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Wir nehmen nicht ein Herz mit uns von hinnen, das nicht in
Einstimmung mit unserem lebt, und lassen keins dahinten, das nicht
wünscht, daß uns Erfolg und Sieg begleiten mag!
Shakespeare. König Heinrich V. II. Aufz.
Ein treuer Bursch, mein Herr!
Komödie der Irrungen. I. Aufz. 2. Sc.
Eine wunderliche Veränderung war mit dem kleinen Angerwies seit dem Kriegerball vor sich gegangen.
Der Sturm tobte im Wasserglas.
Welch ein Flüstern, Tuscheln und Raunen aller Ecken und Enden! Welch eine wichtige Geheimniskrämerei unter den Vätern des Städtchens und seinen Honoratioren!
Bürgermeister und Doktor gingen aus und ein bei Graf Rüdiger, und dieser hatte dem Feuereifer der Herren nur zu wehren.
»Vor allen Dingen muß über die ganze Angelegenheit tiefstes Schweigen beobachtet werden, meine Herren!« befahl er sehr nachdrücklich, »und namentlich über den Plan, welchen wir entwerfen wollen, um die Sache möglichst bald und ohne großes Aufhebens zum Abschluß zu bringen! Sie können nicht verlangen, meine Freunde, daß ich mich persönlich kompromittiere, wenn ich für Ihr Wohl zu Felde ziehe, – für Ihr Wohl, lediglich für das Ihre, denn Sie wissen, daß ich nicht die mindesten Interessen an dem Majorat habe; ob es mein Sohn ein paar Jahre früher oder später besitzt, ist ja völlig gleichgültig. Also nur Ihrem Interesse gilt es, wenn ich mich Ihren Wünschen füge und die fatale Angelegenheit in die Hand nehme! Darum ersuche ich Sie auch, sich blindlings meinen Anordnungen zu fügen und tiefstes Schweigen über dieselben zu wahren!«
Die Herren gelobten es voll fanatischen Eifers, und ihre Zungen flossen über von eitel Lob und Preis, gab es doch wirklich nichts rührenderes und selbstloseres, als das Handeln Graf Rüdigers, welcher als edler Menschenfreund dem armen, vernachlässigten Städtchen zu Hilfe kam.
Die Bürgermeisterin hatte anfangs den Kopf geschüttelt. Sie war eine Frau von gesundem und klarem Urteil und kannte bis dato keine Selbstüberhebung! Ihre Würde war groß genug und genügte ihr.
»Ich begreife die plötzliche Unzufriedenheit der Angerwieser nicht!« sagte sie, »wir haben ja bisher glücklich und vergnügt gelebt und nichts darnach gefragt, ob Graf Willibald verrückt sei oder nicht! Wir haben es uns auch früher nie im Traume einfallen lassen, zu verlangen, daß der menschenscheue Mann an unseren Bällen teilnehmen solle! Meiner Ansicht nach war unsere Einladung eine unziemliche Keckheit, und daß die der Graf ablehnte, hat mich weder überrascht, noch beleidigt. Was aber ist um alles in der Welt plötzlich in Euch gefahren? Kein Mensch will sich mehr begnügen! Alle wollen mehr verdienen, wollen höher hinaus, wollen Dinge verlangen, die ihnen selber zuvor nicht im Traume eingefallen sind! Grad als ob der Hochmutsteufel und die Geldgier euch allesamt besessen hätte!«
Der Bürgermeister antwortete grob und erregt, »das verstehe sie nicht, und die Weiber hätten ihren klugen Rat für sich zu behalten!«
Da schwieg Frau Lieschen achselzuckend, und ihr Gatte ging in die »Stadt Hamburg«, um sich dort die Seele frei zu schimpfen. Nächsten Tags fuhr die Frau Gräfin bei der Frau Bürgermeisterin vor und machte dieser einen langen Besuch, ein so fabelhaftes Ereignis, daß die Straße vor dem Haus gedrängt voll Neugieriger stand und Frau Lieschen keine Kleinstädterin und kein Weib hätte sein müssen, um solch eine Auszeichnung kaltblütig aufzunehmen!
Sie glühte vor Stolz und Genugthuung, und die Gräfin sprach mit weicher, einschmeichelnder Stimme so unglaublich liebenswürdige Sachen, daß die einfache Frau sich schon aus lauter Höflichkeit davon überzeugen lassen mußte.
