Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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II.

Heidéde als Opfer einer Rabenfamilie – Hoheit gehen zur Tat über und bringen es zum Denker, Dichter, Tondichter, Reiter usw.

Natürlich kann ich nicht so lange singen, wie Heidéde es wünscht; ich habe Ruhebedürfnisse und gewisse Lebensaufgaben, deren Wichtigkeit er aber nicht anerkennt. Und wenn ich nun schweige, so kann es vorkommen, daß er in seinem Hunger nach Kunst sehr laut wird und ein ungebärdiges Geschrei von Kraft und Ausdauer erhebt. Was nun?

Ich habe mir vorgenommen, in diesen Aufzeichnungen nicht nur zu erzählen, sondern auch an meine Erzählung hie und da weise Erziehungsgedanken anzuknüpfen, und so mache ich denn darauf aufmerksam, daß hier (aber auch schon viel früher) die wunderschönste Gelegenheit zu der in weitesten Kreisen von jeher so beliebten Kinderverziehung gegeben ist. Man kann schon hier feste, unerschütterliche Grundlagen bauen. Man braucht z. B. nur das schreiende Kind aus den Kissen zu nehmen, es auf den Armen wiegend halbe Stunden lang im Zimmer auf- und abzugehen und zu sagen: »Ach, mein armes Würmchen, was fehlt dir denn? Du hast gewiß Bauchschmerzen oder Zahnweh oder Arterienverkalkung; du möchtest wohl Zucker haben, ja du sollst Zucker haben, usw.« und braucht ihm dann nur etwas Zucker zu geben, um mit Sicherheit darauf rechnen zu können, daß das Kind den Kausalnexus zwischen Geschrei und Zucker sofort begreift, daß es am nächsten Tage zweimal Zucker möchte, am darauffolgenden viermal, kurz, daß die Zuckerkrankheit im Quadrat der Tage zunimmt. Mit dieser Zuckerkrankheit kann man sehr wohl einen Menschen zugrunde richten und dabei noch das lebhafte Gefühl haben, daß man ein ungemein zärtliches, überaus liebevolles Eltern- oder Großelternherz besitze.

Wir, d. h. die gesamte Umgebung Heidédes: Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, ja, sogar Else, das verständige Dienstmädchen, sind ein herzloses Gezücht, eine wahre Rabenversammlung. Wenn wir uns versichert haben, daß Hoheit sofort lächeln, sobald gesungen wird, und sogleich wieder brüllen, wenn der Gesang verstummt, lassen wir Hoheit kaltlächelnd allein und lassen Sie solange brüllen, bis es Ihnen selbst zu dumm wird. Das tritt, da Heidéde ein einsichtsvolles Kind ist, schon nach verhältnismäßig kurzer und bei jeder Wiederholung nach immer kürzerer Frist ein. So schlau, sich zu sagen: »Wenn du nur durchhältst, werden sie zuletzt doch mürbe,« so schlau ist Heidéde noch nicht; das kommt erst später; diese Ausdauer würde ihm auch kaum etwas nützen; denn er hat es, wie gesagt, mit steinernen Herzen zu tun, mit Herzen, die fest genug sind, das ganze Elend durchzufühlen, das sie einem Kinde durch Unterwerfung unter seine Launen für ein ganzes, langes Leben bereiten könnten.

Niemand wird glauben, daß wir uns berechtigten Wünschen Sr. Hoheit verschlössen und nicht mit der Zeit fortschritten. Heidéde will nicht mehr immer schlafen; er will öfters aufrechtsitzen; er strampelt, daß ich zuweilen auf den Gedanken komme, er habe vielleicht ursprünglich eine Zwillings-Dampfpumpe werden sollen; jedenfalls haben wir in ihm ein großes Radfahrertalent zu erhoffen, und er vollführt das alles mit gespannt geöffnetem Munde und mit der Miene eines Beamten, der von der Wichtigkeit seines Dienstes bis in jede Faser hinein erfüllt ist. Er will öfter aufgenommen werden; er bäumt und sträubt sich, wenn ihm etwas nicht paßt, wie ein besserer Aal; er greift selbst nach Löffel und Flasche, wenn sie ihm geboten werden, führt sie zum Munde und hält sie fest, um allen unangenehmen Möglichkeiten vorzubeugen. Mangel an Selbsterhaltungstrieb kann man ihm nicht vorwerfen. Überhaupt entwickelt sich in ihm die Welt als Wille vollkommen befriedigend, wenn auch nicht in Schopenhauers Sinne – nun aber erst seine Vorstellungswelt, sein Geist!

