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Anna hatte von dieser Reise, die die erste in ihrem Leben war, gar nichts. Alles war ihr ungewohnt und fremd. In Kolding stand sie und sah die hohe, ernste Schloßruine an, aber sie fühlte nichts dabei. Harald dagegen ließ seinen Worten den Lauf und riß Anna wohl mit sich fort, aber es war doch immer nur sein Wesen, was auf sie wirkte, und nie der Sinn dessen, was er ihr zu erklären vermeinte. – »Ja, diese Ruinen,« fing er an, »die sind erhaben. Das Feuer hat in ihnen gewütet, aber sie stehen, sie sind sogar noch fester geworden. Und schöner sind sie, als das Schloß war. So geht es auch mit mir. Ich bin auch eine Ruine, – manches ist niedergebrannt und zertrümmert, aber was jetzt emporragt, das ist stahlsicher. Ruinen müssen wir alle werden, dann erkennt man erst unsere Größe.« – »Ja,« sagte Anna und sah sich die leeren Mauern an, die für sie nur häßlich waren. – Der Empfang, den Haralds Vater der jungen Frau zu teil werden ließ, war nicht freundlich. Er sprach nur dänisch und bewohnte, da die Mutter tot war, sein Haus ganz allein. Gemütlichkeit gab es nicht. Anna konnte sich nicht mit ihm verständigen, und er haßte auch die Deutschen zu sehr, als daß er Lust dazu gehabt hätte. Harald selbst stand seinem Vater fern. Er suchte ihn für Anna zu gewinnen, indem er erzählte: »Ihre Mutter ist dänisch, von Kopenhagen.« – »Snak,« entgegnete der Alte, »und der Vater?« – »Der war wohl deutsch.« – »Nu also, tydske Hund.« – Nach zwei Tagen schon 301 verließen sie die ungastliche Stätte wieder und fuhren so rasch wie möglich heim. – »Ich finde, in Koggenstedt ist es am schönsten,« meinte Anna, und Frau Behm rief: »Ach, das ist gut, daß ihr wieder hier seid. Was wolltet ihr draußen? Die alten Eisenbahnen gehen oft kaput, und dann liegt man unter den Wagen und wird totgedrückt. Zu Haus ist es so nett. Ich hab' den Korridor streichen lassen und reine Gardinen aufgesteckt.« – Mies, die weiche, weiße, schmeichelte der jungen Frau um die Füße, und Anna strich ihr das saubere Fellchen.
Das Ehepaar zog also in die Stuben, die P. C. Behm mit seiner Frau so lange bewohnt hatte, und die Alte begnügte sich mit Haralds früherem Zimmer. Anna war selig. Sie freute sich der Macht, die sie über ihren Mann besaß, und es war ihr eine Wonne, wenn er stürmisch seinen Kopf in ihrem Schoß barg und »du! du!« stammelte. Sie kleidete sich nach seinem Geschmack, phantastisch und auffallend, und er hing an ihr, gerade weil sie älter war, mit einer schmerzenden Leidenschaft. Sie hielt ihn strenge an, daß er keine Stunde in seinem Beruf versäumte, und ließ ihn abends nicht ausgehen, und deshalb fühlte er sich in dieser ersten Zeit seiner Ehe gesünder denn je und fabelte davon, daß nun gleich der Tag kommen werde, wo ihm alles klar, wo er seinen wahren Menschen entdecken würde. Der Abend gehörte ihnen allein. Bernhard konnte ihre Verliebtheit nicht mit ansehen und sagte nach dem Essen gewöhnlich: 302 »Ja, hier stört man doch nur.« – Er ging in seine Kammer hinauf, legte sich auf's Bett, rauchte und las gemütlich bei der Lampe. Das war ihm bald bequemer als unten auf dem Sofa. – Mutter Behm, die sich auch nicht behaglich fühlte bei den Jungen, kam oft zu ihm. Das Treppensteigen wurde ihr bloß so schwer, und sie konnte die ersten Minuten immer keine Luft kriegen. – »Ach Gott,« seufzte sie wohl, »ich wollte, ich wär' erst bei Pappa. Was hat das noch für Zweck, daß ich leb'?« – »Na, Mudding,« ermunterte Bernhard sie, »nun man nicht so. Paß' mal auf: du bist bald wieder vergnügt und magst gern leben. Was würdst du wohl sagen, wenn ich mich verheiratete, wie?« – »Ach nee – du?« – »Warum denn nicht? Ist ja alles da, und meine Kollegen haben längst ihre Familien. Ich meine, es wird Zeit. Und denn sollst mal sehen, das macht dir Spaß, wenn die kleinen Behms massenweise um dich herumkrabbeln. Ziehst mit mir und pflegst dich auf deine alten Tage.« – »Willst du denn nicht hier wohnen?« – »Nee, Mudding, das kannst nicht verlangen. Wo denn? Im Keller? An einem Ehepaar hat das Haus grad' genug. Ich zieh' vor's Thor, fein, fein. Da sind Wohnungen zu dreihundert Mark, – aber nobel, sag' ich dir. Aussicht auf den Hafen. Kommt mir garnicht darauf an.« – »Hast du schon eine Braut?« – »Na, halb und halb. Ich bin in so was sehr penibel – weißt du. Kriegen kann man hundert, wenn man bei der Post ist, die 303 grapsen förmlich nach einem, wenn sie bloß die Uniform sehen. Aber ich bin schlau. Ich such' mir die beste aus, langsam, aber sicher. Und was Angenehmes in Sicht hab' ich. Schön ist sie nicht gerade – das heißt, immer noch ganz hübsch, aber ihr Vater hat was Solides auf der Sparkasse.« – »Ja, wer ist es denn nur?« – »Das sag' ich noch nicht, Mudding, darin bin ich diskret und abergläubisch. Wenn der Käs' klar ist, bist du die erste, die es zu wissen kriegt.« – Er ließ sich sein Geheimnis nicht entreißen, wie viel Frau Behm auch darum bat, aber daß er auf Freiersfüßen ging, merkte man deutlich. Er trug seine Sonntagsuniform oft am Alltag und hatte sich eine Büchse Pomade und eine Bartbinde gekauft.