»Ja, vorwärts streben! nicht immer am alten Zopf hängen, sondern frisch und energisch neue Besserungen alter Zustände erreichen wollen! Es ist nicht mehr zeitgemäß, im verjährten Schlendrian einher zu trollen! Eine Stadt muß aufblühen, wachsen und gedeihen! Flottes Militär muß nach Angerwies kommen, damit die vielen, reizenden jungen Mädchen flotte Tänzer und schmucke Ehegatten bekommen!«
Bei diesen Worten erglühten die drei Töchter in seligsten Hoffnungen und Frau Lieschen nickte lächelnde Zustimmung. – Ja, Männer für ihre Töchter, das war in dem kleinen Angerwies, das so reich an Mädchen und arm an Heiratskandidaten war, der wunde Punkt, welcher jedem Mutterherzen schlaflose Nächte bereitete! Wenn dieser Kalamität Abhilfe geschaffen werden könnte – ja, dann!! Dann wollte die Frau Bürgermeisterin gern zu allem Ja und Amen sagen, was die Männer planten und erstrebten! Sie zeigte voll strahlenden Stolzes der Gräfin die mächtigen Holztruhen, in welchen alle Leinwandschätze zur Ausstattung der Mädels bereits fix und fertig lagen, und Frau Melanie neckte die jungen Damen so entzückend schelmisch mit den künftigen Lieutenants, daß es die heiratslustigen Schönen wie ein Wonnerausch erfaßte.
Die Gräfin hatte kaum die Hausthüre hinter sich, als die bürgermeisterlichen Damen mit glühenden Wangen schon nach allen Windrichtungen davon flogen, die selige Verheißung von künftigen Freiern zu allen Freundinnen zu tragen.
Und weiter verlangte ja die Frau Gräfin nichts. Die anderen Mütter und Töchter dachten: »Wenn Bürgermeisters einen Lieutenant kapern, dann fällt für uns wohl auch noch einer ab!« und damit war das Signal gegeben, daß die Damen am eifrigsten und energischsten auf einen neuen Majoratsherrn drangen, welcher der Stadt für Garnison sorgte.
»Was aber die Frau will – das will Gott!« sagt der Franzose. Die geheimnisvollen Beratungen in dem kleinen Privatzimmer der »Stadt Hamburg« wurden immer lebhafter, bis sie nach drei Tagen ihren definitiven und feierlichen Abschluß fanden. Man schüttelte sich in treuer Verbrüderung die Hände und gelobte sich, frisch an das Werk zu gehen. Es ward folgendes beschlossen: Kehrte jetzt Graf Rüdiger in die Residenz zurück, so ward er von nun an mit bittschriftlichen Briefen der Angerwieser bestürmt, den unerträglichen Zuständen ein Ende zu machen, welche ihr geisteskranker Patronatsherr auf Niedeck über sie heraufbeschwor.
Diese Briefe sollten Graf Willibald in all seiner Verrücktheit schildern, sollten ihn alles dessen anklagen, was er verabsäumte und durch was er die Gemeinde Angerwies in ihren wohlberechtigten Forderungen schädigte.
Der Assessor sollte die Sache recht geistreich und geschickt, mit allen Chikanen eines Rechtsanwaltes, ausklügeln.
Auf diese Briefe hin wollte Graf Rüdiger alsdann seinen Antrag auf Entmündigung bei dem Amtsgericht stellen.
Als Sachverständiger sollte der Doktor berufen werden, die Zeugen sollten durch den Bürgermeister und andere wohlmeinende Personen gestellt werden. Ganz Angerwies kann sich ja dazu melden!
Was die Dienerschaft auf Niedeck anbelangte, so müßte bei Zeiten dafür gesorgt werden, dieselbe den Ansichten und Wünschen der »Verschworenen« geneigt zu machen!
