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Den Ausgangspunkt der Selbstbesinnung wird die Frage zu bilden haben, ob das Leben des Menschen gänzlich innerhalb der Natur verläuft, oder ob es über sie hinaus eine eigentümliche Art entwickelt. Daran nämlich ist nicht zu zweifeln, daß der Mensch auch innerlich zunächst der Natur angehört: sie umfängt ihn nicht nur von außen her, sondern sie erstreckt sich auch tief in sein seelisches Leben hinein. Denn auch dieses ist in weitem Umfang ein bloßes Stück des Nebeneinander und des Zusammentreffens vorhandener Elemente, wie das Naturgeschehen sie zeigt; als ein solches ist es lediglich ein Verkehren mit der Umgebung, alle Anregung kommt hier von außen, und nach außen geht alles Wirken. Aber so gewiß ein derartiges Geschehen die Breite unseres Lebens einnimmt, jede genauere Betrachtung, jede schärfere Prüfung des menschlichen Standes zeigt, daß unser Seelenleben sich nicht in jenes erschöpft, daß es in allen seinen Hauptentfaltungen, im Erkennen, Fühlen und Streben, den dort gezogenen Rahmen durchbricht und eine eigentümliche Art gegenüber der bloßen Natur erweist. Das aber nicht bloß beim Individuum, sondern auch im Zusammensein der Menschen und in der gemeinsamen Arbeit.
Das Erkennen im Bereich der Natur ist ein Verknüpfen (Assoziieren) von einzelnen Eindrücken, das Beharren und die Aufspeicherung dieser Eindrücke ergibt eine gewisse Verwebung und eine Art von Erfahrung, verschiedene Grade sind dabei möglich, und es zeigt die Betrachtung des tierischen Lebens, daß die Verkettungen im Aufstieg der Wesen ausgedehnter und verschlungener werden, daß damit die Intelligenz eine immer größere Rolle erhält. Aber was immer dabei erreichbar ist, das bleibt durch die weiteste Kluft vom Denken getrennt, das im Menschen sich jenem assoziativen Geschehen zugesellt. Denn in der Wendung zum Denken reißt der Mensch sich von seiner Umgebung los und erweist sich zugleich allem bloßen Eindruck überlegen. Als denkendes Wesen vermag er sich dem Ganzen der Umgebung entgegenzustellen und sein Verhältnis zu ihr zu erwägen, seine Seele bekundet damit eine innere Selbständigkeit und ein Vermögen, von sich aus Bewegungen aufzubringen. So ist auch die Wissenschaft, das Erzeugnis gemeinsamer Arbeit, grundverschieden von dem Gemenge der Vorstellungen, in denen das Alltagsleben verläuft. Nur soweit die Menschen ihr Leben auf Denken gründen, wird es ihr eignes Werk, während das Vorstellen mit seinen wechselnden Verknüpfungen uns willenlos hin- und herwirft und bei seiner Abhängigkeit und Zufälligkeit nun und nimmer die Kulturarbeit tragen kann. – Eine solche Selbständigkeit kann das Denken aber nur erlangen, indem es den Stand eines bloßen Nebeneinander überschreitet, einen Gesamtentwurf bildet und mit ihm alle einzelnen Elemente umspannt, sie innerlich zusammenhält, den ganzen Bereich durchgliedert und abstuft. So sollen die Bestandteile eines Begriffes, die sogenannten Merkmale, sich von einer umfassenden Einheit aus gegenseitig näher bestimmen, so entsteht die Ordnung eines Systems, macht große Komplexe der Arbeit möglich und läßt an jeder besonderen Stelle den Gedanken des Ganzen wirken. Das Leben zeigt hier eine völlig andere Struktur als die einer bloßen Zusammensetzung. – Endlich bekundet das Denken auch insofern einen neuen Lebensstand, als es mit voller Klarheit vom Subjekt und von seinem Befinden ein Reich bei sich selbst befindlicher Dinge scheidet, ein Reich, das dem Menschen zunächst wie fremd gegenübersteht, um das sich aber zu mühen, das sich möglichst zu unterwerfen er durchaus nicht lassen kann. In solcher Richtung des Strebens auf die Dinge erscheint eine innere Erhebung des Lebens über die bloße Zuständlichkeit, ein Weitwerden bei sich selbst. Immer wieder wurde der Menschheit vorgehalten, daß die Dinge ihr ewig verschlossen seien, trotzdem ist sie immer wieder zum Sorgen und Mühen um jene zurückgekehrt, sie scheint nicht dauernd auf sie verzichten zu können. Aber selbst der Verzicht mit seinem Bewußtsein, daß jenseits unseres Vorstellungskreises eine uns unzugängliche Wahrheit liegt, verrät eine wesentlich andere intellektuelle Art als die eines bloßen Vorstellungsmechanismus. Auch das Nein erweist das Problem und eine Befassung mit ihm.
Eine ähnliche Weiterbewegung zeigt auch das menschliche Fühlen. Dies bleibt nicht wie im tierischen Seelenleben an die sinnliche Erregung gebunden, es wird auch von innen her aus den eignen Bewegungen der Seele erzeugt, und wenn auch bei derartigen Gefühlen Körperliches mitschwingen mag, von den bloßsinnlichen bleiben sie grundverschieden. Wie weit hat sich das menschliche Streben nach Glück oft vom sinnlichen Wohlsein entfernt, wie oft hat es diesem sich direkt entgegengestellt! – Sodann erschöpft sich bei uns das Gefühl nicht in einzelnen Erregungen von Lust und Schmerz: Wirken und Schaffen erstreben vielmehr einen Gesamtstand des Lebens, einen Stand der Zufriedenheit, der Glückseligkeit, und dieser Gesamtstand wirkt auf die Schätzung der einzelnen Erlebnisse zurück und gibt ihnen diesen oder jenen Wert. Des Menschen Glück bemißt sich nicht nach dem Quantum der dargebotenen Lust. In rauhen, äußerlich freudlosen Zeiten konnten die Menschen Freude am Leben haben, während nach dem Zeugnis unserer eignen Zeit die reichste Fülle von Genüssen nicht vor einer inneren Leere und zugleich vor tiefem Unbehagen schützt. – Endlich kann das Gefühl sich von der Bindung an den Zustand des Individuums befreien, es kann in Liebe und Mitleid eine Teilnahme an dem Ergehen anderer entwickeln, es kann eine Freude auch aus einer Versetzung in das Recht und den Fortgang der Sache schöpfen. So wurden Liebe wie Mitleid zu treibenden Kräften großer Weltreligionen, so hätte ohne eine innere Freude an der Sache nun und nimmer die menschliche Arbeit die Größe erlangt und die Macht gewonnen, die sie in Wahrheit erreicht hat. Demnach weist eben das, was das Allereigenste scheint, den Menschen über sein kleines Ich hinaus.
Ähnliche Bewegungen zeigt das Gebiet des Begehrens. In dem Wollen des Menschen erscheint eine Erhebung des Strebens über den dunklen Zwang des Naturtriebs, das Handeln gewinnt eine Selbständigkeit und Überlegenheit gegen alles, was von außen her auf es eindringt; eine solche Selbständigkeit erreicht die menschliche Gemeinschaft in der Ausbildung einer Kultur gegenüber der bloßen Natur. Denn das ist jener eigentümlich, daß der Mensch sein Los nicht hinnimmt, wie es ihm zufällt, sondern daß er es selbst zu bereiten sucht, daß er von sich aus Forderungen stellt und sie durchzusetzen vermag. – Solches Selbständigwerden aber verlangt eine Zusammenfassung der einzelnen Bestrebungen zu innerer Einheit, jene dürfen nicht durch- und nebeneinander gehen, sondern sie müssen sich einem Hauptziel unterordnen, die Leistung dafür entscheidet über die Stellung wie die Bedeutung alles einzelnen Unternehmens. Auch wo wir in Staat und Gesellschaft zusammenarbeiten, da drängt es über die Vielheit einzelner Leistungen hinaus zur Herbeiführung eines Gesamtstandes, in dem sich der Mensch als Ganzes zufrieden und glücklich fühlt; Bestrebungen, denen die Idee und die Hoffnung eines solchen Gesamtstandes fehlt, können nie den ganzen Menschen gewinnen. Das zeigen die religiösen, politischen, sozialen Kämpfe der Gegenwart mit voller Deutlichkeit, sie zeigen die Gefahr aller Mittelparteien, die prinzipiellen Fragen zurückzustellen. – Beim Versuch einer genaueren Fassung des höchsten Gutes erscheint endlich wiederum ein Verlangen, das subjektive Befinden zu überschreiten und dem Leben mehr innere Weite zu geben. Denn das Glück als bloßes Behagen des Menschen, sei es auch das der Gesamtheit, wird uns selbst viel zu eng und klein; alle Höhen der geistigen Arbeit waren einig in dem Streben, den Menschen über das Sorgen um bloße Lust oder bloßen Nutzen hinauszuheben und seinem Leben ein Ziel zu stecken, an dem es sich selbst emporhebt und etwas Größeres aus sich macht.