Die Monate gingen hin, und auf die rote Leidenschaft, die erst zwischen Harald und Anna loderte, folgte die Ernüchterung mit ihrem fahlen Lichte, die die Gesichter graugelb erscheinen läßt und eine kalte feuchte Hand hat. Sie sahen einander an und erkannten, daß sie blindlings gerast hatten, und etwas wie Widerwillen stieg in ihnen auf. Sie mieden einander bald, wie sie sich früher gesucht hatten. Anna fühlte Scham, und er konnte zu ihr hinblicken mit gerunzelter Stirn. Eine Trauer bemächtigte sich beider nach ihrem Erwachen. Harald schlich schlaff umher und hustete viel. Er mußte den Dienst häufig aussetzen und phantasierte nicht mehr in jener Art, mit der er Anna vordem hingerissen hatte. Ein stumpfer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Und zunächst heimlich und 304 dann immer mehr vor Annas Augen fing er wieder an zu trinken. Das ärgerte Anna. – »Ich werfe das Zeug zum Fenster hinaus!« rief sie. – »Es giebt mehr davon, mein Kind,« antwortete er gleichmütig. »Etwas muß der Mensch haben.« – »Du hast mich!« – »Ja, aber mir ist manchmal, als hättest du mich blutleer gemacht, ganz ausgesogen. Ich muß die Lebensgeister auffrischen, so lange das noch geht.« – Er ließ sich von Todesahnungen beherrschen, mit denen er Anna quälte. – »Alle meine Pläne,« sagte er, »die zerfließen. Ich finde die Form nicht. Ich habe keine Kraft. Es war Täuschung. Es ist aus mit mir.« – »Pfui, Harald,« schalt Anna, »denkst du nicht an mich?« – »An dich? Nein. Warum sollte ich das? Wir haben einander gegeben, was wir geben konnten, und jetzt ist das zu Ende.« – »Harald! Bin ich nicht mehr deine Anna? Die du so küßtest?« – »Ich mag nicht mehr küssen!« schrie er wild, »du bringst mich um mit deinen Küssen! Ach, ich wollte, ich säße in der Einsamkeit, und alle Leidenschaften wären abgethan. Keine Liebe, kein Zorn, keine Arbeit, kein Streben mehr, nur das Nichts, das einzig Reine zu fühlen – das müßte köstlich sein!« – Jetzt, wo er von ihr fortwollte, verstand ihn Anna garnicht mehr und sagte: »Das ist dummes Zeug.« – »Weib,« fuhr er empor, »Weib!« – »Was willst du?« – – »Du ahnst nicht, wie es mit mir steht!« – »Das ist möglich,« erwiderte sie kalt.
Nach solchen Auftritten trug sie sich nachlässig 305 und gab sich keine Mühe, ihn zu fesseln. Aber bisweilen brach doch die Lust zu gefallen durch, und sie übertrieb ihre Koketterie und unterjochte ihn noch manchmal. Nachher war indessen die Entfremdung zwischen ihnen nur desto größer. Er betrachtete sie prüfend und erkannte, daß sie neun Jahre älter war als er. Und sobald ihm das zum Bewußtsein kam, eilte er fort von ihr und nahm sein altes Leben auf. Spät in der Nacht kehrte er heim, und es war ihm gleichgültig, ob sie aufsaß und weinte oder nicht. Er war, wenn er dann vor ihr stand, nicht betrunken, aber in einer Aufregung, die ihn irre erscheinen ließ. Er fuhr mit den Armen in der Luft umher und hielt ihr lange Reden, oder er umarmte sie, und sie überwand den Ekel vor seinem Atem – sie wollte nur lieb gehabt werden, um jeden Preis!
