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Wie jede Lebensgestaltung sich am Dasein des Individuums zu erproben hat, so muß es auch die unsrige tun; sie tut das, indem sie auch dem Einzelleben eine spannende Aufgabe stellt, ihm einen inneren Zusammenhang gibt, es den Widersprüchen entwindet, die es zu zerstören drohen. Diese Widersprüche wurzeln vornehmlich darin, daß der Mensch als denkendes Wesen über die bloße Natur hinauswächst und bei ihr kein Genüge mehr findet, daß der Durchschnitt seines Daseins aber die geistige Betätigung nicht stark genug zeigt, um ein neues Leben hervorzubringen; so schwebt der Mensch in unsicherer Mitte, und da die Versuche einer Hilfe sich bald als unzulänglich erweisen, so endet das Ganze schließlich in trüber Resignation; das Leben erscheint, um mit Schopenhauer zu reden, als ein Geschäft, das seine Kosten nicht deckt.
Der Verlauf des Lebens durch die verschiedenen Lebensalter hindurch, wie die Erfahrung ihn zeigt, stellt sich zunächst als ein Aufstieg, dann aber als ein Abstieg dar, damit aber als ein überwiegender Verlust, als eine schwere Enttäuschung. Beim Eintritt in das Leben wird das Individuum vom engen Kreise der Seinigen freudig begrüßt und zärtlich gepflegt, auch den Weg des Heranwachsenden behüten Liebe und Güte, und so wenig kleine Schmerzen und Sorgen fehlen, sie stören nicht die Lebensentfaltung und Lebenslust. Da die Abhängigkeit noch nicht drückend wirkt, so entwickelt das Kindesalter einen Stand harmlosen Glückes, nach dem das spätere Leben oft wie nach einem verlorenen Paradiese zurückschaut. Dann aber regt sich ein Verlangen nach voller Selbständigkeit, das Leben drängt ins Freie und Weite, der Mensch sucht eigene Wege und schließt in Freundschaft und Liebe selbstgewählte Verbindungen; neue Triebe erwachen, neue Wünsche steigen auf, schwellende sinnliche Kraft führt auch dem geistigen Leben fruchtbare Antriebe zu. Ins Unendliche geht hier das Sehnen und Hoffen, unbegrenzte Möglichkeiten stellen sich zur Wahl vor den strebenden Geist, das ursprüngliche Aufquellen frischer Kraft erzeugt das Gefühl, daß jetzt erst die Welt ihren Lauf recht beginne, jetzt erst die Sonne voll leuchte, jetzt erst Lust und Liebe ihren ganzen Zauber entfalten. Die Vergangenheit dünkt dabei leicht eine bloße Vorstufe dessen, was nun an den Punkt der Entscheidung kommt, jetzt wird die Zukunft geschmiedet, jetzt allen folgenden Zeiten der Weg gewiesen. So groß kann die Jugend nicht von sich denken, ohne auch manche Sorgen und Schmerzen auf sich zu nehmen, die hochfliegenden Pläne selbst lassen das Unzulängliche und Widerstrebende des vorgefundenen Standes mit besonderer Stärke empfinden. Aber ein freudiges Kraftbewußtsein schöpft daraus mehr einen Antrieb als eine Hemmung des Lebens; auch waltet ein fester Glaube an eine Macht der Vernunft und Gerechtigkeit im menschlichen Kreise, ein Glaube auch an eine Überlegenheit freien Handelns über alle starre Gewohnheit.
