Dann ließ man ihn frei – und er zog in das Paradies aller Araber, nach Damaskus. Darum war fast meine erste Frage an den freundlichen italienischen Konsul Castelli: »Ist Abd el Kader in Damaskus? – lebt er noch?« – Certainement«, war die Antwort, – »aber leider ist er, wie ich höre, verreist.« Ich war sehr niedergeschlagen und mußte nun wohl meinen Helden in meiner Erinnerung begraben, ohne ihn gesehen zu haben.
Da ließ mir am Vorabend des für unsere Abreise bestimmten Tages, am 22. November, Konsul Castelli sagen, »Abd el Kader sei zurückgekehrt; er (Castelli) habe geglaubt, mir einen Gefallen zu erweisen, indem er eine Anfrage an ihn gerichtet habe, ob er mich empfangen wolle und habe die Antwort erhalten, er würde sich freuen, mich – einen preußischen Offizier – morgen nachmittag zu empfangen«. Ich umarmte in Gedanken Mr. Castelli – und seine hübsche kleine Frau – und begab mich nach meinem Abschiedsgesuch bei der »Königin von Palmyra« in das Haus Abd el Kaders.
Alle Türen, die in Damaskus von der Straße in ein Haus (d. h. in den schönen großen, mit Wasser beplätscherten Hof) führen, sind so niedrig, daß man fast hindurchkriechen muß. (Sicherheitsmaßregel gegen Überfall.) Ich kroch also, sehr würdig von meinem Dragoman Elias Abbas begleitet, durch die Tür, wo mich mit vielen Salams mehrere Araber empfingen und mich unter unaufhörlichen Verbeugungen in ein zu ebener Erde an dem Marmorhof gelegenes großes Gemach geleiteten, in dessen Mitte der alte »Brigand« – wie ihn die Franzosen nannten – stand und mir bei meinem Eintritt unter den üblichen arabischen Begrüßungsformen entgegen ging. Er lud mich ein, mich neben ihn zu setzen (sehr unbequem auf einem Divan am Boden) und wir begannen, uns in französischer Sprache, die er leidlich fließend beherrschte, zu unterhalten.
Der alte, noch sehr rüstige Mann von etwa 65 Jahren glich durchaus den vielen Bildern, die ich von ihm kannte. Er war völlig in Weiß gekleidet und sah mit seinem fast weißen, langen Bart und seinen dunklen, großen, fragenden Augen, die unter dem grünen Turban glühten, imposant aus.
»Sie haben den Krieg in Frankreich mitgemacht? Bei welchem Regiment? Kennen Sie Moltke und Bismarck? Waren Sie in Paris? Wie steht es dort aus? Was sagte man in Deutschland, als der Kaiser gefangen wurde? Schlugen sich die Franzosen gut? Worin waren Sie ihnen hauptsächlich überlegen? Glauben Sie, daß Sie den Franzosen genug mit dem Elsaß weggenommen haben? Weshalb nicht mehr?« – so gingen die Fragen und meine Antworten hin und her. Unleugbar war es ihm eine große Befriedigung gewesen, den Erbfeind geschlagen zu sehen. Aber zu meinem Erstaunen sagte er, als wir von Sedan sprachen. » Pauvre homme! – au fond c'est un honête homme!« (Mir fiel dabei ein, daß ihm Napoleon nach der Gefangenschaft von fünf Jahren 1852 die Freiheit geschenkt – wenn auch nicht die Erlaubnis erteilt hatte, nach seiner Heimat zurückzukehren.) »Man hat in Deutschland ein falsches Bild von dem Kaiser Napoleon«, sagte er. »Er soll ein Verschwörer, ein politischer Intrigant sein – weiter nichts. » Mais je vous dis«, schloß er, » c'est un homme instruit, un homme, qui a écrit l'histoire de César lui-même.«
Ich war starr! – Das war der große Räuberhauptmann und Halsabschneider, der kühne Feldherr und verschlagene Bandenführer, der durch seine Hinterlist und Schlauheit, durch seinen persönlichen Mut ganz Frankreich während mehr als zehn Jahre in Schach gehalten hatte? Er hatte wohl gar zum Schluß noch Sympathien für Frankreich? – Das war allerdings nicht der Fall. » Les Français n'ont pas un bon caractère, ils sont trop orgueilleux pour être bons et raisonable«, sagte er. » Les Allemands sont plus droits et plus simple – je préfère les Allemands«, schloß er mit einer orientalischen, lächelnden Verbeugung, die ich ihm ebenso höflich zurückgab.
Ich kann nicht leugnen, daß Abd el Kader mich in namenloses Staunen versetzt hatte. Er war absolut jemand anders als ich erwartete – aber dennoch erschien er mir als die bedeutende Erscheinung, die er in der Geschichte darstellte. Ich glaube, man vergißt zu leicht, daß ein Haudegen nur wirklichen Erfolg haben kann, wenn er auch Geist besitzt.
Nachdem ich zahllose Tassen Kaffee aus reizenden kleinen Täßchen getrunken und an der infamen Nargileh aus Höflichkeit gesogen hatte, bis mir speiübel war, empfahl ich mich von dem berühmten Abd el Kader, der mich bis zur Tür am Hof begleitet hatte. Mein Eindruck war, wie gesagt, ein anderer, als ich erwartet hatte. Aber wie er fragte, wie er antwortete, wie er gerecht die Dinge abwog – das alles imponierte mir, und ich war eitel genug, zu hoffen, daß er mich nicht für einen jungen Schafskopf gehalten habe.
Wer weiß?
Ich hatte noch vor dem Aufbruch von Damaskus Gelegenheit, Konsul Castelli zu sehen und sagte ihm offen, daß Abd el Kader mir durchaus nicht den Eindruck des Kabylenhäuptlings gemacht habe.
»O nein«, sagte Castelli, »er ist ein Mann von hoher Intelligenz und Bildung. Er stammt aus einem Priestergeschlecht und hat sogar ein Buch geschrieben, das in der arabischen Welt Aufsehen gemacht hat. Ich besitze die Übersetzung davon. »Rappel à l'intelligent, avis à l'indifferent«.
Das war das Letzte, was mir der gute Castelli sagte. Kurz darauf ritten wir zum Jerusalemer Tor hinaus, wo auf einer endlosen grünen Wiese mindestens zweihundert Kamele grasten, alte und junge. Ein junges Kamel begann bei dem Anblick der Karawane plötzlich zu springen – aus Vergnügen oder Übermut, und zwar mit allen vier Füßen zugleich. Dieser Ausdruck der Freude wirkte auf alle 200 Kamele ansteckend – und alle folgten dem Beispiel. Der Anblick war so grotesk komisch, daß wir halten blieben und wohl eine viertel Stunde ohne Pause lachten, bis uns die Tränen über die Backen liefen.
8. Dezember 1871.
Frühmorgens, lange ehe unsere braven Rosse vor dem Hospiz standen und Elias Abbas mit seiner unnachahmlichen Würde seine Morgenverbeugung gemacht hatte, war ich zu der Grabeskirche gegangen, um noch zum letztenmal den Zauber dieses heiligen Ortes zu empfinden – für den meine braven Landsleute absolut nicht zu gewinnen sind. Sie fühlen sich durch das »Äußerliche«, das in der Kirche und am heiligen Grabe hervortritt, »verletzt«, weil sie die Bedeutung der Anbetungsformen so vieler Konfessionen, die sich hier zusammenfinden, nicht kennen – und nicht einmal kennen wollen – und besonders, weil sie auch die Grabesstelle nicht anerkennen – mit anderen Worten »alles für Humbug« erklären. Ich stehe auf einem absolut anderen Standpunkt. Wenn irgendein »biblischer Ort« echt und begründet in dem heiligen Lande ist, so ist es die Stelle des Grabes Christi. Als Christus am Kreuze starb, war seine Gemeinde begründet. Sie ist niemals aus Jerusalem – jedenfalls nicht aus Palästina – verschwunden, und die Stelle, wo der Heiland begraben wurde, war und blieb ein Heiligtum, das nicht in Vergessenheit geraten konnte. Nur periodenweise fanden Christenverfolgungen statt, niemals aber während der Dauer von Jahrhunderten. Während der Herrschaft der Moslems ist das Grab Christi ebensowenig zerstört worden, wie das Grab Abrahams in Hebron (das wohl zu weit von der christiichen Zeitrechnung entfernt ist, um authentisch sein zu können), denn Abraham ist den Moslems ein Heiliger und Christus ist ihnen ein »Prophet« – wenn ihnen auch die Völker, die sich nach ihm nennen, »Christenhunde« sind, Feinde ihres Propheten Mohammed, nicht ihres Gottes Allah. So wenig wie das Grab Mohammeds von dem Jahre 632 an bis jetzt nicht vergessen ist, so wenig kann die Grabesstelle Christi vergessen worden sein.
Anders wird es sich mit der Kreuzigungsstelle verhalten, die sich gleichfalls unter demselben Dache der Grabeskirche befindet, kaum weiter als 26 bis 30 Schritte, und das ist denn doch mehr als unwahrscheinlich.
Daß nun aber vor der großen Tür der Grabeskirche ein türkischer Soldat mit einigen Kameraden Wache hält und abends die Tür wie ein »Hausmeister« verschließt, ist ein Sultans-Herren-Recht, der im übrigen jeglichem christlichen Bekenntnis die Ausübung seiner kirchlichen Gebräuche gestattet. Ich meine, daß, wenn die Grabeskirche z. B. im Besitz des russischen Zaren sein würde, kaum den Katholiken und Kopten ihre Zeremonien am Grabe des Heilands gestattet sein würden.
Mich hat alles das nicht gestört. Auch nicht diese große byzantinische Kirche mit ihren Nebenkapellen, durch Gold, Bilder, Ampeln, Leuchter fast erdrückt, denn alles ist in ein schimmerndes Dämmerlicht getaucht, aus dem in feierlichem Gange unablässig die Prozessionen der Gläubigen der ganzen Christenheit zu der Grabkapelle in der Kirche wandeln, leise Gebete murmelnd, die Räuchergefäße schwingend; phantastische ernste Gestalten von wunderbarer priesterlicher Schönheit, wie die Armenier und Griechen – in goldstrahlenden Gewändern der römisch-katholischen Priesterschaft –, und dazwischen, seltsam singend, Riesen in schneeweißen Gewändern und weiße Turbans auf den Köpfen über den schwarzen Negergesichtern: die Kopten und Abessinier. Alles zieht zu dem engen Raum der Grabeskapelle, wo der Stein, der das Grab deckt, nicht zu sehen ist unter Blumen und goldenen Kränzen, und wo die brennenden goldenen Ampeln aus alter und neuer Zeit so eng den Raum erfüllen, daß nur das matte gelbe Licht der Ölflämmchen und Wachskerzen, die über dem Grabe schweben, funkeln.
Aber alle, die an die breite Öffnung der Tür treten, erfüllt ein tiefer Ernst, und sie verharren in Schweigen – wie ich – und beugen die Knie und das Haupt.