Es half alles nichts. Sie hielt ihn nicht. – »Das Leben soll man nun ertragen, das Leben!« stöhnte er, und es klang ihr wie ein Vorwurf daraus, als dächte er hinzu: das Leben mit dir. – Sie versuchte, mit ihm auszugehen, vielleicht war das ein Mittel, ihm zu gefallen und bei ihm bleiben zu können. – »Laß uns zu dem Postball gehen,« bat sie. – »Ball?« entgegnete er, »zwischen alle die . . . nun, meinetwegen. Auch das noch.« – Anna freute sich und kleidete sich in ein duftiges, leichtes rosa Gewand, machte ihr Haar sorgfältig und besprengte sich mit wohlriechendem Wasser. Als sie sich im Spiegel sah, war sie zufrieden. – Da begegnete sie auf dem 306 Flur ihrem Bruder, der stutzte, als erkenne er sie nicht gleich, sah sie von oben bis unten an und sprach, ohne sich etwas Schlimmes dabei zu denken, das böse Wort: »Höre, Anna, das geht nicht, – für das Kostüm bist du wahrhaftig zu alt!« – »Was?« sagte Anna, und alles erstarrte in ihr, »zu alt? Wir sind doch erst ein paar Jahre verheiratet.« – Bernhard lachte: »Ja, wenn du so rechnest! Aber die Menschen rechnen anders. So geh' ich nicht mit euch. Das kann ich einfach nicht.« – Die Mutter, die sich mehr und mehr scheu vor dem Ehepaar zurückhielt und sich grämte über das, was sie sah und hörte, kam auch hinzu und meinte, mit einem zagen Blick auf die Tochter: »Ja, mein Annsch, Unrecht hat Bernhard wohl nicht. Was sollen die Leute sagen?«
Da riß sie sich die Blumen aus dem Haar, da zerrte sie sich die Schleife von der Schulter, da zerknitterte sie die Spitzen an der Brust: »So! So! Nun geh' ich überhaupt nicht, nun und nimmermehr! Wenn ich eine alte Frau bin, will ich auch zu Hause sitzen und Strümpfe flicken. Dafür bin ich euch vielleicht noch jung genug!« – Harald hatte den Lärm vernommen. Er kam. »Was ist los?« – »Ach,« sagte Bernhard verlegen, »ich meinte bloß, sie soll sich nicht wie ein junges Mädchen anziehen. Das paßt nicht für sie.« – »Warum nicht? Laß sie doch anhaben, was sie will.« – Anna trat vor ihn hin: »Bin ich dir auch zu alt für dies Kleid, Harald?« – Es lag ein furchtbares Bangen in 307 der Frage. Sie hing an seinem Gesicht. –»Unsinn,« murmelte er. »Laß doch die Philister schwatzen, was sie Lust haben.« –»Aber sie werden schwatzen, denkst du, nicht wahr?« forschte Anna bebend weiter. »Sie werden?« – Er zuckte die Achseln.
Das war die Antwort. Anna sah sich auch von ihrem Manne verurteilt, und das Weheste war ihr, daß das Urteil ihr tief, tief im eigenen Herzen gerecht erschien. Sie ging nicht auf den Ball. – Die hellen Kleider that sie fort und trug sich von da an grau und schwarz, strich das Haar einfach zurück und zog grobes Schuhwerk an. Sie war ja alt, alt geworden auf einmal. Mürrisch und finster bewegte sie sich, und ein Gefühl peinigte sie überdies, das sie nie gekannt hatte: die Eifersucht. Suchte Harald, wenn er aus war, bei jüngeren das, was sie ihm nicht sein und geben konnte? Sie machte ihrer Mutter und ihrem Bruder Vorwürfe: »Ihr wußtet, daß ich neun Jahre älter bin, – warum habt ihr mich gedrängt?« – »Wir dachten, das machte nichts aus,« jammerte die Mutter, »wir glaubten, er wäre ein solider Mann.« – Und Bernhard entgegnete ihr kühl: »Du hättst ja nicht nötig gehabt, ihn zu nehmen.« – Er ging nicht mehr mit dem Schwager aus und stand auch nicht auf Seite der Schwester, seitdem er ein junges Mädchen gefunden hatte, das er zur Frau nehmen wollte; die andere trat an Annas Platz in seinem Herzen, und er sehnte sich nur aus dem Hause hinaus, 308 wo Unordnung über Unordnung hereinbrach und Zank und Streit herrschte. Annas Eifersucht hatte Folgen. Eines Tages grüßte Harald eines der Nähmädchen, die bei Anna saßen, freundlich, – da wies ihr Anna die Thür. Er verhöhnte sie dafür. – Es war kein Geld im Hause, denn Harald verbrauchte alles für sich, und Anna begann zu borgen und zu verkaufen, sie kochte schlecht und saß selbst nicht mit am Tisch, sie lag stundenlang in dem dunklen Schlafzimmer und brütete vor sich hin. – Die Mutter hockte im Laden und wimmerte und betete, daß Gott sie bloß bald sterben lassen möchte. – »Nur gut, daß du das nicht mit erlebst, mein klein Pappa,« flüsterte sie. – »Ja,« sagte Bernhard, »es ist ein Skandal, wie es hier zugeht. Sein Onkel wird ihn auch wohl bald an die frische Luft setzen.« – »O lieber Gott!« weinte die Alte, »wär' ich tot und begraben!«
Annas Kundschaft verringerte sich. Sie ließ ihre Damen zu lange warten, und was sie schließlich fertig brachte, war nicht sorgsam gearbeitet und hatte keinen Schick. – Alles ging zurück. Es war, als ob Haralds wirre Reden das Haus aufzehrten. Wie unfruchtbare Flammen flackerten sie umher und fraßen Hab und Gut und Frieden. Keine Gemeinschaft bestand mehr zwischen den Eheleuten. Er sah sie kaum an, und sie konnte sein Hüsteln nicht ertragen, dies ewige Hüsteln, das sie nachts beinahe wahnsinnig werden ließ. Und an einem Abend, als er sich beim 309 Zubettgehen bückte, brach ihm das Blut aus. Sie erschrak entsetzlich. – »Der Anfang vom Ende,« lispelte er mühsam, »der geile Zweig stirbt ab.« – Dann lag er wie tot, und sie wagte nicht, ihn anzurufen. Sie lief hinaus und schrie: »Bernhard! Bernhard! Mutter! Mutter!« – In scheuem Satze flog die weiße Mies, die an der Thür gehockt hatte, davon und stieß einen Tisch um. Der prallte hart auf den Boden, und die kleinen Nippsachen, die auf seiner Platte standen, zerklirrten überall hin. Von der Stunde an hatte das Tier Angst vor Anna, traute sich kaum zum Fressen hervor, wurde mager und magerer und struppig und triefäugig, und niemand bekümmerte sich darum. Sie hatten genug mit sich selber zu thun.
