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Langes, schmales Klubzimmer im »Reichsadler«. Eingang für die Gäste links. Unweit der Thür ein Garderobenständer, an den die Eintretenden ihre Hüte, Mäntel &c. hängen. Im Hintergrunde rechts die Thür, durch die der Kellner kommt und geht. Rechts ein Fenster. An der Kulisse links ein Klavier. An der Hinterwand Schränke und Insignien von Vereinen.
Rosa Belli (Dame von enormem Umfang, mit Pincenez, gesucht originell gekleidet, mit hoch entblößten Armen und tiefem Ausschnitt. lispelt etwas) und Theo Norman (Schauspieler von etwa 40 Jahren mit kropfig-nasaler Stimme; langsam-erhabene Sprechweise und Gebärden) treten mit dem Kellner auf.
Rosa: Noch niemand da? Zu wann ist denn das Zimmer bestellt?
Kellner: Halb neun, bitt' schön.
Rosa: Dies ist doch das Zimmer, das Herr Wolf bestellt hat?
Kellner: Ich weiß net mal – a kleiner Herr – mit starkem Haarwuchs – und Kastorhut –
Norman: Ja ja, das ist er.
Rosa: Na, bringen Sie uns erst mal zwei Erlanger. (Zu Norman:) Wollen wir auch 'n kleinen Vorreiter? (Zum Kellner:) Das Bier ist wohl sehr kalt.
Kellner: Nein, bitt' schön, sehr gut temperiert! – Das heißt: kalt ist's natürlich. 81
Rosa: Na ja, bringen Sie uns auch zwei Cognac. Vorsicht ist besser als Durchfall.
Kellner (schmunzelnd): Bitt' schön. (Ab. Rosa und Norman haben inzwischen abgelegt.)
Rosa: Was will er denn eigentlich vorlesen?
Norman: Gedichte.
Rosa: Gedichte? Heiliger Bimbam! Wolf dichtet ooch Jedichte?
Norman: Und wie, sag' ich dir! Furchtbar! (Sich auf den Mund schlagend und sich umsehend:) Das heißt: ich hab' nichts gesagt. Ich werd 'n Deubel thun und mich mit 'nem Kritiker überwerfen!
Rosa: Na, seien wir gefaßt.
Norman: Ich will mal sehen, ob er mir nicht 'n Engagement in Berlin verschaffen kann. (Die beiden wollen sich gerade an den Tisch setzen, als Meißner und Beckendorf eintreten.)
Meißner (brutales, etwas gerötetes, stark aufgeschwemmtes Gesicht, gelb-blonde Künstlermähne und ebensolcher Schnurrbart, Samtjackett. Hoher Vierziger. Breitspuriges Auftreten, als erwarte er immer, daß sein Erscheinen und seine Äußerungen imponierten. Großsprecherische Redeweise) und Rentier Beckendorf (ein vierschrötiger Koloß, überaus vergnügt und jovial dreinschauend). Die Vorigen.
Meißner (nachdem er seinen Hut mit großer Geste an den Haken gehängt und Norman begrüßt hat): Was seh' ich! Rosa! Rosa Belli! Die Braut von ganz Messina! Laß dich umarmen, soweit es möglich ist! (Thut es und küßt sie auf die Stirn.) Diesen Kuß der halben Welt! 82
Rosa: Du, solche Zweideutigkeiten verbitt' ich mir; ich bin fürs Eindeutige.
Meißner: Weiß ich ja, Püppchen, weiß ich ja. Erlaube, daß ich dir meinen Freund und Gönner vorstelle –
Beckendorf (der sich inzwischen mit Norman begrüßt hat): O, ich hatte bereits das Vergnügen.
Meißner: Ja, wer hätte das Vergnügen nicht schon gehabt! Was, Rosa? Du bist ein Mensch, und nichts Menschliches ist dir fremd.
Beckendorf: Wissen Sie noch, wie wir da hinten in der Rettmerschen Weinstube zusammen waren? Mit dem verrückten Maler? Wie er zuletzt mit Stuhlbeinen schmiß?
Rosa: Das soll ich nicht wissen! Das war die schönste Nacht meines Lebens!
Kellner (kommt mit dem bestellten Getränk).
Beckendorf: Das 's recht, Karl, bringen Sie was zu trinken.
Kellner: Bitt' schön. Was befehlen die Herrschaften.
Beckendorf: Na, Bier natürlich. Wat dachten Sie denn?
Meißner: Mir bringen Sie auch Bier. Aber genau 12 Grad! Haben Sie das erfaßt? Stellen Sie ein Thermometer hinein.
Kellner (schmunzelnd): Bitt' schön, Réaumur oder Celsius?
Meißner (fixiert ihn): Mensch, machen Sie keine Witze! Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie reden!
Kellner (ab. Die übrigen haben sich gesetzt).
Meißner (setzt sich ebenfalls): Wer ist denn eigentlich noch zu erwarten? 83
Norman: Na, also Wolf natürlich –
Beckendorf: Was ist denn das eigentlich für 'n Wundertier, dieser Wolf.
Meißner: Das ist ein Riese, verehrter Herr! Das ist ein ganz geni–aler Kerl! Das ist der Einzige, der meine Musik begriffen und der über meine Musik geschrieben hat. Ich lernte ihn in Berlin kennen: ein kolossal tiefer Kopf. Dabei ganz unmusikalisch! Er hat eben den genialen Instinkt für alles, was Neukultur ist. – Wer kommt denn sonst noch?
Norman: Ein Herr Erich Goßler, ebenfalls aus Berlin.
Meißner: Aha, kenn' ich auch. Ganz altmodischer Kerl, ganz rückständig. Er steht noch bei – (mit ironischem Pathos:) Wagner, bei dem großen Richard!
Norman und Rosa (lachen spöttisch).
Meißner: Was thut denn der hier?
Norman: Er ist befreundet mit Wolf, und nun sind die beiden hier zum Besuch bei dem Dr. Kröger, wissen Sie wohl, der den Scharlachbazillus entdeckt hat. Der Goßler ist nämlich wieder mit dem Dr. Kröger befreundet – Studiengenossen.
Meißner: So.
Norman: Ja. Ja: 'n ganz merkwürdiges Verhältnis! Wir begriffen eigentlich nicht, was der Goßler an diesem Provinzler fand. Der Goßler war doch – na – 'n ganz geistvoller Mensch – scharf wie Gift – er stieß alle zurück mit seiner scharfen Zunge – aber für diesen Kröger hatte er eine merkwürdige Schwäche. Und 84 dabei ist Ihnen der Kröger ein langwei–liger Mensch – scheußlich brav, wissen Sie – schwätzt auch klug über Schauspielkunst – Da kommt jemand!
