Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich habe die Ehre, den Herrschaften einen neuen Mann vorzustellen: den sieben Wochen nach Heidéde geborenen, in einem Briefe bereits erwähnten Sohn meines Sohnes und Vetter Heidédes, Buzi den Zweiten, mit seinem bürgerlichen Namen Wolfgang oder Wölfle geheißen, ein Münchener Kindl. Er wird auf längere Zeit bei uns zum Besuche sein. Wenn wir ihn »den Zweiten« nennen, so soll das beileibe keine Hintansetzung sein; Ramses II. scheint erheblich größer gewesen zu sein als Ramses I.; der zweite Friedrich von Hohenstaufen war zwar kein guter Deutscher, gab aber sonst dem ersten nichts nach, und der zweite Friedrich von Hohenzollern war dem ersten gewaltig »über«. Mitunter waren aber auch die Ersten die Größeren; es heißt da eben abwarten. In einer Hinsicht ist das 1⅓jährige Wölfle seinem 1½jährigen Kameraden und Nebenbuhler entschieden überlegen: es kann lesen und schreiben. Wölfle ist hinter Büchern her wie der junge Lessing, ist dabei zwar nicht wählerisch, hat es aber auch nicht nötig, weil ja doch in allen dasselbe steht, nämlich:
»Rollerollerrolleroddlroddlloddlloddlloddl ...«
dies aber liest er mit so verständigem Ausdruck, daß es sich anhört wie die Rede eines Staatsoberhauptes beim diplomatischen Neujahrsempfang. Um sich nicht in den Zeilen zu verirren, verfolgt er sie mit dem Finger. Seht euch solch einen Finger an und sagt mir, ob man da nicht zum Menschenfresser werden könnte. Er hat des öfteren seinen Vater schreiben sehen, und eines Tages, als er bei ihm auf dem Tische gesessen, hat er ein Blatt Papier erwischt, sich einen Bleistift herangeholt und sein erstes Gedicht geschrieben, um das herum ich nun eine moderne Zeitschrift gründen will. Dabei ist er so produktiv, daß er mich bei dem herrschenden Papierwucher schneller ruinieren wird, als es ein nichtsnutziger Enkel durch Weiber, Wein und Spiel vermöchte. Übrigens »Wein«! Als Münchner ist er natürlich schon wiederholt in einem Bräu gewesen, und da seine Eltern ihm den Maßkrug natürlich nicht gereicht haben, so hat er jede Gelegenheit benutzt, mit dem Ärmchen bis zum Ellbogen hineinzufahren und sich dann die Finger abzulecken. Höchst merkwürdig an diesem jungen Gelehrten und Schriftsteller ist, daß sein erstes Wort das für einen Kindermund wahrhaftig nicht leichte Wort »Licht« ist. Er zeigt mit dem Fingerchen nach der Lampe oder dem brennenden Streichholz und sagt glücklich begeistert: »Licht!« »Licht« war das letzte Wort Goethes; »Licht« ist das erste des jüngeren Wolfgang. Womit jener aufhörte, fängt dieser an. Ob das ein hoffnungsvoller Enkel ist? Jedenfalls erkennt man daran den Fortschritt der Zeiten, wenn man ihn sonst nicht finden kann.
Auch Buzi II. hat jenen echten, jenen einzigen Frohsinn mitgebracht, den angeborenen, göttlichen. Und doch ist er anderer Art als derjenige Heidédes. Buzi I. ist Humorist; Buzi II. mehr Komiker und Satiriker. Heidéde ist im Grunde seines Wesens ein ernster Mann; er kann im hohen Grade das entwickeln, was man »Biereifer« nennt, und der gewöhnliche Ausdruck seiner Züge ist der der gesammelten, sinnenden, nachdenklichen, träumenden Andacht. Um so schöner steht solchen Leuten dann das Lächeln. Der Münchner scheint mehr von der leichteren Kavallerie, scheint ein Schalk aus dem Geschlecht der Eulenspiegel; er ist, wenn er sich wohl fühlt, immer zu Späßen aufgelegt, ja zu angreiferischen Späßen: er patscht nach uns, zwickt uns mit den Fingerchen in Arm oder Wange und wartet dann blitzenden Auges auf unsere grenzenlose Entrüstung. Der Sinn für Ehrfurcht scheint bis jetzt nicht übermäßig entwickelt. Als er einmal ungezogen schrie, machte ihm sein Vater ein drohend finsteres Gesicht: tiefe Stirnfalte, düster starrende Augen usw. Das wirkte auch, aber nur für eine Minute. Dann ging das Wölfle dazu über, seinen Vater zu parodieren. Er machte ihm genau dasselbe Gesicht, das der Vater ihm gemacht hatte, um dann plötzlich übers ganze Gesicht zu lachen und »Häää!« zu rufen, wie: »Ich mein's gar nicht so!« Auch hier die seltsame Tatsache, daß ein Kind von einem Jahr Komödie spielt, eine andere Stimmung vorzustellen sucht als seine wirkliche. Er führt dieses Trauerspiel mit lustigem Ausgang noch täglich mehrere Male auf, macht uns ganz plötzlich nach Art launischer Tyrannen ein finsteres Gesicht wie ein mordsinnender Richard Gloster, um dann plötzlich mit einem strahlenden »Häää!« den Alp von unserer Brust zu nehmen. Aber er läßt uns nicht lange zittern und immer weniger lange, was wiederum auf ein weicherer Regungen nicht unfähiges Herz schließen läßt.