»Schonung,« sagte der Arzt, »äußerste Schonung.« – Aber Harald folgte ihm nicht. Eine furchtbare Unruhe war über ihn gekommen. Anna bat, flehte, schalt: er hielt es daheim nicht aus. – »Ich muß, ich muß das bischen noch ausleben!« wütete er, »laß mich zufrieden!« – Seine Ausschweifungen nahmen erst ein Ende, als er auf dem Bett lag und sich nicht mehr zu erheben vermochte. –
Nun änderte sich plötzlich sein Wesen. Er wurde geduldig und sanft und bat Anna um Vergebung für alles, was er ihr angethan hatte, und sie, die ihn jetzt wieder für sich besaß, die sich grenzenlos einsam und liebeleer fühlte, sie kam zu ihm hin und ward seine treue Pflegerin. Er war der Ihre von neuem, 310 – freilich ganz anders als vordem, und sie wurde mütterlich gegen ihn, ja er nannte sie sogar Mutter und that ihr nicht weh mit diesem Namen. Es war ihr eine Wonne, einen Menschen zu haben, der ihrer bedurfte, der nach ihr verlangte und rief, der ihr dankbar war für das, was sie ihm Liebes erwies, – es war ihr eine schmerzliche Wonne! Sie saß an seinem Bett und hielt ihre Hand auf seiner Stirn. Er lag, die Augen geschlossen, und sprach leise vor sich hin: »Jetzt hab' ich dich erst lieb, wie ich dich lieb haben sollte, jetzt weiß ich erst, wie ich gegen dich hätte sein müssen. Aber es ging nicht. Es tobte und tollte zu sehr in mir, und das verpufft jetzt – wie ein Feuerrad, und die leeren Röhren bleiben übrig, die verbrannte Stange und die verbogenen Drähte. So ist es. Mutter . . . gut bist du, viel zu gut. Aber ich wollte etwas Großes und Schönes – – – vergieb mir!« – Er streichelte ihren Arm, und seine Zärtlichkeit that ihr in all ihrem Kummer so wohl, so wohl! Sie wich nicht von ihm, stützte ihn, wenn die Hustenanfälle kamen und hielt ihm das Glas an die Lippen, wenn er zu schwach war, es selbst zu fassen. Niemand anders durfte ihn pflegen, nicht einmal Frau Behm.
Ja, jetzt war wieder Frieden in dem engen Hause, aber eine Angst lag doch in der Luft. Oben, auf dem niedrigen Boden mit den vielen Spinngeweben, kauerte einer, ein Unheimlicher, der hatte ein Stundenglas in der Hand und starrte aus den leeren, 311 flimmernden Augenhöhlen auf den Sand, der leise knisterte, indem er in seinem Strahle von der einen Kugel in die andere herabrann. Und manchmal rührte sich der Unheimliche und rückte und schüttelte das Glas, – der Sand floß ihm nicht rasch genug. Wenn er so rüttelte, zitterte das ganze Haus. Mies, das verwahrloste Tier, verkroch sich in den tiefsten Winkel des dunklen, feuchten Kellers und glotzte mit furchtsamen Augen in die Nacht. Sie witterte den Unheimlichen, wußte, daß er herunterkommen würde auf den dürren Beinen, die schmale Bodenstiege herunter, und würgen, würgen, was ihm verfallen war nach dem verronnenen Sande.
