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Was ich überhaupt bei beiden Herren noch gänzlich vermisse, das ist Würde. Und dies nicht nur bei dem Jungen, sondern fast mehr noch bei dem Alten, nicht nur bei Rollerolle-Telemach, sondern sogar bei Heidéde-Mentor. Dieser Ludimagister berauscht sich seit einiger Zeit täglich, ja, er holt sich mehrere Räusche an einem Tage! Er läuft so lange um seinen Stuhl herum, bis ihm wirblig wird und er mit Lachen zu Boden fällt. Man muß ja zugeben: es ist ein Rausch, wie er in diesen Zeiten so billig sonst nicht zu haben ist; aber ein Laster bleibt es doch, was man schon daran sehen kann, daß Heidéde, wenn er kaum wieder auf den Beinen stehen kann, den Rundlauf von neuem beginnt. Natürlich konnt' es nicht ausbleiben, daß er eines Tages mit dem Kopfe gegen den Stuhl fiel und brüllte. Brüllend raffte er sich auf, und noch brüllend umkreiste er von neuem den Stuhl. Da mußte ich laut herauslachen. Er hielt inne, sah mich an und lachte ebenfalls, fand aber dann, daß Lachen seinen augenblicklichen Empfindungen doch nicht angemessen sei, und brüllte wieder. Nun gab ich ihm zum Trost seine Mundharmonika. Er führte sie sofort zum Munde und blies mehrere schöne Akkorde. Dann kam ihm wieder der ganze Ernst seiner Lage zum Bewußtsein, und er brüllte wieder. Dann fiel sein Blick wieder auf die tröstende Zauberflöte, und er blies ein etwas längeres Stück, und dann fiel ihm ein, daß er ja ganz das Brüllen vergessen habe, und er brüllte wieder. Es war zum Bersten komisch; aber würdevoll war es nicht!
Rollerolles leichterer Natur liegen Würdelosigkeiten natürlich noch näher. Heidédes Trösterin ist doch wenigstens die Musik; was aber soll man dazu sagen, wenn Rollerolle mitten in der lautesten, leidenschaftlichsten Klage an das Schicksal nach einem Löffelvoll Apfelreis auf seinen Bauch klopft und »Mmmm?« sagt? Solch ein Mangel an Würde kann auch dadurch nicht ausgeglichen werden, daß Heidéde sich regelmäßig rasieren läßt. Wenn ich mich rasiere, steht er dabei, und ich muß ihm Seifenschaum auf beide Backen und unters Kinn streichen – sollte ich das Kinn vergessen, so erinnert er daran –, muß mit irgendeiner Stelle des Rasierapparates darüber hinfahren, ihn danach abtrocknen und pudern. Dann erst fühlt er sich Mann.
Auch verträgt sich Eitelkeit nicht wohl mit Würde, und Heidéde ist eitel, will sagen: auf sein Äußeres, und das ist an sich ein erträglicher Fehler. Ein Mädel, das nicht eitel ist, ist fast immer eine Schlumpe, und bei Jungens ist ein gewisser Grad von Eitelkeit ein schätzbares Gegengewicht in der später unweigerlich eintretenden Lehm- und Schlammperiode. Ob Heidéde die Eitelkeit angeflogen ist, oder ob er sie mitgebracht hat? Wenn er sich gegen das Umziehen sträubte, ist ihm wohl einmal ein Gewand als besonders fein und schön angepriesen worden; vielleicht ist er darin auch hin und wieder unvorsichtig bewundert worden; aber das meiste hat doch, glaub ich, Mutter Natur getan. Sie hat ihm, scheint mir, das Talent jener Leute mitgegeben, die in einem sieben Jahr getragenen Anzuge noch vornehm aussehen; er hat Haltung und hält auf sich, und von seinen Lippen klingt das Wort »appetitlich« auch deshalb so anmutig, weil er gleichzeitig so aussieht. Meistens wenigstens, meistens! Zweifellos ist ein großer Ordnungssinn mit ihm geboren; wenn ich nach Hause komme, zeigt er mir sofort, wo ich Rock und Hut aufzuhängen, wo ich meinen Stock hinzustellen habe, und bei Tische weist er jedem genau seinen Platz an.