Erich, Hermann und Egon. Die Vorigen.
Norman (Egon entgegeneilend): Ah, allerschönsten guten Abend, Herr Doktor! Wie geht es Ihnen denn? Ausgezeichnet, will ich hoffen.
Egon: Na, macht sich.
Norman: Nehmen Sie noch meinen allerwärmsten Dank für Ihren Brief und für die hohe Ehre Ihrer Einladung!
Meißner (der auch aufgestanden und inzwischen herangekommen ist): Grüß Gott, Wolf!
Egon: Tag, Meißner!
Meißner: Recht so, daß Sie mal etwas Herrengeist in dies große Rattennest bringen! Erlauben die Herrschaften, daß ich vorstelle: Dies also ist er, ist Egon Wolf, der Vater der modernen Kritik und der einzige ernst zu nehmende Dichter der Gegenwart – dies hier ist Frau Rosa Belli; sie schreibt Backfischgeschichten für Damenkalender, die gute Rosa; der Mammon will es; aber im Herzen ist sie mit uns! – Dies hier ist Herr Beckendorf; betrachten Sie sich diesen Mann genau, bitte; es ist der einzige Mäcen im großen Stil, den Deutschland aufzuweisen hat –
Beckendorf (mit jovialstem Lächeln): Er is verrückt, meine Herrschaften, er is verrückt.
Meißner (unbeirrt fortfahrend): Dies ist Theo Norman, der erste Darsteller, den Henrik Ibsens Dichtung in 85 Deutschland gefunden hat! Stellen Sie weiter vor, Norman! (Nachtragend mit anmaßender Schlichtheit.) Mein Name ist Meißner.
Norman: »Mein Name ist Meißner«. Das sagt er so schlicht hin in seiner Bescheidenheit. Und doch wird dieser Name dereinst den Namen Wagner erblassen machen, nein, auslöschen!
Meißner (milde zurechtweisend): Lieber Norman: das hoffen wir; aber so weit sind wir noch nicht.
Kellner (tritt ein und bringt das von Meißner und Beckendorf Bestellte).
Norman: Nein, lieber Meißner, das hoffen wir nicht, das wissen wir! – Aber erlauben Sie, meine Herrschaften: Herr Dr. Kröger, der berühmte Entdecker –
Hermann: Pardon, das ist 'n Onkel von mir.
Norman: – Hähä – Sehr scherzhaft – und hier Herr Erich Goßler, der –
Erich: Nichts, bitte.
Norman: Wie –?
Erich: Ich bin noch immer nichts.
Norman: Nun, so sagen wir – und das dürfte den Nagel auf den Kopf treffen: Herr Erich Goßler, der konsequente Nihilist!
Erich: Nicht mal das bin ich. (Alle haben jetzt Platz genommen, und zwar in folgender Ordnung:
Zwei Stühle bleiben unbesetzt.) 86
Norman: Nun, Herr Oberkellner, fragen Sie die Herrschaften nach ihren Befehlen, damit wir dann beginnen können.
Kellner: Bitt' schön, was befehlen die Herrschaften.
Hermann: Ein Bier bitte!
Egon: Bier.
Erich: Bringen Sie mir bitte einen Hennessy und einen Pony.
Kellner: Bitt' schön.
Hans. Die Vorigen.
Hans (tritt auf, hängt seinen Hut an den Haken): Guten Abend.
Hermann: Nanu, Hans? Was willst du denn hier?
Hans: Herr Wolf hat mich eingeladen.
Hermann: Nnna –! Denn man los! (Vorstellend:) Mein Bruder.
Die Übrigen (grüßen flüchtig).
Hans (nimmt auf dem Stuhl neben Rosa Platz): Wenn Sie erlauben –
Rosa (sehr liebenswürdig): Bitte!
Kellner: Auch Bier bitte?
Hans: Ja, Bier.
Kellner (ab).
Norman: Haben Sie nicht auch ein Stück vollendet, Herr Doktor?
Egon: Ja.
Norman (immer mit scheinbar größtem Interesse): Wo wird es aufgeführt?
Egon: Vorläufig ist es noch nirgends angenommen. 87
Norman: Ach! – Es ist doch gewiß sehr bedeutend.
Egon: Na, das ist doch gerade 'n Hinderungsgrund.
Norman: Ja – haha! – sehr geistvoll: »ein Hinderungsgrund«. Was ist es denn, Trauerspiel oder Lustspiel –
Egon: Ich nenne es »Eine Sache in 5 Akten«.
Rosa: Und was behandelt es?
Egon: Das tägliche Leben einer sechsköpfigen Familie; am Schlusse sollen alle wegen Sittenverbrechens verhaftet werden; sie entziehen sich aber der brutalen Gewalt, indem sie sich gegenseitig erschießen.
Beckendorf: Alle?
Egon: Na, der letzte erschießt sich natürlich selbst.
Rosa: Brillanter Stoff!
Norman: Teuerster Herr Doktor, das muß aufgeführt werden! Eine wirklich moderne Bühne –
Egon: Ja, wo haben wir denn die! Haben wir denn eine ernsthaft moderne Bühne? Ich habe schließlich an Ihren Direktor gedacht –
Norman: Mein Direktor?? Teuerster, ver–ehrtester Herr Doktor! (Sich vorsorglich umsehend:) Unser Herr Direktor hat für Kunst keine Verwendung.
Hans: Er spielt aber doch sehr oft was von Shakespeare.
Norman, Meißner, Rosa und Egon (brechen in ein Gelächter aus).
Kellner (bringt das Bestellte, geht ab und erscheint von Zeit zu Zeit wieder zur Bedienung). 88
Norman (Hans mit gekünstelter Ruhe auf die Schulter klopfend): Ja, junger Mann, Shakespeare spielt er genug. (Zu Egon:) Und wie spielt er ihn! Mensendieck als Romeo! Ausgerechnet: Mensendieck! Na ja, ist ja 'n sehr tüchtiger Mensch – für 'ne Bühne dritten, vierten Ranges! Er muß nur erst gehen und sprechen lernen. Und wissen Sie, was ich dafür gespielt habe? Den Bruder Lorenzo. Da – da haben Sie unsern ganzen Direktor. Ich denke, das genügt. Ah – schweigen wir davon!
Egon (hat ein schmutziges und zerknülltes Manuskript hervorgezogen): Ich lese also zuerst den Cyklus: »Seht meine Heimlichkeiten!« (Pause.)