So zeigen alle drei Seiten der Tätigkeit ein Selbständigwerden inneren Lebens, die Ausbildung eines Ganzen, ein Streben nach Überschreitung der menschlichen Zuständigkeit; augenscheinlich ist das alles nicht eine bloße Fortführung der Natur, sondern ein Bruch mit ihr, ein Ergreifen eines neuen Ausgangspunktes, ja eine Umkehrung des Lebens. Was hier an Zielen und Wegen, an Kräften und Bewegungen ersichtlich wird, das ist mit seiner Wirkung von Ganzem zu Ganzem, seiner Innerlichkeit und seiner Selbsttätigkeit der Natur gegenüber völlig neuer Art, das muß von ihr aus als ein unverständliches Rätsel erscheinen. So ist in allem zusammen eine neue Lebensstufe nicht zu verkennen. Wie weit diese neue Stufe bei den einzelnen Menschen, Völkern und Zeiten, ja beim Ganzen der Menschheit zur Wirklichkeit wird, das ist eine Frage für sich, die recht viel Verwicklung bereiten mag. Aber alle solche Verwicklung kann die Tatsache des Erscheinens eines neuen Lebens nicht erschüttern. Auch daß dies neue Leben mit seiner Eigentümlichkeit den Anblick der Wirklichkeit minder einfach gestaltet, darf ihm nicht zum Schaden gereichen. Denn nicht möglichste Einfachheit für den Menschen, sondern die Wahrheit ist unser Ziel, und Wahrheit bleibt Wahrheit, auch wenn sie unbequem ist. Was würde man von einem Naturforscher denken, der eine Gruppe von Erscheinungen zur Seite schiebt und unbeachtet läßt, nur weil sie sich dem herkömmlichen Schema von Begriffen und Lehren nicht einfügt?
Wie ist aber dieses neue Leben als Ganzes zu verstehen? Beim Suchen danach wäre eine bestimmte Richtung am ehesten wohl dadurch zu finden, daß die Gesamtleistung des Seelenlebens auf der Naturstufe abgegrenzt und dann das Mehr der neuen Art dagegen erwogen würde. Jene Gesamtleistung ist leicht zu ersehen. So mannigfache Formen und so verschiedene Höhenlagen das Seelenleben auf der Naturstufe zeigen mag, immer bleibt seine Aufgabe darauf beschränkt, der Erhaltung des natürlichen Daseins in Individuum und Gattung zu dienen; alle Intelligenz, List und Kunstfertigkeit, so sehr sie oft unser Staunen hervorruft, überschreitet nicht die Grenzen solcher Selbsterhaltung; was einzelne Lebensregungen der tierischen Welt an Ansätzen zur Befreiung davon enthalten, das geht nicht in ein Ganzes zusammen, bildet nicht einen eignen Kreis und ergibt kein neues Leben. So ist hier die seelische Tätigkeit ein bloßes Stück eines natürlichen Lebensprozesses, als ein solches bleibt sie stets nach außen gekehrt, sie hat dafür etwas zu leisten, nicht aber bei sich selbst irgendwelches Werk zu verrichten. Das Geschehen erhebt sich hier nicht von einem Zwischengeschehen zu einem Innengeschehen. Dies aber ist es, was, freilich nicht im Durchschnitt des Menschenlebens, aber doch innerhalb des menschlichen Bereichs erfolgt. Hier kommt das Leben zu sich selbst, es erhebt sich wie aus einem Schlummerstande zu voller Wachheit, es empfindet zugleich jene völlige Bindung an ein Äußeres und Fremdes als unerträglich, es will auf sich selber stehen und bei sich selbst beschäftigt sein. Das aber wird es nicht können ohne beträchtliche Wandlungen und Weiterbildungen in seinem Gesamtanblick; mit jener Wendung zu sich selbst ist ein Weg betreten, der in neue Gegenden führt, und dessen Ziel einstweilen in weiter Ferne liegt.
Das Streben nach solchem Ziel kann sich unmöglich mit der gewöhnlichen Art der geistigen Betätigung begnügen, es wird zwingend darüber hinausgetrieben. Denn jene belebt und erweist die seelische Kraft nur an einem Gegenstande, der ihr wie etwas Fremdes gegenüber liegt, das Subjekt hat mit einem Objekt zu tun, daß sich außer ihm befindet. So suchen wir die Natur um uns im Denken abzubilden, so verbessern wir die Verhältnisse um uns, so treten wir untereinander in mannigfachste Beziehungen des Verkehrs und des Wettbewerbs. Weiter und weiter entfalten sich auf diesem Wege die seelischen Kräfte. Aber solange der Gegenstand wie etwas Fremdes draußen liegt, ist das Leben gespalten, es kehrt nicht zu sich selbst zurück und verwandelt die unermeßliche Arbeit nicht in eignen Gewinn. Alle Aufregung und Anstrengung belebt nicht das Ganze der Seele, es entsteht kein Reich der Innerlichkeit und kein Wachstum dieses Reiches. Zugleich aber setzt solche Spaltung des Lebens aller Arbeit starre Schranken. Eine Forschung, deren Gegenstand für immer draußen liegen bleibt, ergibt nie ein wahrhaftiges Erkennen, eine innere Vertrautheit mit der Sache, ihre Leistung beschränkt sich darauf, viele unbekannte Größen auf eine einzige unbekannte zurückzuführen, was die Sache einfacher scheinen läßt, ihr Rätsel aber nicht löst. Solange wir ferner die anderen Menschen nur als draußen befindlich betrachten und behandeln, mag im Zusammenleben sich manches ändern und bessern: eine echte Gemeinschaft sowie eine innere Erhöhung des Menschen und der Menschheit ist auf diesem Wege nicht zu erreichen. So würde unser Leben in engen Grenzen erstarren, wenn die Spaltung von Kraft und Gegenstand nicht irgendwie zu überwinden wäre; wie anders aber könnte das geschehen als dadurch, daß der Gegenstand selbst in den Lebensprozeß hineingezogen wird und Kraft wie Gegenstand sich in einem umfassenden Ganzen begegnen?
Daß etwas derartiges im Bereich des Menschen vorgeht, das ist nicht zu bezweifeln. Am deutlichsten ist es wohl in der Moral und in dem Verhältnis von Mensch zu Mensch. Die Pflichtidee kommt nur zustande durch ein Aufnehmen des Gesetzes in das eigene Wollen und Leben, denn ein von draußen auferlegtes Gebot könnte nur durch Vorhaltung von Lohn oder Strafe wirken, dies aber würde unvermeidlich den moralischen Charakter der Handlung zerstören. So muß die Forderung unserem eignen Wesen innewohnen. Ferner ist keine echte Liebe möglich, wenn nicht ihr Gegenstand, mag er ein Individuum, mag er ein größeres Ganzes sein, in den eignen Lebenskreis aufgenommen, in das eigne Wesen eingeschlossen wird. Erst wenn damit das scheinbar Fremde eine innere Gegenwart erhält, kann eine Befreiung vom kleinen Ich und ein Weitwerden des eignen Wesens erfolgen. Auch alles Recht, das mehr ist als eine äußere Formel, verlangt eine Versetzung in den anderen, ein Betrachten der Sache von seinem Standort aus. Mit besonderer Deutlichkeit zeigt die Kunst, daß es verschiedene Gestaltungen des Schaffens gibt, daß aber erst die Überwindung jenes Gegensatzes die höchste erreichen läßt. Denn diese ist nicht ein bloßes Wiedergeben eines draußen befindlichen Gegenstandes, noch auch ein bloßes Sichspiegeln einer zufälligen Subjektivität, sondern das Schaffen umspannt hier den Gegensatz von Subjekt und Objekt, der Gegenstand wird auf den Boden der Seele versetzt und begegnet sich hier mit der bildenden Kraft; indem sich beides zusammenfindet, sich gegenseitig durchdringt und erhöht, entsteht ein eigentümliches Reich, das unendlich viel Neues bringt und doch innerhalb des geistigen Lebens liegt. Auch ein wahrhaftiges Erkennen ist nicht einmal zu erstreben, solange der Gegenstand wie etwas Fremdes draußen beharrt, nicht als zu uns selbst gehörig gilt, so daß wir im Mühen um ihn unser innerstes Wesen suchen. So bildet die Gewalt, mit der das Erkenntnisstreben die Seele zu packen vermag, ein sicheres Zeugnis dafür, daß das Reich der Gegenstände uns irgendwie innerlich verbunden ist.
