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Nach dem 1846 von seinem Sohn Anselm gemalten Ölbild. Im Besitz von Frau Generaloberarzt Dr. Feuerbach in München.
In der Aula des Königlich Bayrischen Gymnasiums zu Speyer war eine Schulfeier. Aktus, wie man im Stil dieser humanistischen Bildungsanstalten sagte. Und zwar eine Feier zu Ehren ihres damals noch allverehrten Königs Ludwig des Ersten, des Sohnes des vor kurzem gänzlich entschlafenen franzosenfreundlichen ersten Bayernkönigs Maximilian Joseph. Wegen seiner teutschen Gesinnung, die dieser in vielem vortreffliche Sohn des Napoleonfreundes allenthalben an den Tag legte, war der im besten Mannesalter blühende junge Herrscher auch in dem pfälzischen Bayern jenseits des Rheines sehr beliebt. Und die Grundsteinlegung der neuen Walhalla über der Donau bei Regensburg, in der dieser kunstliebende Fürst einen Tempel deutscher Ehren ähnlich dem Parthenon in Athen errichten ließ, hatte gerade in diesen Tagen wieder ganz Germanien mit Begeisterung für den edlen Schwärmer erfüllt. Die Festrede an seinem diesjährigen Geburtstag in Speyer zu halten, war der Professor Anselm Feuerbach berufen, der als Lehrer für Geschichte und alte Sprachen am dortigen Gymnasium wirkte.
Ihn zog an seinem leidenschaftlichen Landesherrn mehr noch als sein Deutschgefühl und sein Trieb zum Vaterlande die freundliche Neigung an, die Ludwig für das klassische Altertum und seine Kunstschätze hegte. Sein Fürst war wirklich ein »antikem Geist und antiker Form sich nähernder«, um einen Ausdruck des von ihm vergötterten Goethe zu gebrauchen. Die Werke, die seine Baumeister Klenze und Gärtner, seine Bildhauer Schwanthaler und Miller und seine Maler Cornelius und Schnorr von Carolsfeld für ihn entwarfen, waren mit Vorliebe alten Mustern angeähnelt oder gar nachgeschaffen. Neuerdings hatte die Bewunderung für die Kunst der klassischen Zeit, die in ihm brannte, rein äußerlich noch eine Förderung dadurch erhalten, daß sein zweiter Sohn Otto, ein Jüngling, von der Nationalversammlung in Athen zum ersten König von Griechenland erwählt worden war. Jubelnd hatte der Vater seine Einwilligung zu diesem Antrag des athenischen Volkes gegeben und schickte sich soeben an, seinem gekrönten Sohn einen feierlichen Besuch in dem Lande des Perikles, des Demosthenes, des Thukydides abzustatten.
Einem solchen Herrscher eine Festrede zu halten, wäre dem Altertumsforscher Feuerbach nicht schwer geworden. Indessen es handelte sich ja gar nicht bei einer solchen Schulfeier darum, den Monarchen eingehend zu würdigen. »Nein! Durchaus nicht!« hatte der Direktor der Anstalt bemerkt. Eine solche nähere Schilderung des Herrschers könnte womöglich vor den Ohren der unreifen Jugend zu einer Abwägung und Bewertung des Königs führen. Man denke sich die Entrüstung, wenn dies höheren Orts bekannt werden sollte. Aber auch eine Beweihräucherung des Monarchen habe nicht Gegenstand einer Festrede an seinem Geburtstag zu sein. »Verstehen Sie mich?« hatte der Schulpapst zum Schluß der Erteilung seiner Vorschriften bemerkt.