* * *
Es war ein großer Jammer, wie es im Hause der Familie P. C. Behm stand. Nur einer war innerlich vergnügt, wenn er sich auch Mühe gab, eine ernste, mitfühlende Miene aufzusetzen: das war Bernhard, der sich mit Bäckermeister Jaspersens Tochter verlobt hatte. Die kleine Male war semmelblond, knusperig und lecker wie ein frischgebackenes Korinthenbrot und so herzensgut und weich wie Butterteig. Und die Thaler, mit denen ihr Vater in der Tasche klimperte, waren lange nicht die einzigen, die er besaß. Bernhard betrachtete sich mit gerechtem Stolz im Spiegel: »Ja, das haben wir fein zustande gebracht. 312 Talent muß ein junger Mann haben, – das Glück kommt von allein.« – Auch Frau Behm freute sich über die gute Partie ihres Sohnes, so viel sie sich noch freuen konnte. Sie ließ sich sogar überreden, mit zur Verlobungsfeier zu gehen, zu der Bäcker Jaspersen einen wundervollen Baumkuchen gebacken hatte. Oben auf der hohen Pyramide stand ein Engel, der schüttete aus einem Füllhorn Rosen und Zwanzigmark-Stücke aus. – »Das is 'n Sinnbohl,« sagte Jaspersen selbstzufrieden.
Anna blieb natürlich bei ihrem kranken Mann. Es war Nacht. Harald war eingeschlafen, und sie wußte: so lag er jetzt leicht vier oder fünf Stunden. Sie wischte ihm den Schweiß von der Stirn und ging leise hinaus, – sie mußte Luft schöpfen, es war drückend hier drinnen. Sie sehnte sich nach ihrer Mädchenstube und trat ein. Da stand noch das meiste wie früher, und sie schluchzte auf, als sie an die schöne, schöne Zeit dachte, die sie hier verbracht hatte. Was war sie nun? Sie öffnete das Fenster und sah hinaus. In wunderbarer Klarheit strahlte der Himmel mit seinen Sternen zu ihr herunter. Ruhig und rein erglänzten die Gestirne, sie winkten Anna zu mit den goldenen Augen, als wollten sie sie trösten, ihr Mut einsprechen. Stille war es . . . der Kastanienbaum hinten auf dem Hofe rührte kein Blatt. Keine Wolke zog am Himmel entlang, an diesem tiefen Himmel, in dessen Unendlichkeit, in dessen ewiges Blau Annas Blicke hineinschweiften mit unsäglich weher Empfindung. Scheinbar 313 regellos hingestreut in die Unabsehbarkeit des Raumes schwebten die strahlenden Welten, hier dicht zusammen, dort weit von einander . . . und in die heilige Erhabenheit der Natur schauten zwei heiße Menschenaugen hinauf, in denen sich all der Glanz und alle die Pracht nur trübe und verschwommen widerspiegeln konnte. Die Ruhe löste die Gefühle in Anna aus, die der Tag mit seinen Sorgen zurückgedrängt hielt, und die Erinnerung kam, die Erinnerung an ihr Leben, von dem sie keinen Zweck erkannte. War sie nicht ein frisches, frohes, braves Mädchen gewesen? Hatte sie nicht Glück im Herzen, soviel, daß sie einen wackeren Mann als treue Gefährtin sein ganzes Leben hindurch damit zu erquicken vermochte? Hatte sie nicht das Ihre gethan in der kleinen Wirtschaft, nicht ihre Eltern geehrt und Gott lieb gehabt mit gläubigem, kindlich frommem Sinne? Hatte etwa Unwahres, Böses oder Häßliches in ihr gesteckt? Nein! Nie! Und als die erste Liebe ihr ins Herz zog zu dem Manne, an den sie noch immer dachte, – war sie vielleicht zu vermessen gewesen und hatte sie zu hoch reichen wollen mit ihren Händen die da baten: gieb uns Freudigkeit, Gegenliebe, – ergreif' uns! – O sicher nein! Sie hätte wohl würdig an der Seite jenes Mannes gewandelt, das wußte sie, auch heute noch. Aber dann war es so gekommen . . . sie war sich selbst nicht klar darüber, wie. Die Enge hatte ihn abgestoßen, die Familie ihn scheu gemacht. In den kleinen Stuben hier war 314 sie ihm nicht die Anna gewesen, mit der er draußen froh dahinschritt, draußen, wo es für sie damals immer Frühling war, wenn auch die Eissterne auf der blanken grünen Fläche sprühten und die Fischer sangen: Haalt Amsterdam, Rotterdam, Schie–dam . . .