Eine solche Aneignung des Gegenstandes erweist eine größere Weite des Lebens. Aber dieser Bildung zur Weite muß, wenn sie fruchtbar sein soll, die Bildung einer Tiefe zur Seite gehen. Kraft und Gegenstand können in erfolgreiche Wechselwirkung nicht treten, ohne daß ein Ganzes sie umspannt, und es darf dieses Ganze kein leerer Raum sein, in dem jene nur zusammentreffen, sondern es muß ein überlegenes Vermögen sein, das sie aneinanderbringt und zu einem einzigen Leben verschlingt. Ein solches Vermögen aber kann es nicht geben, ohne daß sich das Leben bei sich selber abstuft und damit eine Tiefe gewinnt; sein Bild gestaltet sich nunmehr dahin, daß ihm ein Ganzes aufstrebt, das in Entwicklung und Überwindung des Gegensatzes von Kraft und Gegenstand seine eigne Vollendung sucht; das Leben zeigt hier zwei Schichten: bei der einen ist es ein Ganzes, zunächst noch völlig unbestimmt und mehr ein Verlangen nach Leben als volles Leben selbst, bei der anderen ein Auseinandergehen in Kraft und Gegenstand, ein Nebeneinander, das zu enger Verbindung und gegenseitiger Durchdringung der Umspannung und Weiterbildung durch jenes umfassende Ganze bedarf. Das Leben erscheint damit als im Werden und Fluß begriffen, es hat sich selbst erst zu bilden; erst indem die verschiedenen Schichten und Seiten sich gegenseitig weitertreiben und miteinander steigern, erfolgt eine Selbsterhöhung des Ganzen, ein innerer Zusammenschluß, ein Festwerden des Lebens bei sich selbst, ein Aufsteigen zur Selbsttätigkeit und Ursprünglichkeit, ein allmähliches Fortschreiten vom Umriß zur vollen Gestalt. Solcher Fortschritt hängt vor allem daran, daß die umfassende Grundtätigkeit einen ausgesprochenen Charakter, eine unterscheidende Eigentümlichkeit erhält; je mehr das geschieht, desto mehr kann sie dem Leben einen festen Grund gewähren, in Auseinandersetzung mit den Widerständen Erfahrungen machen, die Bewegung in sichere Bahnen leiten. Durch alle Mannigfaltigkeit des Geschehens erfolgt so die Bildung eines beharrenden Grundes, die Bildung eines Wesens nicht jenseits, sondern innerhalb der Tätigkeit. Damit ist das Leben dahin gelangt, ganz auf sich selbst zu stehen.
Bei solcher Wendung ist es nicht sowohl nach außen, als gegen sich selbst gekehrt und mit sich selbst befaßt, es erstrebt nicht eine Leistung nach außen hin, sondern ein volles Erringen seines eigenen Gehalts, es hat nicht bloß einzelne Aufgaben, es ist eine Aufgabe vor allem als Ganzes. So verstanden kann das Leben nicht eine bloße Eigenschaft der einzelnen Punkte bilden und nicht aus ihnen hervorgehn, sondern es erlangt ihnen gegenüber eine Selbständigkeit, es wird nicht sowohl von den einzelnen Stellen erzeugt als von ihnen aufgenommen. Insofern läßt sich von einem Lebensprozesse sprechen, wenn nur dem Begriff des Prozesses die Vorstellung eines mechanischen Verlaufens fernbleibt. Darauf ist jedenfalls zu bestehen, daß in uns etwas vorgeht, das den Zwecken und auch den Lagen des bloßen Punktes überlegen ist, das uns nicht durch diese Zwecke und Lagen vermittelt zu werden braucht, sondern das bei uns aus eigener Kraft unmittelbar in Wirkung zu treten vermag. Dies Überlegene muß freilich zu unserem eigenen Leben werden, und das kann es nur, wenn unser Wesen in seiner Tiefe mit ihm zusammenhängt, wenn wir ferner diese Tiefe ergreifen und in vollen Besitz verwandeln; damit verlegt sich aber der Schwerpunkt unseres Lebens, und es erfolgt eine völlige Wendung gegenüber dem Anfangsstande. Diese Wendung bringt ein wesentlich neues Leben, ein Leben, das allererst Selbstleben heißen kann, ein Leben, das nicht zwischen den einzelnen Punkten verläuft, sich nicht zwischen dem Gegensatze von Subjekt und Objekt, von Kraft und Gegenstand hin- und herbewegt, sondern das zur Selbstentfaltung eines Ganzen wird und damit allererst Inhalte und Werte erzeugen kann. Indem damit zuerst das Leben bei sich selbst eine Tiefe bildet und von einem beherrschenden Mittelpunkte aus zur Beseelung des ganzen Umfanges wirkt, können Größen wie Gesinnung, Überzeugung, Charakter, Persönlichkeit entstehen und einen Wert gewinnen. Hier entsteht eine geistige Innerlichkeit, die mit ihrer Umspannung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt sich von der Innerlichkeit des bloßen Subjekts aufs deutlichste unterscheidet. Denn diese fällt aus dem Zusammenhang der Dinge heraus und verbleibt bei bloßer Zuständlichkeit, jene entwickelt einen Gehalt und bildet einen festen Lebensbestand. Beisichselbstsein des Lebens und subjektives Gefühl sind grundverschiedene Dinge. Erst als Entfaltungen dieses Beisichselbstseins, als seine Uroffenbarungen, erhalten die Begriffe des Wahren, Guten und Schönen einen festen Boden, einen deutlichen Sinn und zugleich einen Zusammenhang untereinander; sie stellen sich jetzt als Urphänomene dar, die sich wohl beschreiben, nicht aber ableiten lassen. Es zeigt sich in ihnen deutlich, daß in der Wendung des Lebens zu sich selbst sich eine ursprüngliche Tiefe reichsten Gehalts eröffnet. Alles miteinander erzeugt ein verschlungenes Gewebe, einen großen Zusammenhang, ja es vollzieht den Aufbau einer Welt. So erscheint hier das geistige Leben als ein Weltbilden der Innerlichkeit, als ein Weltbilden, dem keine Grenze von außen gesteckt ist, sondern das alles, was ihm begegnet, in sein Wirken hineinzieht, und das auch von innen her einer unendlichen Steigerung fähig scheint. Mit solcher Entfaltung eines Beisichselbstseins erlangt das seelische Leben in Wahrheit eine Selbständigkeit gegenüber der bloßen Natur, nun ist es nicht mehr ein bloßes Stück eines dunklen Getriebes, nun läßt sich eine Aufhellung unserer Lage suchen und nach einem Sinn und Wert des Lebens fragen.
Zu solcher weiteren Aufhellung bedarf es vor allem einer Klärung dessen, wie jene Wendung des Lebens, jener Aufbau einer Welt im Menschen, sich zum Ganzen der Wirklichkeit verhält, und wie sie in ihm aufkommen konnte. – Nun kann jenes Beisichselbstsein des Lebens unmöglich ein Erzeugnis der untermenschlichen Natur sein. Erwies sich uns doch deutlich genug, daß jene Wendung nicht ein bloßes Mehr, sondern daß sie etwas völlig Neues, ja direkt Entgegengesetztes bringt, daß sie eine Umkehrung bedeutet, das aber bis in die Grundformen des Lebens, bis in sein innerstes Gewebe hinein; eine solche Umkehrung kann nun und nimmer das Erzeugnis einer allmählichen Steigerung sein. So müßte der Mensch mit den ihm eigentümlichen Zügen der Schöpfer des neuen Lebens sein, das heißt der Mensch, wie der Stand der Erfahrung ihn darstellt. Aber in diesem Stande ist das Eigentümliche viel zu eng mit der Natur verwachsen, als daß es sich von ihr ablösen, sich in ein Ganzes fassen und als solches neue Wege bahnen könnte. Dazu würde ein Wirken, das der bloße Mensch hervorbringt, immer auf den Menschen gerichtet bleiben und seinem Befinden zu dienen haben; das aber widerspricht direkt dem Charakter der geistigen Arbeit. Denn in aller Verzweigung enthält sie den Trieb, den Menschen über die bloßmenschliche Art und den bloßmenschlichen Kreis hinauszuheben, ihr wird die Richtung des Handelns auf das menschliche Wohl viel zu eng, sie zeigt den Menschen fähig, einen Kampf gegen seine Sonderart aufzunehmen, die ihm selbst zu klein, ja unerträglich wird. Alles Mühen der Forschung um Wahrheit war ein solcher Kampf zur Durchbrechung der bloßmenschlichen Enge, ein Verlangen nach einem Leben aus der Weite und Tiefe des Alls. Ein solches Verlangen ließ einen Plato die Ideenwelt als ein Reich bei sich selbst befindlicher Wahrheit allem Tun und Treiben der Menschen schroff entgegensetzen, einen Spinoza und einen Hegel in der eignen Bewegung des Denkens eine aller menschlichen Willkür entzogene Lebensentfaltung sehen, einen Kant im Reich der Moral ein aller Besonderheit des Menschen überlegenes Reich eröffnen. Auf der Stufe des Geisteslebens überschreitet das Handeln weit die Erhaltung und Pflege des bloßen Menschen, ja es tritt zu ihr unbedenklich in härtesten Widerspruch. Oder gibt es ohne das eine Moral, eine Pflichtidee? Und gibt es hier eine Größe der Leistung, die nicht eine Unterordnung, ja Aufopferung des kleinen Ich enthält? Überhaupt macht die Bildung geistigen Lebens so viel Mühe und Arbeit, sie verwickelt in so viel Gefahr und Zweifel, daß die Sorge um das bloßmenschliche Wohlsein sie weder aufbringen konnte noch sie gegen unablässige Hemmungen aufrechterhalten kann. Augenscheinlich regt sich und wirkt und schafft hier etwas im Menschen, das ihn über die nächste Art seines Lebens mit zwingender Gewalt hinaustreibt; seinem eignen dürftigen und schwankenden Wollen entstammt diese Notwendigkeit nicht.