Man sagt, daß die vereinigten Gedanken vieler Menschen eine Kraft darstellen. Nun, hier vereinigte sich seit Jahrhunderten ein Strom von gleichen Gedanken. – Doch welcher Gedanken? Liebe? Dank? – oder Wunsch? Ich glaube, daß, wenn sich alle Gedanken, die hier zu Gott und dem Heiland aufsteigen, zu einer einzigen Kraft vereinigten, es die Kraft eines gewaltigen Wunsches ist; denn stärker als alles, was das Herz erfüllt, wenn es zu Gott spricht, ist der Wunsch nach Erfüllung dessen, was das gequälte Herz des einzelnen beseelt – mehr irdische als ewige Dinge –, doch wohl in seinem Grundton Wunsch nach Frieden für das Herz.
Der hier in diesem Grabe, an dieser Stelle ruhte und die Pforten des Grabes sprengte, sprengte sie mit seinem Frieden – und er verhieß uns auch den Frieden der Seele.
Ist aber das, was ich hier als eine durch gemeinsame Gedanken wirkende starke Kraft empfand, tatsächlich der Wunsch der pilgernden Menschheit nach Frieden der Seelen? Es war alles in allem mehr der Eindruck einer Klage-Kraft, den ich hatte – der aber ein dem Heiligen Grabe entströmender Liebesgedanke eine unbeschreibliche Weihe verlieh.
Niemals werde ich das Heilige Grab vergessen. Die Äußerungen des Unwillens, Ärgers, Mißverstehens, selbst aus geistlichem Munde von Persönlichkeiten, die mir wert sind, können mir nicht den innerlichen Eindruck rauben, den ich von dem Heiligen Grabe bei meinem Abschied von Jerusalem mit mir nahm.
Kairo, Dezember 1871.
Ich lernte hier einen jungen Marquis Castrillo aus Xeres kennen, mit dessen Bruder Duc de St. Lorenzo und Freund Marquis Alventos ich im Herbst 1869 in Biarritz viel verkehrt hatte. Er ist passionierter Jäger, und wir verabredeten eine Partie de chasse mit einem arabischen Jäger nach Fayum. Dieser Abenteurer, der sich für einen arabischen Dragoman ausgab, hatte uns vorgelogen, in zwei Tagen könnte man gut eine Hyäne oder einen Wolf erlegt haben und nach Kairo zurückgekehrt sein.
29. Dezember 1871.
Wir hatten uns daher keine Provisionen mitgenommen und brachten zunächst einen ganzen Tag auf der Eisenbahn nach Fayum zu. Auf einer Station blieben wir sogar 4 Stunden liegen, das war am Nil, dessen Ufer dort dicht mit Palmen bestanden sind. Wir benutzten die Zeit, um ein Dutzend wilder Tauben zu schießen, die zu Tausenden auf den grünen Feldern waren. (An den folgenden Tagen waren diese, ohne Salz geröstet, unsere einzige Nahrung.) Vor Fayum, in der Wüste, wurde ein Wolf durch den Zug verscheucht und unsere Jagdlust durch dieses unglückselige Tier, das wir hätten aus dem Fenster des Kupee erledigen können, erreichte ihren Höhepunkt.
Am Abend wanderten wir durch die Stadt, die zirka 50 000 Einwohner, Araber, aber keinen Gasthof hat. In einem verlassenen arabischen Hause ohne Fenster und Türen breiteten wir unsere Decken am Boden aus und versuchten zu schlafen, woran uns jedoch 500 Flöhe, Wanzen und Käfer, die man krabbeln hörte, verhinderten.
30. Dezember 1871.
Am nächsten Morgen bestiegen wir die uns von dem Dragoman beschafften Esel, nachdem uns auch dieser (der sich Hassan nannte) noch einen alten Ibrahim, der vizeköniglicher Forsthüter ist und zu seiner Legitimation einen Strick mit zwei Dutzend aufgefädelten Wolfsohren vorgezeigt hatte, engagiert hatte. Die Esel hatten kein Zaumzeug und als Sattel lagen unsere Decken lose auf ihren Rücken. Mit der Flinte vor sich nahm man einen etwas wackligen Sitz ein, und bei dem Passieren der zahllosen kleinen beweglichen Strauchbrücken stürzten wir natürlich alle Augenblicke zu Boden oder in grundlosen Schlamm. Bald hatten wir die mit Baumwolle und Zuckerrohr bestellten Felder passiert, und in den sumpfigen Wiesen, dicht am Rande der Wüste, erlegten wir nun die unglaublichsten Sumpfvögel. Weiße Reiher, Schnepfen-Arten, sonderbare Strandläufer. Von wilden Tieren war aber weit und breit nichts zu sehen. Dagegen begegneten wir so unheimlichen Banditengestalten, bewaffnet bis an die Zähne, daß wir stutzig wurden. Der Dragoman kannte, wie sich herausstellte, nicht die Gegend, aber befand sich im engsten Einverständnis mit dem sogenannten Forstaufseher Ibrahim, der ein noch größerer Halunke zu sein schien als Herr Hassan. Sie hatten unaufhörlich miteinander zu tuscheln und sich Zeichen zu geben.
Es wurde Abend – und wir ritten immer noch weiter, auf unseren Eseln, die übrigens große, stattliche Tiere waren, balancierend, an den steilen, gelben, spärlich mit grünem Kraut bewachsenen Bergwänden der Wüste entlang, die die weiten Sumpfflächen der Landschaft Fayum begrenzten. Aber weit und breit zeigte sich kein Wolf, keine Hyäne. Hingegen bemerkte ich zweimal, daß oben auf der Höhe zwischen den gelben Steinen braune Gesichter mit Kopftüchern, wie sie die Beduinen tragen, zu uns hinunterspähten, allerdings nur für Augenblicke. Ich teilte es Castrillo mit und sagte ihm, er möge aufpassen, aber er hatte nur Augen für den Sumpf und war so aufgeregt, wie Südländer stets auf der Jagd, daß er mir erklärte, ich müsse mich getäuscht haben. Schließlich wurde ich selbst zweifelhaft an meiner Beobachtung.
Da es mittlerweile zu dunkel wurde, machten wir halt, um uns für die Nacht einzurichten. Das war greulich. Die gerösteten, angebrannten Tauben ohne Salz waren ekelhaft. Aber es gelang doch zu schlafen, denn wir waren totmüde nach dem Balancieren auf den Eseln.
31. Dezember 1871.
Als ich im Dämmerlicht erwachte, schnarchte Castrillo neben mir –- aber Hassan und Ibrahim waren nicht zu sehen. Ich wurde sofort sehr wach und sprang auf: tatsächlich, wir waren allein, und es war noch so dunkel, daß man kaum um sich sehen konnte. Ich weckte Castrillo, der sich aufsetzte, die Augen rieb und hastig fragte. » Où sont-ils?« (Er meinte natürlich die Hyänen, Wölfe – oder gar die Löwen, die er auch hier erwartet hatte.)
»Ja, das weiß ich natürlich nicht«, sagte ich, »aber daß die beiden Schurken irgend etwas im Schilde führen, ist jetzt ganz klar. Vielleicht schon in den nächsten Augenblicken. Ich sagte Ihnen, daß wir von Wegelagerern beobachtet würden, was Sie mir nicht glauben wollten – nun wird wohl mit diesen ein Rendezvous stattfinden, und wir tun gut, uns vorzusehen.«
Castrillo hatte endlich begriffen, um was es sich handelte. Er spannte den Hahn seiner Büchse und sah wild um sich. Aber es war in der Dämmerung nichts zu erkennen. »Kommen Sie«, sagte ich, »wir wollen unsere Decken hinlegen, als lägen wir noch darin, und uns hinter jene Steine postieren, um abzuwarten, was nun geschehen wird.«
Bald sahen wir zwei dunkle Gestalten heranschleichen, die sich mit äußerster Vorsicht unserem Lagerplatz näherten.
Wenn es Hassan und Ibrahim waren, was wollten sie? Ganz in der Nähe unserer Decken stutzten sie. Augenscheinlich hatten sie entdeckt, daß wir unsere Schlafplätze verlassen hatten. » Ne boujez pas«, rief ich, die Büchse an der Backe, » si vous boujez, je fais feu!« Wir sprangen vor mit den erhobenen Gewehren – und beide warfen sich auf die Knie. Sie schworen bei den Propheten und Allah, »der sie blind machen solle, wenn sie nicht die Wahrheit sagten«, daß sie nur gegangen seien, Hyänen zu suchen. Das war eine offenbare Lüge, denn in der Dunkelheit war keine Hyäne zu sehen – und hätten sie uns etwa zu Schuß bringen wollen, so mußten sie uns geweckt haben, um mit ihnen zu gehen.
Aber was hatten die Kerls getan? Das war die Frage. Wollten sie sich überzeugen, ob wir schliefen und dann ihren Spießgesellen ein Zeichen geben, um uns zu überfallen oder hatten sie für den kommenden Tag eine Verabredung getroffen?
Wahrscheinlich war Ibrahim die Mittelsperson, Hassan hingegen der Anstifter des Unternehmens, denn er kannte augenscheinlich nicht die Gegend. Aber Castrillo, der lange in Algerien unter den Arabern gelebt hatte und arabisch sprach, erklärte mir, wir müßten unbedingt den Scheich des nächsten Dorfes um Gastfreundschaft bitten, um nicht in der hereinbrechenden Dunkelheit des nun angebrochenen Tages unter die Beduinen zu geraten.
Wir machten uns, sobald wir um uns sehen konnten, auf den Weg. Das war ein unheimlicher Ritt. Die beiden »Führer« schritten voraus, wir ritten mit gespannten Büchsen hinterher. Bei dem ersten Zeichen, das sie geben würden, bekämen sie eine Kugel durch den Kopf – das hatten wir ihnen auch bei Allah geschworen.
Im Dorfe Nbaschi ritten wir nach etwa acht Stunden zum Erstaunen der Bevölkerung direkt in den Hof ihres Scheichs Ali und verlangten diesen zu sprechen. Der Scheich, ein älterer Mann mit einem tollen Galgengesicht, erschien, und wir sagten, daß wir vornehme, jagende Herren seien, die in Europa viel zu sagen hätten. Wir überreichten ihm mit vielem Salaam unsere hübschen Taschenmesser, Ledergurte und einige Goldstücke als Gastgeschenke. Er führte uns darauf – Gott sei Dank! – in ein Zimmer, das nach Süden hin offen war und in dessen Strohmatten (auf denen wir auch die Neujahrsnacht zubringen sollten.) wiederum die Plage des Orients, Tausende von Flöhen hausten. Castrillo führte die Unterhaltung auf arabisch, während wir Kaffee tranken und Nargileh rauchten, und so bot uns der Scheich denn endlich ein Essen an. Wir aber hatten damit unser Ziel erreicht, denn ein Fremder, der im Hause des Arabers eine Mahlzeit einnimmt ist gefeit gegen jegliche Gefahr.
Aber es fanden sich im Laufe der nächsten Stunden etwa zwanzig Beduinen ein, die ringsum schweigend an der Erde Platz nahmen. Phantastische, wilde, schöne Menschen mit eisenharten Augen. Ich sprach Bedenken gegen Castrillo aus, der mich jedoch beruhigte und mir sagte, daß diese wilden Kerls nur gekommen seien, um die hohen Gäste ihres Freundes zu ehren.