Das hörte sie jetzt deutlich, und ganz deutlich rauschte auch das Wasser zu ihr her, wie an jenem Nachmittage, als sie nach Goldau fuhren – die glückseligste Fahrt ihres Lebens! Sie vernahm das Tucktucktuck der Hennen in Hinrichsens Garten und lauschte Pauls Flüstern dort unter der breiten Buche auf dem hohen Ufer am freien Meer. Sie beugte den Kopf wie damals zur Seite, und ihre Lippen bewegten sich und wollten ihn noch einmal küssen, den reinsten, wonnigsten aller Küsse. Dann wandelte sie mit ihm durch die Gärten. »Zu zwei, zu zwei,« sangen die Vögel, und »Sieh mal, sieh mal,« neckte der Grashüpfer, und es duftete und prunkte um sie herum. Aber plötzlich ward es Nacht. Er entschwand ihr . . . er, dem sie es dankte, das er sie hatte sehen und leben gelehrt. Er hatte ihr auch den Sternenhimmel eröffnet. Der war ihr von jener Zeit an nicht mehr klein, nicht mehr um der armseligen Erde willen geschaffen, wie Pastor Borchert es darstellte, – nein, der war groß, unermeßlich und von einem hohen gewaltigen Gott erbaut, dem nichts Menschliches anhaftete. – Aber die Enttäuschung, als jener Mann sich von ihr losriß, legte ihr wieder eine Binde über die Augen. Wer war schuld 315 an ihrem Unglück? Sie selbst? Sicherlich nicht. Ihre Eltern? Die auch nicht! Schuld hatte niemand, auch bei dem nicht, was nach den Tagen mit Körting kam. Sie wollte ja fromm werden, und da setzte sich ihr die Spinne an und biß und vergiftete sie. – Anna schauderte. – Der Himmel über ihr war matt und lichtlos, als sie an ihre erste Ehe dachte, an das fürchterliche Zusammensein mit dem Menschen, der alles Unschöne, der Lug und Trug in sie hineinpreßte. Und sie wehrte sich nicht? Nein. Sie sah es kaum, – es war klein und dunkel in den Stuben, wo sie miteinander hausten, es war stickig, und daher merkte sie nicht, wie er ihr immer mehr von dem nahm, was sie einst war, wie er sie umformte mit seiner Heuchelei und wie er den Rest vom Gottesgedanken aus ihr hinaustrieb. – Endlich war er fort. Die Sterne glommen von neuem auf. Mit Lust hatte sie gearbeitet für ihre Eltern und für sich, um herauszukommen aus dem unverschuldete Elend. Das war ihr auch mit Hilfe guter Menschen gelungen. Die Not ward überwunden, und die Familie P. C. Behm durfte jedem frei ins Auge sehen. Vater starb. War das wohl sein gutes, treues Gesicht dort oben zwischen den Sternen? – Nun hatte sie nachholen wollen, was ihr die Jugend nicht gab, denn sie lechzte nach dem Leben! – Wie der Sturm war Harald Juhl über sie gekommen, der ihr stark erschien. Grell leuchteten die Himmelslichter auf. Das hatte sie für Glück gehalten, was 316 er ihr bot. Sie war ihm gefolgt, weil er sie begehrte, sie konnte sich jung fühlen, denn er, ein Junger, pries sie liebenswert.
Ihr war, als käme ein schwüler Hauch zum Fenster herein, aber gleich wehte es wieder eisig kalt um sie. – »In rosa kannst du nicht mehr gehen, – du bist zu alt dazu.« Das hatte Bernhard gesagt, und Harald zuckte die Achseln dabei. Da begriff sie: ihre Jugend war unwiderruflich dahin, ohne daß sie wußte, wo sie geblieben wäre. War das ihre Schuld, wie sich alles gestaltete? War ihre Familie daran schuld? Nein, und tausendfach nein. Es war das Schicksal. Es mußte so kommen. Es gab keinen anderen Weg für sie – alles war ihr vorbestimmt und vorgezeichnet.
Jetzt lag er, an den sich ihr letztes Hoffen geklammert hatte, und rang mit dem grausigen Tode. Wenn er tot war, was dann? Dann ging das Dasein hier ewig so weiter, in dem dunklen Laden und den kleinen Stuben, die Hausglocke schellte, und die Uhr tickte. Das war alles, alles, was sie noch zu erleben hatte bis an ihr Ende. O daß sie dem entrinnen könnte! – Durch das schwarze Laub der Kastanie flutete ein stiller, silberner Strom, und es wurde hell und heller. Der Mond stieg auf. Feierlich rieselte sein Licht zu Anna herüber, feierlich schwebte er aufwärts, hoch und höher hinauf am Sternenhimmel. Annas Auge hing gebannt an ihm, seine volle große Scheibe dünkte sie schön, heilig, rein. Dort hinauf 317 zu können – fort, fort von hier, wo nichts war als die schreckliche Alltäglichkeit, an der sie dahinsiechte! Der Mond stand nun zwischen den beiden obersten Zweigen des Baumes. Ihr schien auf seinem Lichte ein Pfad zu sein, über die Kastanie hinweg und zu ihm. Das mußte leicht gehen, – schweben mußte man auf diesem hellen, herrlichen Wege!
Die Sehnsucht, die in ihr wogte, hob sie empor. Ihrer selbst sich kaum bewußt, stieg sie auf das Fensterbrett. Die Welt versank um sie, sie schaute nur immer mit weiten Blicken den Mond an, den ruhigen Mond, und eine selige Zuversicht erfüllte sie, daß sie zu fliegen vermöge, daß sie frei sei, frei von allem Irdischen. Noch hielt sie sich am Fensterkreuz und trank das Licht vom Himmel, und je mehr sie trank, desto leichter fühlte sie sich, desto weniger dachte sie an alles, was sie anging auf Erden. Erlöst wollte sie sein, nur erlöst für alle Ewigkeit von dem, was sie bis dahin beschwert hatte. Da kam ein leiser Wind und beugte ein wenig die Zweige der Kastanie. Das war ein Wink. »Ja!« rief Anna und breitete die Arme aus und schwang sich auf, damit sie fliegen möchte zum Licht, zur Ruhe, zum vollendeten Glück. – – – – – –
Am anderen Morgen erst fanden sie sie auf dem Hofpflaster. Da lag sie, wimmerte, und ihre Glieder waren zerschmettert. 318
* * *
Es war ein langes Lager im Krankenhause. Mutter Behm schleppte sich bisweilen hin, und Anna lag teilnahmlos. Sie starrte auf die Bettdecke. Wie sah das wohl aus, wenn sie erst aufstehen mußte? Sie hatten ihr das eine Bein am Knie abgenommen. Anna stöhnte. – »Nein, nie steh' ich wieder auf!« – Frau Behm wischte sich bloß die Augen, sie wurde stumpf und stumpfer. Das Leid nahm ihr allmählich die Besinnung, und die Unklarheit war ein Segen für sie . . .