Ja, und – dieser Bruder Lustig: wie schwermütig er doch dreinsehen kann mit seinen braunen Augen! Und just, wenn er so dreinschaut, fliegen ihm alle Herzen zu. Und sein Weinen ist gewöhnlich ein wirkliches Weinen. Heidédes Weinen ist fast immer ein Schreien, bei dem man den Eindruck der Naturnotwendigkeit vermißt; nur nach bösen Träumen weint auch er richtig. Aber Wölfles Weinen ist Klage. »Wenn er sich wohl fühlt, ist er lustig,« hab ich geschrieben. Aber es ist ihm nicht immer wohl ergangen und ergeht ihm wohl noch zuweilen nicht wohl. Er ist nicht so stark wie sein stämmiger Vetter; er ist ein wenig rhachitisch, und daß ihm die Frauen meines Hauses in ihrem Hauptbuch diesen Fehlbetrag mit gewaltigen Ziffern gutgeschrieben haben, das kann man sich denken. Immerhin muß sein Kern gesund sein; denn sein Frohsinn ist nicht nur ursprünglich, sondern auch unverwüstlich. Als ich ihn früher einmal im Süden besuchte, erging es ihm ziemlich erbärmlich, und oft saß er in seinem Bettchen oder auf dem Fußboden wie ein rechtes Häufchen Elend. Immer aber gelang es mir, ihm durch irgend ein Spiel, durch Töne, Gesichter oder Gebärden ein Lächeln oder gar Lachen abzugewinnen, ja ihn dauernd umzustimmen. Und jetzt bin ich längst davon überzeugt, daß auch in ihm ein richtiger »gesunder Junge« steckt. Nämlich darum: Betrunkene haben bekanntlich die Neigung, möglichst starke, nicht eigentlich menschliche Laute von sich zu geben. Jugend aber ist »Trunkenheit ohne Wein«. Jetzt, da das Wölfle oder, wie er seiner wissenschaftlichen Bildung wegen auch genannt wird, »Rollerolle« täglich mehr Geschmack am Leben findet, macht auch er Faxen trotz seinem Vetter, schiebt den Bauch vor wie ein Obermeister der Bierbrauerzunft und gibt dabei immer häufiger gröhlende, grunzende, quietschende, schweinsmäßige Laute von sich, wie sie lebenstrunkene Knaben hervorzubringen lieben, und zwar nehmen diese Laute umsomehr an Stärke zu, je länger man ihn gewähren läßt. Übertreibung ist ein sicheres Kennzeichen einer gesunden Jungensnatur; ihr fehlt noch ganz die Sophrosyne, das edle Maßhalten; sie hat aber auch in dieser Hinsicht noch keine Verpflichtungen. Uns jedenfalls sind die Berserkertöne Rollerolles Musik.
Sollte nun jemand die Befürchtung hegen, daß die Erziehung zweier Jungen für uns eine kaum zu bewältigende Last sein werde, so kann ich ihn auch darüber beruhigen: wir haben eine starke Stütze an Heidéde. Die erste Begegnung Heidédes mit seinem Vetter aus München, die Monarchenbegegnung zwischen Buzi I. und Buzi II. – ja, wenn ich euch die beschreiben könnte! Ich beklage jeden Menschen, der das nicht miterlebt hat. »Bäääbi! Bäääbi!« rief Heidéde in seligstem Entzücken, schlang beide Ärmchen um Wölfles Hals, drückte ihn an sich, küßte ihn aufs Haar und rief immer wieder »Bäääbi! Bäääbi!« in einem Tone wie: »Gott, wie sind solche kleinen Dinger doch rührend!« Vom ersten Augenblick bis auf den heutigen Tag hatte und hat Rollerolle an seinem Vetter Heidéde einen väterlichen Freund. Oft und oft läßt Heidéde sein Spiel und betrachtet seinen Vetter mit langem, wohlwollendem Blick, um dann gerührten, andächtigen Tones auszusprechen: »Bäääbi!«, mit einer Liebe, von der man nicht glauben sollte, daß sie in dieser kleinen Brust schon Platz hätte, ja, mit einer Dankbarkeit, als wollte er sagen: »Daß ich in meinem Alter noch diese Freude erleben darf!« Wie es sich gehört, kann aber echt väterliche Liebe auch streng sein. Stellt euch vor: an der einen Seite des Tisches sitzt meine Frau mit Heidéde auf dem Schoß, gegenüber am Tische ebenso meine Tochter Appelschnut mit ihrem Neffen Rollerolle. Dieser findet es der Abwechslung halber schon minutenlang unterhaltsam und berechtigt, ohne Unterbrechung – legato sozusagen – zu »jaulen«, d. h. in winselndem Tone zu weinen, ohne daß sonst ein triftiger Grund dazu vorläge. Das fällt sehr auf die Nerven; aber wir ertragen es lange mit Geduld. Endlich reißt diese doch bei meiner Frau; sie blickt den Münchner strafend an, schlägt auf den Tisch und ruft: »Bist du jetzt still?!« Der Schreck wirkt auch zehn Sekunden; dann nimmt Rollerolle den dünnen Faden seiner Unterhaltung wieder auf. Da aber greift die väterliche Autorität Heidédes ein. Er patscht mit dem Händchen kräftig auf den Tisch und sendet seinem Vetter einen strengen, strafenden Blick!