Der Apotheker wiegte bedenklich den Kopf. »Diese Bagage könnte zum Stein des Anstoßes werden,« sagte er kleinlaut, »ihnen gefällt das zuchtlose Leben unter dem verrückten Herrn, welcher sie schalten und walten läßt, wie es ihnen beliebt! Sie werden mit einer Änderung der Verhältnisse am wenigsten einverstanden sein!«
»Pah!« polterte der Assessor, »sie können doch seine landbekannten Verdrehtheiten nicht ableugnen, und auf diese kommt es hauptsächlich an!«
»Das wohl, aber sie können vieles beschönigen, wenn sie wollen!«
»Je nun, man muß eben versuchen, sie auf diese oder jene Weise zu gewinnen!« zuckte Graf Rüdiger die Achseln. »Ich denke mir, die Gagen werden bei dem Geizhals Willibald nicht allzuhoch ausfallen, der künftige Majoratsherr bewilligt sie in doppelter oder gar dreifacher Höhe!«
»Vortrefflich, Herr Graf, das wird ziehen!!«
»Ich überlasse Ihnen plein pouvoir meine Herren, diese oder jene Zugeständnisse zu machen, welche Sie im Interesse der Sache für nötig halten,« fuhr Rüdiger gleichgültig fort, »ich bin kein Knauser und gönne gern jedem das Seine. Und nun wollen wir diese leidige Angelegenheit hiermit erledigt sein lassen und recht vergnügt noch ein Glas Wein zusammen trinken! Ich bitte Sie, meine Freunde, zu Gast und leere das erste Glas auf ein »Gut Gelingen!« Man that voll aufgeregter Freude Bescheid; der Wein perlte in den Gläsern und in den Köpfen spukten traumhafte schöne Bilder von einer künftigen besseren Zeit!
Noch einmal entflammte das gräfliche Paar alle Herzen durch bezaubernde Liebenswürdigkeit, dann nahm man Abschied, aber man lächelte dabei ein siegesfreudiges »Auf Wiedersehen!«
Am nächsten Morgen holperte der Hotelomnibus abermals vor die Thüre, um die seltenen Reisenden zum Bahnhof zu bringen. Der Assessor stand mit einem Strauß an der Wagenthüre. Es war ein Meisterstück des Angerwieser Gärtners, welcher seine schönsten Blumenstöcke geplündert hatte, um diesen Abschiedsgruß zu ermöglichen. Es war für die Gräfin! Da that er es mit Begeisterung – denn die hohe Dame hatte mit seiner Frau auf dem Kriegerball gesprochen und seiner Tochter sogar auf den Fuß getreten, – so dicht stand sie zwischen ihnen! Die halbe Stadt war auf den Beinen, um die gefeierten Menschenfreunde noch einmal zu sehen.
Man rief Hurrah! schwenkte die Taschentücher und etliche Damen weinten sogar, weil sie es für respektvoll und schicklich hielten.
Die Herrschaften grüßten und winkten mit dem Ausdruck größter Herzlichkeit und Innigkeit nach allen Seiten und der Abschied von Simmels hatte etwas geradezu rührendes!
Es war auch keine Kleinigkeit für die biederen Alten! Sie hatten in diesen zwölf Tagen mehr verdient, wie sonst in etlichen Jahren und das war eine Thatsache, welche die »Stadt Hamburg« für ewige Zeit dem gräflichen Paar verpflichtete.
Und nun gar die Hoffnung, diese Menschen dauernd auf Niedeck zu wissen – nach wie vor in Angerwies freundschaftlich verkehrend – oh nach Adam Riese war Vater Simmel dann sehr bald schon ein gemachter Mann!!
Noch ein letztes Lebewohl und vielsagendes »Auf Wiedersehen!« dann schwankte der gelbe Kasten langsam nach vorn, setzte sich in Bewegung und rumpelte die Straße entlang.
Die Straßenjungen gaben selbstverständlich das Geleit, und der Graf schüttelte als letzte Menschenfreundlichkeit sein Portemonnaie unter sie. Da gab's ein unendliches Gejohle, Gebalge und Gepurzle, und während alle Welt voll Entzücken diese Freigebigkeit anstaunte, entschwand der Omnibus den Blicken.
Als sich auch der Abschied von Gottlieb und Schröder mit aller Inbrunst vollzogen – man streckte der Gräfin im Übermaß der Freude über das fürstliche Trinkgeld wieder und wieder die Hand zum biederen Drucke entgegen – schloß sich endlich die Coupéthüre erster Klasse hinter den Reisenden. Mit einem Seufzer, welcher einem Aufstöhnen glich, sank die Gräfin in die Polster zurück und auch ihr Gemahl warf sich wie ein Erlöster in die Ecke nieder.
»Gott sei Dank! das wäre überstanden!!« Die Gräfin streifte die perlgrauen Handschuhe ab und schleuderte sie mit einem Ausdruck des Ekels von sich. »Pfui! wie viel schmierige Kaffern haben sie gedrückt! Zu allem Überfluß auch noch dieser ungebildete Hausknecht! Rüdiger, es war entsetzlich, diese zehn Tage haben mich Nerven gekostet!!«
Der Graf strich langsam mit dem eleganten Taschentuch über die Stirne.