Der Unheimliche kam vom Boden die Stiege herab und tippte Harald mit hartem Finger auf das Herz. Aber der wehrte sich verzweifelt: »Erst muß ich sie noch einmal wiedersehen, eher kann ich nicht sterben!« – Der Unheimliche sah ernst auf den Ringenden, und ein Schimmer von Mitleid und Barmherzigkeit überflog sein starres Antlitz: »Weißt du, Armer, was du erbittest? Das Härteste, – gerade das, was ich dir ersparen will.« – Aber Harald ließ nicht ab zu flehen und zu kämpfen.
Die Stunde kam, da öffnete sich die niedrige Thür zu seiner Schmerzenskammer, und herein trat Anna. Ungeschickt ging sie, am Stock, denn sie verstand das künstliche Bein noch nicht zu gebrauchen, – das künstliche Bein, das dumpf auf die Diele klappte. Sie war alt, grau und eingefallen. Harald stierte sie an, und dann sah er nach ihrem Fuß, – ein Stück Holz steckte unter dem Kleide. Und Anna stand und ließ den Kopf tief, tief herabsinken. Mit einemmale 319 bäumte sich Harald auf und schrie mit aller Gewalt. »Anna! Anna! Arme Anna!«
Seine wunde Brust riß entzwei, das Leben stürzte aus den zerstörten Gefäßen, und der Unheimliche nahm die Seele aus den Trümmern des Leibes und trug sie hin, wo alle Gedanken gleich Form werden, wo alle Träume wahr sind.
* * *
Auch die kleine Frau Bolette Behm wurde endlich hinausgetragen zu ihrem lieben Pappa. Darauf hatte sie sich schon lange gefreut. Sie war hinter ihrem Ladentisch erloschen wie ein niedergebranntes Licht, ein paar Wochen nach Bernhards lustiger Hochzeit. Jetzt hauste Anna allein in dem verfallenden Gebäude, das noch immer das Schild »P. C. Behm« trug. Ihr Holzfuß klappte auf dem Boden, und die Katze fuhr jedesmal erschrocken auf, wenn sie es hörte, bis das Tier eines Tags entflohen war.
So war es ganz einsam um Anna, die ihr Leben fristete von dem bißchen, was sie im Laden verkaufte, und etwas nähte für Damen, die dem früh vergrämten Weibe Gutes thun wollten, und ihr Arbeit brachten. Sie ging kaum aus. Einmal war sie bei Bernhard gewesen, vor dem Thore, aber die Stuben dort waren so hell, groß und lustig, und Bernhard war so 320 gesund und fröhlich, und seine Frau trug so stolz ihre Mutterlast – das war alles nichts für Anna. Sie hatte ja nicht einmal ein Kind! – Sie spann sich ein in ihre Gedanken und fragte sich nur immer: »Wozu? Warum das alle . . .?« – Eine Antwort aber fand sie nicht. Eines Abends faßte sie die Verzweiflung, – sie wollte Gift nehmen. Sie kratzte den Phosphor von den Zündhölzern und machte mit Reis einen Brei davon. Aber sie vermochte ihn nicht hinunter zu würgen, sie hatte Angst vor dem Schmerz – Verbittert, menschenscheu, stumm saß sie hinter dem Ladentisch. – –
Pastor Borchert kam zu ihr! – »Liebe Anna,« sagte er treu, als sie aus dem Laden trat und er ihr blasses Gesicht sah, »es thut mir alles herzlich leid.« – »Ja, Herr Pastor, das hilft aber nichts.« – »Wir müssen uns in Gottes Ratschluß schicken, so hart er auch sein mag.« – »Ach, was nützt mir das Schicken? Das war alles nicht nötig.« – Der Geistliche faltete die Hände. Anna, auf ihren Stock gelehnt, sah ihn fast gehässig an. Sie lud ihn nicht ein, mit ihr hinauf zu kommen in die Wohnstube, und sie blieben einander gegenüber auf dem Hausflur stehen. –»Wollen wir nicht zusammen beten, liebe Anna?« bat der Pastor gütig, »damit diese Eisrinde um Ihr Herz schmilzt? Ich begreife Ihre Bitterkeit wohl. Aber denken Sie: der Herr hat Sie durch Leid und Sorge und Schmerz hindurch geführt, – sollte er damit nicht seinen besonderen 321 Zweck haben? Sollte er nicht ein Plätzchen für Sie wissen, auf dem Sie ruhen können und mit ihm um so inniger verbunden werden? Sie sehen es nur noch nicht, dieses Plätzchen, weil Sie sich gegen den inneren Frieden auflehnen. Das Gebet wird Ihnen helfen. Kommen Sie, liebe Anna: nur ein Vaterunser.«