Das Sofa ist leer – –
Nur ich sitze darauf – – –
An der Wand steht jene Frau,
die
ich
liebe – – –
Ich weine – –
O wenn ich wüßte, warum ich weine!
Aber das – ist – das – Dunkle
Und mein Blick fragt sie:
Weißt du, warum ich weine???
Sie schüttelt ihre toten Locken.
Wir schweigen – – – – – –
Norman (nach einer Pause, um etwas zu sagen): Großartig!
Beckendorf: Das reimt sich ja gar nicht.
Egon: Nee, Gott sei Dank nicht. Über den Reimblödsinn sind wir gottlob hinaus. 89
Beckendorf: Ja, aber erlauben Sie mal: solche Gedichte krieg' ich auch noch fertig.
Meißner: Lieber Beckendorf, seien Sie etwas weniger Naturbursche.
Norman: Das ist eben das Ei des Kolumbus, verehrter Herr! Nachher können es alle – oder meinen es zu können; aber erst muß mal einer den Mut gehabt haben!
Meißner: Weiter, weiter!
Egon (lesend):
Ein Tier schleicht heran –
Kam es durch die Wand??
Auf lautlosen Pfoten
Mit gekrümmtem Rücken
Seine Augen glitzern
So saugend
So – lutschend
Und es schwillt in mich hinein
Und wächst bis an die Sterne . . .
Und siehe: es kratzt an meiner Seele
Jetzt
Jetzt
Und frißt von meinem Gehirn . . .
Rosa (zusammenschaudernd): Hrchch!
Egon (fortfahrend):
Laß
mich
los!
Ich – er – sticke!!! – –
Ich erwache
Und ich sehe das Ungeheuer schleichen
Schleichen
Über die fernsten Dächer –
(Kleine Pause, während welcher Beckendorf, Meißner, Rosa, Hans und Norman mit erwartungsvoll-dummen Gesichtern auf Egon blicken.)
Egon (erklärend): Jetzt kommen zehn Reihen Gedankenstriche! (Pause. Dann fortfahrend:)
– – Welches Tier – – –? (Pause.)
Beckendorf (plötzlich und geräuschvoll kapierend): Ahaaa: das 'n Kater! Das versteh' ich! Das 's nett! Das sehr nett! Das 's mal so'n bischen was Lustiges! Prost! (Stößt an Egons Glas und trinkt.)
Hermann: Vermeiden Sie in Ihren Gedichten absichtlich jede Klarheit, Herr Wolf, oder ist das unabsichtlich?
Egon: Das ist natürlich unabsichtlich.
Hermann: Also naiv, wie alle wirkliche Dichtung.
Egon: Ja. Was tief ist, das kann eben nicht »klar« sein, und was »klar« ist, das kann nicht tief sein, das ist doch klar!
Hermann: Ja. Goethe ist eigentlich nicht tief.
Egon: Na, wo er »klar« ist, gewiß nicht. Oder finden Sie die sogenannte berühmte »Gretchen-Tragödie« vielleicht tief!
Hermann: Ja.
Meißner (breit-autoritativ): Die »Gretchen-Tragödie« ist eine ganz gewöhnliche Birch-Pfeifferei und nichts weiter. Gerührtes Appelmus. Goethe war einmal groß, in der »Stella«. Alles andre ist Geheimratsquatsch, behutsames Bourgeois-Gewäsch!
Hermann: Ich glaube, man kann auch milder darüber urteilen. 91
Meißner: Ah, mein Herr, Sie sind ein Diplomat! Sie werden uns »darthun«, daß man »Rechnung tragen muß«!
Hermann: Nein, ich meine nur, Goethe verstand es wunderbar, das Dunkle klar zu machen, Licht in die Tiefen zu bringen! Auch in die Gefühlstiefen! Solche Leute nenn' ich Dichter. Und die Schafsköpfe, denen er die Augen aufgethan hat, lohnen es ihm, indem sie schreien: Das ist ja nicht tief, das kann ja gar nicht tief sein; denn wir verstehen's ja. Und dann rühren sie mit einem Federkiel so lange in einem seichten Wässerlein herum, bis es trübe wird, und dann schreien sie: »Gott, wie tief! Man sieht nirgends einen Grund.«
Erich (gereizt): Ja, das ist alles der abgestandene Aufkläricht vom vorigen Jahrhundert, den du da vorträgst. Der selige Nicolai und seine Truppe! Darin hast du ganz recht: die moderne Kunst macht das Klare unklar; denn dem selbstsicheren und hochweisen Spießbürger muß gründlich die Meinung genommen werden, daß es überhaupt etwas »Klares« gebe.
Meißner, Rosa, Norman und Egon: Ja.
Erich: – Damit will ich natürlich nicht für Wolfs Gedichte eintreten.
Hermann: Prachtvoll, daß du mich mit Nicolai zusammenwirfst. Ich wüßte nicht, daß er sich für Goethe begeistert hätte.
Erich: Ach, das thust du ja auch nur aus Tradition. Lesen Sie weiter, Wolf. 92
Egon: Ja: das nächste Gedicht paßt grade sehr gut.
Heute drücken mich meine Stiefel.
Der Schmerz bohrt sich
Wie ein Korkziehr . . .
Ich schreibe »Korkziehr« natürlich ohne »e« vor dem »r«; »Zie–her« sagt ja kein Mensch!
Meißner und Norman: Mm!
Egon (fortfahrend):
Der Schmerz bohrt sich
Wie ein Korkziehr
In meine Zehe.
Warum muß ich gerade heute immer an jenes Weib denken,
Das mich so polypenfingerig umklammert hielt
Diese Nacht?
O Liebe! Liebe!!
Du bist das Unklare –
Und Gott ist das Unklare –
Darum bin ich Gott!
Ja – Gott bin ich!
In meiner Linken dampft der blaue Mond,
In meiner Rechten brüllt die Sonne –
Meines Donners Wolken hangen
Schwer herab auf meine Welt!
(schnell nacheinander):
Hans: Großartig!
Norman: Ge–waltig!
Rosa: Wundervoll!
Beckendorf: Das mit dem Weib is famos!
Meißner (ist aufgestanden, breitet die Arme aus, ekstatisch):
»In meiner Rechten brüllt die Sonne!«
93 Das ist groß! Das ist ganz groß! Das ist – erlauben Sie, meine Herrschaften! (Er eilt ans Klavier und vollführt jetzt eine unausgesetzt im forte fortissimo gehaltene und unaufhörlich in Dissonanzen wüthende Musik. Erich zuckt wiederholt nervös zusammen und schneidet ärgerliche Gesichter. Hermann hört mit gutmütig-leisem Lächeln zu.)