In einem Augenblick der Eitelkeit hat er aber auch wieder Zeugnis von innerer Entwicklung abgelegt. Er strich bewundernd über den prachtvoll roten Saum seines Kittelchens, rief »Ei??! Ei??!« und zeigte dann auf Rollerolles roten Gürtel und rief »Bäbi!« Rot und rot gesellte sich in seinem Kopfe, und das Farbenspiel der Welt kommt ihm zum Bewußtsein. Empfunden und wahrgenommen hat er die Farben vermutlich schon früher; aber hier war zum ersten Mal der Begriff einer Farbe bezeugt. Und wie voreilig wär' es nun doch wieder, daraus auf gründliche Kenntnisse in der Optik zu schließen! Als an einem dieser dunklen Winternachmittage seine Tante Irene nach Hause kam und ins Zimmer trat, drehte sie das Licht an. Heidéde nahm davon Vermerk. Als sie aber nächsten Tages zwei Stunden früher, am hellichten Tage hereintrat, rief er sofort: »Tatte – Licht!« Es ist ihm noch nicht zum Bewußtsein gekommen, daß das Licht die Aufhebung der Dunkelheit ist; ihm ist es ein Vergnügen und eine Folgeerscheinung der Tante Irene.
Oben und unten unterscheidet er schon länger; wenn ich im Oberstock unseres Hauses war und man ihn fragte: »Wo ist Großvater?«, dann zeigte er nach der Decke und sagte »Da!« Körperlich hat er den oberen Stock noch früher erobert; die 20 Stufen hohe Treppe steigt er am liebsten ohne Begleitung hinauf. Aber diese Erwachsenen sind mit ihrer Bevormundung und Gängelung nun einmal so zudringlich!
In einem Bildnis, das dort oben hängt und das mich als 37jährigen darstellt, erkennt er ohne weiteres den 60jährigen, und mit Überraschung und Vergnügen stellte er kürzlich fest, daß sein Vetter anatomisch ebenso zusammengesetzt sei wie er selbst. Und dann begann er sofort den Unterricht; er nahm des Kleinen Händchen, führte es ihm an die Nase und sagte »Da!«, ans Auge und sagte »Da!« usw. usw.
Heidéde, willst du Schulmeister werden, dann nimm meinen fröhlichsten Segen! Es wird jetzt nicht so gut entlohnt wie Kesselflicken und Leimsieden, weil es nicht bloße Handarbeit ist, sondern Kopf und Herz dazu gehört; ein geschmähter Mann ist der Schulmeister noch immer und wird es bleiben. Denn dieser unangenehme Mensch fordert von den andern, daß sie etwas lernen, daß sie sich anstrengen und ihre Pflicht tun. Aber eben darum ist er der vornehmste Mann. Er ist wie Vater und Mutter Gottes Stellvertreter auf Erden; das Werk des letzten Schöpfungstages ist auch sein Werk: er schafft den Menschen Gott zum Bilde. So gut es ein schwacher Mensch vermag. Nur ein Beruf ist noch schöner, noch beglückender, obwohl nicht vornehmer: der des Künstlers, der die Menschen besser macht.
