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Schelius wußte sich immer beliebter und unentbehrlicher zu machen. Er saß nachmittags ein Stündchen bei der kleinen Frau Bolette im Laden und war gemütvoll, sodaß sie aus einer Rührung in die andere fiel. – »Ja,« sagte er, »wenn man keine Eltern mehr hat, dann weiß man erst, was 206 sie wert sind. O wie sehne ich mich nach einem Vater und besonders nach einer lieben Mutter!« – Und Frau Behm war in ihrem Herzen innig gern bereit, Mutterstelle bei dem armen jungen Mann zu vertreten. Dem Alten gab Schelius Ratschläge, wo er am vorteilhaftesten einkaufen könne, und drängte ihn, sein Geschäft in der Koggenstedter Zeitung zu empfehlen, und als daraufhin wirklich mehr Kunden kamen und der Verdienst größer ward, war P. C. Behm unendlich dankbar. – »Ja,« meinte er, »es ist wahrhaftig wahr: das ist ein Mann, der denkt nicht an sich, der übt Nächstenliebe.« – Zur Belohnung las der Alte seinem Ratgeber aus dem Brief an den Kaiser vor, der jetzt schon bis zum Jahre 1518 reichte, wo Koggenstedt die große Belagerung durch die Dänen ausgehalten hatte. Die Feinde hatten den schönen Turm von Sankt Jakobi schändlich heruntergeschossen, waren aber endlich mit Gottes Hilfe von den tapferen Koggenstedter Bürgern in einer nächtlichen Schlacht zum Abziehen gezwungen worden. – Behm bemerkte dazu: »Ich muß ihm das alles sagen, denn, sehen Sie, er muß wissen, wie es früher bei uns ausgesehen hat und daß wir sozusagen eine kriegerische Vergangenheit haben. Wenn er das liest, wird er selbst denken: Koggenstedt muß Kriegshafen werden. Meinen Sie nicht auch?« – »Aber natürlich! Ausgezeichnet!« rief Schelius inbrünstig, »so etwas Interessantes bekommt er selten zu lesen!«
Die Bewunderung, die Schelius ihm zollte, war 207 ein Trost für P. C. Behm, denn seine Brüder von der Koggenstedtia waren lau geworden und wollten schon gar nichts mehr von dem Brief an den Kaiser hören. Sie gingen unter in Schafskopfspielen und Anprosten. – »Du wirst ja all dein Dag nicht fertig, P. C.,« sagte Bäckermeister Jaspersen und klimperte mit den Thalern, »und denn sind das überhaupt alles bloß alte Geschichten, die du aus deinem verschimmelten Schmöker abschreibst.« – »Ja, was du abschreiben nennst!« fuhr P. C. auf, »abschreiben! Ich sage dir, ich muß das durcharbeiten, daß mir der Kopf raucht!« – »Na meinetwegen,« entgegnete der Bäcker. »Un wenn du mit dat Opus in de Reeg büst, segg uns man Bescheed. So lang künnt wi ja 'n lütten Pott Schapskopp speelen.« – So wurden die Sitzungen der Koggenstedtia immer flacher und inhaltloser, und P. C. Behm mußte alle seine Ideale tief in der Brust verbergen. Und er hatte es sich erhaben gedacht! – Einmal fing er davon an, ob man nicht Herrn Schelius in den Klub aufnehmen könne, aber da erhob der freigeistige Pfeifendrechsler Ahmsetter ein groß Geschrei und sagte bissig: »Wir sind hier nich in 'n Jünglingsposaunenverein!« – »Nu, nu, nu, was Böses thun die da auch nicht,« beschwichtigte Buchbinder Maack mit aa und ck ihn, und Hannes mit'n scharpen Blick mißbilligte den Ausfall gegen die Kirche gleichfalls und räusperte sich vielsagend: »Hm.« – Bäckermeister Jaspersen wollte nicht gegen den Jünglingsverein 208 reden, denn dort wurden bei christlichem Thee viele Stuten verzehrt, und also konnte man nicht behaupten, daß der Verein eine zu verwerfende Einrichtung war, aber Schelius war ihm auch nicht sympathisch, und er fand, klug wie er war, einen anderen Gesichtspunkt heraus, von dem aus man sich gegen die Aufnahme dieses Herrn wenden konnte. – »Seht mal, Kinnings,« setzte er auseinander, »wer bei uns eintritt, der muß mindestens seine vierzig Jahre auf 'm Puckel haben, – wie kann er sonst die nötige Einsicht haben in die swierigen Fragen, die wir hier entscheiden? Und außerdem muß er geborner Koggenstedter Bürgersmann sein, sonst hat er nicht den richtigen Interesse für unsere Sachlagen. Wir dürfen hier keine Ausländers und jungen Elementen 'reinlassen, die das all' nicht ernst nehmen.« – Er trank selbstzufrieden sein Seidel leer, während die Koggenstedtia-Brüder mit Ausnahme ihres Präsidenten ein Beifallsgemurmel hören ließen. Schelius war durchgefallen.