Norman (nachdem Meißner geendet): Gigantisch, einfach gigantisch! (Ist aufgesprungen und drückt Meißner die Hände.)
Rosa: Entzückend!
Hans (verfolgt Meißner mit großen, ehrfurchtsvollen Blicken).
Beckendorf (zu Egon höchst behaglich): Verrückter Kerl, was? Aber mir macht er Spaß! Ja: is wahr! Da sitzt Kraft drin, was?
Egon (reicht dem wieder auf seinen Platz getretenen Meißner die Hand): Schreiben Sie das nieder, dann lassen wir's zusammen drucken.
Rosa (im Tone eines Kompliments): Das erinnert so an den Hochzeitsmarsch aus dem Sommernachtstraum.
Meißner (furchtbar): Was thut es? Es »erinnert« –
Norman: Aber Rosa!
Meißner (einfach und ernst): Diese Person ist besoffen.
Norman: Ich begreife gar nicht, Rosa –
Rosa (keck): Na wieso denn? Mendelssohn war doch, mit Erlaubnis zu sagen, auch 'n Komponist!
Meißner (mit Donnerstimme): Ein Judenjunge war er! Also kein Komponist! (Exklusiv, zu allen:) Ich würde durch Wiederholung solcher Taktlosigkeiten gezwungen sein, diesen Raum zu verlassen.
Norman: Ich verstehe dich wirklich nicht, Rosa! Wenn unser Meißner ein Mendelssohn wäre, dann würde er dem Pöbel schon gefallen. Aber dieser Pöbel zieht es 94 einstweilen noch vor, den »Trompeter von Säkkingen« und den (mit besonderem Nachdruck) »Fidelio« zu beklatschen.
Meißner: Jaaaah, mein lieber Norman, wir sind halt keine organisierte Clique, wir haben keine Kapellmeister, die für uns reisen; wir verstehen uns nicht auf die gegenseitige Beweihräucherung!
Egon: Es fehlt eben an einer Zeitschrift, die die echte Neukunst gegen die modernen Tantiemenmänner mit Erfolg vertreten kann. Ich denke aber, daß sich so eine Zeitschrift zu stande bringen ließe. Meinen Sie das nicht auch, Herr Doktor? (Da Hermann, in Nachdenken versunken, nicht hört:) Herr Dr. Kröger!
Hermann (aufschreckend): Wie? – Ach so: Ja ja, gewiß!
Egon (angelegentlich, mit gedämpfter Stimme zu Beckendorf, während Norman den Meißner in ein leises Gespräch zieht und Hans sich lebhaft gestikulierend, aber gedämpften Tones mit Rosa unterhält): Das wäre z. B. eine Sache, Herr Beckendorf, die ein genialer Kunstfreund –
Beckendorf (vergnügt): Sie meinen, ich soll Geld dazu hergeben. Ne, wissen Sie: ich hab' an diesem verrückten Huhn hier (auf Meißner deutend) schon genug. Der hat schon manchen Groschen vertont, das können Se glauben. Na ja, mich drückt's ja nicht; wir haben uns nu mal kennen gelernt und ich mag ihn gern leiden – aber so'ne Blätter, wissen Sie – die liest ja doch kein Mensch.
Hans (ist aufgestanden, laut, etwas beschwipst, zu Rosa): Das sage ich auch: Das treue deutsche Weib, es lebe!
Die Übrigen ohne Hermann und Erich (stimmen ironisch in das Hoch ein). 95
Hermann (pressiert): Ich gehe jetzt, Hans; ich denke, du kommst mit, was? Es wird Zeit für dich. (Da Hans ihn staunend ansieht.) Jaja, 's ist wahr.
Hans: Wahr? »Nichts ist wahr; alles ist erlaubt!« sagt Nietzsche. Das heißt, eigentlich sagten das die Meuchelmörder, die – die (Man amüsiert sich über Hans.)
Hermann: Die Assassinen, ja. Aber über die können wir uns ja morgen unterhalten. Du kommst jetzt mit, nicht wahr?
Hans: Mensch, du bist ja 'n Philister! Du hast ja keine Ahnung vom Übermenschen! (Gelächter.)
Hermann (ebenfalls lächelnd, leise zu Erich): Bleibst du noch?
Erich: Ja.
Hermann: Du hast wohl 'n Auge auf ihn, was?
Erich: Ja, ja!
Hermann: Guten Abend, meine Herrschaften!
Die Übrigen (lässig): 'n Abend.
Die Vorigen ohne Hermann.
Schnell nacheinander:
Rosa (nach einem kurzen allgemeinen Stillschweigen zu Hans): Ihr Herr Bruder fühlt sich hier wohl nicht behaglich.
Meißner: Das scheint so.
Norman (etwas ironisch): Nun, wie ich Ihnen bereits sagte, dieser Herr paßt eben in eine ganz andere Gesellschaft.
Erich (scharf und bestimmt): Ich möchte nicht, daß von meinem Freunde anders gesprochen würde, als mit unbeschränkter Hochachtung. 96
Beckendorf: Der junge Mann, der da eben weggegangen is? Das lassen Sie man schießen: das 'n Gediegener!
Die Übrigen ohne Hans und Erich (lachen).
Beckendorf: Auf den Mann kann man sich verlassen, da machen Sie mir nichts vor, das kenn' ich. Das ist so'n Mann, den kann man im Geschäft brauchen! Der sagt: ein Mann ein Wort!
Hans (springt auf und schlägt auf den Tisch): Ja, das sagt er auch. (Dem Weinen nahe.) Mein Bruder ist der beste Kerl von der Welt. Und wenn hier einer was gegen meinen Bruder sagt – (Allgemeines Halloh, »Hoch«- und »Hurra«-Rufen.)
Beckendorf (hat sich ihm genähert und ihn in den Arm genommen): Das 's recht, junger Mann, hau'n Sie man auf'n Tisch; wir amüsieren uns doch noch! Also ich schlage vor, meine Herrschaften, wir sind alle davon überzeugt, daß unser Herr Wolf 'n großer Dichter ist. Er hat uns Sachen vorgetragen, Sachen –? die uns furchtbar ergriffen haben. Ich muß wenigstens sagen: mehr davon könnte ich heute gar nicht vertragen. Und da schlage ich also vor – das Bier taugt hier so wie so nicht viel – wir gehen alle ins Café Hungaria zu der »wilden Anna« (alle außer Egon und Erich stimmen stürmisch zu), da giebt's 'n ausgezeichneten Grog! (Zu Hans.) Passen Sie auf, junger Mann, mir amüsieren uns doch noch! Kellner! Kommen Sie mal her! Also: alles, was hier verzehrt ist, das bezahl' ich. (Giebt dem Kellner ein Geldstück. Die Übrigen außer Erich und Hans rüsten sich zum Abgehen.) Erich (giebt dem Kellner ebenfalls ein Geldstück). 97
Beckendorf: Alles, was verzehrt ist, bezahl' ich. Geben Sie dem Mann sein Geld wieder.