Anna lachte höhnisch auf. »Was soll mir Gott denn noch helfen? Früher hab' ich an all so etwas geglaubt, und es ist mir doch schlecht gegangen. Jetzt hat das für mich keinen Sinn mehr. Ich bin fertig mit Gott und aller Welt. Und wenn ich nicht feige wäre, würd' ich überhaupt ein Ende machen.« –»Früher, liebe Anna . . . Ja, sind Sie früher auch wirklich fest gewesen im Glauben? Sind Sie nicht leicht ins Wanken gekommen und haben Gott eher verlassen, als er Sie zu verlassen schien?« – Da sprach Anna und sah ihn furchtbar ernst an: »Ja, Herr Pastor. Weshalb war ich aber nicht fest? Wenn Gott allmächtig ist, warum konnte er mich nicht halten?« – »Das wissen wir nicht, Anna, seine Wege sind uns unerforschlich, er giebt uns eine gewisse Freiheit, damit wir selbst an unsrer Heiligung arbeiten. Er führt uns verschlungene Pfade, aber vertrauen müssen wir ihm: alles was er thut, gereicht uns endlich zum Segen. Es soll uns läutern. Seelisches und körperliches Leid bereitet uns vor auf die himmlische Klarheit, die wir einst schauen werden. Da giebt es keine Not und keine 322 Schmerzen, und wir erkennen dann, wie klein und gering doch schließlich das Elend war, das uns hier groß und unüberwindlich däuchte. Ringen Sie sich durch zum Gottvertrauen, so werden Sie Frieden haben und glücklich sein, trotz allem, liebe Anna!«
»Ich brauch' keinen Frieden, ich brauch' kein Glück mehr,« erwiderte sie hart und ungebeugt. »Ich habe danach gesucht und bin immer nur grausam enttäuscht worden. Jetzt such' ich nicht mehr. Ich will mich nicht wieder enttäuschen lassen.« – »In Gott giebt es keine Enttäuschung, denken Sie an das, was Jesus für uns erlitten hat. Denken Sie an das große, gewaltige ›Für uns‹! Er nahm auf sich unsere Schmerzen, – auch die Ihren, Anna, auch die Ihren. Vertiefen Sie sich in Jesus, – er zieht Sie zu sich, er erlöst Sie von Ihrem wilden Schmerz.« – »Ich danke, Herr Pastor. Jesus – was weiß ich von dem? Ich fühle ja noch meine Schmerzen, ich kann nicht glauben, daß er mich erlöst hat. Wenn wir Gottes Geschöpfe sind, soll er uns auch nicht quälen, – sonst haben wir ein Recht dazu, daß wir uns von ihm abwenden.« – »Anna!« rief der Geistliche. »Abwenden? Wissen Sie nicht, daß wir Gott nicht entrinnen und nähmen wir Flügel der Morgenröte? Wir müssen wohl mit ihm zu thun haben, denn alles ist in ihm und außer ihm ist nichts. Alles ist sein und sein Werk.«
»So?« fragte Anna, »auch das hier?«
Sie schlug das Kleid zurück und zeigte dem Pastor 323 ihr Holzbein. – Der zuckte zusammen, dann aber faßte er sich, sah sie mit hellen Augen an und sagte mit starker, fester Stimme: »Ja, Anna, auch das. Damit Sie lernen geduldig sein in Trübsal und die Hoffnung finden, die nicht zu schanden werden läßt, und Ihr Glück in Ihrem Innern suchen, nachdem alles Äußere Sie betrogen hat.«
»Wer hat mich betrogen?« fuhr Anna auf, »wenn mich jemand betrogen hat, so ist es Gott . . .« – »Anna!« rief der Geistliche und hob in mahnender Beschwörung den Arm, »Anna! Nicht zu weit! Gott hört es! Und er findet Sie. Anna! Ja er findet Sie, ob Sie sich auch sträuben, und er ist gut.« – Seine Sprache wurde weich. – »Lassen Sie sich Zeit, liebe Anna, es kommt der Tag, wo Sie mir recht geben.« – »Das glaub' ich nicht,« antwortete sie finster. – »Aber ich glaub' es, Anna, weil ich Sie kenne, und weil ich unseren Herrn Jesus kenne, der noch keinen verlassen hat, noch keinen.« – Anna wollte etwas entgegnen, aber ihr kamen die Thränen. – »Ich möcht' allein sein, Herr Pastor.« – Pastor Borchert drückte ihr die Hand innig: »Ein andermal mehr. Gott befohlen,« und ging.
Draußen auf der Steintreppe stand der wackere Geistliche dann und sprach herzlich mit seinem Gott. – »Führe sie die Pfade des Friedens, Herr, gieb ihr, was sie ihr Leben lang ersehnt und noch immer verfehlt hat: ein beständiges, ruhiges Glück. Du kannst es, o Herr, denn bei dir ist kein Ding unmöglich.«
324 So stand er und betete.
Und er hörte, wie Anna die Treppe hinaufhumpelte.
»Dump, dump, dumpe dump,« sagte das Holzbein.
Ende.