Aus der Zeit der Entwürfe und Pläne tritt der Mensch mit dem Mannesalter in die Zeit der Arbeit ein, nun gilt es selbst Hand anzulegen, nun das Vermögen in Tat umzusetzen; ein Beruf wird ergriffen, eine eigne Häuslichkeit begründet. Das bringt eine gewisse Verengung des Lebens, ein Einlenken in eine ruhige Bahn. Aber wenn der Sturm und Drang der Jugend verfliegt, so verflicht sich dafür das Leben enger mit seiner Umgebung und gewinnt es einen festeren Boden; die Ziele stehen klarer vor Augen, und das Wirken gewinnt an Sicherheit. Aus fruchtbarer Arbeit quillt Liebe und Freude hervor, sie vermag Hingebung und Opfer zu erzeugen, eine ethisch-bildende Kraft jener Arbeit ist unverkennbar. Aber bei dieser Wendung kommt das Leben bald an einen kritischen Punkt, den am meisten kritischen Punkt unseres ganzen Daseins. Die Wendung zur Arbeit zwingt, das Auge auf die Leistung zu richten, und lenkt damit den Menschen vom eignen Innern ab, sie verlegt den Schwerpunkt des Lebens mehr und mehr in das Verhältnis zur gesellschaftlichen Umgebung und macht den Einzelnen zum Diener ihrer Wünsche. Das ergibt so lange keine schwere Verwicklung, als das Feuer der Jugend noch anhält und das Werk des Tages erwärmt; aber allmählich erlischt jenes Feuer, es erschlafft mehr und mehr die Jugendkraft der Natur, und es fragt sich nun, ob, was damit verloren geht, irgendwelchen Ersatz erhalte. Damit aber ist der kritische Punkt erreicht und steht das Leben vor einer folgenschweren Entscheidung. Nur geistige Kraft vermag die sinkende Natur zu ersetzen, sie könnte es aber nur, wenn die geistige Anregung, die dem Individuum zugeführt wurde, in ihm tief genug Wurzel geschlagen hätte, um ein selbständiges Leben zu erzeugen und dem Kampf gegen die Hemmungen gewachsen zu machen. Dies aber geschieht, wie der unbestreitbare Augenschein zeigt, in den meisten Fällen nicht, das geistige Leben wird nicht sowohl durch eigne Kraft als durch das verwickelte Triebwerk des gesellschaftlichen Lebens aufrecht gehalten; das aber besagt gerade nach unserer Darlegung insofern einen schroffen Widerspruch, als das Geistesleben im Selbständigwerden der Innerlichkeit besteht; es läßt sich nicht unter eine fremde Ordnung beugen, ohne arg zu verflachen und sich selbst entfremdet zu werden, ohne schließlich zu bloßem Scheine zu sinken. Das muß auch das Individuum am eigenen Leibe erfahren: es kann nicht vornehmlich nach außen blicken und die Wirkung auf die Umgebung berechnen, ohne daß die Kraft des Lebens abnimmt und seine Gefühle ermatten, wird es ja statt freudiger Selbstbehauptung ein bloßer Austausch von Wirkung und Gegenwirkung; ursprüngliches Schaffen weicht nunmehr träger Gewöhnung, und eine geistlose Mechanisierung dehnt sich weiter und weiter aus. Die Arbeit sinkt zur Routine, und was feurige Liebe schuf, das muß die Gewohnheit des Alltags und eine kühle Interessenberechnung mühsam aufrecht erhalten. Zugleich weicht der freudige Enthusiasmus der Jugend einem nüchternen Realismus, der Trägheitswiderstand der Verhältnisse, den die Jugend so gering anschlug, wird nun überschätzt und lähmt allen kühnen Aufschwung, dasselbe gilt von der Macht des Kleinen und Gemeinen, sowie des Zufalls, der oft mühsame Arbeit und wohlangelegte Pläne in flüchtigem Spiel zerstört. Ist es dem Individuum zu verdenken, wenn es unter solchen Eindrücken und Erfahrungen auf eine Beherrschung der Dinge verzichtet und möglichst sich seiner Umgebung anzupassen bedacht ist? Auch ist das gesellschaftliche Leben, dem das Individuum sich jetzt dienstwillig einfügt, eifrig beflissen, dem Gefühl innerer Leere entgegenzuwirken, das jene Wendung nahelegt. Die Gesellschaft läßt es an Anerkennung der Arbeitsleistung nicht fehlen, sie stachelt den Ehrgeiz des Individuums an und schmeichelt seiner Eitelkeit; auch ersinnt sie mit unermüdlichem Eifer Unterhaltungen und Zerstreuungen, Spiel, Sport, Surrogate echten Lebens, die durch leidenschaftliche Erregung des Augenblicks die Leere des Ganzen zu verdecken suchen. Aber das Gefühl der Leere verscheuchen heißt nicht die Leere selbst überwinden; in aller künstlich erzeugten Erregung führen die Seelen kein wahrhaftiges Leben, sind sie innerlich angesehen tote Seelen. Und nun regt sich oft eine wehmütige Sehnsucht nach der Kindheit, wo das Leben in weitestem Ausblick vor dem Menschen lag, wo alle Möglichkeiten noch offen standen und die Pulse so viel kräftiger schlugen.