Auch das will beachtet sein, daß das Geistesleben als Werk des bloßen Menschen auch ein Werk des einzelnen Menschen wäre; als solches würde es sich unvermeidlich an den einzelnen Stellen verschieden gestalten; das würde eine Fülle einander durchkreuzender Bewegungen ergeben, nie aber eine Wahrheit, die den Einzelnen überlegen wäre und allgemeine Anerkennung fordern dürfte, nie eine innere Gemeinschaft der Arbeit und eine gemeinsame Welt. Das Verlangen nach einer solchen Welt entsteht aber nicht erst an später Stelle, es wirkt von vornherein in allem geistigen Schaffen, indem dies durchgängig die Zufälligkeit des Individuums überwinden und lediglich dem Zwange der Sache dienen will.
Alles geistige Leben enthält, so sahen wir, ein Weiterschreiten des Lebens, ein Überwinden vorgefundener Widersprüche, ein Umbilden und Erhöhen. Ist nun dieses Mehr ein bloßes Werk des Menschen, so ist es für die Dinge eine verfälschende Zutat, so schwebt das Unternehmen in leerer Luft, so sind die vermeintlichen Erfolge bloße Einbildungen. Aber könnten solche Einbildungen so viel Kräfte erzeugen, so sehr das Grundgefüge des Lebens verändern, wie wir das schon gewahrten, und wie uns das Liebe und Recht, Forschung und Kunst deutlich vor Augen stellen?
Als Kern der Sache stellt sich demnach dieses heraus: im Bereich des Menschen entsteht eine Bewegung, die den Menschen bis zum Grunde umwandeln will, die ihn mit seiner ganzen bisherigen Art in harte Konflikte bringt, die namentlich darauf ausgeht, das Leben von der Besonderheit des einzelnen Punktes abzulösen und es bei sich selbst zu einer Welt zu gestalten, die alles, was irgend da ist, umfaßt und von sich aus gestaltet. Bildet es nun nicht einen schroffen, einen unerträglichen Widerspruch, wenn, was als eine selbständige Wirklichkeit auftritt, was eine Macht gegen den Menschen üben und ihn bis zum Grunde umbilden will, ein Erzeugnis dieses bloßen Menschen sein soll? So treibt es uns notgedrungen zu einem bedeutsamen Schritte vorwärts: die dargelegte Verwicklung läßt sich nur dadurch lösen, daß in jenem neuen Leben das Aufsteigen einer dem Menschen überlegenen Wirklichkeit anerkannt wird, einer Wirklichkeit, woran er Teil gewinnt, die er aber nicht von sich aus hervorbringt; die Wandlung bedeutet dann dieses, daß er in einen schaffenden Lebensprozeß versetzt wird und sich damit zu eigen machen kann, was dieser Lebensprozeß enthält. Im Geistesleben ist somit ein Weltprozeß anzuerkennen, worin das All sich als ein lebendiges Ganzes erweist und in Herausarbeitung einer Tiefe eine Umwandlung des vorgefundenen Standes vollzieht. Im Bereich des Menschen erscheint diese Tiefe als etwas, das erst allmählich aufsteigt, aber aufsteigen kann ein durch und durch Neues nicht, ohne irgendwie einen eigenen Grund zu haben; eine Bewegung zu einem Ganzen und einem Beisichselbstsein des Lebens könnte bei uns, diesen begrenzten und zerstreuten Einzelwesen, nicht entstehen, wenn nicht die Wirklichkeit ein Ganzes bildete und ein Leben aus dem Ganzen führte; es muß ein dem Menschen überlegenes Geistesleben bestehen, dies aber sich ihm eröffnen, ja zu seinem eignen Wesen werden können.
Darin nämlich erkennen wir jetzt das Große, was den Charakter unseres Lebens bestimmt, daß ein Alleben dem Menschen zur vollen Gegenwart, zu eignem und ursprünglichem Leben werden, daß sich der Schwerpunkt seines Seins dahin verlegen kann. Nunmehr erscheint als das Grundverhältnis des menschlichen Lebens das zu dem in ihm gegenwärtigen Beisichselbstsein der Wirklichkeit, dem Innenleben des Alls, nicht als zu etwas Fremdem, sondern als zu seinem eigenen Wesen; erst dieses Verhältnis läßt überhaupt geistiges Leben entstehen. Denn es ist ein stetes Beziehen auf ein sich im Menschen eröffnendes Geschehen und ein Verkehren mit ihm; der Mensch kann sich in jenes versetzen, sein Selbst in es verlegen und mit solcher Aneignung die Mannigfaltigkeit, in der jenes Geschehen ihm zuerst entgegentritt, in ein Ganzes zusammenfassen und als ein Ganzes erleben. Indem er aber das Ganze jenes Lebens als sein eignes erfaßt, kann er seine Entwicklungen und Erfahrungen teilen, kann er, was es in Überwindung der Widerstände und in fortschreitender Selbstvertiefung erschließt, an sich ziehen, gewinnt er ein unendliches Leben, das doch, als auf ein Beisichselbstsein gerichtet und von einem Beisichselbstsein getragen, nun und nimmer ins Unbestimmte verlaufen kann, das in allem Schaffen sich selber festhält und zu sich selbst zurückkehrt.
Dies Verhältnis des Menschen zu einem wesenhaften Leben, das in ihm durchbricht, geht allen Verhältnissen voran, auf denen die früher betrachteten Lebensordnungen ruhten. Denn in jenem allein wird volle Unmittelbarkeit, volle innere Gegenwart, Verwandlung in ein eignes Erlebnis erreicht; niemand kann es leugnen, ohne sich selbst als geistiges Wesen zu zerstören; es ist das Allergewisseste und Ursprünglichste, das unser Leben kennt. So müssen alle anderen Verhältnisse sich von hier aus begründen und hierher Rechenschaft geben, hier entstehen die Grunderfahrungen, die alles Leben zu tragen haben. Nur in den Erfahrungen des Geisteslebens kann sich uns eine aller Verwicklung der Weltlage überlegene Gottheit erweisen; nur in ihnen sich eine Weltvernunft offenbaren, welche sichtbare und unsichtbare Welt zusammenhält und zu harmonischer Einheit verbindet; nur von hier aus läßt sich unser Verhältnis zur Natur in ein Ganzes fassen und auf seine Bedeutung prüfen; von hier aus allein kann sich eine innere Gemeinschaft der Menschen bilden, und nur die Begründung in einem unendlichen Leben kann dem Individuum einen Halt und eine Bedeutung verleihen. Wie alle diese Bewegungen aus einem gemeinsamen Grunde stammen, so müssen sie auch in ihrer Entwicklung mit ihm in Zusammenhang bleiben und in das umfassende Ganze ihre Ergebnisse einmünden lassen. So eröffnet jenes unmittelbare Verhältnis des Menschen zum Geistesleben als zu seinem wahren Selbst die Möglichkeit, daß ein umfassendes Leben jener Verzweigung überlegen bleibe, das Recht und die Leistung jeder besonderen Entfaltung prüfe und alle ihre Erfahrungen einen Schritt weiter zurückverlege, sie noch mehr ins Eigne und Ursprüngliche wende. Von hier aus und nur von hier aus läßt sich auch der Zersplitterung unserer eignen Zeit entgegenarbeiten; es kann dies nur vom Standort des Geisteslebens, nicht des bloßen Menschen geschehen.
Das Leben des Menschen gestaltet sich damit zu einer großen Aufgabe und Forderung. Der Mensch stellt im nächsten Anblick der Welt sich als ein besonderes Wesen dar, das seinen eignen Kreis besitzt und nur soviel erlebt als diesem zugeht. Nun aber eröffnet sich ihm in der Ablösung des Lebens vom bloßen Punkt und in der Wendung zu einem Beisichselbstsein die Möglichkeit, das Allgeschehen als eignes zu ergreifen und sich damit aller Besonderheit der einzelnen Stelle zu entwinden. Das besagt nicht eine bloße Verschiebung vom Einzelpunkt ins Allgemeine, sondern in der Eröffnung eines Lebens vom Ganzen her, in dem Suchen eines Selbst in aller Mannigfaltigkeit ergibt sich allererst die Aussicht auf einen Gehalt des Lebens, auf die Aneignung einer Seele der Wirklichkeit. Hat die Welt keine Tiefe, so ist alles Mühen umsonst, unserem Sein eine Tiefe zu geben.