Bald erschienen nun auch zwei Neger, die einen kleinen Tisch in der Höhe eines Stuhles vor uns stellten, und auf diesen wurde ein enormes Tablett mit einer Hammelkeule, Suppe und einer nicht zu beschreibenden Dégoutance – einer klebrigen Masse – gestellt. Wir nahmen um den Tisch Platz, arabisch am Boden mit gekreuzten Beinen sitzend, und mir knackten die Knie. Der Scheich schlug die Ärmel zurück, ein schwarzer Diener brachte Wasser, in dem wir unsere Finger abspülten, mit denen wir essen sollten, und das Mahl begann. Der alte Ali zerriß eine Zitrone und preßte den Saft in die Bouillon; jeder ergriff einen Holzlöffel und gemeinsam wurde das fürchterliche Gepansch aufgegessen.
Jetzt fiel der Scheich über die Hammelkeule her und riß mit den Nägeln die Fleischstücke herunter, die er lächelnd in Häufchen vor uns auf den Teller legte, und die wir in unserem Heißhunger – denn wir hatten während unseres Rittes von acht bis neun Stunden nichts gegessen – wirklich verzehrten. Ein gleiches geschah mit Reis und Rosinen und der vorhin erwähnten klebrigen Masse. Ich hatte einige Anwandlungen von Übelkeit, bezähmte mich jedoch und unterwarf mich schweigend den Gebräuchen der Moslem.
Die Unterhaltung bestand aus Schmeichelreden, die man sich gegenseitig hielt. der andere war vornehmer, mächtiger als man selbst, die Sitten der Europäer, der Araber waren vorzuziehen. Am wirksamsten war jedoch mein Wort, als ich den alten sechzigjährigen Banditen für dreißig Jahre hielt. Endlich war die Mahlzeit beendet und ich reckte meine armen Knie. Der Scheich aber brachte uns selbst – eine unerhörte Höflichkeit! – das Wasser zum Reinigen der Finger, an denen Reis und Fleischreste klebten, die meist unter die Nägel gekrochen waren.
Nachdem der Kaffee getrunken war, wickelten wir uns in unsere Decken, um einer entsetzlich flohreichen Nacht entgegenzugehen.
Doch waren es nicht allein die Flöhe, die mich störten, es war das unheimliche Gefühl, mich in der Gewalt einer Räuberbande zu befinden. Was mochten Ibrahim und der verruchte Hassan für Pläne geschmiedet haben? Vielleicht doch schließlich noch eine Verschwörung mit Scheich Ali – trotz aller arabischen Gastfreundschaft?
Durch das offene Fenster des nicht großen Raumes mit seinen Divans, die aus Strohsäcken bestanden, über die Teppiche gelegt waren, schien der Vollmond herein. Er beleuchtete tageshell den weißen kleinen »Schloßhof«, der von Lehmgebäuden eingefaßt war. Durch das weiße Tor, durch das wir geritten waren, als wir Schutz suchten, gingen langsam in ihrer weißen Kleidung mit den endlos langen Flinten auf dem Rücken hohe Gestalten hin und her. Ihr blauschwarzer Schatten wandelte, sich grell abzeichnend, an den Wänden mit ihnen. Bisweilen sprachen zwei, auch drei von ihnen lange und leise miteinander. Was mochten sie reden?
Ich hielt meine Uhr in der Hand und erwartete Mitternacht. Ich hielt sie in der linken Hand, denn die rechte hielt immer den Revolver. Ebenso wie die Rechte des spanischen Granden, der deshalb wohl auch nicht allzu fest an die von ihm verkündete arabische Heiligkeit des Gastes zu glauben schien. Dafür war er aber allerdings fest eingeschlafen, was mir nicht glückte. Doch nicht etwa aus Angst. Meine Gedanken weilten daheim bei den geliebten Eltern, die bei den Geschwistern in Straßburg im trauten Kreise der stillen Häuslichkeit das neue Jahr erwarteten – sie konnten nicht ahnen, welche Neujahrsnacht ich durchlebte, welche romanhafte, phantastische Mondscheinnacht in der tiefen Einöde der riesigen Sümpfe des Fayums, aus denen das »Castell« Alis sich über dem Dorfe Nbaschi auf einer fast kreisrunden Berghöhe erhob. Niemals werde ich je eine solche Neujahrsnacht wieder erleben! – so hoffte ich, wenn auch meine langgehegte Sehnsucht nach einem »wirklichen« Abenteuer glänzend dadurch befriedigt wurde.
Der Scheich hatte uns versprochen, Wächter aufzustellen, die uns die etwaige Ankunft von wilden Bestien der Wüste am Wasser melden sollten – doch wir wurden nicht gerufen, und ich geriet am frühen Neujahrsmorgen über diese neue verfehlte Jagdpartie in so großen Ärger, daß ich mit Castrillo beschloß, direkt nach Kairo zurückzukehren.
1. Januar 1872.
Noch vor Sonnenaufgang um 6 Uhr brachen wir auf. Scheich Ali hatte uns Pferde gegeben – wir ihm je einen Napoleon für seinen Leibsklaven feierlich überreicht
– und eskortiert von zehn prachtvollen Beduinen ritten wir zum Tor hinaus.
Um ½ 7 Uhr ging die Sonne blutrot hinter Palmen auf. Nach einem Ritt durch die Sümpfe und am Wüstenrand entlang von annähernd zehn Stunden, der wieder reich an Unfällen aller Art war, langten wir in der Stadt Fayum gegen Abend an. Der Zug nach Kairo war aber bereits abgegangen, und wir waren gezwungen, bis zum nächsten Morgen dort zu bleiben. Unseren Bemühungen gelang es jedoch, den einzigen Europäer, einen Franzosen, Mr. Lombard, aufzutreiben und ihn um Gastfreundschaft zu bitten. In reichem Maße wurde uns diese zu teil. Seine nette Frau kochte uns mit der Negersklavin ein Abendessen und, nachdem noch sein Bruder, der in der Nähe der Stadt ein Landgut und Baumwollenfelder besitzt, gekommen war, tranken wir mit Rotwein auf ein glückliches neues Jahr.
Wir erzählten Lombard unsere Schicksale in Nbaschi und wunderten uns über die plötzliche ernste Miene, die er annahm. »Scheich Ali ist der erste Brigand des Landes!« rief er aus. »Vor zehn Jahren hat er aus Rache eine Frau mit drei Kindern und einen Diener ermorden lassen; seine Helfer wurden gefangen, er entzog sich durch Bestechung der Gerechtigkeit. Vor drei Jahren wurden zwei Europäer ermordet, im vergangenen Jahr ein Türke. Das Gouvernement hat ihm darauf die Würde eines Regierungs-Scheichs verliehen, um ihn durch seine offizielle Stelle an neuen Schandtaten zu verhindern – hierzulande ein ganz gewöhnliches Mittel. Daß er sie nicht zur Jagd in der Nacht wecken ließ, war zu Ihrer Sicherheit, die ihm, nachdem Sie gemeinsam in seinem Hause gegessen hatten, heilig sein mußte.« Das war allerdings eine leidlich überraschende Mitteilung! Der Gedanke, daß dieser scheußliche Kerl mir Hammelstücke mit seinen blutbefleckten Händen abgerissen und auf den Teller gelegt hat, ist grauenhaft.
Nachdem ich bei Lombards, auf dem Fußboden auf Decken liegend, wiederum eine wanzenreiche Nacht verbracht hatte, führte uns endlich der Zug dem heimatlichen Kairo zu; auch dieses Mal mußten wir vier Stunden in der bewußten Station am Nil sitzen. Jetzt aber vertrieb uns ein arabischer Sänger die Zeit, der vom Sultan sang, der seine Schätze verläßt, um sich die Liebe eines Gallas-Mädchens zu erwerben.
In Kairo fand ich Herrn von Bonin, einen guten Bekannten von mir, meinetwegen sehr beunruhigt vor, weil er zufällig im Hotel von einem Herrn Kauffmann, der schon viele Jahre in Kairo ein Geschäft betreibt, gehört hatte, daß unser »arabischer Jäger« Hassan gar kein Araber sei, sondern ein übelberüchtigter Malteser, der mit dem Verschwinden zweier europäischer adliger Herren, von denen einer ein ungarischer Graf gewesen sei, im Zusammenhang gestanden haben sollte. Diese Herren seien von einer Jagdpartie im Fayum nicht zurückgekehrt. Ich ging infolgedessen zu Herrn Kauffmann und fragte ihn nach Hassan. Er sagte mir, daß wir wohl nur unserem schnellen Entschluß, nach der »Höhle des Löwen« Ali geritten zu sein, unser Leben verdankten, um so mehr, als dieser, kürzlich zu einem vizeköniglichen »Beamten« ernannt, es doch wohl nicht gewagt haben würde, wieder durch einen Mord von sich reden zu machen.
Ich war wütend, dem Schurken Hassan nicht an den Hals kommen zu können. »Prügel«, sagte Herr Kauffmann lakonisch, »haben Sie niemand zur Hand?«
Mir fiel mein riesengroßer Neger Mahmud ein, der mich in meinem Zimmer seit meiner Ankunft bediente. Er verstand einige Worte französisch, und mein Gebärdenspiel dazu genügten vollkommen, daß er ein schönes blankes 5 Frank-Stück lachend und verständnisvoll in die Tasche seines langen weißen Hemdes steckte und als er ging, grimmig mit den Augen rollte und seine Faust ballte. Nach einigen Tagen trat er frühmorgens an mein Bett und führte mir so lebendig vor, wie und wohin er Hassan verhauen hatte, daß mir geradezu Angst wurde, er werde, um ganz deutlich zu sein, die Prozedur an mir selbst auch noch vornehmen. Aber er schöpfte nach Abschluß seiner Schaustellung tief Atem, holte sein 5 Frank-Stück aus der Tasche und verließ grinsend das Zimmer.
Hassan war verschwunden. Nach der bösen Tracht Prügel, deren Provenienz ihm durch das Erscheinen Mahmunds aus dem Hotel du Nil klargeworden war, dürfte er Verdacht geschöpft haben, daß noch weiteres auf sein schuldbeladenes Haupt gehäuft werden könnte.
Kairo, Januar 1872.
Ich war nach einer abenteuerlichen Seefahrt von Syrien nach Alexandrien Näheres schildern meine »Reisebriefe aus dem Orient«. und nach einem Quarantäneaufenthalt in der dortigen Cholerastation von acht höchst fatalen Tagen endlich am 23. Dezember 1871 in Kairo eingetroffen. Dort hatte ich mir ein Rendezvous mit meinem lieben Jugendfreunde, Vetter und Regimentskameraden, Grafen Eberhard Dohna, gegeben. Er langte daselbst am 5. Januar 1872 an.
Da wir die Absicht hatten, uns einige Zeit dem Zauber Ägyptens hinzugeben, hielten wir es – zwei Nobiles sehr vornehmen Namens und nicht nur preußische Offiziere, die den soeben verflossenen Krieg gegen Frankreich mitgewonnen hatten, sondern sogar dem »ersten Regiment der Christenheit«, dem Regiment der Gardes du Corps in Potsdam, angehörten – für »passend«, Ismael Pascha (wenn er auch nur ein »Vizekönig« war) unsere Aufwartung zu machen. Denn er hatte immerhin unlängst (1869) den Suezkanal durchstochen (was ihm viel Geld gekostet, aber ihm zugleich auch unermeßlich viel Geld einbrachte). Er hatte auch halb Europa mit seinen Souveränen und Notabilitäten zu der Eröffnung des Kanals geladen und, durch seinen orientalischen Glanz geblendet, sogar die Kaiserin Eugenie als seinen Gast dabei bewirten dürfen.