Jawohl! Feuerbach hatte verstanden. Er erklärte seinem Oberhaupt, daß er lediglich in der Hauptsache einen Vortrag über den vatikanischen Apollo halten wolle und danach mit einer kurzen Überleitung die Festversammlung zu dem üblichen dreifachen Hoch auffordern werde. »Schön! Machen Sie es so! Und die Überleitung natürlich für den König rühmlich, aber bitte sehr kurz!« hatte der Schuloberbonze entschieden. Und hatte dabei leise gähnend gedacht: »Eheu! Er kommt von seinem vatikanischen Apollo gar nicht mehr herunter.«
In der Tat hatte Feuerbach bereits vor einigen Jahren im Programmheft der Schule mehrere Abschnitte dieser seiner Lebensarbeit über das berühmte Standbild des Vatikans veröffentlicht. Aber da er seit dem Tode seiner ersten Gattin lange gekränkelt hatte und überhaupt schwierig zu behandeln war, mochte der Schulherrscher nicht auf einem anderen Thema bestehen und ließ geduldig wie alle die Festrede, die »ihm nicht viel neues gebracht« hätte, wie er nachher brummte, über sich ergehen. Unter den Zuhörern saß auch, und zwar vorn in der ersten Reihe, die neue zweite Gattin von Feuerbach, eine junge Ansbacherin, der Speyer nichts Übles außer einer wütenden Liebe zur Musik und einem gelegentlichen Hang zum Schriftstellern nachsagen konnte. Neben ihr und zwischen einem jungen feingliedrigen Mädchen von etwa acht Jahren, ihrer Stieftochter Emilie, hockte auf dem Stuhl, der noch viel zu groß für ihn war, ein kleiner Knabe, um den die Frau, während ihr Mann oben auf dem Pult seine Rede ablas, leicht ihren rechten Arm geschlungen hielt. Dies Kind war der Sohn des Mannes, der da über ihnen die apollinische Schönheit pries, war wie der Vater und Großvater »Anselm« genannt, war der künftige Maler, der den Ruhm und den Fluch der Familie Feuerbach zum höchsten Gipfel und zu Ende tragen sollte. Aufs säuberlichste und sorgfältigste von der Stiefmutter angekleidet saß der Kleine wohlerzogen mit seinem reichen braunen Lockenkopf da, schaute unter seinen langen schwarzen Wimpern zum Vater empor und versuchte schon die fremden Worte, die er da vernahm, zu einem Sinn zusammenzureihen.
Auf einer Seitenbank in der Aula, auf der die Spitzen der Stadt für den Schulausschuß Platz zu nehmen pflegten, weilten heute als Ehrengäste zwei berühmte Maler aus München, die beiden Brüder Johannes und Claudius von Schraudolph. Selbige waren dazu ausersehen worden, wie es im bayrischen Hofkanzleiton hieß, im Auftrag des Königs das Innere des Domes zu Speyer auszumalen, jenes ehrwürdigen romanischen Bauwerks aus dem elften Jahrhundert, in dessen unterirdischer Gruftkirche die Gebeine dreier salischer Kaiser ruhten: die des Domstifters Konrad des Zweiten, die Heinrichs des Dritten und seines unglücklichen Sohnes Heinrich des Vierten, des Kanossagängers. Die beiden frommen Malersleute aus München, Schüler des ehrwürdigen Cornelius und der Künstlergruppe der Nazarener zugetan, befanden sich zur Zeit nur auf einer sogenannten Inspektionsreise in Speyer, um vorab erst einmal die Wände, die sie später mit bunten Fresken schmücken sollten, in Augenschein zu nehmen. Sie hatten sich, ihre Königstreue zu bekunden, bei der hiesigen Schulfeier eingefunden und folgten nun in ihrer schwarzen Biedermeiertracht mit den spitzen Vatermörderkragen aufmerksam den Ausführungen des in das Griechentum verliebten Altphilologen.
Feuerbach, der Altertümler, war als Redner begabter als sein Bruder Ludwig, der nur stockend zu sprechen wußte. Seines geistvollen Redeflusses, aus dem zuweilen in guten Augenblicken ein feiner Humor und zündender Witz hervorleuchten konnte, entsinnt sich der wie der wortkargere Sohn Anselm noch ehrfurchtsvoll in späteren Jahren. Jedenfalls war er im Sprechen weniger ungelenk und schulmeisterlich als im Niederschreiben seiner Gedanken, wo ihm Sätze wie dieser sich aus der Feder sträubten: »Die Bedeutung des vatikanischen Apollo hat uns in die Zeit des Äschylus zurück versetzt; nichtsdestoweniger müssen wir der Meinung derjenigen beipflichten, welche der Entstehung dieser Statue eine Zeit anweisen, die mit jener scheinbar außer allem Verhältnis steht.« Oder wo eine Wörtergeburt wie die folgende sich ihm entband: »Was die Schwierigkeiten betrifft, welche dem Marmorbildner entgegenstehen, wenn er der gefügigen Bronze nahe zu kommen beabsichtigt, so mag darunter ein und andere zu den unüberwindlichen gehören,« Es fehlte seiner Schreibweise jene Leichtigkeit und Weltmännischkeit, wie sie seine Fachvorfahren Winckelmann und Lessing, Söhne des gewandteren und umgänglicheren achtzehnten Jahrhunderts, auszeichnete. Etwas von der staubig sandigen Luft von Klassenstuben und eines mit Gipsmasken und -gestalten ausgestatteten Zeichensaals haftet seinen Abhandlungen an, was sich beim mündlichen Vortragen gemildert haben soll, wo er sich zuweilen, an sich selber berauschen konnte.