Daß so der Mensch zugleich innerhalb und über der Breite der Erfahrung steht, das bringt in sein Leben eine gewaltige Spannung und Bewegung, das gestaltet selbst den Begriff des Menschen zwiefach: als ein Wesen neben anderen innerhalb des Daseins kann er keinen Vorzug in Anspruch nehmen, und wird alles Überschreiten seines besonderen Kreises zu einem ungebührlichen Anthropomorphismus; in Erhebung über das Dasein, bei Versetzung in den schaffenden Lebensprozeß, in das Beisichselbstsein des Lebens, darf er groß von sich denken, und kann er nach Wahrheit in allumfassendem Sinne streben, freilich nicht aus der Kraft seiner besonderen Art, sondern aus der Kraft des Ganzen, die ihn zu tragen hat. So ist der Mensch ein Wesen, das über sich selbst hinauswächst, etwas, über das wir einerseits hinaus- und zu dem wir andererseits hinaufstreben müssen. Demnach steht Bloßmenschliches und Großmenschliches nebeneinander; daß beides sich oft miteinander vermengte und die Schätzung des einen dabei auf das andere überfloß, das hat unsägliche Verwicklung erzeugt.
Nach solcher Scheidung verstehen wir, wie etwas, was über uns liegt, zugleich als Kraft unseres eignen Lebens wirken kann. Ein Zusammentreffen eines »über uns« und eines »in uns« erscheint im Gedanken der Pflicht, erscheint in den Normen, die alle geistige Arbeit beherrschen. Sie sprechen gebietend zu uns, sie können aber zugleich uns das Allernächste und Vertrauteste werden, etwas, in dessen Aufrechterhaltung wir uns selbst bejahen, unser eignes Wesen erhalten. Auch das wird uns klar, wie Güter über uns Macht gewinnen können, die jenseits alles Wohlseins des bloßen Menschen liegen, wie das Gute das Angenehme und Nützliche zu überwinden vermag.
Wenn jene Aufdeckung des Geisteslebens als des wahren Selbst des Menschen ihm eine unvergleichliche Größe gewährt, so ist diese Größe an erster Stelle ein Werk des Ganzen, sie kann daher den Menschen nicht zu stolzer Selbstbewußtheit verleiten. Wir sind nicht aus unserer besonderen Natur geistige Lebenspunkte, Stätten geistigen Lebens, die nachträglich zum All in Beziehung treten, sondern wir werden solche Punkte erst aus dem Leben des Alls, nur in ihm, nicht ihm gegenüber, gewinnen wir ein geistiges Selbst. Das ist das große Wunder und die Erweisung einer neuen Ordnung, daß überhaupt selbständige Lebenspunkte entstehen, daß das Alleben an dieser Stelle nicht nur gewisse Wirkungen übt, sondern daß es eine selbsttätige Kraft, ein ursprüngliches Leben erzeugt. Darin vertritt die Mystik einen notwendigen Grundgedanken, daß das unendliche Leben unmittelbar der einzelnen Stelle gegenwärtig sein muß, und daß der Mensch nicht nur dieses oder jenes leisten, sondern eine Befreiung von seiner anfänglichen Art zu vollziehen und ein neues Leben und Wesen aus der Unendlichkeit zu gewinnen hat. Ohne eine solche Umwälzung bleibt uns das geistige Leben ein nebensächlicher Anhang, wird es nie zum Kern unseres Wesens, und erlangt es nie eine volle Ursprünglichkeit. In verwandtem Gedankengange verlangten die großen Erlösungsreligionen eine »Wiedergeburt« des Menschen, aber auch über die Religion hinaus galt auf aller Höhe geistigen Schaffens das Werk nicht als eine Leistung des bloßen Individuums, sondern als Mitteilung und Offenbarung einer höheren Macht, die sich im Menschen erweist und ihn über sich selbst hinaushebt, und die ihn doch keineswegs zu einem bloßen Werkzeug erniedrigt, sondern ihn erst recht zur Selbsttätigkeit erweckt. Auch das gehört hierher, daß gewöhnlich die schaffenden Geister, die geistigen Helden der Weltgeschichte, obschon Menschen von höchster Aktivität, zugleich entschiedene Deterministen waren; ihr eignes Vermögen trat ihnen völlig zurück hinter dem Bewußtsein eines Getragen- und Getriebenwerdens durch eine überlegene Macht.
Aber wenn diese Seite der eigenen Betätigung sich dem Bewußtsein der Handelnden leicht verbirgt und ausgeprägt religiöse Naturen wohl etwas Großes darin fanden, sie vollständig auszulöschen, wenn die Mystik oft in Gefahr geriet, den Menschen ganz und gar in das All verschwimmen zu lassen, in Wahrheit bedarf es auch seiner Entscheidung und Betätigung. Denn so gewiß ein Lebensvermögen an dieser besonderen Stelle durch überlegene Macht gesetzt sein muß, dies Vermögen wird zur Lebensenergie, wird zur vollen Wirklichkeit nur durch unser Anerkennen und Aneignen, nur durch die Zuwendung unserer Gesinnung und Überzeugung. Der Mensch ist kein bloßer Schauplatz, an dem sich etwas ereignet; das Geschehen muß, um wahrhaft geistiger Art zu sein, nicht nur an ihm, sondern in ihm und aus ihm geschehen. Gewiß ist eine Zuwendung immer auch ein Gehobenwerden, aber die Gnade findet dann ihre höchste Bekundung im Schaffen der Freiheit, das Vermögen des Menschen ist kein Abzug vom Göttlichen, sondern es bestärkt und bestätigt dieses. So verringert das Bewußtsein, im Ganzen gegründet und vom Ganzen getragen zu sein, ja durchaus am Ganzen zu hangen, die Kraft des Lebens in keiner Weise; es wird das um so weniger tun, als das Alleben nicht ein starres Sein, sondern ein unendliches Leben bildet, ein unendliches Leben, das an der einzelnen Stelle zu voller Wirkung erst mit jener Aneignung gelangt.
Wie aber die Selbsttätigkeit, so braucht auch die Eigentümlichkeit der Lebenspunkte und der Reichtum der Lebensbeziehungen in das Alleben nicht zu verschwinden. Das Alleben löscht nicht alle Vielheit aus wie der Glanz der Sonne das Licht der Gestirne, sondern es vermag sie in sich aufzunehmen, sie zu läutern und zu veredeln, es führt sie damit erst ihrer eignen Höhe zu. Das Alleben erhebt die kräftigste Ausbildung der Individuen zur Forderung, indem es sie zu einem Gewinn des Ganzen macht: nur muß sie innerhalb seiner, nicht in Absonderung und Entgegensetzung erfolgen. Auch die volle Entfaltung der persönlichen Beziehungen innerhalb des menschlichen Kreises kann hier nicht als ein Raub am Ganzen gelten, da sie ja zu seiner Bereicherung wirken mag. So war es eine Verirrung der religiösen Stimmung, wenn sie ein Gleichgültigwerden gegen den Menschen als Beweis einer vollen Liebe zu Gott verlangte. Nur darauf ist zu bestehen, daß alle Beziehungen von Mensch zu Mensch, alle Liebe von Mensch zu Mensch, auf das Verhältnis zum Alleben, auf die Liebe zu Gott gegründet werden; das erst hebt sie ins Geistige, das erst überwindet den bloßen Naturtrieb und verleiht der Gesinnung Gehalt und Kraft. So zeigt die geschichtliche Erfahrung den weitesten Abstand zwischen Gefühlen von Liebe und Mitleid, wie die Oberfläche des Lebens sie in der Begegnung der Individuen hervorbringt, und Gefühlen gleichen Namens, welche aus einem gemeinsamen Grundverhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit entspringen und die damit erfolgende Vertiefung des Lebens teilen. Dort ein Auf- und Abwogen subjektiver Stimmung, das den Einzelnen stark erregen mag, das aber für den Gesamtstand des Lebens ohne alle Bedeutung ist; hier eine durchgreifende Umwandlung dieses Standes, die Schöpfung eigentümlicher Lebenskreise in den großen Religionen, eine Bildung der Menschheit zu innerer Gemeinschaft, ein Erleben der besonderen Geschicke durch das gemeinsame Los hindurch. Einen so großen Unterschied macht es, ob das Leben an der Zerstreuung der Oberfläche haftet, oder ob es am Leben des Alls und zugleich an einer schöpferischen Tiefe Anteil gewinnt.