Der deutsche Generalkonsul, Herr Jasmund, machte dem Vizekönig Ismael unsere Absicht kenntlich, und wir erhielten ein außerordentlich höfliches Schreiben des Hofmarschalls, der uns mitteilte, daß » son auguste maître« sich freuen werde, uns am 9. Januar zu empfangen.
Der Vizekönig residierte im Palais Abdin zu Kairo. Die schwarze nubische Wache in ihrer roten pumphosigen Pracht trat ins Gewehr, als wir in unserem sogenannten »eleganten« Wagen des Hotel du Nil, den Kawassen des Generalkonsulates auf dem Bock, vorfuhren. Mit jener uns so fremden Höflichkeit des Orientalen (die mir doch aber immer wie »wirkliche« Höflichkeit erschienen ist) wurden wir empfangen. Diese Höflichkeit empfindet der Europäer von subjektiver Charakteranlage »dienerhaft«, der objektive Europäer (zu dem ich mich rechne) als einen Ausdruck edler Volksgesinnung und traditioneller guter Form, nämlich Ehrung des Gastes; der ein Haus von guten Sitten betritt, Anerkennung der Würde, die ein Ausfluß der von Allah dem Begnadeten verliehenen Macht ist.
Ich habe mir oft im Orient gesagt: für welche Barbaren müssen uns diese Moslems halten, wenn wir, scheußlich angezogen, neugierig umhertretend, und ohne Begrüßung in Häuser und Läden hineinschreiten. Die Moslems haben sich, angesichts der europäischen Kanonen, das alles gefallen lassen – müssen, nur eins allerdings duldeten sie nicht: das Betreten ihrer Gotteshäuser, der Moscheen, mit Stiefeln. »Man tritt in kein Heiligtum mit dem Schuhwerk, das den Straßenschmutz berührt« – hier hatten sie tatsächlich ein Veto eingelegt, das jenen Zug des Fanatismus trug, der auch eine Schönheit edler Tradition sein kann, weil er hier für »das Ewige« kämpft. Aber hier hatte auch der Europäer klug »gestoppt« – er zog die Stiefel aus oder dicke Moscheen-Filzpariser über die Stiefel. (Doch nur aus Angst: denn er würde Prügel »besehen«.)
Kurzum, der Zeremonienmeister, Hofmarschall Seiner Hoheit des Vizekönigs, Ceki Bey, schritt nach unzähligen Salams neben uns her und hinein in den Palast, mit der Hand (sich immer dabei verneigend) den Weg weisend, denn um Allahs willen, er hätte nicht vorausschreiten dürfen!
Die Tür Sr. Hoheit, vor der bei unserem Nahen zwei als französische Kammerdiener verkleidete braune Ägypter mit träumerischen braunen Augen standen, wurde aufgerissen.
Ismael Pascha, aus dem Stamm des großen (verruchten) Mehemed Ali, stand mit dem roten Fez vor uns, in dem bekannten schwarzen, einreihigen, bis zum Hals zugeknöpften türkischen »Gesellschaftsrock«, unter dem die leise gekrümmten orientalischen O-Beine herausragten und die anscheinend sehr neuen und sehr engen Pariser Lackstiefel drückend leuchteten. Er hatte ein blasses, dickliches, doch intelligentes Gesicht, ein schwarzes Schnurrbärtchen über den etwas schwülstigen Lippen und kluge, braune, unruhige Augen. Er machte, obgleich er die »50« überschritten hatte, einen noch frischen Eindruck.
Nach einem angedeuteten orientalischen Salam reichte er uns mit liebenswürdigem Lächeln die dickliche Hand zum europäischen Gruße, hieß uns in geläufigem, durchaus eleganten Französisch willkommen und bat uns Platz zu nehmen.
Der nicht große Empfangssalon war ringsum von sehr niedrigen, sehr breiten Divans eingefaßt, die den Eindruck riesiger Kissen machten; gegen die Wand lehnten schwellende weiche Kissen, alles mit prachtvollen orientalischen Seidenstoffen bezogen. Am Boden lag ein Smyrnateppich, so weich, daß man glaubte einzusinken. Die weißen Wände, in Stuck mit edelsten maurischen Arabesken bedeckt, zeigten zwischen diesen Linien matte Vergoldung. Bilder kennt der Orientale nicht (irgendein Koranspruch spricht dagegen), darum machen die Wohnräume des Orientalen dem Europäer stets einen kahlen Eindruck – wenn nicht Spiegelglas hilft, in dem man sich erfreut erblickt.
Wir nahmen Platz, und in demselben Augenblick öffnete sich wieder die Tür. Drei Sklaven von brauner Hautfarbe erschienen. Schöne, sanft dareinblickende Gestalten, rot pumphosig bekleidet mit fast durchsichtiger weißer Jacke über reich mit Gold gestickter Weste und Leibgurt, den arabischen Fez mit der dicken, dunkelblauseidenen Quaste auf dem schwarzen Haar. Jeder der drei trug einen langen Tschibuk (arabische Tschibuks, wohl um eine Kopfhöhe länger als die langen Kerls selbst) und in der linken Hand ein goldenes Tellerchen. Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß es so lange Weichselrohre gibt. Sehr sorgsam wurden diese, als wir saßen und der angezündete Pfeifenkopf – recht weit von uns – auf dem goldenen Tellerchen ruhte, uns entgegengehalten und das lange Bernsteinmundstück, das von drei, mit herrlichen Diamanten besetzten Ringen umschlossen war, mit tiefer Verbeugung in die Nähe unserer Lippen geführt.
Ich ergriff das Marterwerkzeug mit Todesverachtung, denn ich würde eine unerhörte Unhöflichkeit begangen haben, wenn ich Ismael Pascha mitgeteilt hätte, daß ich »Nichtraucher« sei. (Es würde ungefähr den Eindruck gemacht haben, als würde ich behaupten, daß ich niemals die natürlichsten Bedürfnisse befriedige.) Der Rauch, der durch ein derartig langes Rohr hinaufgesogen werden muß, erkaltet unterwegs, wenn auch nicht so sehr, wie in der entsetzlichen Nargileh, immerhin aber genügend, um den Eindruck zu erwecken, den man in Nase und Mund empfindet, wenn man morgens in ein nichtgelüftetes Zimmer tritt, in dem bis Mitternacht viele Studenten rauchten.
Die Unterhaltung begann mit jenen, Teilnahme andeutenden Fragen, woher man kam, wohin man reise – und die Antworten: wie zauberhaft Ägypten sei, wie liebenswürdig die Bevölkerung (worauf eine höflich dankbare Neigung des vizeköniglichen Hauptes erfolgte). Dann natürlich der Krieg: Wie und wo, zu Pferde, zu Fuß, verwundet? – Nein (eine Handbewegung des Vizekönigs nach oben – Allah sei gelobt). Wir beide lächelnd dankend. Und Bismarck. Ah quel homme!! – Kennen Sie Bismarck? Ja, unsere Familien befreundet – viel im Hause bei ihm. Wie interessant. Die Gefangenschaft Napoleons – welches Schicksal! Die Kaiserin noch vor so kurzer Zeit hier – avec tout son charme! (Ismael Pascha schüttelte langsam den Kopf, schnalzte mit der Zunge und hob einen Arm in die Höhe.) »Und ich sah dann die Tuilerien brennen!« »Ist es möglich! – quel spectacle! – une abomination! – ja das Volk – das Volk!!« (Er runzelte die Stirn – eine Pause.)
»Mein Vetter«, ich zeigte auf Eberhard, »war bei Sedan und assistierte der Gefangennahme Kaiser Napoleons«, und Eberhard sah mich entsetzt an, denn das war eine Unwahrheit.
In diesem Augenblick kam einer der fürchterlichen Tschibukbringer hinter einem geheimnisvollen Vorhang hervorgestürzt und setzte meinen Tschibuk wieder in Brand, der zu meinem Entzücken ausgegangen war. Ich hätte den Kerl prügeln können!
» Ah, ce pauvre Empereur!«, sagte der Vizekönig – und ich machte mich bereit, Eberhard zu Hilfe zu kommen, als mit einer unbeschreiblich tiefen Verbeugung der Hofmarschall eintrat und die Meldung machte, »daß der Earl und die Counteß of Dudley soeben vorgefahren seien, um Sr. Hoheit einen Besuch zu machen.«
Ismael erhob sich, reichte uns sehr herzlich die Hand, bedauerte, die so interessante Unterhaltung jetzt nicht fortsetzen zu können ..., bald wiedersehen ..., eine Dame nicht warten lassen ... und wir verließen zusammen den Salon.
Eberhard stellte mich wegen meiner Behauptung zur Rede, daß er den Kaiser Napoleon gefangen genommen haben sollte. Ich erwiderte, daß ich solches nicht behauptet habe. »Ich wollte nur gewaltsam die Schleusen deiner Beredsamkeit öffnen – und hören, in welcher Form du dich aus meiner kleinen Unwahrheit herauslügen würdest. Weshalb griffst du nicht öfter in die Unterhaltung ein? Das ärgerte mich. Du bist doch sonst so beredsam.«
»Hast du denn nicht bemerkt, daß ich fürchterliche Bauchschmerzen habe?« sagte er, mich tief vorwurfsvoll anblickend. »Ich sagte dir schon während der Fahrt, daß ich mich nach dem süßen Gelee, die der Kerl in der Muskie ausbot, schlecht fühlte.«
»Von diesem Zeug etwas zu sich zu nehmen, bist aber wirklich nur du imstande.« rief ich aus. »Ich habe noch die Cholera-Quarantäne von Alexandrien im Magen und du frißt Rachatlucum! – oder wie sonst das fürchterliche Zeug heißt. Ich würde mich wahrhaftig nicht wundern, wenn du die Cholera bekämst.«
Eberhard wurde sehr schweigsam – aber als wir in unserem Hotel du Nil anlangten, wieder bezaubert durch den Palmengarten, in dem unser Eßsaal lag, als die bewegliche phantastische orientalische Welt sich um uns breitete, hatte er die Gefangennahme Napoleons und seine Bauchschmerzen völlig vergessen.
Er besaß den besten Magen, den jemals ein Mensch besessen hat.
Mein guter Eberhard schrieb fast täglich an seinen alten Vater Landhofmeister Graf Richard zu Dohna auf Schlobitten, geb. 1807, Witwer von Gräfin Mathilde Waldburg. – seine Mutter hatte er bereits in früher Jugend verloren. War er auch nicht das, was man einen »feinen Stilisten« nennt, so besaß er doch in hohem Maße die Gabe einer lebendigen Darstellung, wie er denn auch glänzend und fein beobachtete und zu erzählen verstand.
Ich lasse darum als Schilderung der auf unsere Audienz bei dem Khediven folgenden Tage einiges aus seinen Briefen im Wortlaut folgen.
Kairo, 12. Januar 1872.
»... Mesdames les princesses sollen sehr schön sein, doch hat kein europäischer Sterblicher ihr Antlitz geschaut, es wird also immer ein mystisches Dunkel darüber schweben. In den Wagen sieht man zuweilen eine weiße Hand und ein Paar, durch weiße Schleier blitzende Augen.