Rednerisch gelang auch der nicht ganz leichte Übergang von seinen gelehrten Ausführungen zu dem vaterländischen Schlußpunkt seiner Ansprache dem Archäologen nicht schlecht. In einem kurzen Vergleich zu seinem verehrten Apollo, an dem jüngst noch Thorwaldsen sich berauscht hatte, zog er die Statue des Meleager heran, über die er auch eine Sonderarbeit für die Annalen des archäologischen Instituts in Rom zu schreiben gedachte. Und schloß dann mit einem gewissen feierlichen Hochton, einem Pathos, dem man anmerken konnte, daß er als Student in Erlangen einmal von der religiös-romantischen Zeitrichtung ergriffen ein ganzes Jahr seiner Wissenschaft untreu geworden war und sich der Gottesgelahrtheit ergeben hatte, um freilich nach dieser Unterbrechung sich hastig wieder der Antike an den schönen Hals zu werfen.
»Ich hoffe meine hochwerten Zuhörer und auch dich, liebe lernende Jugend, durch diesen Ausflug in das klassische Altertum erhellt zu haben. Und dabei gedenke ich auch voll Dankbarkeit unseres erhabenen Königs Ludwig, durch dessen hochsinnige Obhut die Pflege der Kunst eine ernste Angelegenheit des öffentlichen Lebens geworden ist, und durch dessen edle herzliche Anteilnahme an dem Volk der Hellenen eben jetzt so vieler Augen nach dem alten Heimatland des Schönen gerichtet sind.« Und nun war das dreifache Hoch auf den bavarischen Basileus erfolgt. Eigentlich hatte Feuerbach persönlich gar keinen besonderen Grund, seinem Landesherrn sehr ergeben zu sein. Denn König Ludwig zürnte infolge der freiheitlichen Gesinnung des alten Anselm Feuerbach, den er für einen Unruhstifter und Wühlhuber hielt, seine Regierung lang der ganzen gens Feuerbachiana, die zudem – noch ein kleiner Dorn in seinem Auge – protestantisch war.
Die erzkatholischen Herrn von Schraudolph hatten sich nach dem »Vivat« noch besonders bei dem Festredner für seine Ausführungen bedankt, was Feuerbachs Ansehen bei dem Schulmonarchen um ein bedeutendes steigerte. »Schade, daß Ihr als ein so gescheiter Mann Euch nicht mit dem nämlichen Fleiß und dem gleichen Feuer in unsere gotische Bildhauerkunst, in die Werke eines Hans Multscher, Veit Stoß und Tilmann Riemenschneider, dieser christlichen deutschen Meister, die uns hier doch näher liegen, versenkt habet!« hatte der ältere der beiden Maler in seiner altfränkischen Weise zur Verabschiedung bemerkt. Was der Schulleiter noch zu einer überschwenglichen Verherrlichung der neuen »teutschen« Kunst im Gegensatz zur Antike ausweitete. Gleichwohl war die Stimmung Feuerbachs, der sich an seiner eigenen Rede begeistert hatte, auch nach der Feier noch eine derart gehobene, daß das Mittagessen daheim heiter und angeregt wie »Platons Gastmahl« verlief. Einen schrillen Mißton in diese familiäre Freude, der sich besonders Henriette, diese im engsten Verwandtenkreis warm auftauende Seele, gern ergab, brachte ein Brief von München, der dem Herrn Professor von dem Schuldiener überreicht wurde, der ihn in der Aufregung der Feierlichkeit am Morgen vergessen hatte. Es war ein amtliches Schreiben von dem Dekan der philosophischen Fakultät der Universität München, in dem Feuerbach mitgeteilt wurde, daß der einstimmige Beschluß der Fakultät, ihn als Professor nach München zu ziehen, leider nicht die königliche Genehmigung gefunden habe. Dies erneute Zeichen der Ungnade des Königs gerade in diesem Augenblick erregte in hohem Maße die Erbitterung Feuerbachs. Er mußte sofort vom Tisch aufstehen, da ihn eine leichte Übelkeit befiel. Die Kleinen saßen noch eine Weile unter der Aufsicht der plötzlich auch ganz schweigsam gewordenen Mutter herum. Dann schlichen sie sich leise fort, wie Kinder, die gewohnt sind, auf den kranken Vater Rücksicht nehmen zu müssen, und stiegen in ihr Zimmer hinauf, um dort Märchen miteinander zu spielen.