Schließlich versagen die Kräfte zur Arbeit, es gilt einen Rücktritt von ihr, das Greisenalter beginnt. Dieser Abschied von der Arbeit, die mehr und mehr eine Bürde wurde, mag zunächst wie eine Erleichterung und Befreiung wirken, die Ruhe wird jetzt zum Genuß, der harte Kampf erlischt, eine weichere Stimmung kommt auf, als unbeteiligter Zuschauer wird der Mensch gerechter im Urteil. Das Greisenalter ist die Zeit der Kontemplation, aber einer Kontemplation, die sich von der Produktion geschieden hat; so hat, was hier an Weisheit entsteht, einen matten und unfruchtbaren Charakter, es kann mehr das Scheiden vom Leben erleichtern als diesem nachträglich einen Wert verleihen. Die Beleuchtung, die sein Verlauf beim Rückblick erhält, wird eher dem Pessimismus als dem Optimismus entsprechen. Die Natur gab jedem von uns ein Kapital in das Leben mit, aber dies Kapital war begrenzt, und wir haben es allmählich aufgezehrt; was sollen wir nun noch beginnen? Wir hatten manche Erfolge, aber sie ließen die Seele vergessen und verkümmern, und sie selbst geraten in Unsicherheit, wenn Zweifel an einem Sinn und Wert des gesamten Lebens erwachen, dem alle besondere Arbeit dient. Und wie sollten sie hier nicht erwachen? Wir strebten von Augenblick zu Augenblick und hofften stets mit Erreichung der nächsten Höhe den letzten Anstieg erklommen zu haben, aber immer wieder erschienen neue Gipfel und zwangen uns weiter zu wandern. Das Leben kam nicht zu sich selbst und ging nicht in ein Ganzes zusammen; so hatten wir dem Strom der Zeit nichts entgegenzusetzen, sondern trieben wehrlos mit ihm dahin. Im Hoffen und Harren auf ein Glück, das irgendwoher kommen sollte, entrann uns die Gegenwart und schließlich das ganze Leben, es war mehr ein Suchen und Haschen, ein Lebensverlangen, als echtes Leben.
Einen gewissen Trost findet dies Leben wohl in dem Gedanken, daß unsere Arbeit der Heranbildung eines neuen Geschlechts diene, unsere Mühen diesem zugute komme. Aber gibt das dem Leben einen irgendwie genügenden Sinn? Was wird gewonnen, wenn das neue Geschlecht auch nur wieder ein anderes heranzieht, und dieses wieder ein anderes, wenn jedes die Frage weiterschiebt, und damit das Leben stets im Suchen bleibt, nie zum Stehen gelangt? Schließlich erscheint dann das rastlose Streben von Geschlecht zu Geschlecht als ein bloßes Mittel, das Naturleben aufrecht zu halten, und es wird eine große Irrung, daß wir uns als einen Selbstzweck behandeln und einen Inhalt des Lebens begehren. Alle solche Größen sind dann nicht mehr als bloße Trugbilder, die uns vorgespiegelt werden, um uns aus der Trägheit aufzurütteln. Wir alle sind hier bloße Durchgangspunkte des Lebens, Wogen, die sich rasch zusammenballen und ebenso rasch wieder zerrinnen, Wogen, bei denen hinter jeder sofort eine neue aufsteigt, um ihren Platz einzunehmen. Dieser Stand der Dinge mag so lange verborgen bleiben, als das Auge nur an einzelnen Geschehnissen haftet; sobald aber ein überschauendes Denken die Erfahrungen zusammenfaßt, wird die Sinnlosigkeit des Ganzen unbestreitbar, und die Verneinung behält damit das letzte Wort.