Heidéde, willst du ein Künstler werden? Ich beobachte seit einer Reihe von Tagen Seltsames an dir. Ich sehe dich immer wieder in einen bestimmten Winkel des Empfangszimmers laufen, wo du allein bist, sehe dich dort bis zu zehn Minuten verweilen (für Kinder eine sehr lange Zeit!), sehe dich am Sofa lehnen und träumen oder am Boden sitzen und offenbar mehr in deiner Seele spielen als mit deinen Hölzern. Heidéde, was zieht dich geheimnisvoll in diesen Winkel? Fühlst du, halb schauend, halb ahnend, Horazens
»Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet?«
»Dieser Erdenwinkel lacht mir vor allen andern?«
Heidéde, merkst du, daß alle Dinge atmende Wesen sind, Wesen mit redendem Angesicht, daß sie an jedem Ort zu anderer Gemeinschaft, zu anderen Welten zusammenfließen, zu freundlichen hier, zu schreckenden dort? Heidéde, ist dieser Winkel dir ein Lied, ein Bild, ein Freund und Gespiele? Ich weiß nicht, ob ich dir wünschen soll, daß du ein Künstler werdest: du siehst dann die schönste aller Welten und die häßlichste. Aber gewiß will ich dir Auge, Ohr und Herz eines Kunstempfangenden wünschen; dann bleibt dir das Häßlichste vielleicht erspart.
Rollerolle, willst du ein Klarheitbringer werden? Willst du mit deinem guten, sonnigen Spitzbubenlachen ins Innerste der Menschen dringen und alle Schleier, die sie davorgezogen haben, mit Lachen hinwegziehen? Willst du Schlangen töten mit dem Strahl des Lachens? Dein Auge könnt' es wohl versprechen.
Rollerolle und Heidéde! Wenn ihr einst diese Blätter lest – glaubt nichts von allem Guten, das ich über euch berichtet habe; glaubt es erst, wenn ihr's durch euer eignes Tun verdient habt! Der dies schrieb, ist ein alternder Mann, dem, wenn er euch anschaut, Liebe und Glück das Auge umnebeln. Und doch dachte er beim Schreiben niemals allein an euch; er dachte an alle Kinder und an alle Menschen. Ich weiß nicht, was ihr einst werdet und werden könnt, weiß durchaus nicht, ob ihr Ausnahmemenschen seid; aber glaubt immer, daß ihr's werden könnt! Wer sich keinen Kölner Dom zutraut, wird nie ein rechter Baumeister werden. Eines aber, hoff ich, sollt ihr gewiß werden.
Als du, mein lieber Heidéde, vor kurzem in Zorn gerietest, weil wir dir nicht zu Willen waren, da schleudertest du ein Tellerchen, das vor dir stand, auf den Boden, und der Teller – zersprang in Stücke. Du hattest, mein Kind, in der kurzen Spanne deines Lebens – du warst an diesem Tage genau 1¾ Jahre alt – schon viele Dinge durch den Luftraum befördert, meistens freilich nur aus harmlosem Kraftübermut; aber bisher waren es dank unserer Weisheit Gegenstände gewesen, die es vertragen konnten. Diesmal war es ein zerbrechlich Ding, und du starrtest plötzlich tieferschrocken auf Scherben. Dann schlugst du beide Händchen vor die Augen wie vor etwas Schrecklichem und brachst in so herzbrechendes, klagendes Geschrei aus, daß es mir die Seele erschütterte. Und dann hobst du flehend die Ärmchen zur Mutter und riefst »Mamma!!« und dann zur Tante und riefst »Tatte!« und dann zu mir, dem Namenlosen, und weintest immerfort: »Ouh, ouh, ouh!« und starrtest dann wieder die Scherben an und schlugst wieder die Händchen vors Gesicht. Es war das Ergreifendste, was ich je an einem Kinde erlebt habe: in deiner Herzensnot wandtest du dich zu denen, von denen du Strafe erwarten konntest, um Hilfe, Schutz und Trost! Damals hast du uns alle unendlich glücklich gemacht; denn wenn ein Kind zu denen, von denen die Strafe kommt, Schutz erflehend die Arme erhebt, dann wissen sie, daß das Kind noch fest an ihrem Herzen ruht, dann weiß das Kind, daß ihre Strafe Liebe ist. Und noch ein andres machte uns überglücklich. Du weintest so jammervoll nicht aus Furcht vor der Strafe – du lieber Gott, unsere Strafen können kein Entsetzen einflößen; sie sind ja eigentlich nur Andeutungen von Strafen – du sahst zum ersten Mal die Folgen deiner Tat und warst darum tief erschrocken, du fühltest eine Schuld. Wie hätten wir dich auch jetzt noch strafen können; du warst ja genug gestraft! was blieb mir denn noch andres übrig, als dich an meine Brust zu ziehen und dir die Tränen vom Auge zu küssen, und immer wieder hab ich dich ans Herz gepreßt, glückselig und mit Schauern, wie damals, als ich dich zum erstenmal in meine Arme zog.