Er beobachtet nicht nur uns, wenn wir an seinem Wagen stehen; beim geringsten Geräusch richtet er sich auf und blickt genau nach der Richtung, woher es kommt; jede neueintretende Erscheinung nimmt er sogleich mit Ohr und Auge wahr. Mehr: er beobachtet nicht nur belebte und bewegte Gegenstände, er betrachtet nacheinander auch die toten Dinge im ganzen Zimmer mit der Anspannung eines Indianers, der eine Fußspur untersucht. Wenn ihm ein Spielzeug aus dem Wagen gefallen ist, sucht er es genau an der Stelle, wohin es gefallen: die Kategorie des Raumes ist in ihm wirksam. Mehr: wenn wir zu mehreren an seinem Bette stehen, geht sein forschender Blick etwa zur Mutter, dann zum Vater, dann zu mir, dann zurück zum Vater, zur Mutter und wieder zu mir – er vergleicht! Hoheit sind mit den Vorarbeiten zur Vorstellungs- und Begriffsbildung beschäftigt, haben wohl schon früher damit begonnen; denn sonst würden Sie wohl Mutterbrust, Flasche und Löffel nicht schon so sicher von anderen, weniger anziehenden Gegenständen unterscheiden. Immer häufiger macht er jenes erfreuliche, zu den besten Hoffnungen berechtigende »dumme Gesicht«, das wir immer machen, wenn wir mit ganzer Sammlung in die Welt schauen, das berühmte dumme Gesicht, das die klugen Menschen sich bis ans Ende ihrer Tage bewahren, das Gesicht des Staunens, das aller Weisheit Anfang ist. Merkwürdig ist dabei die Verschiedenheit seines Gesichtsausdrucks im Liegen und im Sitzen. Liegend hat er das dämmernde, träumende, runde und weiche Gesicht eines glücklich und erfolgreich vegetierenden Säuglings; aufgerichtet, zeigt er ein längeres, schmäleres, »durchgeistigtes« Gesicht mit nicht mehr träumenden, sondern wachen, redenden Augen. Natürlich hat sich inzwischen auch der Sprachschatz Heidédes bereichert. Er sagt schon

»A – dadadada .....«, so daß ich ihm das Reifezeugnis eines Dadaisten ausstellen konnte und »ngrrr ....« und »habrrrrr«

An »habrrr« aber knüpft sich ein Ereignis. Als er wieder einmal »habrr« machte, trat dabei etwas Speichel hervor, und das fand Serenissimus unterhaltend. Er wiederholte es also. Bis ich endlich mit (nach meiner Meinung) gut betonter ästhetischer Empörung ausrief:

»O o o o!«

worauf dann aus Heidédes ambrosischem Mäulchen ein wahrhaft olympisches, herzverjüngendes Gelächter brach. Natürlich folgte auf dieses Gelächter sofort wieder »Habrrrr«! mit Speichel, und natürlich, da Säuglingsgelächter schöner als Nachtigallen ist und ich ein alter Schwächling bin, folgte darauf »O o o o!« und das Gelächter aus Heidédes Himmel. Endlich hatte der Kleine ein Einsehen und ging zu einem andern Spiel über. Ich hielt die Angelegenheit damit für erledigt. Kaum aber hatte Heidéde mich andern Tags erblickt, als er mit herausfordernder Deutlichkeit »Habrrrr!« mit Speichel machte.

Also hat er nicht nur schon ein beachtenswertes Gedächtnis – das hat er natürlich schon länger – auch die Kategorie der Kausalität ist schon in ihm lebendig. Er sagt sich: Jedesmal, wenn ich »Habrrrr!« mache, macht das bebrillte Etwas da: »O o o o!«, und dann gibt's einen Spaß. In dem »jedesmal« hat er sich dann allerdings geirrt.