Vorgestern sahen wir in der italienischen Oper »Othello«, den »Mohren von Venedig«; gestern im französischen Theater eine höchst komische Vorstellung, bei der die Schauspieler zum Teil in den Logen saßen und von da mitspielten.
Es waren in der königlichen Loge, die das Wappen des Khediven trägt, Kinder des Vizekönigs. Ein zehnjähriger Sohn und eine ebenso alte Tochter, la princesse Fatimé, mit einem sehr blassen Gesicht. Das Kind hatte ein sehr großes Medaillon mit riesenhaften Brillanten und eine ebensolche Brosche. Als Begleiterin war eine reizende neunjährige Kaukasierin bei ihr, eine Sklavin mit schönem, offenem Haar. Prinzessin Fatimé trug ein schwarzes Samtkleid mit weißen Straußfedern garniert.
Mehrere Logen sind mit weißem Tüll, worauf große Blumen gestickt sind, besponnen, dahinter die Damen des Harems. Im französischen Theater ist statt dessen ein feines Goldgitter, aber undurchdringbar.
Für Vergnügungen jeder Art ist hier gesorgt. Wir fahren jetzt gleich auf den Korso und abends zu dem Hippodrom.
14. Januar 1872.
Der Großherzog von Mecklenburg Friedrich Franz II., geb. 1822, verm. mit Prinzessin Augusta Reuß. Der Großherzog war ein Freund meiner Eltern. Er gehörte auch à la suite zu meinem Regiment. ist vorgestern, d. h. am 12. Januar, hier angekommen. Wir hatten bereits gestern früh 9 Uhr Audienz bei ihm, er war ungemein liebenswürdig und gütig zu uns. Wir klopften an seine Tür und baten, direkt hineinfragend, um Audienz, da wir die Ehre hatten, von ihm genau gekannt zu sein. Tags darauf, am 14., lud uns der Großherzog zum Diner zu sich ein, wo wir uns herzlich amüsierten. Er hatte nette und komische Araber-Offiziere bei sich, die ihm als Ordonnanzoffiziere vom Khediven beigegeben waren. Die Großherzogin dinierte im Harem, doch bewunderten wir vorher ihre schöne Toilette und ihre vielen Juwelen, die sie zu dieser Gelegenheit angetan hatte. Den folgenden Tag dinierten wir wieder bei den großherzoglichen Herrschaften. Wir wußten viel von unseren Erlebnissen, Jagdgeschichten und Einkäufen in den Bazars zu erzählen.
Gestern, Sonntag, den 13. Januar, war das berühmte Wettrennen in der Wüste. Es war ein recht belustigendes Fest. Wir waren in das herrliche Zelt des Vizekönigs eingeladen, wo wir alle nur denkbaren Delikatessen und frappierten Champagner bekamen. Als der Vizekönig mit dem Großherzog und der Großherzogin herausgefahren kam, wurde überall "Hoch" geschrien. Sie fuhren vierspännig mit Postillionen vom Sattel, nach dem Modell der Pariser Kaiser-Equipage. Die Postillione, verwegen aussehende Araber, schlenkerten mit den Armen und knallten mit ihren kurzen Peitschen – sehr elegant. Vor den Equipagen her ritt eine Leibgarde, aus etwa hundert Reitern bestehend, wild im gestreckten Galopp durcheinander jagend. Lauter dunkle Beduinen mit fliegenden weißen Gewändern und mit Waffen aller Art überladen. Sie sahen wahrhaft imposant aus, und jeder hatte einen stattlichen Sitz zu Pferde; die langen Tigerdecken als Schabracken hoben sich auf den reizenden Schimmeln vorteilhaft ab.
Es waren nachher mehrere recht interessante Rennen. Zuerst ein Kamelrennen. Nachher liefen einige entzückende Araber-Schimmelhengste. Sie zeigten eine Grazie wie Rehe und flogen über den tiefen Sand dahin, als ob es ihnen ganz egal wäre!
Lebe wohl! Tausend Grüße an alle Lieben daheim. Wie immer Dein
(gez.) Eberhard.«
In dem Zelt des Khediven traf bald nach uns in einem vizeköniglichen Wagen, da sie Freunde und Gäste des Khediven waren, der Earl und die Counteß of Dudley ein. Ich war sprachlos, als Lady Dudley aus dem Wagen stieg, denn eine so blendende Schönheit hatte ich wohl kaum jemals gesehen. Groß, schlank, blond, dunkle Augenbrauen über veilchenblauen Augen, einen roten, merkwürdig schön geformten Mund und im Lächeln wunderbar weiße Zähnchen zeigend, ein klassisches Profil und ein charaktervolles Kinn – und alle diese Schönheit in einer duftigen rosa Sommertoilette mit leichtem weißen Umhang, einen weißen Strohhut mit Rosen im Haar und einen riesengroßen weißseidenen Sonnenschirm mit ihren in lange, rehbraune Handschuhe gesteckten Händen haltend.
Ich bat den überhöflichen Hofmarschall des Khediven, Ceki Bey, der auch heute wieder in dem prachtvollen, reich mit bunten Stickereien bedeckten Zelt die Gäste empfing, uns der schönen Lady vorzustellen, die wie lauter Sonnenschein lächelte und sagte, sie wisse alles. »daß wir den Krieg mitgemacht, bei der Gefangennahme Napoleons gewesen seien (o weh.), Bismarck genau kennen – und daß wir ihr ganz genau davon erzählen müßten .« – (Also hatte ihr am letzien Mittwoch, unmittelbar nach unserer Audienz, Ismael Pascha alles geklatscht.)
Doch wurde unsere Unterhaltung durch die Ankunft des Khediven und der großherzoglichen Herrschaften von Mecklenburg unterbrochen und bald durch die buntfarbigen Rennen auf andere Dinge gelenkt.
Den würdigen Earl of Dudley lernten wir selbstverständlich auch kennen – (wenn ich auch dazu behaupten muß, daß es mir wahrscheinlicher sei, daß Lady Dudley den Earl und nicht den Dudley geheiratet habe). Er sah ziemlich seltsam aus, dieser ältliche, merkwürdig coiffierte Mann, der sich zwei lockenartige Gebilde, über den Ohren hängend, arrangiert hatte. Doch muß ich sein Geheimnis verraten, denn dieses Geheimnis ist wert verraten zu werden.
Lord Dudley war einst ein gefährlicher Herzensbrecher und man behauptet, er sei schön gewesen (o, wie werde ich dann einmal aussehen, wenn ich alt bin!). Er hatte in Konstantinopel als junger Herr eine kaukasische Haremsdame im kaiserlichen Wagen und auch zufällig bei Promenaden an den »süßen Wassern« gesehen. (Wohl wenig mehr als ihre Zauberaugen und die Form des herrlichen Kopfes durch den weißen Schleier.) Gewohnt »bemerkt« zu werden, glaubte er, daß die Schönheit sich in ihn, den blonden Nordländer, verliebt habe. Sehr reich und an Abenteuer gewöhnt, fand er mit englischen Pfunden den Weg zu dem entsprechenden Haremswächter und schlich in einer dunklen Nacht an der Hand des Verräters durch die Gärten von Dolmabagtsche in das Paradies des Großherrn. Freunde, denen er sich anvertraut hatte, warnten ihn dringend, doch vergebens, obgleich auf das Betreten des Harems durch einen Unberufenen Todesstrafe stand. So konnte er dem Himmel auf den Knien danken, daß man ihm (aus Angst vor England) nur beide Ohren abschnitt. Daher die merkwürdige Lockenfrisur des Earls, die allerdings das Vorhandensein seiner Ohren vortäuschte. (Ich vermochte leider nicht nachzusehen, ob die Geschichte wahr sei. Doch hörte ich von allen Seiten das Faktum glaubwürdig bestätigen.) Jedenfalls sah der Earl of Dudley infolge seiner Coiffüre so sonderbar aus, daß der stutzerhaft gekleidete Mann kaum auf den Gedanken dieser schauderhaften Schmachtlocken verfallen sein konnte, wenn ihm nicht tatsächlich die Gehörmuscheln auf grausame Weise entrissen – und vielleicht der schönen Kaukasierin zum Frühstück in Butter geröstet und paniert serviert worden wären.
Der Vizekönig hatte bei seinem Besuch in England eine Zeitlang bei Jagden und allerhand Belustigungen in Dudley castle, Himley Hall, Witley court usw. – auf den zahllosen Schlössern und Landsitzen des Earls – zugebracht. Als einer der reichsten Grundherren der vereinigten Königreiche besaß der Earl die Mittel, um selbst einem Herrscher über Ägypten – bis zu einem gewissen Grade zu imponieren. Doch am meisten dürfte ihm die Counteß of Dudley imponiert haben, die wohl als Eindruck seinen ganzen Harem über den Haufen geworfen hatte.
Das Ehepaar Dudley hatte selbstverständlich ein höchst elegantes Palais in Kairo von dem Khediven als Quartier erhalten – mit orientalischer Bedienung, vizeköniglicher Equipage und Aufmerksamkeiten ohne Ende für den Aufenthalt in Ägyptens Hauptstadt und die Nilfahrt –, auch war sein sehr eleganter Ordonnanz-Offizier, der auch als Adjuiant figurierte, Masur Bey, dem Ehepaar während seines Aufenthaltes in Ägypten als Begleiter »attachiert« worden.
Nach einem recht lange hingezogenen Aufenthalt rüstete sich nun die schöne Counteß zur Abreise. Die duftigen Toiletten für alle Tageszeiten, für große, mittlere und kleine Feste und Diners, für Gardenparties und Pyramidenbesteigung, Rennen usw., usw., waren in Koffern, die zwei Wagen füllten, sorgsam verpackt, und das Ehepaar, das zusammen nur zwei Ohren besaß, nahm von dem Personal Abschied, das sie in ihrem eleganten Palais bedient hatte. Beide schritten die Treppe hinab, unten tönten laute Rufe. »Platz – der Khedive!« Ismael war in seinem Phaeton erschienen, nochmals Lebewohl zu sagen, nochmals der schönen Lady die Hand zu küssen. (Mohammedanisch eine ganz unwürdige Handlung.) Man stand an dem Wagen bei dem Portal.
Plötzlich erscheint, die Treppe fast hinabstürzend, schreckensbleich die Kammerfrau der Counteß.
»Ich hatte den Schmuckkasten mit den Perlen oben im Vorzimmer auf den Tisch gelegt – das Vorzimmer nicht verlassen – zog mir nur die Handschuhe an – habe mich wohl einen Augenblick abgewendet, nur einen Augenblick. Doch als ich die Tasche ergreifen will – ist sie verschwunden!«
»Oh.« – sagte der Earl of Dudley und schien aus alter Gewohnheit eines seiner verlorenen Ohren fassen zu wollen. Auch die schöne Counteß sagte »Oh!«. Doch schien der Khedive durch diesen unangenehmen Zwischenfall, der sich in der Eile der Abreise nicht aufklären ließ (denn der Extrazug nach Alexandrien wartete bereits dampfend, und der große Ostindienfahrer, auf dem die besten Plätze für Alexandrien - Bordeaux belegt waren, wartete – nicht), weniger impressioniert zu sein als Lady Dudley.