Erich: Nein bitte, ich möchte –
Beckendorf: Ich bezahl' alles.
Erich (zum Kellner): Betrachten Sie 's als Trinkgeld. (Geht ab.)
Kellner (macht eine tiefe Verbeugung): Dank' schön, danke sehr.
Beckendorf (empfängt das herausgegebene Geld und giebt Trinkgeld).
Kellner (wie oben): Dank' schön, danke sehr, dank' schön.
Hans: Sagten Sie nicht, daß wir in ein Café wollten?
Beckendorf: Ja natürlich.
Hans: Da giebt es doch auch Absinth, nicht?
Beckendorf: Absinth? – Ach so, das 's so 'n grüner Schnaps! Ja, den giebt's.
Hans: Den muß ich mal trinken. Ich hab' noch nie in meinem Leben Absinth getrunken.
Beckendorf: Junger Mann! Dann wird's ja die allerhöchste Zeit! Kommen Sie flink! (Beide schnell ab.)
Das Zimmer des 2. Aufzugs. Später Abend. Der Mond scheint herein. Hermann allein. Dann Erich.
Hermann (geht in lebhafter Bewegung auf und ab. Am Fenster, ganz vom Monde beschienen, bleibt er einen Augenblick stehen, immer den Kopf grüblerisch gesenkt, dann beginnt er von neuem, auf und ab zu schreiten. Bleibt 98 dann am Klavier stehen, setzt sich plötzlich daran und spielt, der Nachtzeit wegen mit verhaltener Kraft, die Takte 1–8 des Presto agitato aus Beethovens Mondschein-Sonate. Dann springt er auf und macht wieder ein paar Schritte).
Erich (tritt leise auf): Du bist noch wach?
Hermann: Ja. (Schnell:) Wo ist Hans? Kommt er nicht mit?
Erich: Ich hab' ihn verloren. Er blieb in der Jansenstraße mit Wolf und mit dem Meißner, glaub ich, zurück, und da haben wir sie aus dem Gesicht verloren. Schienen auch noch gar keine Lust nach Hause zu haben.
Hermann (beunruhigt): Hm, das ist sehr dumm. Der Bengel ist doch noch zu jung – du hattest mir doch versprochen, auf ihn zu achten.
Erich: Ich kann ihn doch nicht am Ärmel festhalten. Du hättest ja bleiben können, was hattest du fortzulaufen.
Hermann: Was ich fortzulaufen hatte? Das will ich dir sagen. Ich hatte mit einem Male einen Einfall. Ich sah einen Weg, ganz breit und hell sah ich den Weg, auf dem meine Arbeit weitergehen muß – ich kann dir das nicht so sagen, du verstehst das nicht, das läßt sich überhaupt noch gar nicht sagen, das ist ganz vage, weißt du, und doch sicher, ganz sicher – da hielt ich's in der Gesellschaft nicht mehr aus; ich mußte hinaus, hinaus, hinaus!
Erich: Du bläst also zurück zum Stumpfsinn.
Hermann: Nein, zur Arbeit.
Erich: Also zum Stumpfsinn.
Hermann (leidenschaftlich): Nein zur Arbeit, Goßler! – (Ruhiger:) Ich habe dir schon lange etwas verheimlicht, Goßler. – Das will ich dir jetzt gestehen. Mich quält 99 eine Angst, Goßler, ich möchte es – Lebensangst nennen. In diesem letzten halben Jahr, das ich mit Nichtsthun verbracht habe, ist sie immer furchtbarer angeschwollen. Das Leben, das ich nicht lebe, wächst mir zu furchtbaren Massen an und drückt auf die Brust wie ein ungeheurer Alp. Mir ist, als müßt' ich um Hilfe schreien, wie ein Ertrinkender, wie ein ganz Verlassener! (Schnell und eifrig:) Sieh, das ist so: Ringsherum ist Leben und Streben – und ich stehe still. Endlose Ströme der Kraft brausen an meinen Ohren vorüber – und ich bleibe unrettbar zurück. Das ist grauenvolle, wahnsinnige Einsamkeit. Ich stehe plötzlich allein im endlosen Weltraum und von den Millionen Millionen Wesen fragt nicht eines mehr nach mir, weiß nicht eines mehr von mir –
Erich (lacht höhnisch auf).
Hermann (packt ihn bei den Schultern und schüttelt ihn): Mensch, lache nicht, es ist mir so ernst (indem er Erich mit gewaltsam hervorbrechendem Schluchzen um den Hals fällt): es ist mir so furchtbar ernst!
Erich (steht regungslos da; nur die Gesichtszüge verraten tiefe Erregung; er beißt die Lippen, um das Zucken des Mundes zu beherrschen).
Hermann (nachdem er sich gesammelt, ruhig): Entschuldige – diese – Explosion; sie kam mir selbst unvermutet. – Sieh mal – und seitdem mein Problem sich wieder rührt da drinnen – bricht eben (die Fäuste ballend) eine wilde Arbeitsfreude aus allen Poren – ich hätte ja nächstens ein Beil genommen und die Wände eingehauen, (lächelnd) wenn sich nicht glücklicherweise eine bessere Arbeit gefunden hätte.
Erich (stützt die rechte Hand auf den Tisch links und verharrt schweigend). 100
Hermann: Na, und siehst du –: in solcher Stimmung – da konnt' ich's in der Gesellschaft nicht aushalten.
Erich (kurz und hart): Wieso, was denn!
Hermann: Na Goßler!! – Meinetwegen: wenn jemand eine ganze, ehrliche Leistung auf 'n Tisch gelegt hat und er glaubt dann, Shakespeare den Bart zupfen zu müssen – meinetwegen! Wenn einer frech wird gegen Beethoven aus echtem Kraftgefühl und – vor allen Dingen – um der Sache willen, weil er an eine andere Musik glaubt – gut, mag er's thun, obwohl ich im Punkte Beethoven verflucht empfindlich bin. (Erregt.) Aber frech werden nur aus Frechheit, weil man nur noch an eine Person glaubt, an die eigene nämlich, das ist ekelhaft – (da Erich eine heftige Bewegung macht) ja, das ist ekelhaft. Sich als Zaunkönig vom Adler emportragen lassen und dann sich über ihn erheben – nicht der Höhe wegen, nein, bloß um König zu sein – das ist widerwärtig, das erniedrigt sogar noch den Zaunkönig, das ist wanzenhaft.