Er hat ja auch so viele andere Vergnügungen! Z. B. meine Manschettenknöpfe, meine Hemd- und Rockknöpfe. Ich muß sie alle herzeigen, einen nach dem andern, und er zeigt das redlichste Bestreben, sie auszureißen oder abzupflücken. Wie wohlfeil sind noch die Märchen dieses Alters! Die hängende Klingel unter der elektrischen Krone ist ein Märchen; man kann daran zerren, und wenn der Großvater sie anstößt, macht sie »Bimmel bammel beier.« Ein Licht- und Farbenspiel ist die grüne Glastür zu meinem Arbeitszimmer. Er strebt immer wieder danach hin; sie scheint ihn zu entzücken wie uns ein herrliches Kirchenfenster, durch das die Sonne scheint. Auch kann man mit den Händchen darauf patschen, daß es klirrt, und der alte Herr mit der Brille trommelt wunderbar darauf den Torgauer Marsch, so daß man geradezu in Begeisterung gerät. Und welch ein Märchen ist gar erst der aus wohl abgestimmten, hängenden Messingröhren bestehende Gong, der zu den Mahlzeiten ruft! Er funkelt, schwingt und klingt, und man kann nicht genug von ihm kriegen. Die ganze Welt ist eine Märchenwelt, wenn man klug ist wie die Säuglinge und den Schlüssel zu dieser Welt noch nicht verloren hat. Und wenn nun gar der große Vater einen auf beiden Händen hoch emporhebt, daß man jauchzen muß! Heidéde ahnt noch nichts von der Gefahr, daß er fallen könnte. Die Kindheit schlummert süß im Rachen des Löwen. Eigentlich tun wir's unser ganzes Leben lang.

Aber man beschränkt sich keineswegs mehr auf das Erleiden; Hoheit gehen zur höchsteigenen Tat über. Sie haben nur ein paarmal auf Großvaters Knien einen Spazierritt gemacht nach der Weise:

»Hoppe hoppe Reiter,
Wenn er fällt, dann schreit er;
Fällt er in den Graben,
Fressen ihn die Raben;
Fällt er in das Gras,
Wird ihm die Nase naß;
Fällt er in den Sumpf,
Sagt es: Plumps!«

wobei man dann den Sonntagsreiter hintenüber vom Gaul plumpsen läßt, als Hoheit auch die Sache schon begriffen haben. Man braucht nur »Sumpf« zu sagen, als Sie sich auch schon höchsteigenkräftig vom Pferd werfen, und bald riechen Sie den Braten schon bei den Worten »Fällt er«. Und wenn wir ein Tuch vors Gesicht halten und »mumm mumm mumm« sagen, dann das Tuch sinken lassen und »kiiik!« rufen, dann bedeutet Heidéde uns bald: das kann ich auch! hebt seine Bettdecke vors Gesicht und taucht dann blitzartig mit sieghaftem Lächeln wieder empor. Dumm ist der nicht.

Wie sollt er auch wohl dumm sein; er stammt ja nicht von schlechten Eltern oder Großeltern. Wie begabt ich selbst bin, ersehe ich daraus, daß ich nach und nach in die Paradiesessprache Heidédes eindringe. Dreierlei hab ich schon herausgebracht: »Hä! Hä!« heißt »Das ist schön, das gefällt mir!« und »Addá! Addá!« bedeutet: »Das möchte ich haben, her damit!« Der Ausdruck höchsten Entzückens und Verlangens aber ist das mit vulkanischer Jubelkraft hervorgestoßene: »Daida!!!« (Man beachte die Wurzelverwandtschaft mit »Heidéde!«) Mit der Zeit hoffe ich noch zu enträtseln, was »jeigegegegebababa« und »wowowobabbaba« bedeutet; vorläufig ist mir das noch dunkel. Dagegen scheint »heididdiddéideidei!« soviel zu bedeuten wie: »Ich möcht mich zerreißen vor Vergnügen!«

Mittlerweile hat sich Heidéde zum Dichterkomponisten entwickelt. Wir haben ihm wohl auf einer Pfeife oder Mundharmonika etwas vorgeblasen; seitdem, wenn er einen Gegenstand, etwa eine Wäscheklammer, in den Mund steckt, beginnt er alsbald einen Sprachgesang darauf zu blasen, ein Musikdrama mit Text, Vokal- und Instrumentalmusik von 1–2 Tönen, in unserer Zeit, da alle Komponisten dichten, aber keine Melodie finden können, eine durchaus gewöhnliche Erscheinung.

Ich knüpfe daran keine übertriebenen Hoffnungen.


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