Zum selben Ergebnis führen die schroffen Widersprüche, die das Leben des Individuums zeigt. Einmal dünkt das Individuum, namentlich wie die moderne Forschung es sieht, ganz und gar ein bloßes Stück der Weltverkettung, bis in sein tiefstes Innere hinein festgelegt und bestimmt; zugleich aber kann es unmöglich aller eignen Entscheidung entsagen, da ihm dann überhaupt nichts zu eigen bleibt und sein Leben ein bloßes Betrachten eines undurchsichtigen und gleichgültigen Geschehens wird. Ferner stellt jenes Nebeneinander der Dinge, wie die Erfahrung es bietet, den Einzelnen mit all seinem Tun und Ergehen als für das unermeßliche All und auch für das menschliche Zusammensein völlig gleichgültig dar, es scheint Torheit, etwas besonderes sein und etwas besonderes bedeuten zu wollen. Aber das Individuum kann sich selbst nicht als gleichgültig nehmen, ohne daß aller Antrieb zum Leben, alle Arbeit an seinem Aufbau, alles Streben nach Ausbildung einer Individualität und nach einem Persönlichwerden sinnlos wird und zusammenbricht. Auch ist der Mensch im Reich der Erfahrung in das innere Gehäuse seines Ich eingeschlossen und muß alles Ergehen und Tun auf das Wohl dieses Punktes beziehen, es scheint ganz und gar unmöglich, dieses Gehäuse zu verlassen und an Fremdem Anteil zu nehmen. Aber zugleich empfindet er solche Begrenzung als eine unerträgliche Vereinsamung, er sehnt sich nach Liebe und Sympathie und möchte selbst solche erweisen. Aber alles Erkennen und Empfinden der drückenden Enge führt nicht über sie hinaus; nur darin scheinen wir der Natur überlegen, daß wir die Bindung schmerzlich fühlen, die sonst verborgen bleibt.
In allen diesen Punkten erkennen wir einen durchgehenden Widerspruch: es regt sich in uns etwas Neues und lockt uns zu hohen Zielen, aber ihm fehlt die Selbständigkeit und zugleich die Kraft, welche jene Ziele verlangen. Die bloße Natur wird dem Menschen unzulänglich, aber zu einem neuen Leben gelangt er nicht.
Müssen wir uns solchem Widerspruch wie einem unentrinnbaren Schicksal ergeben und damit auf einen Sinn des Lebens verzichten? Wir müßten es, wenn das geschilderte Dasein die ganze Wirklichkeit wäre, wir brauchen es nicht, wenn die Anerkennung und Aneignung eines selbständigen Geisteslebens eine Umkehrung möglich macht, eine Tiefe des Alls eröffnet und jenes gegebene Dasein als eine besondere Stufe der Wirklichkeit verstehen lehrt. Gewiß verschwinden damit nicht die Verwickelungen, die unser Leben beengen und sinnlos machen, aber wir werden über ihren Bereich hinausgehoben und gewinnen einen Standort, von dem aus sich ihnen widerstehen läßt. Denn gewinnen wir mit jener Wendung an einem ursprünglichen Leben, einem Leben von innen her und aus dem Ganzen teil, werden wir Mitarbeiter am Bau einer echten Wirklichkeit, ja finden wir schließlich unendliches, ewiges, schaffendes Leben in uns als unser eignes Leben gesetzt, so spielen wir nicht mehr bloß eine uns zugewiesene Rolle, sondern so wird das Leben uns in vollem Sinne zu eigen, so stehen wir tätig zur Wirklichkeit, so wird es möglich, das Leben den geschilderten Widersprüchen zu entwinden und seinen Verlauf vor jenem trüben Sinken zu bewahren. Es fällt dafür besonders dies ins Gewicht: wohl hängt das Einzelleben am Leben des Ganzen und vermag gar nichts ohne dies, aber an dieser besonderen Stelle ist die Entscheidung und Zuwendung des Einzelnen unentbehrlich, um das Leben aufrechtzuhalten und weiterzuführen, hier steht die Sache auch bei ihm, und ist er berufen, ein Mehrer des Reiches des Geistes zu werden.
