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Einleitung

Die Frage nach einem Sinn und Wert des menschlichen Lebens macht ruhigen Zeiten wenig Sorge, denn der Stand und das Wirken der Gemeinschaft enthält dann so bestimmte Ziele und zeigt sie so deutlich dem einzelnen, daß es gar nicht zu Zweifeln und Fragen kommt; was hier an Schwankung und Streit entsteht, das betrifft nicht sowohl das Ziel als bloß die Wege zu ihm, das rührt nicht an einen gemeinsamen Grundstock des Lebens. Erst wenn im Lebensbestande selbst Verwicklung und Spaltung erfolgt, wenn das Leben sich bei sich selbst entzweit, gewinnt jene Frage Macht über uns, setzt Denken und Grübeln in starke Bewegung und erzeugt unsäglichen Streit. Wenn es nun heute so steht, wenn so viel Suchen und Streiten um den Sinn des Lebens erscheint und die Gemüter einander entfremdet, so bekundet das augenscheinlich, daß das Leben sich heute nicht in ein Ganzes zusammenfaßt, daß es eines beherrschenden Mittelpunktes, eines gemeinsamen Charakters entbehrt. In Wahrheit brauchen wir den gegenwärtigen Stand nur etwas genauer anzusehen, um zu gewahren, daß grundverschiedene Ströme in ihm wirken und das Streben nach verschiedener, oft entgegengesetzter Richtung treiben. Bald wird eine unsichtbare, bald die sichtbare Welt als Standort des Lebens ergriffen, bald scheint das Verhältnis zur Natur, bald das zur Menschheit zur Herrschaft berufen, bald scheint innerhalb der Menschheit das große Ganze, bald das Individuum voranzustehen. Je nach der Entscheidung darüber gestaltet sich das Leben völlig verschieden, anders erscheint sein Kern, anders erscheinen seine Güter, anderes verlangt es von uns, andere Wege schreibt es uns vor; es gehen also nicht bloß die Bilder, sondern die Wirklichkeiten selbst auseinander, der Kampf betrifft nicht bloß die Deutung, sondern das Leben selbst. Wer dabei als bloßer Parteimann ganz und gar in eine der Strömungen aufgeht, der bleibt frei von innerer Verwicklung, der ist allem Zweifel enthoben. Aber er bezahlt diese vermeintliche Sicherheit allzu teuer mit starrer Enge und geistiger Kurzsichtigkeit. Wer für das Ganze der Zeit ein offenes Auge und eine unbefangene Schätzung hat, wer so das Geschick der Menschheit als eigenes miterlebt, der gerät durch jene Spaltung in eine sehr mißliche Lage, die er unmöglich ruhig hinnehmen kann. Jede der verschiedenen Bewegungen scheint Wahrheiten zu enthalten, auf die sich nicht wohl verzichten läßt, aber diese Wahrheiten widersprechen einander, und wir sehen nicht die Möglichkeit einer friedlichen Verständigung. So werden wir bald hierher, bald dorthin gezogen, uns fehlt ein beherrschendes Gesamtziel, sowie ein normierender Maßstab. Die unbestreitbaren Erfolge im einzelnen verbinden sich nicht zu einem Gesamtergebnis und greifen daher nicht genügend in das Ganze der Seele zurück, sie belassen es in Unsicherheit und in Leere. Ein solcher Stand lähmt nicht nur den Mut und die Freudigkeit des Lebens und zerstört ein sicheres Lebensgefühl, er gefährdet auch ein großes geistiges Schaffen. Denn zu einem solchen bedarf es notwendig eines hohen und erhöhenden Zieles für das Ganze unserer Seele, eines Zieles, in dessen Ergreifung wir uns von aller Unsicherheit befreien und uns über uns selbst hinausheben können. Und heute bedürfen wir ganz besonders eines freudigen Lebensmutes und eines vordringenden Schaffens. Denn Aufgaben über Aufgaben dringen übermächtig auf uns ein, sie fordern viel Arbeit und Opfer, sie vertreiben alle Behaglichkeit der älteren Lebensführung; können wir den Kampf und die Arbeit getrosten Mutes wagen, wenn das Ganze uns keinen Sinn zu erkennen gibt und daher alle Mühe schließlich ins Leere zu verrinnen droht?

 

Nein und abermals nein! Wir können uns der Spaltung nicht ergeben, wir müssen alle Kraft an ihre Überwindung setzen. Und wir brauchen auch nach der Lage der Zeit keineswegs mutlos zu sein. Denn diese Lage selbst verrät merklich genug, daß eine Bewegung zu einem neuen und weiteren Leben schon im Gange ist. Wir könnten die Widersprüche nicht mit der Stärke empfinden, wie wir sie empfinden, wenn wir nicht irgendwie ihnen schon überlegen wären, wenn sich nicht in uns schon ein solches Leben regte, das es nur vollauf anzueignen und kräftig herauszubilden gilt. Wenn es sich so nicht um Lebensansichten, sondern um Lebensgestaltungen handelt, so kann nur ein mutiges Vordringen, eine energische Selbstvertiefung weiterführen, unser Blick sei daher vorwärts gerichtet. Aber um sicher zu gehen, müssen wir uns zuvor den gegenwärtigen Stand mit seiner Mannigfaltigkeit und mit seinen Widersprüchen deutlich vor Augen stellen. Die Gestaltungen, welche er enthält, sind ja mehr als bloße Versuche deutender Reflexion, sie sind tatsächliche Leistungen, Lebenskonzentrationen, welche viele Gemüter verbunden und in die Lage der Menschheit tief eingegriffen haben; schwerlich konnten sie das ohne irgendwelche Wirklichkeit zu eröffnen, irgendwelche Wahrheit zu vertreten. Solche Wirklichkeit und solche Wahrheit darf auch uns nicht verloren sein. Wenn wir ferner die verschiedenen Gestaltungen nebeneinanderstellen und in einen Gesamtblick fassen, so mag daraus der gegenwärtige Stand des Problems mit besonderer Klarheit erscheinen, ja, es mag von hier aus die Richtung ersichtlich werden, in der eine Weiterbildung des Lebens, eine neue Konzentration des Ganzen zu suchen ist. Ob ein solches Suchen Aussicht auf Erfolg hat, darüber kann nur die eigene Bewegung und Erfahrung des Lebens entscheiden; jedenfalls können wir da, wo wir heute stehen, nicht ruhig stehen bleiben und warten, was aus uns wird. Denn erfolgt kein Widerstand und kein Weiterstreben, so müssen die Gegensätze, die heute am Werke sind, sich immer weiter vertiefen und den Gehalt des Lebens mehr und mehr zerbröckeln; wollen wir also nicht seelisch weiter und weiter sinken, so müssen wir vorwärts streben, getragen von der Überzeugung, daß hier Notwendigkeiten walten, die allem Wollen und Meinen des einzelnen Menschen nicht nur, sondern der ganzen Menschheit überlegen sind. Im Vertrauen auf solche Notwendigkeiten sei unser Werk begonnen.


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