»Es waren sehr schöne Perlen, wie ich mich erinnere«, sagte er in bedauerndem Tone, »doch«, setzte er in höflich-chevalereskem Tone hinzu, »gehört es zu den Pflichten des Hausherrn, der für die Taten seines Personals gegenüber so verehrten Gästen verantwortlich ist, für den Ersatz zu sorgen.« Er machte gegenüber der schönen Counteß eine ritterliche Verbeugung.
»Oh!« sagte der Earl auffallend abwehrend, »es ist ein alter Familienschmuck, den man in England kennt, von sehr großem Wert. Ein Ersatz ist daher nicht möglich. Und schließlich der Diebstahl – der wäre in London und unterwegs ebenso zu erwarten als hier.«
»Man kennt den Schmuck in England?« rief der Khedive lebhaft aus,»das ist mir sehr angenehm. So werde ich davon eine Abbildung erhalten können – und der Größe der Perlen glaube ich mich zu erinnern ....«
Masur Bey – mit seinen traurigen braunen Taubenaugen – trat, sich tief verbeugend, zu der Gruppe. »Es ist unmöglich, den Schmuck vor der Abreise wiederzufinden, aber, ich muß leider darauf aufmerksam machen: es ist die höchste Zeit, den Wagen zu besteigen, wenn die Herrschaften noch den Anschluß in Alexandrien erreichen wollen.« ...
»Oh ja«, sagte Lady Dudley unruhig und sah nach der Uhr, »das ist absolut nötig.«
»Die Polizei ist bereits benachrichtigt«, fuhr der schöne Masur fort, »eine sehr hohe Belohnung ist ausgesetzt, ich zweifle nicht, daß es gelingen wird, den Schmuck zu finden.«
»Er wird gefunden«, sagte der Khedive mit starker Betonung, »wenn ich auch leider Mylady bitten muß, sich zu gedulden.«
Unter dem Eindruck, den Zug nicht versäumen zu dürfen, des gestohlenen Schmuckes, der weinenden Kammerfrau, der orientalischen, nicht endenwollenden Freundschafts-, Abschieds-, Bedauerns- und Höflichkeitsbeteuerungen wurde der würdevolle Earl einigermaßen ungeduldig – nur Mylady nicht. Als habe sie niemals einen Schmuck besessen, nahm sie so gütig, ruhig und mit einem Zauber von Grazie Abschied von Ismael, daß Masur Bey – dem ich alle diese Mitteilungen verdanke Während meiner schweren Erkrankung, kurz nach diesen Ereignissen, kam Masur von Zeit zu Zeit im Auftrag des Khediven, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ein anfragendes Telegramm des großen Bismark an das deutsche Generalkonsulat hatte allgemeine »Teilnahme« in Kairo erweckt und mir während meiner Rekonvaleszenz die herrlichen Gärten des Khediven mit reifen Mandarinenbäumen zur Erholung eröffnet. – sich in anbetender Bewunderung gar nicht zu fassen vermochte. Noch weniger aber wohl Ismael, der Khedive, dessen gesamter Harem in Tränen über die befürchtete Treulosigkeit des Herren und Gebieters geschwommen haben wird, der sich an eine Giaur (Ungläubige) fortgeworfen habe. Denn es wird nirgends auf der ganzen Erdoberfläche soviel geklatscht als in den Harems der Großen des Orients.
Grüßend war der Khedive in seinem Phaeton mit den vor- und nachreitenden, wild galoppierenden roten Gardisten kaum entschwunden, als auch der Earl und die Counteß of Dudley ihren Wagen mit Masur Bey bestiegen.
Die beiden Sais, die auf ihren Stab gelehnt, der Abfahrt warteten, sprangen flüchtig wie Rehe vor die Pferde und schrien, als im Galopp die Fahrt begann, voraneilend ihr » schimalek!« »jaminek!« »reglek!« (rechts – links – geradeaus!) den entgegenkommenden Fuhrwerken, Reitern zu Pferde oder Esel, Kamelen mit Lasten und Menschen aller Art und Farben entgegen, ihnen damit befehlend, nach welcher Seite sie auszuweichen hätten. Der Wagen der laut schluchzenden Kammerfrau (die der Kammerdiener des Earl neben ihr in sehr auffallender Weise zu trösten suchte) folgte der bestohlenen Herrin zum Bahnhof.
Das Ehepaar Dudley war – entsprechend dem Charakter des edlen Volkes, dem es entsprossen war – ruhig, doch zu ruhig für Masur Bey, dem dieser Diebstahl weniger Eindruck gemacht hatte als die Bemerkung seines Herrn und Gebieters, »daß dieser (der Khedive) sich für die Verschuldung seines Personals haftbar fühle und daher die Familienperlen der Dudleys ersetzen werde«. Denn wer war »das Personal«? Hatte er, Masur, nicht den Auftrag erhalten, für die Freunde seines Herrn das Palais instand zu setzen, das Personal zu bestimmen usw.? So werde denn er wohl »das Personal« sein, das dem Khediven haftbar war. Allah, der ihm sein »sauer« (?) erworbenes Vermögen gab, wolle es ihm gnädig erhalten! Über die Art, wie er es sich vielleicht erhalten könne, grübelte er auf der Rückfahrt, was sich äußerlich dadurch dokumentierte, daß er oft an seine schöne Nase faßte. Denn dieser prominente Gegenstand scheint, mehr als der Mensch ahnt, im Zusammenhang mit unserer Gedankenwelt in ernsten Stunden zu stehen.
Ich aber folge nun dem edlen Dudley, der »sich zu Schiff nach Frankreich begab« (siehe Schiller »Maria Stuart«, letzter Akt, letzte Szene), zunächst in den Salonwagen, den er, allein mit seiner Gattin, bestieg.
Allerdings bin ich nicht in der Lage, eine Unterhaltung wiederzugeben, die bei geschlossenen Türen und ratternden Bahnrädern zwischen zwei Ehegatten stattfand. Doch bin ich in der Lage, im Interesse derjenigen, denen dieses Erinnerungsblatt gewidmet ist, den Inhalt der Unterhaltung anzugeben, auch ohne daß ich körperlich hätte lauschen können. Ich bin durch die Entwicklung, die der Diebstahl später nahm, rückschauend durchaus fähig, die Unterhaltung zwischen dem Earl und der Counteß Dudley ungefähr zu konstruieren.
Der Earl, als die Tür des Waggons sich schloß und der letzte winkende Gruß mit Masur Bey und einigen sich tief verbeugenden braunen Kammer-Sklaven ausgetauscht war, ließ sich in einen der Fauteuils fallen und sagte mit starker Betonung: » What a dreadful matter!« – und die Gattin bemerkte mit einem durchaus nicht resigniertem Seufzer: »– and what a dreadful croaking!« Beide aber hatten recht mit diesem Klagelaut, denn ich will nun mein Geheimnis verraten:
Die Perlen waren unecht!...
Das Ehepaar war mit der Entdeckung des Diebstahls und der zugleich erfolgten Erklärung des Vizekönigs, vollen Ersatz durch einen ebensolchen (natürlich echten!) Perlenschmuck zu leisten, in eine außerordentlich peinliche Lage geraten. Denn:
1. konnten sie nicht in dem Augenblick des Bekanntwerdens des Diebstahls (was in Gegenwart des Khediven und verschiedener anderer Personen eintrat) öffentlich erklären, daß die Counteß of Dudley, eine der ersten Damen Englands, die als Gast des Vizekönigs in einem Palais desselben wohnte, erklären, daß sie falschen Schmuck trage.
2. Die Sitte, eine Nachbildung des echten Schmuckes zu tragen und den echten Schmuck daheim in einem eisernen Safe aufzubewahren, war eben erst in England und Frankreich erfunden worden – nachdem ein ganz berühmtes Haus in Paris Fabrikate an Schmuckimitation lieferte, die tatsächlich täuschen konnten.
3. Öffentlich zu erzählen, daß der echte Schmuck zu Hause in einem »Safe« ruhe, würde rettungslos als eine Lüge gelten – zum Lachen! Aber auch:
4. Wenn Mylady nun an den Vizekönig schriebe, daß dieses tatsächlich der Fall sei – würde er es glauben? Orientalischen, so reichen Herrschern wie dem Khediven, würde der Gedanke höchst sonderbar erscheinen – ja unwürdig und unpassend für eine vornehme Dame –, sich wie eine Almée, eine nubische Tänzerin, mit Glasperlen zu behängen. Nein! – dieses Eingeständnis würde einen höchst fatalen Abschluß des glänzenden Aufenthaltes in Kairo bilden: einen lächerlichen, schäbigen Abschluß – unwürdig der Counteß of Dudley und ein Spott durch ganz England. –
5. Der Earl neigte mehr dazu, dem Khediven zu schreiben. Er war trotz seines Reichtums Geschäftsmann. Weshalb sollte ein Finanzmann sich nicht gegen Diebstahl großer Werte schützen? Das »Wie« war einerlei.
6. Mylady meinte etwas spöttisch. »Das ›Bankhaus‹ Dudley werde sich im Ausland übel diskreditieren, wenn es bekannt werde, daß die Gattin des Chefs nicht einmal riskieren könne, echte Perlen zu tragen, die man stehlen könnte.«
7. Der Earl replizierte, »daß das Akzeptieren des Ersatzes des falschen Schmuckes durch echten – jedenfalls unmöglich sei. Man dürfe sich nicht, um die Toiletteneitelkeit Myladys zu schonen, auf Kosten eines ›Khediven‹ bereichern. Auch werde es durch die Pariser Firma, welche die Imitation lieferte, bekanntwerden, daß die Perlen unecht seien, denn es sei nicht ausgeschlossen, daß bei der engen Verbindung Kairos mit Paris der Diebstahl dort in den Journalen gemeldet werde. Es frage sich doch, ob das Ansehen des ›Bankhauses‹ Dudlev (wie Mylady beliebt habe, the castle of Dudley zu nennen!) weniger litte, wenn man eingestehe, daß die Perlen unecht waren, als wenn es bekannt würde, daß der Khedive der Counteß of Dudley einen echten Perlenschmuck von großem Wert gewidmet habe.«
8. Mylady boudierte, indem sie durch das Fenster auf die weiten Wiesenflächen hinausblickte, wo allerhand auf der Landstraße, die sich neben der Bahn Kairo - Alexandrien hinzieht, zu sehen war. Züge von lasttragenden Kamelen, seltsame Fuhrwerke mit Büffeln bespannt, reisende Araber mit verschleierten Frauen zu Pferde usw. – nicht die riesigen Schwärme von wilden Tauben, Enten, Gänsen zu vergessen und die durch den Zug aufgescheuchten Reiher, Kraniche, Pelikane, die sich schwerfällig auch entschlossen hatten, die Flucht zu ergreifen. Mylady war verstimmt. »Man müsse vor allen Dingen warten, ob der Diebstahl etwa entdeckt und sie mit ihrer ›Imitation‹ für die sie sich nur auf Drängen Mylords entschlossen habe. – für alle Zeit an den Pranger gestellt werden würde.« sagte sie.
Mylord zog nur seine Schultern in die Höhe und las, ohne weitere Bemerkungen, in der »Times« weiter, hinter deren ungeheuren Blättern er fast gänzlich verschwunden war.