So trägt das menschliche Leben in sich ein einziges Hauptproblem, es fordert eine große Entscheidung, es verwandelt sich in eine fortlaufende Tat. Diese Tat bedeutet aber nicht, daß wir nur mit unserer Gesinnung von der einen Seite auf die andere zu treten brauchten, um hier einen festen Abschluß und eine sichere Ruhe zu finden. Denn wohl gibt es kein Beisichselbstsein des Lebens ohne eine Überlegenheit gegen die bloße Bewegung, ohne ein Ruhen in sich selbst, aber bei uns Menschen erlangt das Leben einen vollen Inhalt erst im Kampf mit den Widerständen, nur durch den eignen Aufbau, die eigne Durchbildung. Diesem Aufbau aber ist wesentlich, daß das Leben im Gestalten der Mannigfaltigkeit, im Entwerfen großer Gebilde zugleich eine fortschreitende Selbstvertiefung vollzieht, es wirkt nicht von einer fertiggegebenen Grundlage aus, sondern es hat die Grundlage selbst immerfort zu vertiefen, es darf nichts hinter seiner Betätigung liegen lassen, es muß sie immer weiter zurückverlegen. Je mehr das Leben des Menschen in solcher Bewegung ein Beisichselbstsein wird, desto mehr ist, was in ihm vorgeht, eine unmittelbare Erschließung des Alls, desto sicherer darf es seiner Wahrheit sein. Denn Wahrheit bedeutet hier nicht eine Übereinstimmung mit einer draußen befindlichen Wirklichkeit, sondern ein Teilhaben an einem allumfassenden, ursprünglichen, durch alle Mannigfaltigkeit hindurch auf sich selbst gerichteten Lebensprozeß, an einem Lebensprozeß, dessen Entfaltung allererst echte Wirklichkeit erzeugt; soweit der Mensch an solchem ursprünglichen und wesenbildenden Leben Anteil gewinnt, soweit sich ihm das Leben in schaffende Selbsttätigkeit verwandelt, besitzt er Wahrheit und nichts weiter.
Von solcher Überzeugung aus läßt sich an einer Überwindung des Gegensatzes arbeiten, der die Gegenwart mit besonderer Schwere bedrückt. Mensch und Welt fallen uns, so sehr sie sich äußerlich berühren, innerlich auseinander, wir können weder auf das eine noch auf das andere verzichten und können doch nicht beides zusammenbringen, wir schwanken, was wir zum Ausgangspunkt wählen sollen, und ob wir dem Leben die Richtung von der Welt zum Menschen oder vom Menschen zur Welt zu geben haben. Beide Möglichkeiten haben eine Verkörperung in weltgeschichtlichen Bewegungen gefunden, und die Verschiedenheit dieser Verkörperungen zeigt, daß die hier getroffene Entscheidung den Charakter des Lebens bestimmt.
Ältere und neuere Art bilden hier einen vollen Gegensatz. Jene knüpfte den Menschen ganz und gar an die Welt und ließ ihn aus ihr sein Leben schöpfen. Das war nur möglich bei Annahme eines unmittelbaren Zusammenhanges der Umgebung mit dem Menschen, nur möglich bei der Überzeugung, daß der eigne Befund der Dinge der Seele zugehe, ohne sich zu verändern; der Mensch galt hier als ein lauterer Spiegel des Alls. Diesen unmittelbaren Zusammenhang hat die Neuzeit durch das Bewußtwerden einer Selbständigkeit der Innenwelt und durch ein Vorantreten des denkenden Ich zerstört, sie steht nun unter dem Eindruck des Gegensatzes und legt dem Menschen auf, aus eigner Kraft die verlorene Verbindung mit der Umgebung wiederherzustellen. Zugleich ward ihr auch die Beschaffenheit des älteren Lebens unzulänglich. Sinnliches und Geistiges waren dabei nicht genügend auseinandergetreten, keins von beiden konnte daher seine Eigentümlichkeit rein entfalten, auch legte der Mensch zu sehr seine besondere Art in das Bild der Wirklichkeit hinein und blieb auch im Handeln zu sehr auf sich selbst gerichtet. Demgegenüber stellte die Neuzeit sich auf das Subjekt und suchte von ihm aus zur Welt vorzudringen, ja aus seiner Kraft eine Welt zu entwickeln. Darin aber liegt eine Überspannung des menschlichen Vermögens, und die Wahrheit eines vom Menschen erzeugten Weltbildes begegnet wachsendem Zweifel. Auch faßte das hier entwickelte Leben nicht den vollen Gehalt der Wirklichkeit. Das Verlangen, vom Menschen her zur Welt zu gelangen, war nur in der Weise durchführbar, daß irgendwelches besondere Vermögen als dem bloßen Menschen überlegen verstanden und zur Entwicklung einer Welt verwendet wurde. Das ist namentlich mit dem erkennenden Denken geschehen, denn dies schien am wenigsten gebunden an menschliche Sonderart. Aber dadurch ist der Neuzeit die Wirklichkeit viel zu sehr ins Intellektuelle, Abstrakte und Formale geraten, Ideen galten ohne weiteres als lebendige Energien, Prinzipien als volltätige Mächte; indem der Intellekt als freischwebendes Weltvermögen und als das Maß aller Dinge behandelt wurde, ging viel an Lebensfrische verloren, und es drohte die Wirklichkeit uns schattenhaft zu werden. Daß der moderne Mensch das als einen schweren Schaden empfindet und sich gegen einen solchen Abschluß sträubt, das zeigt der harte Kampf, der heute von den verschiedensten Seiten gegen das Überwiegen des Intellektes geführt wird. Wir wollen hinaus über bloße Gedankenbilder, wir suchen den Weg zu einer gehalt- und kraftvollen Wirklichkeit.
Um sich solchen Verwicklungen und Widersprüchen zu entwinden, hat das Leben nur den angegebenen Weg: der Mensch muß über alle einzelnen Seiten und Seelenvermögen hinaus zu einer Einheit und einer Tiefe dringen, wo das Leben sich vom bloßen Punkte ablöst und volles Beisichselbstsein wird; dann steht es der großen Welt nicht mehr gegenüber, dann kann es ihr Leben teilen. Soweit dies gelingt, bedarf das Leben keiner Bestätigung von draußen her, es trägt seine Wahrheit in seiner eignen Entfaltung. Wir sahen, wie dieses Leben in Erhebung über den Gegensatz von Mensch und Welt, von Kraft und Gegenstand eine geistige Innerlichkeit jenseits der subjektiven entwickelt; was diese Innerlichkeit an geistigen Inhalten und Werten erschließt, das liegt in sicherer Höhe über der Enge aller menschlichen Sonderart.
Ein derartiges Leben ist für uns ein hohes Ideal, kein bequemer Ausgangspunkt, nun und nimmer kann das Individuum es sofort und ohne Mühe erreichen, nur die weltgeschichtliche Arbeit des Menschengeschlechts kann Schritt für Schritt zu ihm führen. Zum Kennzeichnen der Wahrheit wird nunmehr einerseits die Erhebung über die Vorstellungsweise und die Zwecke des bloßen Menschen, andererseits die Herausbildung neuer Inhalte als einer Selbstentfaltung geistigen Lebens. Daß eine Bewegung nach dieser Richtung im Gange ist, und daß ein erfolgreiches Streben nach Wahrheit in jenem Sinne durch die Menschheit geht, das zeigt unverkennbar das gemeinsame Leben in seiner weltgeschichtlichen Arbeit. Durchgängig hebt sich dabei von einer niederen Art eine höhere ab, nimmt ihren Standort im Geistesleben, erschließt eigentümliche Wirkungen seiner und macht aus dem Menschen, den sie ergreift, etwas wesentlich anderes und höheres.
Nirgends dürfte die Weiterbildung durch die Wendung zu selbständiger Geistigkeit greifbarer sein als im Gebiete der Religion. Denn aufs deutlichste scheidet sich hier eine Religion des bloßen Menschen und eine Religion des Geisteslebens, eine Religion, die dem Menschen, so wie er ist, Glück und Fortbestand bringen soll, und eine Religion, in der sich das Geistesleben mit eigentümlichen Zügen offenbart, neue Gehalte und Güter bildet und zugleich den Menschen über die bloßmenschliche Art erhebt, ihm ein neues Wesen zuführt. Was aus jener bloßmenschlichen Fassung entstand, welche die Breite des Daseins beherrscht, das verbleibt innerhalb des menschlichen Vorstellungs- und Interessenkreises, das bringt nichts wesentlich Neues, das hat nicht das mindeste Recht, gegenüber jenem Kreise zu gelten. Wenn aber die Religion nicht sowohl innerhalb einer gegebenen Welt die Stellung des Menschen verschob als ihm eine neue Welt erschloß, ihn durch die Vergegenwärtigung eines göttlichen Lebens als der Tiefe seines eignen Wesens gewaltig aufrüttelte und die Ursprünglichkeit, Unendlichkeit, Ewigkeit jenes Lebens seine Seele erfüllen und sein Streben bewegen ließ, so kann solche Lebenserhöhung unmöglich ein künstliches Machwerk bedeuten, so liegt darin eine Selbsterschließung des Geisteslebens, deren Aneignung den Menschen in den Kern der Wirklichkeit stellt.
Ähnlich steht es mit den anderen Gebieten geistiger Arbeit: vom bloßen Menschen aus könnten sie nie selbständige Gebiete mit eigentümlichen Inhalten und Antrieben werden; werden sie das, so erweisen sie ein Wirken selbständigen Geisteslebens. Wo immer zum Beispiel das Recht als ein bloßes Mittel für das menschliche Wohlsein behandelt wird, wie der soziale Utilitarismus es tut, da verliert es alle eigentümliche Art, da erzeugt es keinen neuen Lebensgehalt, da kann es der Selbstsucht des Menschen keinen Zwang der Sache entgegensetzen, da bedeutet es nicht mehr ein selbständiges Lebensgebiet.