Ich erinnere daran, daß er 1½ Jahre zählt, sein Vetter aber erst 1⅓; ein Zweifel an seinem Erziehungsrecht kann also nicht aufkommen. Wir haben uns alle schnell abgewendet, um ihm keinen Erfolg zu bereiten; aber daß wir nicht alle zersprungen sind, bleibt ein Wunder.
Natürlich: auch der beste Vater ist nur ein Mensch; er hat eigene Interessen, er hat schwache Augenblicke und trifft nicht immer das Richtige. Freilich, wenn Buzi der Erste zuweilen mit einem Stuhlbein in Ermangelung eines andern Amboßes auf den Kopf des Zweiten hämmert oder dessen Bauch als Schemel seiner Füße benutzt, oder wenn er in seinen Liebkosungen »Bäääbis« nicht immer deutlich zwischen Umarmung und Erdrosselung unterscheidet, so geschieht das »alles in Liebe und Güte«, wie der Bauer Kilian sagt; es ist kein Hauch von Zorn oder Bosheit darin und beruht auf nichts als auf mangelhafter Beherrschung der Muskeln und motorischen Nerven, erledigt sich auch juristisch dadurch, daß der Hammer dieser Minute der Ambos der nächsten ist. Ernsthafter sind die Eigentumskonflikte. Wenn auch das Spielzeug im allgemeinen Gemeingut ist, so gibt es doch Dinge, die eigentlich Heidéde, und andere, die eigentlich Rollerolle gehören und die für sie Liebhaberwert besitzen. Außerdem ist es feststehendes Gesetz der Kinder- und Menschenpsychologie, daß – mögen auch tausend Spielzeuge zur Verfügung stehen – ein Ding, das der eine in Händen hat, in ebendemselben Augenblick das Ziel der heißesten Wünsche des andern ist, mag er's auch im nächsten Augenblick, nachdem er's erlangt hat, achtlos bei Seite werfen. So sind denn Besitzstreitigkeiten hin und wieder unvermeidlich. Dabei hab ich nun bemerkt, daß Heidéde, indem er seinem Vetter ein Spielzeug entwand, ihm ein anderes in die Hand steckte. Ist das nun schon Billigkeitsgefühl oder ist es nur erst Diplomatie? Ja, ich habe beobachtet, daß der erste Buzi den zweiten leidenschaftlich umarmte und ihm dabei ein Spielzeug aus der Hand drehte. Das erinnert ja nun freilich an die italienischen Banditen in der Oper, die einander in die Arme fallen und sich dabei die Sacktücher mausen; auch ein Vater hat eben schwache Augenblicke; aber an Berechnung möchte ich bei Heidéde doch nicht glauben, umsoweniger, als er sicher nicht übertrieben erwerbsfreudig oder gar geizig ist. Vor kurzem war er mit seiner Mutter bei einer andern Mutter und ihrem gleichaltrigen Söhnchen zu Besuch. Bald nach der Begrüßung eignete sich der fremde Knabe Heidédes Puppe an. Heidéde »ließ fahren dahin« und betrachtete den Enteigner mit philosophischer Ruhe. Die fremde Dame steckte ihm zum Ersatz ein Pferdchen in die Hand. Der andere Knabe konfiszierte auch dies; Heidéde sagte nichts. Ebenso beschlagnahmte der gastfreundliche Wirt ein drittes Stück. Nachdem das geschehen, faßte Heidéde den Expropriateur mit beiden Händen beim Kopf und machte zärtlich »Eiii!« – Junge, ich fürchte fast, du bist deutscher, als gut ist.
Zum Glück und zu meinem Troste kann er doch auch beharrliche Tatkraft zeigen, wenn es höchste Güter zu verteidigen gilt. Als ein uns besuchender Knabe von 2½ Jahren, der viel größer und stärker ist als er, ihm seinen Wagen rauben wollte, da verteidigte er ihn mit Arm und Stimme so nachdrücklich und ausdauernd, daß er das Feld und den Wagen behauptete. Und wiederum, wenn man ihm ein Stück Schokolade in die Hand gibt und sagt »Gib's Wölfle!«, so schiebt er's unverzüglich seinem Kameraden in den Mund, und als er kürzlich wieder ein Stück bekommen hatte, sah er mich mit seinen größten Augen an, wies auf die danebenstehende Tante und rief gebieterisch: »Tatte! Tatte!«, das hieß: die Tante soll auch was haben. Nein, wenn er jetzt erwachsen wäre, so würde er nicht zu denen gehören, die ihre Volksgenossen in tiefster Not bestehlen, das weiß ich.