Frau Henriette begab sich auf Zehenspitzen zu dem gereizten Mann. Er lag auf einem Langstuhl unter einer großen Abbildung seines geliebten Götterbildes aus dem Vatikan. Es war, als habe ihm das Geschick wie dem Gott dort an der Wand den Bogen aus der Hand genommen. Ganz zertrümmert lag er da, der schöne, nur zu leicht verdüsterte Mann mit dem feinen, aber trotzigen Antlitz, das gleich den Gesichtern der vornehmen Römer nicht durch einen Bart verunstaltet wurde. Seine schwarzen dichten Haare hingen zerzaust um seinen bedeutend wirkenden Kopf. »Welche Ironie des Schicksals!« murmelte er mehrfach vor sich hin, während seine Blicke ziellos über den zergliederten Muskelmenschen irrten, der wie das Gerippe zum Leben gegenüber dem Apollo in seiner geistigen Werkstatt hing. Diese anatomische Darstellung des Menschen war ihm von seinem vor kurzem verstorbenen Bruder Karl, Mathematikprofessor in Erlangen, vermacht worden. Und Feuerbach studierte mit Freuden an dieser Karte häufig alle die Muskeln, vom Deltamuskel bis zum großen Brustmuskel (Pectoralis major), die er bei der eingehenden Betrachtung des vatikanischen Standbildes und bei seiner erfindungsvollen Mutmaßung über die an ihr fehlenden Gliedmaßen besinnen mußte.
Seine Frau rückte zunächst behutsam ein Kissen unter seinen Kopf. Mit leichten Fingern zog sie, deren zarte fürsorgliche Hände noch die Kriegsverwundeten von Siebzig rühmen sollten, den Schlafrock an dem verfinsterten Mann zurecht. In Eile hatte er sich dies im Hause von ihm unzertrennliche Bekleidungsstück übergeworfen und brütete nun mit verschränkten Armen über sein trauriges Los, mit einer griechischen Seele in diese kleinbürgerliche Welt voll Ränken und Listen geboren zu sein. »Sie werden mich noch außer Landes treiben: Nach Dorpat in die äußerste Thule, von der Pytheas erzählt, mit ihren Machenschaften!«
Die Frau beruhigte ihn in ihrer unnachahmlichen Art schön zu trösten, sie, die nach ihrem eigenen Geständnis eine Leidenschaft für alle Menschen empfand, die Schmerzen hatten: »Warten wir erst ab, ob es nichts mit Freiburg wird! Ich habe die besten Nachrichten von dort. Medizinalrat Schwörer versichert mir in seinem gestrigen Brief –« »Ach du! Mit deinem ewigen Briefschreiben!« unterbrach sie der ungeduldige Mann ziemlich barsch. »Es wird auch in Freiburg sicher irgend etwas dazwischen kommen, das mir die Professur dort zunichte macht und mich weiter hier als Bakelschwinger für kleine Knaben verkrüppeln läßt!«
Sie blickte von dem verzweifelnden Mann, dessen Mundwinkel sich schief herab fast bis zum Weinen gezogen hatten, auf das Abbild des jungen Lichtgottes über ihm, als hätte sie sich Beistand von diesem Strahlenden, der Python, den Drachen des Zweifels, erschlug, erbitten mögen. Das war am schwersten für sie zu ertragen, dies unglückselige hoffnungslose Wesen dieses Mannes, mit dem sie nur Erbarmen verband. War am schwierigsten zu überwinden, diese traurige Feuerbachische Mitgift der Kleinmütigkeit und Verbitterung über ihre Zeit und ihr Schicksal, zugleich gepaart mit einem gewissen Dünkel und einer Überheblichkeit, die jeden vor den Kopf stieß. »Seltsames Verhängnis!« mußte die Frau denken, die von Kindheit an mit dieser befreundeten Familie verwoben war: »Diese Menschen alle so überschwenglich begabt und alle, alle unglücklich. Wie ein Fluch lastet dies auf ihnen wie auf den Atriden. Da ist auch kein Anhaltspunkt. – Der Abgrund ist geöffnet wie unter dem Geschlecht des Tantalus.« Dabei sollte sich ihre Hoffnung auf Freiburg bald erfüllen. Das förmliche Schreiben, das Feuerbach als Professor der Altertumskunde an die herrliche Stadt im Breisgau berief, die neun Jahre lang der schöne Hintergrund für die Kindheit des jungen Anselm werden sollte, war bereits unterwegs.