»Und wenn durch die möglichen Nachrichten der Pariser Journale ganz Kairo erführe, daß der Schmuck Myladys ›falsch sei‹ – äußerte, ziemlich ungeduldig in die Reflexionen Myladys einfallend, der Gatte.
» You are very unkind« – bemerkte noch Mylady recht bitter, legte ihren schönen Kopf gegen die Polsterung des Fauteuils und schloß die Augen.
Nach dieser Expedition meiner Gedanken zu dem Earl und der Counteß of Dudley, die ich willkürlich in die Form eines Zwiegespräches gekleidet habe, weil ich mir einbilde, die Gedanken, die das edle Ehepaar bewegten, in solcher Form am eindrucksvollsten schildern zu können, begebe ich mich wiederum zurück in die Realität meiner eigenen Erlebnisse nach Kairo.
Ich war in der Woche, die auf die von Eberhard geschilderten Pferde- und Kamelrennen in der Wüste folgte, schwer an einem Fieber erkrankt, das sich zu einem bösen Typhus entwickelte. Meine Eltern hatten die weite Reise nicht gescheut, um in meiner Nähe zu sein, mich zu pflegen und den treuen Eberhard abzulösen, der bis zu ihrer Ankunft über mir wie ein Mittelding zwischen Engel und Wartefrau in rührender Weise nicht von meinem Bette gewichen war.
Die Teilnahme an meinem Ergehen war eine allgemeine, was ich ehrlich genug bin, nicht dem Werte meiner jugendlichen Persönlichkeit zuzurechnen, die den Machthabern über Ägypten und den Generalkonsulaten europäischer Großmächte völlig »schnuppe« war, sondern der bereits erwähnten Nachfrage »Bismarcks« verdanke, sowie der Tatsache, daß der Bruder meines Vaters, Graf Fritz Eulenburg, als Minister des Innern Bismarcks »rechte Hand« sein sollte.
Erst Ende März konnte ich Kairo verlassen – halb geröstet in der Glut der ägyptischen Sonne, der die Europäer schon im Februar entfliehen.
Während meiner langen Rekonvaleszenz war unser deutscher Generalkonsul, Herr von Jasmund, und seine Gattin ein angenehmer Verkehr, doch erschien auch feierlich Ceki Bey, um Erkundigungen einzuziehen, und Masur Bey saß oft bei mir, nachdem ich das Bett verlassen durfte und mich, lang hingestreckt auf einer Art Chaiselongue von Strohgeflecht, auf der Veranda unter dem Palmendach des Gartens erholen konnte.
Ich fragte ihn auch bisweilen nach dem berühmten Halsband der Lady Dudley – aber er zog immer bedauernd die Schultern in die Höhe und sagte mit jenem kummervollen Ausdruck in seinen großen braunen Augen, die den Eindruck eines unendlich gütigen Kindes machten. » Ah – très triste – pas trouvé!.«
Dieser Masur Bey war, wie mir Herr von Jasmund erzählte, Armenier von Geburt und als armer Knabe, verwaist, bei der Dienerschaft eines vornehmen ägyptischen Hauses untergekommen. Seine große Intelligenz und sein schönes Äußere hatten ihn emporgehoben; er war in die Armee eingetreten und schnell befördert warden. Durch Protektion von verschiedenen Seiten (man behauptet, besonders von weiblicher Seite) hatte er es bis zum Ordonnanz-Offizier des Khediven gebracht. Im Palais nun auch von Ceki Bey protegiert, war er während der Feierlichkeiten bei Eröffnung des Kanals von Suez 1869 bei dem Verkehr mit ausländischen Notabilitäten verwendet worden. Er sprach leidlich französisch und auch englisch.
Eines Tages, da ich mich wunderte, daß Masur Bey eine ungewöhnlich lange Pause in seinen Besuchen hatte eintreten lassen, erzählte mir Herr von Jasmund, es kursierten abenteuerliche Gerüchte über ihn, die anscheinend aus dem Abdin-Palast stammten. Er sei verhaftet und »fortgebracht« worden. – Dieser Ausdruck trug hier einen vieldeutigen Charakter. Bisweilen bedeutete es Verbannung nach den nubischen Provinzen, bisweilen Kerker, auch Ketten (travail forcé), bisweilen auch Transport aus dieser Erde hinaus – durch einen sanften Erstickungstod (ein sehr beliebtes Mittel, um »eine Reise anzutreten«).
Erst kurz vor meiner Abreise von Alexandrien, wo ich mich eine Zeitlang mit meinen Eltern aufhielt, um an dem Meeresufer in dem großen schönen deutschen Krankenhause Kräfte für die Seefahrt nach Korfu zu sammeln, erfuhr ich Näheres. Wir hatten vom Khediven die Erlaubnis erhalten, uns in seinen dortigen schönen Gärten zu ergehen und von den Orangen- und Mandarinenbäumen nach Belieben zu naschen. Hier erfuhr ich bei einem Spaziergang »Näheres« von Masur durch Herrn von Jasmund: Die Perlen der schönen Counteß of Dudley waren sein Verhängnis geworden!
Die raffinierte Abenteuerlichkeit dieses Diebstahls wäre wert, in einem Kriminalroman verwertet zu werden. Sie spricht allerdings nicht für den Charakter des liebenswürdigen Masur Bey, wohl aber für seinen Verstand und mehr noch für seine armenische Schlauheit.
Masur Bey hatte bei den »großen Gelegenheiten«, da Lady Dudley ihren Perlenschmuck anlegte, diesen mit Recht bewundert. Von dem Khediven beordert, für die »Agrements« seiner Gäste zu sorgen und die Aufsicht über das kleine Palais zu übernehmen, hielt er sich dort viel auf. Er hatte speziell auch die ägyptische Dienerschaft unter seinem Befehl. Ein ihm völlig ergebener, vertrauter Diener (der zu den seltsam schleichenden, unhörbar sich bewegenden Gestalten gehörte, wie man sie nur im Orient sieht) war – angestiftet durch Masur – der unglücklichen Kammerfrau unbemerkt nachgeschlichen und hatte ihr die Tasche mit dem Schmuck in dem Augenblick der Abreise ihrer Herrschaft geraubt.
Hatte er nun zunächst nur die Absicht gehabt, den Schmuck der Counteß of Dudley an sich zu bringen, so ergaben sich für ihn jedoch aus dem Diebstahl allerhand seltsame, nicht vorauszusehende und schwer zu überwindende Komplikationen. Armenier sind jedoch das Volk, das an Schlauheit – und Gewissenlosigkeit – alle anderen übertrifft. Als Stufenleiter nennt man hier: 1. Juden, 2. Griechen, 3. Malteser, 4. Armenier – »aber die Armenier sind die größten unter ihnen«.
Ich gebe zu, daß ich auch bei mir zu Hause erlebte, daß Leute mit Taubenaugen, denen die Herzensgüte von dem Antlitz strahlte, – gestohlen haben. Doch dürfte es, wie ich zur Ehre meiner Landsleute annehmen will, nicht so häufig sein als in Armenien. Jedenfalls aber war ich sprachlos, daß es gerade Masur Bey sein mußte, der die Perlen stahl!
Was ergab sich nun, als er nach der Bergung seines »Schatzes« entdeckte, daß er falsch sei?
Der kluge Masur entwarf sofort, nachdem ihm (infolge »der grausamen Härte des Schicksals«, daß die Perlen der Lady Dudley unecht waren) das Geschäft durch die Finger geglitten war, einen neuen Schlachtplan, der darauf basierte, daß der Khedive der schönen Engländerin einen Ersatz zugesagt hatte, der selbstverständlich echt sein mußte. Niemand wußte bis zu dem Augenblick, da Masur den Schmuck in den Händen hatte, daß Lady Dudley unechte Perlen trug.
Er kalkulierte in seinem schlauen armenischen Hirnkasten folgendermaßen:
1. Tiefes Schweigen muß walten, bis nach etwa drei Monaten der tatsächliche Verlust der Dudleyschen Perlen angenommen wird und der Khedive den Befehl gibt, einen Perlenschmuck aus großen Perlen zusammenzustellen.
2. Die Möglichkeit, diesen Schmuck an sich zu bringen, kann jedoch nur bewerkstelligt werden, wenn Masur die Postsendung zu besorgen erhält, die sicherlich von Alexandria aus durch die englische Post erfolgen werde. Und zwar mußte dieses ihm ein Leichtes sein, da er stets für extraordinäre Aufträge des Khediven in Anspruch genommen wurde. Bliebe jedoch die Empfangsanzeige von der Londoner Post aus und langte kein Brief von Lady Dudley an, so müßte sich der Verdacht auf ihn allein lenken, da er der Einzige war, der das Versprechen des Khediven gehört hatte. Das aber würde er in den Kauf nehmen, wenn er lediglich den Schmuck des Khediven für sich haben und unmittelbar nach dem »Erwerb« desselben hätte verschwinden wollen. Doch beabsichtigte er keineswegs seine Stellung aufzugeben. Es müsse daher die englische Dame von dem Khediven tatsächlich eine Sendung erhalten. Diese könnte aber nur in der Imitation eines Perlenschmuckes bestehen – denn die schöne Engländerin kann glauben, auf irgendeine Weise sei bekanntgeworden, daß ihr Schmuck falsch war und der Khedive sende ihr deshalb nun auch eine Imitation.
Je schöner aber die Imitation wäre, um so länger würde die Lady getäuscht werden und um so länger hätte auch er Zeit, den echten Schmuck zu verwerten, ohne daß Unruhe entstünde. Er hätte dann auch Zeit, für alle Fälle seine Flucht vorzubereiten. Denn würde z.B. durch einen Brief der Lady Dudley dem Khediven bekannt, daß eine Imitation in London eingetroffen sei, nicht aber sein echter Schmuck, so lenke sich wohl in erster Linie der Verdacht auf ihn, falls er – worauf er rechnete – die Sendung nach Alexandria gebracht haben sollte.
Sobald Masur diesen Plan erwogen hatte, bestellte er einen, dem Perlenschmuck der Lady Dudley ähnlichen Schmuck in Paris, und zwar bei derselben vorzüglichen Firma, die die Imitation für die Lady angefertigt hatte – denn der Name der Firma befand sich in dem Etui. Einige Perlen der Imitation hatte er (selbstverständlich ohne seinen wahren Namen zu nennen) nach Paris gesandt, mit dem Auftrag, die Perlen der anzufertigenden Imitation größer zu machen – ebenso wie das Schloß von Diamanten und Saphiren in Straß-Steinen.
So war denn etwa zu der Zeit, da der Khedive der Meinung war, den an die Counteß of Dudley versprochenen Ersatz zu leisten, auch die Pariser Imitation in Masurs Händen.
Der »echte« Ersatzschmuck des Khediven war den Vorräten des Harems und dem »Schatz« des Vizekönigs entnommen und das Kollier hergestellt worden. Bei dem ungeheuren Luxus, der an diesem Hofe – wohl einem der reichsten der Welt – mit Edelsteinen und Perlen getrieben wurde Mein Vetter, Graf August Eulenburg, der bei der Eröffnung des Suezkanals 1869 den deutschen Kronprinzen Friedrich nach Kairo als Hofmarschall begleitet hatte, wurde vor der Abreise gefragt, ob er einen Orden oder ein Andenken für seine Gattin vorzöge. Er bat um das letztere und erhielt ein sehr schönes Perlenkollier von fünf Reihen, das einen großen Wert nach unseren Begriffen darstellte und von ganz Berlin bewundert wurde., machte das keine Schwierigkeiten. (Es bedarf keines Hinweises, daß der Besitz dieses Schmuckes dem Inhaber ein recht ansehnliches Vermögen bedeutete – und dieser Erwägung hatte sich auch Masur angeschlossen.)