»Ich hoffe, mein Kind, sie haben mehr eingebracht wie gekostet! Ich gebe zu, daß diese Zeit in Angerwies eine starke Zumutung für Dich sowohl wie für mich gewesen ist, aber Du weißt, um was es sich gehandelt hat, und weißt auch, was wir hoffentlich erreicht haben. Im übrigen mache ich Dir mein Kompliment, wie meisterlich Du Deine Rolle gespielt hast!«
»Der ersten Schauspielerin könntest Du konkurrieren! Es wird jetzt manch spaßhafte Erinnerung für uns geben, wenn wir an den Eliteball des Kriegervereins denken! Hast Du eigentlich mit Frau Simmel Schwesterschaft getrunken?«
Frau Melanie lachte leise auf. »Spotte nur, ich sehe Dich schon in Zukunft Arm in Arm mit dem Herrn Apotheker und Auditeur durch die Straßen von Angerwies wandern! Und das erste Diner, welches wir auf Niedeck geben, wird eine außerordentliche buntscheckige Gesellschaft aufweisen, falls Du wirklich die horrende Idee haben solltest, dieses Krähwinkelvolk auch künftighin als geeigneten Umgang für uns zu erachten!«
Graf Rüdiger entzündete eine Cigarrette, sein schmales, farbloses Gesicht hatte die Maske fascinierender Liebenswürdigkeit abgelegt und trug den Ausdruck hochmütiger Ironie.
»Nun – ich denke, ma chère – wenn wir thatsächlich Besitz von Niedeck ergreifen, können wir noch das letzte Opfer bringen und die Finger, – welche die Kastanien für uns aus dem Feuer holen werden – zum Danke etwas schmieren! Eine Massenabfütterung muß stattfinden. All unsere lieben, guten Angerwieser Freunde werden dann für einen Tag den süßen Traum träumen, als intimer Verkehr in Schloß Niedeck aus und ein zu gehen! Ochsen und Mastvieh liefert selbstredend Herr Simmel – und was sonst notwendig ist, wird auch aus Angerwies besorgt. Des guten Überganges wegen! Dann bekommst Du einen hartnäckigen Katarrh und ich sorge dafür, daß unser neuer Hausarzt Dir eine Reise nach dem Süden verordnet. Bis dahin habe ich die Pachtverhältnisse der Besitzungen geordnet, und nach unserer kurzen aber glänzenden Gastrolle reisen wir ab – nach Italien. Dann werden Gründe feil wie Brombeeren sein, um für die Zukunft einen längeren Aufenthalt in Niedeck unmöglich zu machen.«
»Gewiß, falls Du nicht noch das Assesorexamen machen willst!«
»Glaubst Du, ma chère, daß ich noch als Majoratsherr Examen machen werde?«
Sie sah überrascht auf. »Du willst es nicht?«
Er lachte hart und rauh: »Nein, dann habe ich es satt, mich als Lasttier noch ferner in das Joch zu spannen, dann haben wir es ja glücklicherweise auch nicht mehr nötig!«
»Nein, dann wollen wir frei sein!« atmete Frau Melanie hoch auf. »Dann haben wir ja keine Zukunft mehr zu fürchten! Aber warum noch so viele Umstände mit dem greulichen Kaffernvolk in Angerwies machen? Wenn der Mohr seine Schuldigkeit gethan hat, mag er doch gehen!«
Er zuckte die Achseln. »Je nun, darüber können wir ja immer noch bestimmen, aber Du weißt – noblesse oblige – und nun, was sollte aus Deinem Anbeter Bärning werden, wenn seine Königin ihn so schnöde verlassen wollte?«
Die Gräfin lächelte: »O teurer Toggenburg!!« mokierte sie sich, nach seinem Bouquet greifend, »dieses Kuhfutter drückt seine lyrischen Gefühle aus! Gelbveiglein, Rosmarin und Nägelchen! So ganz der Abglanz der hochmodernen Residenzstadt Angerwies! Man kann doch unmöglich verlangen, daß ich mich mit dieser heillosen Kuchenpapiermanschette zu Hause lächerlich mache!« und die kleine Hand schleuderte die Blüten, welche mit so viel Liebe und Zärtlichkeit gepflegt und so viel warmherziger Begeisterung geopfert waren, erbarmungslos zum Fenster hinaus. » Apropos – willst Du wirklich Garnison nach Angerwies verurteilen? Das wäre perfide gegen die Unglückslieutenants!«