Doch sein schon damals gemütskranker Vater, erpicht darauf, sich und seine Umgebung zu quälen, wollte die nahe Aussicht auf die Befreiung aus dem kleinwinkligen Speyer noch nicht genießen. »Sie wird ja doch zu spät kommen, meine neue Anstellung, wenn sie überhaupt kommt! Zu spät wie alles in meinem Leben!« stöhnte er vor sich hin: »Ihr könnt sicher sein, wenn ich jemals in das Land meiner Sehnsucht, nach Italien, reisen kann, wird es auch dafür zu spät für mich sein, werde ich den Nektar, den die Welt mir dort reicht, nicht mehr schmecken können.« Mit dieser dumpfen und schlimmen Ahnung sollte der Zergrämer übrigens Recht behalten. Denn als er 1840 endlich über die Alpen zog, sprach ihn das klassische Land, von dem er sich vielleicht auch zuviel erwartet haben mochte, kaum mehr an, so daß er als ein ziemlich stiller Mann und unbegeistert mit ein paar Münzen, Gipsen und Stichen als Gaben für den Sohn von dort wieder heimkehrte. »Ich war verzaubert und wußte die Formel nicht!« hat er selbst damals traurig eingestanden. Aber der Sohn dieses Italiensuchers, hat dem toten geliebten Vater zu diesem seinem wehmütigsten Geständnis nachgerufen: »Ich aber, ich werde sie finden, diese Zauberformel, Vater, verlaß dich drauf!«
Frau Henriette, die den schwarzseherischen Mann vergebens heute mit guten Worten zu besänftigen versucht hatte, wollte jetzt ein äußeres Mittel anwenden, ihn aus seinen düsteren Grübeleien zu ziehen. »Du gehst zu wenig, Anselm! hat dein Bruder Ludwig das letztemal geschrieben. Und er hat recht. Du kommst kaum noch von deinen Büchern los. Laß uns einen Spaziergang mit den Kindern machen! An den Rhein hinunter! Sieh! Das Gewitter aus E-Moll – du lächeltest, daß ich es nach dieser Tonart benannte, mußtest es aber am Klavier hinterher selber zugeben – ist fernhin donnernd wie die Eumeniden gänzlich verrauscht. Und die Sonne scheint.« Doch der trübsinnige Mann mochte oder konnte ihrer Aufforderung und dem lockenden Glanz da draußen noch nicht folgen. »Laßt mich noch ein wenig allein mit mir!«
Sie wußte, daß er sich dann in sehr trauriger Gesellschaft befand und bat noch einmal um seine Begleitung. Auf der Straße und gegen Fremde verstand er es, sich zusammenzunehmen, wie sie beobachtet hatte, und etwas vorzustellen. Aber zu Hause ließ er – sie sah es mit immer besorgteren Augen – sich ständig mehr gehen. Völlig in sich versunken saß er hier herum, stumm Und teilnahmslos, ein ausgebrannter Vulkan, und letzthin konnten oft sogar Tage vergehen, ohne daß es nur möglich war, eine Antwort aus ihm herauszubringen, wie er denn auch schon als Student einmal in einem Gemütsleiden vollkommen zusammengeklappt war. »Nein! Nein!« wehrte er auch diesmal den Versuch der Frau ab, ihn zu zerstreuen: »Mein Bruder Ludwig hat gut das Wandern preisen. Er wohnt fern auf dem Lande und begegnet stundenlang keinem Menschen, wenn er herumlustwandelt! Aber hier in diesem Abdera, wo man auf Schritt und Tritt nur auf scheeläugige Herdentiere stößt, würde auch ihm bald die Lust am Promenieren vergehen!« Er verbohrte sich wieder in das Mißgeschick des heutigen Tages und räusperte sich den Ärger noch ein wenig fort: »Und da soll man sich in dies Deutschland vertiefen und verlieben, raten sie einem noch, diese sich wer weiß wie patriotisch gebärdenden Piepmeier, diese eine häßliche mittelalterliche Kunst nachbetenden Maler! Soll sich in diesen krummstraßigen spitzgiebeligen Städten wohl fühlen, die einem ihre Türme und Erker wie Nadeln ins Herz und in die Augen stoßen! Nichts als Undank hat man von diesem teutschen Volk, das nur Querköpfe und bestenfalls Eulenspiegel ausheckt, die mit ihren Mitmenschen ungebildeten ärgerlichen Schabernack treiben! Welch ein Widersinn hat unser Geschlecht unter dies Volk des Rückschritts, der Freiheitsfeindlichkeit und der Liebe zur Widerlichkeit ausgesetzt, statt uns in Attika zur Welt kommen zu lassen, dort, wo glänzende Götterlüfte wehen und Ioniens Gärten blühen.«