Es handelte sich also nun für ihn darum, die Sendung nach London zu vertauschen, was ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten bereitete, da der Schmuck durch eine zuverlässige Persönlichkeit (d. h. Masur Bey) bis auf den Indian-Steamer nach Alexandria gebracht und dort der Wert versichert werden sollte. Der Earl of Dudley aber war benachrichtigt worden, das Schmuckstück in Liverpool in Empfang nehmen zu lassen.
So kehrte denn Masur Bey sehr befriedigt von Alexandria zurück ...
Der Abschluß dieses geradezu »großartig« fein erdachten »Spieles« fand in einer alle Teile sehr überraschenden Form statt.
1. Der Earl of Dudley Castle bekam einen hochroten Kopf und kratzte sich da, wo er einstens zwei Ohren hatte. Er übergab mit einem unzweideutigen »grimmen« Blick Mylady das Etui, die es öffnete – und einen Ruf des Erstaunens ausstieß, so herrlich funkelte dieser Pariser Schmuck ihr entgegen: » Splendid indeed!« Mylord fragte nur kurz, was nun zu geschehen habe? Mylady bemerkte, »daß ihr irgendeine Antwort einfallen werde«.
Nach einigen Tagen trat Mylady in einer Art verschleierter Verlegenheit zu ihrem Gatten, der dazu sein Pincenez abgenommen hatte. Sie sagte: »Ich vermute, daß die Perlen unecht sind; sie sind zu gleichmäßig schön.«
»Imitation!« bemerkte der Earl wegwerfend – (doch wohl sehr erstaunt).
» O yes: fancy pearls!« sagte Mylady, ärgerlich auflachend, und erklärte, sie werde sofort anspannen lassen und zu Emanuel fahren (ihrem Juwelier), um ihn zu fragen.
Sie hatte sich nicht geirrt: der Schmuck war eine vorzügliche Pariser Imitation. Überdies verletzte sie, daß er an die Adresse der Counteß of Dudley nur »im Auftrage Sr. Hoheit des Vizekönigs« gesandt worden war – daß also kein »persönlicher Brief« als Begleitung eingetroffen war. Der unechte Schmuck und der fehlende Brief – auch auf den letzteren hatte Mylady einige Zeit vergeblich gewartet – verstimmte sie sehr.
Mehr jedoch den Earl, der die ganze Sendung »unfair und impertinent« fand. Wäre der Schmuck des Khedive echt gewesen, so war er längst entschlossen, denselben zurückzuschicken und ihm zu schreiben, »daß die Imitation der Perlen seiner Gattin auf seinen ausdrücklichen Wunsch angefertigt worden sei: das Original aber in seinem Safe ruhe«. Das würde der Khedive begreifen und höchst verwundert sein, warum man ihm nicht eher mitteilte, daß der gestohlene Schmuck falsch war. Aber – Launen der Frauen würde ein orientalischer Herrscher noch eher verstehen als ein Europäer, da er deren mehrere besitzt.
Was aber nun schreiben? Sollte man die Sendung der Imitation als einen Scherz behandeln? Vor allen Dingen mußte Mademoiselle Adèle (die »Kammerfrau«) auf ihr Gewissen gefragt werden, ob sie in Kairo irgend jemand verraten habe, daß Myladys Schmuck unecht sei. Doch Mademoiselle schwor bei den Augen » de sa pauvre mère und bei allen Heiligen«, sie habe niemals verraten, daß der Schmuck unecht sei. Wie aber konnte dann der Khedive darauf kommen, eine Imitation zu senden? Das war völlig unverständlich! – Jedenfalls würde es ein sehr schlechter – sogar ordinärer – Witz sein, wenn man einen echten Ersatz vorher angekündigt, d. h. versprochen hatte.
Während die Stimmungen und Überlegungen des Ehepaares aus dem englischen Hochadel ohne Zweifel diesen Charakter trugen, befand sich Masur Bey, lächelnd wie immer und alle weiblichen Wesen mit seinen halb träumerischen, halb brennenden Augen bezaubernd, im Besitz des herrlichen Schmuckes, der dem Harem entnommen und bei dem ersten Hofjuwelier in Kairo »montiert« worden war. Er hielt den Zeitpunkt nun für gekommen, den Schmuck in bares Geld umzusetzen, wagte jedoch nicht, durch einen Verkauf einzelner Perlen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Auch diese Schwierigkeiten hoffte er jedoch durch seine geistigen Auskunftsmittel bald zu überwinden, denn es gab ausländische Händler aus allen Weltteilen, die »ohne Nachfrage« auch die wertvollsten Schmuckstücke in Kairo kauften.
Hingegen besaß solche armenischen Auskunftsmittel der aalglatte braune junge Mensch, der auf seinen nackten Füßen hinter Mademoiselle Adèle hergeschlichen und ihr den falschen »Familienschmuck der Dudleys« gestohlen hatte, nicht. Er hatte, trotz Masurs Warnung, einen solchen Verkauf vorgenommen, nachdem er durch seinen Herrn für seine Beihilfe mit einigen größeren Perlen belohnt worden war. Sein Unglück wollte es, daß er bei diesem Verkauf von einem Offizier des Khediven betroffen wurde und nach einem Verhör zur Bestrafung kam, »weil er über die Provenienz der Perlen nicht einwandfreie Auskunft gab«. Bei der Bastonade gestand er zu allgemeinem Erstaunen heulend, daß Masur Bey ihn dazu angestiftet habe, den Schmuck der schönen Dame aus England zu stehlen.
Die schmerzhafte Prozedur war auf einem der Höfe des Palais Abdin vollzogen worden – und noch ehe der gelenkige junge braune Mann sein erstaunliches Bekenntnis machte, schritt der kluge Masur Bey schon, gemächlich eine Zigarette rauchend, zu dem Hauptportale hinaus, wo die beiden großen Neger von der Leibgarde vor ihm straff die Gewehre präsentierten. Er stieg auch gemächlich in einen auf dem Platz haltenden Fiaker – flüsterte dem Kutscher etwas zu, worauf dieser wild auf die beiden Pferde einhieb und in dem Gewirr der ungezählten schmalen Gassen Kairos verschwand.
An der Ecke einer dieser Gassen sprang Masur hinaus und eilte durch einige Höfe in ein gewisses kleines Absteigequartier, das er wohl für die Zwecke seiner Liebesabenteuer gemietet hatte. Dort suchte man ihn, fand jedoch nur seine Uniform – und nicht die Perlen des Khediven!
Herr von Jasmund aber erzählte mir auch, daß kurz vorher ein Brief der Counteß of Dudley an den Khediven angelangt sei, dessen Inhalt er Ceki Bey mitgeteilt habe. Ceki wiederum erzählte Herrn von Jasmund, daß an Lady Dudleys »Dank« für die Sendung die Bemerkung geknüpft sei, »sie habe nicht gewußt, daß Se. Hoheit ein so genauer Kenner falscher Perlen sei«. Weder er noch der Khedive verstünden, was diese Bemerkung sagen solle? Da der echte Perlenschmuck des Khediven in London sei, so habe die Bemerkung der Lady keinen Sinn.
Doch hatten diese Worte der schönen Counteß einen Stachel in dem Herzen und ein Fragezeichen in dem Kopfe des Vizekönigs zurückgelassen.
Nachdem nun aber auf den Brief Myladys keinerlei Antwort des Khediven baldigst erfolgte, die um eine Erklärung der Äußerung Myladys gebeten hätte, war der Verdruß Mylords so sehr angeschwollen, daß dieser Zustand zu einer Explosion führen mußte. Durfte sich so ein hellbrauner Pyramidenmensch gegenüber einer der ersten Damen des vereinigten Königreiches erlauben, ihr einen falschen Perlenschmuck zu schicken? – denn der Khedive konnte nicht wissen, daß der gestohlene Schmuck eine Imitation war, und hatte einen Ersatz zugesagt, der sich auf einen echten Schmuck bezog. So mußte er denn auch einen echten Schmuck schicken, den er, der Earl of Dudley Castle, sofort mit einer Erklärung der Sachlage zurückgesandt haben würde – oder der Pyramidenherr hätte nichts schicken sollen; damit würde man sich gern abgefunden haben, denn mit einem Versprechen nähmen es »Wilde« wohl noch weniger genau als Europäer. Kurzum: der Earl of Dudley Castle setzte sich an seinen Schreibtisch (ohne Mylady davon zu sagen) und teilte dem Khedive mit, »daß der Familienschmuck der Dudleys in seinem Safe zu London, Carlton gardens, ruhe, und er, den Khedive, bäte, ihm baldigst mitzuteilen, weshalb er seiner Gattin eine Pariser Imitation gesendet habe, deren Anschaffung der Counteß of Dudley nach keiner Richtung hin die geringsten Schwierigkeiten verursacht haben würde«.
Die Konsequenz, die sich aus diesem »ziemlich« geharnischten Briefe des Earls im Palais Abdin ergab, war ein maßloses Erstaunen Sr. Hoheit. Der Familienschmuck ruhe in Sicherheit in London? Er selbst habe eine Imitation geschickt? Lady Dudleys Schmuck war aber doch in Kairo gestohlen worden? Stand etwa diese unfaßliche Geschichte mit dem Geständnis seines Dieners in Zusammenhang – etwa mit Masurs Flucht? Welche Perlen hatte jener Diener verkauft, wenn Lady Dudleys Perlen im Safe zu London ruhten? – Und er selbst sollte Imitationen nach London geschickt haben??
Ein dunkles Ahnen zog durch seine ägyptische Seele, die nach einem gesegneten Alter von 55 Jahren (er war 1816 geboren) so manches in dem Schatten der Pyramiden am heiligen Nil erlebt hatte, – so manches, von dem man nicht gern spricht.
Wo ist Masur? – das war jetzt die Frage. »Ich werde diejenigen, die ihn laufen ließen, hängen lassen« – dürfte er bei sich beschlossen haben. Said Pascha war sehr böse. Ceki Bey hatte viel Ungelegenheiten und fühlte sich selbst nicht mehr sicher. Herr von Jasmund, der in Ceki einen Vertrauensmann wegen seiner dienstlichen Berichterstattung nach Berlin besaß, empfand den eingetretenen Zustand gleichfalls recht peinlich. Die Depeschen, geheime Sendboten aus dem Palais Abdin flogen, gingen und ritten nach allen vier Himmelsrichtungen, die vizeköngliche Polizei von ganz Ägypten war mobilisiert, auch Konstantinopel telegraphierte an die Hauptstädte und Grenzen des großherrlichen Reiches – wo ist Masur??
Masur war, mit dem herrlichen Perlenschmuck aus dem Schatze des Khediven in den Falten eines persischen Leibgurtes, bei einer Karawane von Mekkapilgern an den Ufern des Roten Meeres gesehen worden – das war die letzte Nachricht. Dann kam noch ein Gerücht, mit dem man sich wohl für immer genügen lassen mußte: »er sei zu Schiff nach Indien«.