Mit solcher Wendung tritt dem Schicksal ein ursprüngliches und freies Leben entgegen und verwandelt das Dasein des Menschen in einen Kampf zwischen Freiheit und Schicksal; dann verschwindet auch die Gleichgültigkeit, welcher der Mensch sonst ausgeliefert war; dann kann ein Gegenwärtigwerden des Ganzen an der einzelnen Stelle jenes enge Gehäuse sprengen, die Vereinsamung überwinden, große Wogen von Liebe und Mitleid durch alles menschliche Dasein ergießen, dann werden auch die Geschicke des Einzelnen auf ein Gesamtgeschick der Menschheit aufgetragen, dadurch geläutert und veredelt. Wie viel das bedeutet, das zeigen die großen Weltreligionen.
Alle diese Wandlungen und Erhöhungen hängen aber an der Grundtatsache, daß mit jener Wendung das Leben des Einzelnen an erster Stelle nicht mehr ein Verhältnis zu seiner Umgebung, sondern ein Verhältnis zu dem ihm innerlich gegenwärtigen Geistesleben ist; das muß den Gesamtcharakter gegen die bisherige Fassung verändern. Nun liegt das Gelingen des Lebens nicht mehr am Erfolg nach außen, sondern in seinem eigenen Aufbau; nun findet es darin sein höchstes Ziel, ein selbständiges Lebenszentrum, eine geistige Energie zu werden. Das bedeutet weit mehr als den Gewinn eines subjektiven Wohlbefindens, mehr als ein Entwickeln besonderer Tätigkeiten in Erkennen, Fühlen und Wollen, mehr auch als die Ausbildung eines moralischen Charakters. Denn dieser ist nur eine besondere, freilich höchst wesentliche Seite der Bildung zur geistigen Energie; diese aber besagt ein Erringen eines Beisichselbstseins durch Volltätigkeit, die auch den Gegenstand einschließt, das Bilden eines selbständigen Lebenskreises, der bei aller Besonderheit aus dem Ganzen der Wirklichkeit nicht heraustritt, sondern innerhalb seiner verbleibt. Im rechten Sinne bei uns selbst befindlich, stehen wir zugleich unmittelbar im Leben des großen Alls.
Damit tut sich eine unermeßliche Tätigkeit auch für den Einzelnen auf, eine Tätigkeit, die nicht mit ungestümem Drange in unbegrenzte Fernen trachtet und nicht das ganze Leben in bloße Bewegung verwandelt, sondern die in aller Weite des Strebens den Ausgangspunkt festhält und zu sich selbst zurückkehrt; will sie doch letzthin nicht etwas Fernes und Fremdes, sondern ihr eignes Wesen, und ist alles echte Leben ein Suchen und Erringen seiner selbst.