Ein großer Dichter, Denker und Mann hat das Götterwort gefunden:
»Das Leben ist der Güter höchstes nicht;
Der Übel größtes aber ist die Schuld.«
Was aber ist denn der Güter höchstes? Daß wir unsere Schuld fühlen, daß wir sie tilgen können. Der Güter höchstes ist das Gewissen.
Und das, Rollerolle und Heidéde, ist das Eine, das ich gewiß von euch hoffe: daß ihr Menschen mit einem Gewissen, daß ihr gute Menschen werdet. –
Ich muß dir, mein lieber Heidéde, bei dieser Gelegenheit noch eine Jugendsünde vorrücken, genau genommen zwei. Du hast vor einiger Zeit bei Tische mit deiner natürlichen Gabel in die Schüssel gelangt, hast einen jener gebackenen Fleischklöße, die man Frikandellen oder Boletten nennt, mit unbefangenem Griffe herausgeholt, hineingebissen und uns dabei mit goldnen Engelsaugen ruhevoll angeschaut. Der Inbegriff der herrschenden Pädagogik ist bekanntlich stilgemäß in die Berliner Formel zu fassen:
»Laß das Kind doch die Bolette!«
So gut hast du es nicht; sie wurde dir wieder genommen. Du hast, Klein Roland, nicht lange darauf mit ungetrübter Seelenreinheit ein Viertelpfund Käse »von Tisches Mitt!« genommen und mit den verträumten Augen eines weltfremden Idealisten hineingebissen. Auch wir hatten gerufen: »Heida, halt an, du kecker Wicht!« und haben dir aus Gesundheits- und Schönheitsgründen die Beute wieder abgenommen; aber du hast uns doch eine feurige Herzensfreude gemacht. Du warst mit Recht dir keiner Schuld bewußt; denn erstens hast du überhaupt noch nicht den Begriff des Eigentums, und zweitens gehörte der Käse nach Familienrecht auch dir, wenn auch nicht gleich das ganze Viertelpfund. Was uns so tief erquickt und so freudevoll erhoben hat, das war dein herzhaftes Zugreifen.
»Du nimmst die Schüssel von Königs Tisch,
Wie man Äpfel bricht vom Baum;
Du holst wie aus dem Brunnen frisch
Meines roten Weines Schaum.«
So sollt ihr ins Leben greifen, Jungens, und nehmen, was euch zukommt, sollt aber vor allem zurückholen, was Diebe euch gestohlen haben. Ich sag es dir, mein Gerhard, sag es dir, mein Wolfgang; ich sag es jedem deutschen Sohn ins wartende Auge:
»Sollst greifen in frecher Räuber Tisch
Mit starker Rächerhand,
Sollst bringen zu Heil und Ehre frisch
Dein seufzend Mutterland!«
Wehmutsvoll leg ich die Feder hin, die mich wieder sieben Monde lang durch das Land der Kinder geführt hat. Warum hat die Vorsehung an den Anfang dieses furchtbaren Lebens das Paradies der Reinheit gesetzt? Damit wir es unser Lebenlang suchen mit ruhelosem Drange und erwerben, was wir einst besessen haben. Das Paradies liegt hinter uns – und vor uns.