Erich (mit starrer Kälte): Und du glaubst, dein sogenanntes »Streben« wäre etwas Besseres?
Hermann (erstaunt): – – Goßler –! (Er geht mehrere Male schnell auf und ab, indem er Erich wiederholt ansieht. Dann ganz ruhig:) Ich will dir sagen, wie mir meine Motive erscheinen. Ich hab' oft genug darüber nachgedacht, gerade darüber! Ich werde wahrhaftig nicht behaupten, daß ich auf Bazillen Jagd machte aus reiner Menschenliebe und um des »Fortschritts der Menschheit« willen. Solche Dunstwolken und Selbstbenebelungen, mit denen mein famoses Gymnasium mich umwickelt hatte, hast du mir weggeblasen, das danke ich dir von Herzen. 101
Erich (ironisch): Bitte bitte!
Hermann: Ich will zunächst leben, das heißt: meine Kräfte brauchen. Das ist menschlich. Und neugierig bin ich – das ist ebenso stark. Stell mir 'n Topf auf 'n Tisch mit allem Unheil der Welt darin – ich nehme den Deckel ab, das ist auch menschlich, das thust du auch.
Erich (fest): Nein.
Hermann: Aber ich thu's. – Und du thust es auch! – Wenn man dann etwas geleistet hat, oder nahe darin ist, was zu leisten: dann ist der Gedanke an das Berühmtsein auch gut. Allerdings: wenn man erst sieht, daß die Dummen einen auch »berühmt« finden, dann bekommt man eine Ahnung davon, daß man später 'mal dankend auf den Ruhm verzichtet. (Begeistert:) Aber wenn man so ganze Lazarette voll Qual und Jammer gesehen hat und man sagt sich dann, du hast diese gräßlichen Leiden vermindert, du hast Eltern, denen das Herz flog vor wilder Angst, ihr Kind gerettet – Mensch, das ist ein Gefühl – – wie Milch und Wein!! – feurig und weich! Das ist, wie man's im Traum zuweilen hat: man fliegt und fliegt immer höher und weint immerfort dabei vor lauter Glück. Und siehst du, daß ein Mensch so grenzenlos glücklich darüber sein kann, wenn er andern geholfen hat: das find' ich göttlich!
Erich (giftig): Ja, man kommt sich dann ja sehr wichtig vor. Und diese Chokoladentorte ist dann kein egoistisches Motiv!
Hermann: Nein! Denn das ist nicht der erste Antrieb. Das kommt erst, wenn man Land und Licht sieht. Aus Menschenliebe entdeckt man noch nicht mal 'n 102 Zahngeschwür, geschweige denn 'n Bazillus. Und sieh mal: das ist überhaupt meine Meinung: ein starker Mensch braucht den Glücksegoismus gar nicht. Wer den Glücksegoismus nicht nötig hat – wer auf Bezahlung verzichten kann – das ist 'n Herrenmensch. Er folgt seinen Kulturtrieben – und dann fällt das Glück ab als Nebenprodukt.
Erich: Ei!!
Hermann: Und wenn nichts abfällt – Mensch, Goßler, das ist ja das Glück, das Gefühl: jetzt bist du im richtigen Fluß, jetzt hast du die Richtung heraus, jetzt schwimmst du mitten im großen Entwicklungsstrom, jetzt vorwärts, vorwärts, vorwärts, vorwärts – jetzt bist du schuldlos – der Weg ist frei! (Indem er Erich auf die Schulter schlägt:) Siehst du, das –
Erich (bebend vor Heftigkeit): Laß mich!!
Hermann: Was – – was hast du?
Erich: Ich habe dies idiotische Geschwätz nun satt, das hab ich.
Hermann (starrt ihn sprachlos an).
Erich (mit häßlich hervorbrechender Wut): Und ich sehe, daß du ein eitler Narr und heilloser Dummkopf bist, ebenso dumm wie deine spaßhafte kleine Entdeckung, und daß die Gesellschaft von heute abend, von der du so überlegen sprichst, noch himmelhoch über dir steht und –
Hermann (mit starker Stimme): Halt!!
Erich (verstummt sofort, von der gebieterischen Kraft der Stimme betroffen).
Hermann: Du hast mich heute abend schon in Gegenwart jener Gesellschaft angefahren. Ich habe dir manches harte Wort zu gute gehalten, Goßler – aber – ich 103 erkenne allmählich – die Absicht, mich zu demütigen. Das hat hiermit ein Ende, Goßler; ich verbiete dir das!
Erich: Du – verbietest mir etwas? Was für eine Sprache erlaubst du dir?
Hermann (erstaunt): – Was für eine Sprache ich mir erlaube?
Erich: Diese Sprache kommt hier nur einem zu, und das bin ich. Ich pflege keine Befehle zu acceptieren von Leuten, die ich dutzendweise verbrauche, wenn es mir gefällt.
Hermann (in höchstem Erstaunen): Goßler!! (Dann nahe vor ihm, Auge in Auge:) Goßler, du erstickst ja vor Neid!
Erich (heftig und gezwungen auflachend): Du – bist – wahnsinnig –
Hermann: Du erstickst vor Neid! Weißt du, was ich sagen möchte? – »Hebe dich weg von mir, Satan!«
Erich (würgend): Schweig oder – (erhebt die Hand, um Hermann an der Brust zu packen).
Hermann: Was?? (hat sofort die Hand gepackt und hält sie umklammert, leidenschaftlich drohend) Du – du?! (Läßt Erichs Hand plötzlich los, schmerzlich:) Goßler! – Ich konnte nicht los von dir, weil ich dich für größer hielt, als mich. Jetzt glaub' ich fast, daß du kleiner bist.
Erich (gezwungen lachend): Glaube das, es wird dich glücklich machen. Verrückte soll man in ihrem Glauben lassen – und ihre Nähe meiden. (Ist nach rechts an seine Thür gegangen.)
Hermann (wehmütig und halb verächtlich): Schilt nur – ich sage nichts mehr.
Erich (schnell ab in heftiger Erregung). 104
Hermann (steht einen Augenblick regungslos. Blickt dann wie erwachend um sich, seufzt tief und macht eine Bewegung, als ob er eine lange getragene Last von sich würfe. Macht ein paar Schritte auf die Thür von seinem Schlafzimmer zu, schlägt sich vor den Kopf und sagt): Hans! – Wo bleibt der Bengel! (Er nimmt seinen Hut, setzt ihn auf und will durch die Thür hinten links abgehen. Man hört Gepolter von der Treppe her.) Na? Ist er das? (Bleibt horchend stehn.)