Rüdiger lachte schallend auf. »Aber, Kind, das ist ja überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit! Es gehörte die ganze Naivetät dieser Naturmenschen dazu, um an ein solches Märchen zu glauben!«
»Arme Bürgermeisterin! Sie näht schon die Brautkleider!!«
»Näh nicht, liebes Mütterlein, am roten Sarafan! Na die holden Mägdlein können ja die hochzeitlichen Gewänder zu unserem Einzuge auf Niedeck anlegen! Nun aber zieh andere Handschuhe an, Teuerste, der Zug pfeift! Wir müssen in Lindheim umsteigen!«
*
Dämmerung lag über dem mächtigen Schloßbau von Niedeck. Uraltes Gemäuer baute sich, trefflich erhalten, zu Türmen und Zinnen empor, epheubewachsen und grünbemoost, wie es keines Malers Phantasie idealer und poetischer hätte ersinnen können. An den eigentlichen »Urbau« – den ältesten Teil, welcher auch noch den Namen »Burg« trug und wie ein trutziges Felsennest auf der höchsten Spitze des bewaldeten Berges thronte, hatte fast jedes spätere Jahrhundert einen neuen Schloßteil hinzugefügt, und so war schließlich ein ganz eigenartiger Komplex von Schloßhöfen, Seiten- und Querflügeln, Türmen und Erkern entstanden. Das gab nicht nur ein sehr imposantes, sondern auch ein recht originelles Ansehen, und darum war Schloß Niedeck auch im ganzen Lande als einer der großartigsten und feudalsten Herrensitze bekannt.
Die letzten Sonnenstrahlen hatten in den unzähligen Fenstern aufgeglüht, hatten den mächtigen Bau, welcher in tiefer traumhafter Ruhe, gleich dem verzauberten Palast des Dornröschen da lag, noch einmal märchenhaft vergoldet, und waren dann hinter den hochragenden Tannen zur Ruhe gegangen.
Graf Willibald saß einsam und schweigend in dem niederen Kutscherstübchen, welches er sich zum Wohnzimmer auserwählt.
Hart über dem Felsenabhang schwebend, bot das bleigefaßte Fensterchen einen herrlichen Fernblick über die Thalebene mit dem malerisch zwischen grünen Wäldern gelegenen Städtchen Angerwies, über die sich fernhin dehnenden Hügelketten und das blitzende Flußband, welches sich in krausen Linien zwischen ihnen hervor schlängelte.
Seitwärts aber sprang der Schloßberg mit schroffer Ecke vor und gewährte den Anblick auf den alten Burgteil, welcher in dieser vollen zauberhaften Schönheit einzig von dem kleinen Fenster des Kutschers zu sehen war.
Und Graf Willibald liebte diesen Anblick über alles.
Kein Fenster des ganzen riesigen Schlosses zeigte so viel landschaftliche Schönheit, wie diese bleigefaßten Scheiben, und darum fragte der einsame Majoratsherr nicht lange, ob es närrisch sei oder nicht, wenn er all die weiten, düsteren, trostlosen, leeren Säle verließ und hierher in das poetischste aller Schloßwinkelchen übersiedelte.
Und auch jetzt saß der Graf in dem bequemen, altmodischen Ledersessel an seinem Lieblingsplätzchen und blickte gedankenversunken hinaus in die Landschaft, über welche der Abendfrieden seine dämmernden Schleier breitete.
Um die Schloßtürme kreisten die Elstern und suchten ihre Nester, von der Stadt heraus klang das Abendläuten und fern her, von dem Eisenbahndamm blitzten die ersten Lichtchen empor. Graf Willibald stützte den unförmigen Kopf in die Hand und seufzte tief auf. Er liebte die Dämmerstunde so sehr – aber sie liebte ihn nicht, sie quälte ihn mehr denn jede andere Zeit mit einem sehnsuchtsvollen Weh, gegen welches er schon so lange, lange Jahre verzweiflungsvoll ankämpfte, ohne doch seiner Herr werden zu können!
Wie verlassen und verloren stand er inmitten seiner toten Reichtümer, in einer fremden, kaltherzigen, unverstandenen Welt!