Die Frau hörte diesmal nur mit halbem Ohre seinen beständigen Klagen über die Gegenwart zu. Sie hatte ein Blatt Papier auf dem Tisch entdeckt, auf das der kleine Anselm einen schlafenden Kaiser gezeichnet hatte, zu dem ihn wohl ein Besuch im Dom an den Steinsärgen der Salier angeregt haben mochte. »Sicher schlummert ein großer Künstler, ein heimlicher Kaiser auch in diesem Knaben!« sprach sie leise prophetisch, als der Vater dieses kommenden Genies sein Gejammer geendet hatte. Sie wollte das Blatt voll Zärtlichkeit mit sich nehmen. Aber der nervenkranke Mann zog es ihr barsch fort, eifersüchtig bedacht auf jedes kleinste Zeichen der Begabung seines Sohnes. Argwöhnisch gegen jedermann hegte der kränkelnde Mann von früh eine innige Liebe zu diesem Kind, dem er die Umrißzeichnungen des englischen Akademikers Flaxman zur Homerischen Odyssee fast schon in die Wiege legte, so daß diesem die Klassizität nach seinen eigenen Worten recht eigentlich mit der Muttermilch eingetränkt wurde.
Frau Henriette hatte sich mit einem wunden Lächeln von dem Tisch erhoben, auf dem die Zeichnung ihres Lieblings liegen blieb, bis der Vater sie behutsam in die Schränke verschloß, die schon mit Kreide- und Kohlezeichnungen und mit Lehmgeschöpfen des Söhnchens gefüllt waren. Das Kind sollte nicht in Eifersüchteleien seiner Eltern gezogen werden, das hatte sich seine zweite Mutter fest gelobt. Auch sie hielt es nun für richtiger, den empfindlichen Mann mit sich allein zu lassen. Sie scheute so sehr, wenn er aus seiner Krankheit heraus böse, ja wütend gegen sie wurde, und floh dann, ohne sich das geringste anmerken zu lassen, von dem Verdrossenen, der in seinen eigenen schmachvollen Sklavenketten ächzte, zu den beiden Stiefkindern, die mit einer selbstischen Liebe an ihrer zweiten Mutter, ihrer »Huma« hingen. Auch jetzt eilte sie, noch einen kurzen Gang mit ihren kleinen Trabanten zu machen. Vor dem Abend mußte sie freilich wieder zurück sein, einmal um für ihr großes schwerstes Kind weiterzusorgen und zum andern, um vor der teuren Lampe noch im Hellen ein Stündchen an den Memoiren der George Sand zu übersetzen. Sie hatte sich fest vorgenommen, um ihrem Mann eine Seereise zu seiner Erholung zu ermöglichen, eine winzige Summe mit dieser Übertragung aus dem Französischen zu verdienen und hatte auch bereits mit mehreren Verlegern darüber verhandelt. Ein Versuch, den Gatten zur Übernahme von ein paar Privatstunden für zurückgebliebene Schüler zu bewegen und dadurch sich selbst einen Batzen Geld zu beschaffen, war schroff von ihm abgewiesen worden. Mit dem Begründen, aus dem wieder die ganze Hochmütigkeit seines Geschlechtes sprach: »Ein Feuerbach ist nicht dazu da, um Idioten zu unterrichten.« Wobei er nicht weiter bedenken mochte, daß es seiner Frau schließlich auch nicht leicht wurde, sich tagtäglich das Geklimper der oft recht unbegabten kleinen Mädchen anzuhören, denen sie das Klavierspielen beibringen mußte.