Egon (stolpert bleich und schlotternd herein).
Hermann: Sie, Herr Wolf? Wo ist mein Bruder?
Egon: Er – ist – verwundet –
Hermann: Verwundet?
Egon: Ja – gestochen – an der Schulter –
Hermann (Egon anfassend): Ist er tot?
Egon: Nein, nein – aber – es blutet so stark – wir waren am Hafen – in einer Wirtschaft –
Hermann (in größter Erregung, aber doch immer klar und fest): Wo ist er?
Egon: Ich glaube, sie bringen ihn – ich bin nur vorausgelaufen.
Hermann: Machen Sie hier Licht! Und dann eilen Sie sofort zum Dr. Bröcker, links hinunter, das dritte Haus um die Ecke, Bergstraße, bitten Sie ihn von mir – (Luft schöpfend): er möchte sofort kommen. Sagen Sie ihm, was vorgefallen. (Stürzt fort, kommt aber sogleich wieder:) Machen Sie kein Geräusch – damit meine Eltern nicht erwachen. (Ab.) 105
Egon allein.
Egon (nimmt mit zitternden Händen eine Lampe von der Kommode, stellt sie auf den Tisch links, zündet sie an und geht schnell und geräuschlos ab. Die Bühne bleibt einen Augenblick leer).
Hermann, Claußen, Harms, ein Schutzmann.
(Die Thür hinten links wird weit geöffnet. Man hört im Flüstertone sprechen. Hermann erscheint.)
Hermann (zurücksprechend): Langsam – langsam – und ganz still halten bitte – ganz ruhig – so – hier bitte.
Claußen, Hafenarbeiter, und Harms, junger Kaufmann (treten auf. Sie tragen Hans behutsam herein).
Ein Schutzmann (folgt).
Hermann: Hier, bitte. (Er geht voran nach seinem und Hansens Schlafzimmer und öffnet die Thür:) So. Unten etwas höher halten, bitte. Ich werde Licht machen. (Verschwindet. Die Träger folgen langsam.)
Schutzmann (ist zurückgeblieben, zieht sein Notizbuch heraus, tritt in den Bereich der Lampe und blättert in dem Buch).
Claußen und Harms (kommen zurück. Alles von jetzt ab Gesprochene mit halber Stimme, bezw. geflüstert, keinesfalls laut).
Claußen: Junge, Junge, was 'n Blut! Ich hab' noch nie 'n Menschen so bluten sehn.
Harms: Ja, der Verband von dem Heildiener hat nichts genützt; es dringt immer wieder durch.
Claußen: Ja. 106
Schutzmann: Darf ich die Herren um ihren Namen bitten.
Harms: Ja, ich bin nur darüber zugekommen. Als ich vorbeikam, war die Geschichte schon passiert.
Schutzmann: Na, es ist doch gut, wenn ich Ihren Namen habe. Sie können doch vielleicht eine Aussage machen.
Harms: Na also: Adolf Harms. (Pause.) Turmstraße 84
Schutzmann: Ihr Beruf, bitte?
Harms: Kaufmann.
Claußen: Claußen.
Schutzmann: Vorname?
Claußen: Theedje.
Schutzmann: Also Theodor. Was sind Sie?
Claußen: Schauermann.
Schutzmann: Adresse?
Claußen: Katentwiete 5, 2. Treppe links.
Schutzmann: Wie ist denn die Geschichte eigentlich gekommen?
Claußen: Ach, der Matrose – ich kenn' den Musche Blix all, das is 'n Engelsmann, der hat immer gleich das Messer 'raus – der hatte also Krach mit 'n Frauenzimmer. Das Frauenzimmer wollte ja woll nix von ihm wissen, da nimmt er die Faust un haut ihr direck ins Gesich. Na, darüber wurde der junge Mann hier (nach dem Zimmer, wo Hans liegt, deutend) wütend un stellte sich so hin, daß der Matrose das Frauenzimmer nich mehr hauen konnte – na, da wurde der Engelsmann schließlich so wütig, daß er sein Messer 'rauskriegte un zustach. 107
Schutzmann: Ach, die Herren sind wohl so freundlich und kommen eben mit auf die Wache, da können wir dann gleich 'n kleines Protokoll aufnehmen – hier geht es doch wohl nicht gut – es sind nur 'n paar Schritt.
Harms: Ja.
Claußen: Jawoll.
Schutzmann: Der Verwundete ist ja doch nicht vernehmungsfähig.
Harms und Claußen: Nee!
Claußen: Da war übrigens noch so'n kleiner Herr bei dem jungen Mann, so'n kleiner Kerl mit'n Dalles-Mantel un mit so'n ganz lange Haare. Der war aber mit'n Mal verschwunden; der 's ja woll bange geworden. (Schnell.) Da kommt er!
Dr. Bröcker. Egon. Die Vorigen.
Dr. Bröcker (hoher Fünfziger. Grau. Gemütliches, drastisches Wesen. Spricht ab und zu mit Vorliebe Platt): Wo ist denn der Kranke?
Egon (weist ihn nach der betr. Thür): Hier, bitte.
Dr. Bröcker (legt Hut und Stock und Überzieher aufs Sofa und geht hinein).
Egon (drückt sich schleunigst nach seiner Thür hin, um zu verschwinden).
Schutzmann. Entschuldigen Sie, Sie sind auch wohl zugegen gewesen –?
Egon: Ich? Nein. Nein – ich –
Claußen: Wat? Sie sind doch mit den jungen Mann gekommen un hab'n doch allens mit angesehn?! 108
Egon: Ja, das wohl, ich –
Schutzmann: Ach, vielleicht kommen Sie auch eben mit auf die Wache, daß wir'n Protokoll aufnehmen.
Egon: Wenn es anginge, bliebe ich lieber hier.
Schutzmann: Na – Sie können ja auch später vernommen werden. Dann darf ich um Ihren Namen bitten.
Egon: Egon Wolf.
Schutzmann: Welches Geschäft, bitte?
Egon: Schriftsteller.
Schutzmann; Und Sie wohnen hier. Danke. – (Zu den andern beiden.) Ja, meine Herren, wenn Sie dann so freundlich sein wollen –
Schutzmann, Claußen und Harms: Guten Abend. (Alle drei ab.)
Egon (schlüpft schnell hinein).
Dr. Bröcker. Hermann.
Dr. Bröcker: Na, ging ja alles ganz famos. Haben Sie sehr geschickt gemacht, Herr Kollege. Waren Sie bei Bergmann?
Hermann: Ja.