Was aber von den einzelnen Gebieten, das gilt auch vom Ganzen der gemeinsamen Lebensarbeit, wie die Kultur sie darstellt. Menschenkultur und Geisteskultur stehen hier deutlich gegen einander, jene nur um das menschliche Befinden bemüht, das doch dem Menschen selbst unmöglich genügen kann, diese die Eröffnung eines selbständigen Geisteslebens und damit eine wesentliche Erhöhung des Menschen. So gewiß eine solche Geisteskultur bei uns zur Wirklichkeit wird, so gewiß steht unser Leben nicht neben dem All, sondern in dem All.
Von solcher Lebensgestaltung aus läßt sich die Erfüllung von Forderungen unternehmen, welche die Menschheit nicht aufgeben kann, die aber im nächsten Anblick der Dinge nicht nur größte Schwierigkeit machen, sondern die auch leicht miteinander zusammenstoßen: das sind die Forderungen der Festigkeit und der Freiheit des Lebens. Je mehr eine wachsende Verinnerlichung unsern unmittelbaren Zusammenhang mit der sinnlichen Umgebung zerstört hat, desto weniger können wir eine Festigkeit durch Ergreifung eines außer uns befindlichen Daseins erlangen, desto zwingender treibt es uns, den Halt in uns selber zu suchen. Man suchte ihn hier zunächst durch die Festlegung eines einzelnen Punktes zu gewinnen, glaubte ihn namentlich im Anschluß an Descartes im denkenden Ich zu finden, das »Ich denke, darum bin ich« (cogito ergo sum) wurde zur Grundlage aller Gewißheit. Aber je mehr diese zunächst frappierende Lösung ihre eigentümlichen Folgen zeigte, und je mehr man ihr gegenüber zu kritischer Erwägung gelangte, desto mehr Verwicklungen erschienen in ihr. Kann ein der Welt entgegengesetztes Ich zur Welt je zurückgelangen? Und wenn dies auf künstlichen Umwegen geschehen sollte, würde das bloße Subjekt sich hier nicht stark überheben, würde es nicht leicht von sich aus alle Dinge messen und bilden? Auch beherrscht hier das Denken zu ausschließlich die ganze Wirklichkeit und gestaltet damit das Leben viel zu sehr verstandesmäßig. Besitzt überhaupt ein einzelner Punkt eine völlige Sicherheit, ja überschätzt sich nicht der Mensch, wenn er bei sich selbst einen archimedischen Punkt sucht? Solchen Verwicklungen läßt sich erfolgreich nur entgegenwirken, wenn die Festigkeit nicht in einem einzelnen Punkt, sondern im Ganzen des Lebens gesucht wird; dieses kann sie aber nicht mit einem Schlage gewinnen, sondern nur durch ein fortschreitendes Sichzusammenschließen, durch ein Wachstum in der gegenseitigen Verschränkung und Durchbildung der Mannigfaltigkeit, das aber innerhalb eines umfassenden Selbst, das durch alles hindurch sich entfaltet und damit den ganzen Umkreis beseelt. Je mehr das Leben das Gewebe einer Wirklichkeit aus sich entwickelt, zugleich aber ein volles Beisichselbstsein gewinnt, desto stärker wird die Befestigung; das Einzelne wird um so sicherer werden, je enger es sich dem Ganzen verkettet, und je mehr das Leben des Ganzen in ihm gegenwärtig ist. So ist in der Forderung der Festigkeit eine unermeßliche Aufgabe anzuerkennen; wenn ihre Lösung nur allmählich fortschreiten kann und die volle Sicherheit als ein hohes und fernes Ziel gelten muß, so bleibt die Bewegung nach jenem Ziele mit ihrer Überlegenheit gegen alle menschliche Willkür eine Tatsache unstreitbarer Art; wir könnten jenes Ziel nicht suchen, nicht unsere Seele daran setzen, wirkte es nicht von vornherein als treibende Kraft in uns, wäre es nicht irgendwie in uns selbst gegründet.
Was hier vom Ganzen des Lebens gilt, das gilt auch von seinen einzelnen Trägern: auch die Kulturepochen, die Völker, die Individuen erlangen eine Festigkeit der Überzeugung und eine Sicherheit ihres Weges nicht durch angestrengtes Grübeln, hinter das immer wieder ein neues Grübeln treten kann, sondern nur durch einen inneren Zusammenschluß ihres Lebens und seine Lagerung um einen beherrschenden Mittelpunkt; nur das verscheucht den Zweifel und gibt dem Handeln eine freudige Zuversicht, nur von hier aus wird uns das Leben aus halber zu voller Wirklichkeit.
Festigkeit und Freiheit pflegen als Gegner zu gelten, sie sind es in Wahrheit, wenn Festigkeit von der Verknüpfung mit einem starren Sein erwartet wird, sie hören auf es zu sein, wenn jene als Selbstbefestigung verstanden und damit nicht außerhalb, sondern innerhalb des Lebens und Handelns gesucht wird. Was aber die Freiheit des Handelns anbelangt, so hat ihre Anerkennung den überwiegenden Zug des modernen Lebens vornehmlich deshalb gegen sich, weil die wissenschaftliche Arbeit ein Weltbild, ein Wirklichkeitsschema entworfen hat, worin die Freiheit nicht paßt, und weil die mechanisch-kausale Fassung der Natur auch auf das Innere der Seele übertragen wird. Dann wird es in Wahrheit zur Torheit, irgendwelche Freiheit zu wollen.
Die Zusammenhänge unserer Betrachtung stellen die Sache wesentlich anders dar. Erkennen wir im Selbständigwerden des Geisteslebens, und ohne das wird alles Geistesleben ein flüchtiger Schatten und Traum, eine Ursprünglichkeit des Geschehens, eine Wendung zu voller Selbsttätigkeit, so ist damit auch ein Stand der Freiheit gegenüber aller Verkettung gewonnen. Und zwar ist solche Ursprünglichkeit nicht ein bloßer Anfangszustand, sondern sie hat alle geistige Tätigkeit dauernd zu begleiten und das Leben in eine ständige Tat zu verwandeln. Denn im Reich des Geisteslebens wirkt nicht wie in dem der Natur, was einmal da ist, sicher fort, sondern es sinkt, sobald die Seele sich von ihm zurückzieht, es nicht unablässig erneuert; auch bei äußerem Fortbestehen wird es dann zur mechanischen Gewöhnung und fällt damit aus der Sphäre des Geistes heraus. So zeigt die Geschichte von Religion und Moral es tausendfach in alter und neuer Erfahrung. Der letzte Grund einer Leugnung der Freiheit liegt in einer Verkennung der eigentümlichen Art des geistigen Lebens. Namentlich ist da, wo es als ein bloßer Prozeß, als ein Ablaufen eines, sei es mechanischen, sei es intellektuellen, Triebwerks verstanden wird, keinerlei Platz für Freiheit.
Es genügt aber nicht, daß ein Stand der Freiheit irgend vorhanden sei, es muß auch der Mensch an ihm teilhaben, sich in ihn versetzen können; eine solche Versetzung aber wird begreiflich, wenn der Mensch erst in jenem Stande ein Beisichselbstsein des Lebens findet, wenn er in der Wendung dahin sein eignes Wesen ergreift. In Wahrheit wächst unser Geistesleben nicht in allmählicher Entwicklung aus einer niederen Stufe hervor, sondern es enthält stets ein Abbrechen und Neubegründen, eine Diskontinuität. Unser Streben baut sich nicht wie eine Pyramide auf einer gegebenen Grundlage und in gewiesener Richtung auf, sondern die Grundlage selbst ist erst zu gewinnen, und die Zweifel des Lebens greifen immer wieder bis dahin zurück und zwingen uns, die Hauptwendung immer neu zu vollziehen. Die Betätigung und der Kampf des Lebens beschränken sich nicht auf einzelne Leistungen, sie gehen auf das Ganze des Seins. In dieser Weise haben wir die Bewegung der Menschheit wie auch des Einzelnen zu verstehen. Die Geschichte ist nicht eine bloße Evolution in dem Sinne, daß das Spätere in sicherer Folge und mit zwingender Notwendigkeit aus dem Früheren hervorgeht, sondern was die Vergangenheit errang und was sie der Gegenwart zufuhrt, das ist, geistig angesehen, für diese eine bloße Möglichkeit, eine Aufforderung, zu deren Aneignung es eigner Entscheidung bedarf. Ohne das gäbe es keine wahrhaftige Gegenwart, keine Ursprünglichkeit, kein eignes Leben. Ähnlich ist auch das Leben des Individuums kein träges Nacheinander gleichartiger Tage, oder es braucht das wenigstens nicht zu sein; wo es einen geistigen Gehalt gewinnt und einen geistigen Charakter erstrebt, da hat es immer wieder eine Losreißung und eine Wendung zu vollziehen, da hat es die eigne Höhe immer neu zu erklimmen, da ist um den Sinn auch der Vergangenheit immer von neuem zu kämpfen. Was immer in dieser Richtung das Leben der Menschheit wie des Einzelnen an Erfahrungen zeigt, das kann sich zusammenfassen und an Kraft wie an Klarheit gewinnen, wenn eine Selbständigkeit des Geisteslebens anerkannt wird.