Freilich fehlt es hier nicht an Verwicklung. Die Anerkennung der Selbständigkeit des Geisteslebens läßt das Ungenügen des menschlichen Vermögens, den weiten Abstand zwischen Forderung und Leistung noch stärker empfinden und stellt den Stand des Menschen noch weit unzulänglicher dar. Unendliches soll im Endlichen, Zeitüberlegenes im Zeitlichen, Freischaffendes im Gegebenen und Gebundenen, Liebe in der Welt des Kampfes zur Macht und Wirkung gelangen; solche Forderung erzeugt eine starke Bewegung, die nie aus dem Suchen und Streben heraus zu reinem Abschluß gelangt. Diese widerspruchsvolle Lage war eben auf der Höhe menschlichen Strebens klar und deutlich gegenwärtig: die edelsten Menschen machten sich die meisten moralischen Sorgen, »die Heiligen pflegen sich für Sünder und die Sünder für Heilige zu halten« (Pascal), die größten Künstler fühlten besonders schmerzlich den weiten Abstand zwischen Wollen und Vollbringen, und tiefste Denker fanden ihre Hauptaufgabe darin, einer Überschätzung des menschlichen Erkenntnisvermögens entgegenzuwirken und scharf seine Grenzen zu ziehen. Aber deswegen braucht der Mensch keineswegs zu verzagen: eine Kleinheit, die innerlich erlebt wird, bezeugt unmittelbar eine Größe, die lebendige Gegenwart aufrüttelnder, erhöhender, weitertreibender Mächte; auch sie gehören zu uns und lassen uns bei aller Unfertigkeit an einem Gehalt unseres Lebens nicht zweifeln. Das besonders deshalb, weil jene Bewegung sich nicht in einzelnen Anregungen erschöpft, sondern durch alle Mannigfaltigkeit einem einzigen Ziele dient: der Erhebung des Menschen zu einer geistigen Energie, der Geburt eines neuen, geistigen Menschen. Denn »der Mensch muß zweimal geboren werden, einmal natürlich und sodann geistig, wie der Brahmine« (Hegel). Brahminen in diesem Sinne aber sind wir alle, denn jeder von uns, mag sein Lebenskreis äußerlich noch so bescheiden sein, ist innerlich angesehen ein Weltwesen, das unmittelbar am Leben des Ganzen teilhaben kann und es an seiner Stelle zu fördern vermag. »Gott begegnet sich immer selbst; Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen. Daher keiner Ursache hat, sich gegen die Größten gering zu achten« (Goethe).
Steht es so mit dem Menschen, so kann er den Gefahren Widerstand leisten, welche sein Leben nach kurzem Aufschwung in ein Stocken und Sinken zu bringen drohen: er kann der physischen Jugend eine geistige entgegensetzen und gegenüber einem erstarrenden Mechanismus das Leben in frischem Flusse halten. Dessen Gesamtcharakter ist dadurch geändert, daß es nun nicht mehr bloß an uns vorgeht und uns nicht von draußen zufällt, sondern daß wir selbst es bereiten und es erst damit wahrhaft zu eigen gewinnen, daß nun nicht mehr einzelne Vorgänge in sinnlosem Gewirr einander folgen, uns eine Zeitlang erregen, dann aber wieder verschwinden, sondern daß wir gegenüber dem Wirbel und Wandel eine Hauptrichtung festhalten, in der Arbeit für jenes Gesamtziel eine zeitüberlegene Gegenwart bilden, hier alles, was dem inneren Fortgang dient, festhalten und miteinander steigern können. Durch Erfahrungen, Kämpfe und Gewinne, ja selbst durch Verluste hindurch kann sich hier ein Aufbau des Lebens vollziehen, kann das Leben sich immer mehr auf sich selber stellen und mit dem Selbständigwerden zugleich an Ursprünglichkeit wachsen. Dann verheißt sein Verlauf uns reichen Gewinn, dann behält er eine stete Spannung. Dann wird es auch nicht echte Weisheit bedeuten, das Leid, das uns traf, einfach abzuschütteln und möglichst alle Spur von ihm auszutilgen, sondern dann wird es einem überlegenen Ganzen des Lebens gegenwärtig bleiben und zu seiner Vertiefung wirken können, indem es zugleich bei sich selbst geläutert und veredelt wird.
Solche innere Bildung vermag durch die ganze Ausdehnung des Lebens im Aufstieg zu bleiben und beim Weichen der physischen Jugend im Wachstum einer geistigen Jugend, einer geistigen Ursprünglichkeit fortzuschreiten; das Leben ist hier nicht ein Aufzehren eines gegebenen und begrenzten Kapitals, sondern ein Bilden eines neuen, das ins Unbemessene zunehmen kann; ein Leben muß als verloren gelten, dessen Verlauf den Menschen nicht innerlich reicher macht. Von jener geistigen Jugend aus läßt sich der Forderung der großen Mystiker ein gutes Recht zuerkennen, der Mensch solle jeden Tag jünger werden, sein Leben jeden Tag mehr aus der Zeit in die Ewigkeit stellen.