Dr. Bröcker: Hm. Subclavia unterbinden – schwierige Sache. Übrigens lag die Sache noch günstig; hätte der Kerl 'n bißchen höher getroffen, dann wär's Ihnen schwerlich geglückt. – Glück muß überhaupt dabei sein. Hab 'mal selbst so 'n armen Kerl verbluten lassen müssen. 109
Hermann: So.
Dr. Bröcker (indem er seinen Überzieher nimmt): Ja, im Feldzug. 'n Leutnant, 'n ganz blutjunger Kerl! Das Blut schoß den Ärzten fingerdick ins Gesicht. Als er mich kommen sah, lächelte er und sagte: »Aah, jetzt kommt mein Retter! – (Achselzuckend:) Kunn em ober nich helpen. – Nicht möglich, die Ader zu fassen. Geschichte saß zu hoch. (Für sich.) Swiinkrom!
Hermann: Sie meinen also auch, daß wir keine ernsten Befürchtungen –
Dr. Bröcker: I bewahre!
Hermann: Er hat ziemlich viel Blut verloren.
Dr. Bröcker: Mm, es geht noch. Puls ist ja noch ganz gut fühlbar –
Erich. Die Vorigen.
Erich (kommt schnell herein. Er ist noch ganz im Anzug wie vorher. Bleich, mit verhaltener Erregung, versucht seinen Reden eine kalte Festigkeit zu geben): Ich höre soeben von Wolf, was passiert ist. Kann ich dir irgendwie behilflich sein?
Hermann (fest): Nein. (Geht auf den Zehen an die Thür, öffnet sie, sieht nach dem Kranken und kehrt zurück.)
Erich: Ist Gefahr vorhanden?
Dr. Bröcker: Jetzt nicht mehr.
Erich: Ich danke Ihnen. (Sich vorstellend.) Goßler.
Dr. Bröcker: Bröcker.
Erich (zu Bröcker): Ist es nicht wünschenswert, daß sich jemand zur Verfügung hält – für den Notfall – 110
Dr. Bröcker: Djo, – wenn Sie aufbleiben wollen – schaden kann's ja nicht – aber nötig wird's kaum sein.
Erich (zu Hermann): Ich gehe natürlich nicht zu Bett und halte mich zu deiner Verfügung.
Hermann: Danke.
Erich (verbeugt sich vor Bröcker und geht ab).
Hermann. Bröcker. Gleich darauf Mutter Kröger.
Dr. Bröcker (hat Hut und Stock genommen): Na also denn gu'n Nach! Nachher können Sie noch 'ne Kochsalzeinspritzung machen – na, das wissen Sie ja selbst.
Mutter Kröger (kommt leise herein).
Dr. Bröcker: Na? na? na? – Wat kriegt wi nu?!
Mutter Kröger: Sie, Herr Medizinalrat? Hier ist was passiert! Ich hör' ja immerzu Leute auf der Treppe! (Plötzlich:) Hermann! Da ist doch nichts mit Hans passiert?
Hermann: Sst! Ja, Mutter, es ist 'n kleines Unglück passiert –
Dr. Bröcker: Aber man 'n ganz lüttjes. Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen, Frau Kröger. Kommen Sie, setzen S' sich man da hin. So. (Drückt sie ins Sofa.) Ihr Junge hat sich etwas verletzt – nur an der Schulter – und das hat 'n bißchen stark geblutet. Ist aber gar nicht gefährlich.
Hermann (hat inzwischen wieder nach dem Kranken gesehen).
Mutter Kröger: Wenn das nur wahr ist, Herr Medizinalrat.
Dr. Bröcker: Na aber – kieken Se mi mol an, 111 Fru Kröger, verstoh ick min Geschäff, oder bin ick 'n Döskopp?
Mutter Kröger: Oh, Herr Medizinalrat –
Dr. Bröcker: Se meenen: 'n bitten dumm is jeeder –?
Mutter Kröger: Herr Medizinalrat, Sie machen Spaß.
Dr. Bröcker: Na seh'n Sie, daraus können Sie schließen, daß nichts zu befürchten ist. Sonst mach ich keinen Spaß. Die Sache war gefährlich – dormit Se seeh'n, dat ick Ihnen nix vorleegen dooh! – ober Ihr Söhn hett dat all fein wedder in Ordnung brocht. Dat ward mol 'n richtig'n Dokter, Ihr Jung dor (auf Hermann zeigend); opp denn bild'n Se sick man fix wat in!
Mutter Kröger (lächelnd): Vielen Dank, Herr Medizinalrat.
Dr. Bröcker: Und nun gehn Sie hinunter und legen sich ins Bett!
Mutter Kröger: Aber, Herr Medizinalrat, wie können Sie nur denken, daß ich 'n Auge zuthun könnte!
Dr. Bröcker: Hm. Ja: dor hem'm Se nu werrer rech. Kann ick mi ook ni denken. Na – denn nich. Adjüs. (Da Mutter Kröger mitgehen will.) Bliben Se sitten! Bliben Se sitten! Ick weet bescheed. (Ab.)
Mutter Kröger. Hermann.
Mutter Kröger (die ihm doch gefolgt ist, zurückkommend): Hermann – wie kommt der Junge dazu?
Hermann: Das weiß ich eigentlich selbst nicht. Irgend ein Versehen jedenfalls – 112
Mutter Kröger: Bist du denn auch unbesorgt?
Hermann: Ja. Ich will jetzt wieder zu ihm.
Mutter Kröger: Ich kann doch mit drinnen sein, nicht?
Hermann: Ja, Muttchen. (Sie gehen dem Krankenzimmer zu.)
Mutter Kröger: Der Medizinalrat ist ja ganz vergnügt.
Hermann (bleibt plötzlich stehen): Ja, Muttchen; (sich überstürzend) und weißt du, wer auch vergnügt ist? Ich. Und weißt du, was ich möchte? Hier an Hansens Bett Hurrah schrei'n möcht' ich –
Mutter Kröger: Junge! Warum denn?
Hermann: Weil ich was gethan hab', Mutter, weil ich was gekonnt hab', weil ich unsern Hans gerettet hab', Muttchen, Muttchen –
Mutter Kröger: Mein Junge! Und nun bleibst du ja natürlich bei uns!
Hermann: Vorläufig ja. Und wenn ich auch wieder weggehe – ich – (langsam, sinnend) ich gehe nicht wieder zu Goßler.
Mutter Kröger (hastig): Nein?? Habt ihr euch erzürnt?
Hermann (wie oben): Erzürnt? Nein. Ich – ich bin jetzt – von ihm los. – – Komm! (Beide ab, während rasch der Vorhang fällt.)