Alles zusammen läßt ersehen, daß unser Daseinsbereich eine neue Möglichkeit enthält, und zwar die Möglichkeit eines wesentlich neuen Lebens, eines Lebens, das sich nur durch einen Bruch mit dem vorhandenen Stande und durch eine Umkehrung erreichen läßt, das aber durch Erschütterung und Kampf hindurch höchste Ziele vorhält und vollste Befriedigung verspricht. In diesem neuen Leben erfolgt eine Befreiung von aller Kleinheit des bloßmenschlichen Getriebes, das sonst unsere ganze Welt bedeutet; der Enge des kleinen Ich entwunden zerfließt das Leben doch nicht in die Unendlichkeit, sondern innerhalb der Unendlichkeit kann jeder ein selbständiger Lebenspunkt, ein Träger des Ganzen werden; darf der Mensch sich vom Strom des Ganzen getrieben und geleitet, von der Kraft des Ganzen befestigt wissen, so hat er an seiner Stelle jenen Strom mit eigener Entscheidung aufzunehmen und weiterzuführen, so zieht sich ein großes Entweder-Oder durch sein ganzes Dasein und gestaltet es zu einem großen Drama. Nun erst steigert die Tätigkeit sich zur Selbstbetätigung, gewinnt im Wirken ein Sein, arbeitet einen geistigen Charakter heraus und gibt dem Leben dadurch einen Gehalt, während die bloße Tätigkeit bei aller Fülle und Emsigkeit den Menschen innerlich leer lassen kann.
Nach allen Seiten hin entstehen damit Bewegungen fruchtbarster Art. Gewinn eines geistigen Charakters, eines Beisichselbstseins des Lebens, das ist es, was bei der Bildung des Einzelnen zur Persönlichkeit in Frage steht; ohne eine Begründung im All wird Persönlichkeit ein leeres Wort, eine bloße Ausflucht in der Verlegenheit. Dieser geistige Charakter, der eine Aufrüttelung des Lebens und die Versetzung auf einen neuen Standort fordert, ist grundverschieden von naturgegebener Individualität, die das Geistige von der bloßen Natur noch nicht geschieden hat, deren schrankenlose Pflege daher mit geistigem Sinken bedroht; Gewinn eines geistigen Charakters, das wird zur verbindenden und erhöhenden Aufgabe auch für ganze Völker und Zeiten; nur ihre Lösung läßt sie einen wertvollen Lebensgehalt und eine allen Wandel der Zeiten überdauernde Bedeutung erringen. So kann auch in Wissenschaft und Kunst sich ein aller bloßen Technik überlegenes Schaffen bilden, das ihnen eine Seele verleiht, und das durch die Erschließung neuer Tiefen die Menschheit weiterführt. Um der Menschheit etwas sagen und sein zu können, muß der Schaffende vor allem in sich selber wurzeln und für sich selbst etwas sein, das aber kann er nur in diesen Zusammenhängen. Die Ausbildung eines geistigen Charakters gewährt allererst eine Überlegenheit gegen das Gemenge der Durchschnittskultur, sie ermöglicht es, echte Geisteskultur von bloßer Menschenkultur zu scheiden und alle bloße Kulturkomödie, wie sie den Alltag beherrscht, energisch anzugreifen.
Auch insofern wirkt das Selbständigwerden der Innerlichkeit erhöhend, als es aller drohenden Verengung des Lebens das Ideal einer Bildung des ganzen Menschen entgegenhält. Unablässig sind die einzelnen Lebensgebiete bemüht, den Menschen ganz und gar an sich zu ziehen und seiner Seele ihren Sonderstempel aufzuprägen. So tut es die Religion, namentlich in der Gestaltung zur Kirche, ähnlich tut es der Staat durch alle Mannigfaltigkeit der Verfassungsformen hindurch, aber auch Kunst und Wissenschaft bilden sich ihren Sondermenschen und stellen über der von ihnen gebotenen Stückkultur leicht die Bildung des ganzen Menschen zurück. Wir empfinden deutlich die Unzulänglichkeit aller solchen Stückkultur; sie zu überwinden aber wird erst möglich, wenn wir als Ganzes eine Aufgabe in uns tragen, deren Ergreifung und Förderung aller Verzweigung überlegen macht und uns durch sie hindurch ein Gesamtziel verfolgen läßt.
Ähnlich wie die Forderung einer Bildung des ganzen Menschen ist auch die nach Begründung unseres Lebens auf eigene Tat zu befriedigen nur bei Anerkennung einer Tiefe der Wirklichkeit und einer Verbindung des Menschen mit ihr. Der Ruf nach mehr Tat, nach Voranstellung schaffenden Lebens vor alles Gegebensein geht durch unsere Zeit, aber er wird unvermeidlich zu einer leeren Phrase, wenn die Verkettung des bloßen Nebeneinander den Menschen gänzlich umfängt und ihm keinen Zugang zu einem Reich ursprünglichen Lebens gestattet. Ohne eine Tiefe der Wirklichkeit und ihre Belebung für uns läßt unser Sein sich nicht in lebendige Tat verwandeln.
Wenn so der Mensch erst durch das Teilgewinnen an einem Beisichselbstsein des Lebens Forderungen gewachsen wird, die über das Gelingen seines Daseins entscheiden, so wird dabei aller Mühe und Arbeit eine sichere Ruhe und Freudigkeit überlegen bleiben. Es ist dies Leben beim Menschen erst im Aufstieg begriffen und daher unfertig genug, auch kann es ihm an mannigfachen Zweifeln nicht fehlen. Aber alle Unfertigkeit und aller Zweifel kann die Grundtatsache einer großen Wendung in keiner Weise erschüttern, handelt es sich hier doch nicht um einzelne Erscheinungen innerhalb eines vorhandenen Lebens, sondern um das Ganze eines neuen Lebens; solches kann unmöglich ein Blendwerk sein, die Möglichkeit selbst verbürgt uns hier eine Wirklichkeit. Ferner erzeugt die Selbstbetätigung mit ihrer Bildung und Festhaltung eines Seins im Handeln, ihrem Aufbau einer Wirklichkeit, ihrer Hereinziehung des ganzen Alls in den Lebensprozeß eine ganz andere Freude als die bloße Tätigkeit mit ihrer Aufbietung der Kräfte, eine Freude, die mit ihrer Ausdehnung des Lebensaffektes über die Unendlichkeit alles eher als ein selbstisches Genießen ist. Das Leben wird hier vom wilden Naturtriebe der Selbsterhaltung befreit und kann doch matter Verneinung eine entschiedene Bejahung entgegensetzen. Die Freude, die aus der Entfaltung echtgeistigen Lebens entspringt, steht uns in ihren Verzweigungen mit voller Klarheit vor Augen: so in der Wahrheitserkenntnis der Forschung, so im Schaffen und Schauen der Kunst, so in echter Liebe und menschenförderndem Wirken; alles dieses kann sich auf dem dargelegten Grunde in ein Ganzes fassen und dadurch an Kraft und Tiefe gewinnen.
Nehmen wir hinzu, daß, was hier der Mensch bei sich wirkt und erringt, innerhalb des Ganzen steht und zu seiner Förderung dient, auch daß in diesem neuen Leben die gewöhnlichen Unterschiede von groß und klein vor der einen entscheidenden Wendung von Welt zu Welt verblassen, ja verschwinden, daß jeder an seiner Stelle eine Bedeutung, ja eine Größe zu erringen und das Reich des Geistes zu mehren vermag, so kann über einen Sinn und Wert dieses Lebens kein Zweifel sein. Widerstände und Überwindungen
Bis jetzt haben wir die innere Art des neuen Lebens betrachtet, das bei der Menschheit erscheint; die Hemmungen, welche es innerhalb unseres Daseins und unserer Weltlage findet, blieben im Hintergrunde. Nun aber müssen wir uns auch mit ihnen befassen, denn erst ihr Erscheinen und die Auseinandersetzung mit ihnen bestimmt den eigentümlichen Charakter des menschlichen Lebens. Es erwachsen aber Hemmungen namentlich in dreifacher Richtung: aus dem Verhältnis des Geisteslebens zu seinen Mitteln und Bedingungen, aus seiner Unfertigkeit, ja Schattenhaftigkeit bei sich selbst, aus seiner scheinbaren Ohnmacht im All wie im Kreise des Menschen. Diese Widerstände und was ihnen entgegenwirkt, seien nun nacheinander betrachtet.