Glücklich sein! – welch ein traumhafter Begriff für ihn!
Und doch hatte es einst eine Zeit gegeben, wo auch er glücklich gewesen!
Aber diese Zeit lag weit zurück, so weit wie seine goldene, sorglose Kindheit!
Ja, da war er glücklich, als die Mutter ihn noch auf den Knieen wiegte, als sie sein armes, häßliches Haupt voll zärtlicher Liebe zwischen die schlanken, edelsteinfunkelnden Hände nahm und küßte!
O, wie weit und glückselig war da sein Herz! Da liebte er die Dämmerstunde auf Mamas Schoß ebenso sehnsüchtig tief wie jetzt – damals aber stillte sie noch dieses Sehnen durch die treuste Liebe, welche es gab, während er heute einsam, mit blutendem Herzen zum Himmel blickt, oft sich verzehrend in brennendem Weh – oft verbittert, grillenhaft, zornig mit dem Schicksal, mit Welt und Menschen hadernd!
Warum blieb es nicht immer so, wie damals. Warum nahm ihm der Tod das einzig Liebe, was er noch besaß, seine Mutter, nachdem auch der Vater von ihm gegangen?
Da fing sein Elend an, sein namenloses Elend.
Man nahm ihn fort von Niedeck, man brachte ihn in das Haus des Onkels, seines Vormundes. Dort sollte er mit Vetter Rüdiger zusammen erzogen werden, obwohl er um Jahre älter, wie dieser; daß er diesen Namen nie gehört – diesen Knaben nie gesehen hätte! –
Der Fluch seiner Jugend hieß Rüdiger! –
Graf Willibald ächzt auf bei dem Gedanken an die Qualen, welche er durch ihn erduldet. Er preßt die mageren Hände krampfhaft zusammen und starrt hinaus in die Schatten, welche sich tiefer und tiefer über das Thal breiten. Die Thüre hinter ihm öffnet sich, leise, schlurrende Schritte nähern sich, ein gebeugter alter Mann in Livree bleibt hinter dem Stuhl des Grafen stehen. Willibald wendet aufzuckend den Kopf.
»Was giebt es, Kuhnert?«
Keine Antwort. Nur ein leises Geräusch, als ob ein Mensch gewaltsam gegen die Thränen ankämpfte. Der Graf erhebt sich und tritt neben den Kastellan.
»Kuhnert!« ruft er entsetzt und faßt beide Hände des Alten, »Kuhnert!«
Über die eingefallenen Wangen des Greises rinnt es feucht. Er preßt die Hände des Grafen und sinkt allen Respekt vergessend auf den Stuhl nieder: »Mein armer, armer Herr!« klingt es wie ein Aufschrei von seinen Lippen.
»Sprich, Kuhnert – ein Unglück?!« –
Der Alte beißt die Zähne zusammen und schüttelt wild den Kopf. »Mehr als das, Herr Graf! ein Verbrechen!« –
»Allmächtiger Gott! sprich's aus!« –
»Graf Rüdiger – –«
»Er?! – was ... was ...«
»Ach, Herr Graf – es ist zu viel der Schurkerei ...«
Willibald richtet sich hoch auf, sein Auge blitzt.
»Sprich!« – ringt es sich rauh von seinen Lippen.
Der Alte umklammert mit bebenden Händen den Arm seines Herrn.
»Sie müssen fort von hier, Herr Graf!« –
»Ich? nicht um die Welt!« –
»Sie müssen! – bei Gott, mein armer, armer Herr, Sie müssen, sonst ...«
»Sonst bringt man mich fort? in die Kapelle drüben?« stößt Willibald bitter hervor: »Mit Gift oder Dolch?!«
»Nicht? ... wohin denn sonst?«
»In das Irrenhaus, Herr Graf!« –
Tiefe Stille – leichenblaß, regungslos steht der Majoratsherr von Niedeck. Gespenstisch starren seine Augen aus dem Dunkel. Dann bricht ein gellendes Lachen von seinen Lippen.
»In das Irrenhaus! bravo, Rüdiger! der Plan ist eines Teufels wert!« Er wendet sich und schreitet langsam im Zimmer auf und nieder, dann bleibt er vor dem Alten stehen, legt die Hände auf seine Schulter und sagt weich und herzlich: »Du treue, brave Seele! – erzähle mir, was Du von der Sache gehört hast!« –