Das sentimentale Zurückblicken auf die Jugendzeit aber, das Jammern und Klagen über den Verlust ihrer goldenen Tage erscheint nun als ein Ausfluß matter Denkart, ja als ein deutliches Zeugnis dafür, daß das Leben sein Ziel verfehlte.
Nicht minder aber wie dem Sinken der Jugendkraft läßt sich auch der Mechanisierung der Arbeit und dem Verfallen in geistlose Routine widerstehen. Uns bezwingen hier nicht sowohl die Außendinge als unsere eigene Schwäche und Leere, unser Unvermögen, gegenüber der Arbeit nach draußen ein inneres Werk des ganzen Menschen zu wahren und von ihm aus die Arbeit zu beseelen. Das aber kann namentlich da geschehen, wo anerkannt wird, daß es sich bei der Wendung zur Geistigkeit um den Gewinn eines neuen Lebens handelt, um die Bildung eines echten Wesens, nicht um eine bloße Verstärkung einzelner Tätigkeiten. Überall kommen wir darauf, daß unserem Leben ein Gehalt und Wert nicht von draußen zufällt und gar nicht zufallen kann, daß wir ihn aber von uns aus ihm zu geben vermögen, sofern eine geistige Welt in uns wirkt und zu unserem eigenen Wesen wird.
Wenn solche Festhaltung einer durchgehenden inneren Aufgabe das Leben in ein fortlaufendes Werk verwandelt, und was nach außen hin verloren geht, sich von innen her ersetzen läßt, so behalten auch die späteren Lebensstufen eine eigentümliche Art und einen eigentümlichen Wert. Auch Güter wie Kraft und Schönheit beschränken sich nicht auf das Jugendalter, auch die späteren Alter haben an ihnen teil, nur werden sie sie anders gestalten müssen und gegenüber dem Physischen mehr das Geistige hervorzukehren haben. Wir ergeben uns gewöhnlich viel zu früh und machen weit weniger aus uns, als wir könnten; unser schlimmster Feind ist die eigne Verzagtheit, die Unterwerfung unter die bloße Natur. Auch das Greisenalter hat, richtig verstanden, seinen Wert, es ist kein mattes Ausklingen, sondern ein inneres Zusammenfassen des Lebens und zugleich eine Emporhebung über alle äußeren Maße, eine Befreiung von aller bloßmenschlichen Schätzung. Wohl vollzieht hier das Leben gegenüber der früheren Evolution eine Art von Involution, eine Einkehr in sich selbst, aber es fällt damit nicht ins Leere, wenn es einen Kern gewann und in die Bewegung des Weltalls eintrat. Von hier aus erscheint das Greisenalter als ein Prüfstein für das Ganze des Lebens, für sein Gelingen oder Mißlingen.
So braucht auch der Einzelne bei allem Dunkel über unser Schicksal und bei allen Widerständen drinnen und draußen sein Leben nicht verloren zu geben. Vom Innern der Seele strahlt Licht in das Dunkel und kommt Kraft gegenüber den Feinden. In innerem Aufbau und mutigem Kampf, im Fortgang zum Ganzen eines Werkes, im Streben, ein geistiges Eigenwesen zu werden und sich zugleich im Ganzen der Wirklichkeit zu verankern, kann das Leben Größe und Festigkeit finden und kann ihm freudiger Glaube alle trüben Zweifel verscheuchen. Aber da es dies alles nur in den Zusammenhängen einer geistigen Welt und getragen von ihrer Kraft vermag, so bleibt das Bewußtsein der Stärke und des Wertes fern von eitler Selbstüberhebung, und die Größe selbst zeigt dann mit überzeugender Klarheit die Bedingtheit menschlichen Vermögens.