Auf der Schwelle zu seinem Arbeitszimmer, das selbstverständlich den größten Raum in ihrer Wohnung einnahm, warf die Frau noch einen Blick voll Barmherzigkeit auf diesen armen, von sich selber am meisten geplagten. Menschen zurück. Und eine Träne des Mitgefühls über diesen bei lebendigem Leibe Toten hing dabei in ihren Augen. Sie entsann sich seines hohen Schwarms für das Schöne und Edle, den er heute morgen noch in seiner Festrede bezeigt hatte und den er leider nur im Leben noch so selten betätigte. »Nie!« so mußte sie denken: »Nie hat wohl eine edlere Natur in solch starker Abhängigkeit von seinen trüberen Geistern schmachten müssen! Nie ist wohl ein Mann unverschuldeter zur Beute seines kranken Gemütes geworden! Und nie ließ wohl ein Gelehrter seiner Reizbarkeit derart die Zügel, wie er es ach leider so oftmals tut!«
Der müde Mann war fast froh, als sie gegangen war. Er vernahm noch ärgerlich ihr Hantieren an dem Kleiderständer im Hausflur, wo sie eine kleine kleidsame Raffaelmütze aus schottischem Tuch, die das Kind besonders gern trug, für ihr Söhnchen herunterzupfte. Dann wurde es gottlob ruhig um den kranken Stubenhocker. Einsilbig wie alle Feuerbachs strengte ihn die Sorgfalt der Frau, die er benötigte, wenngleich er vermeinte, sie entbehren zu können, häufig an. Er fühlte sich ständig in ihrer Schuld, ohne zu wissen, wie er ihr ihre Pflege vergelten sollte. Auf den einfachsten Gedanken, durch Liebe und Dankbarkeit ihre Mühen zu lohnen, kam er nur selten. Vor den Kindern nahm er sich zusammen. Aber die arme Frau hatte schwere Tage mit ihm. Stöhnend über die Zeit, in die er wie in einen Kerker eingesperrt war, richtete er sich auf. Traurig rieb er sich über die Adern seiner Stirn, die an der rechten Seite seines Kopfes infolge der häufigen Wallungen zum Schädel, an denen er litt, stark angeschwollen waren. Eine Stunde oder zwei döste er so vor sich hin, in einem völligen Unvermögen, sich zu beschäftigen. Schließlich, als er die Stimme seiner mit den Kindern heimkehrenden Frau auf der Stiege hörte, tappte er sich zu seinem Schreibpult. Dort lag aufgeschlagen ein Buch mit Kupfern von Büsten aus den vatikanischen Sammlungen. In diese Köpfe von alten Herrschern und Denkern pflegte er sich zu vertiefen, wenn ihn der Ärger über die Gegenwart und seine kleinen Zeitgenossen, wie sie sich in seinen platten Lehrerkollegen verkörperten, allzusehr schüttelte. Langsam blätternd besah er sich einen Kopf nach dem andern und träumte sich nach Rom und nach Arkadien. Besonders die Büste des Bias schien den verdüsterten unzufriedenen Gelehrten anzuziehen, diesen Weltwunden, der sich wie sein Bruder Ludwig und später auch sein Sohn Anselm stets für zurückgesetzt und undankbar behandelt hielt. Weniger noch wegen des klugen Ausdrucks jenes griechischen Weisen gefiel ihm dessen Brustbild als wegen der Worte, die an den Rand der Büste geschrieben waren. Sie lauteten – und es war auch Schopenhauers Lieblingsinschrift –: Οἱ πλείστοι ἄνϑοωποι ϰαϰοί. Zu deutsch: Die Mehrzahl der Menschen ist böse.