»Sie haben bloß Angst, daß jemand hineinkommt, der ihnen geistig überlegen ist,« sagte Bernhard, als sein Vater ihm die Niederlage schmerzbewegt erzählte. – »Ja, so ist es,« bestätigte P. C. Behm, »ihnen fehlt der große Blick. Sie sorgen nur für sich.« – »Macht nichts, Olling,« tröstete Bernhard, »die Hauptsache ist, daß Schelius nun bald zu unserer Familie gehört.« – »Ja, ja, ja, das wäre ein Herzenswunsch von mir,« entgegnete der Alte. – 209 Bernhard arbeitete unermüdlich daran, Schelius zum Schwager zu bekommen. Der paßte ihm. Der war nicht mehr als er selbst und imponierte ihm zugleich mit seinen Kenntnissen und seiner Schlauheit. – »Wißt ihr: Bureauvorsteher – das ist beinahe so gut wie Beamter. Und was kann er uns alles helfen, wenn wir mal einen Prozeß bekommen oder so. Sei doch nicht dumm, Annsch.« – So redete er, und Anna wurde immer betäubter von dem Gerede. Es schien ihr schließlich selbst notwendig zu sein, daß sie Schelius nähme. Sie konnte ihm nicht ausweichen. Er war überall, überall mit diesem demütigen Lächeln, das doch sagte: »Ach, zier' dich nicht. Ich weiß Bescheid.« – Er beängstigte das Mädchen oft, und sie wehrte sich dennoch nicht gegen ihn. Sie war bei Körting reif geworden. Sie hatte mit der Seele geliebt, und davon waren ihre Sinne aufgewacht. Mit anderen Männern vermochte sie Schelius nicht zu vergleichen, denn sie kannte keine, und daher schwand allmählich das Abstoßende, das er eine Zeit lang für sie gehabt hatte, er mit seinem Zwiebelkopf und den langen, gelenkig schlenkernden Gliedmaßen. Alles drängte sie, ja zu sagen, und sie sagte denn auch ja, als Schelius eines Tages, feierlich in Schwarz gehüllt, mit Zylinder und Glacéhandschuhen, ankam und dem alten Behm eine große Visitenkarte überreichte, auf der zu lesen stand: Gottlieb Schelius, Bureauvorsteher. – »O, das ist ja . . .« rief der Alte, »nein! Da gratulieren wir aber! Wie 210 ist das nur so rasch gekommen.« – »Na, Herr Behm,« antwortete der feine Gottlieb, »das muß man eben verstehen. Der Herr ist mächtig in den Schwachen. Wenn das meine guten Eltern noch erlebt hätten,« seufzte er und wendete sich mit seinem Zylinder dahin, wo Frau Behm saß. – »Ach Gott ja,« nickte die kleine Frau, und die Thränen traten ihr in die Augen. – »Na, hör' mal, oller Knabe,« schlug Bernhard vor, »da wollen wir aber heute abend ganz gehörig einen drauf biegen.« – »Ich wollte euch gerade dazu einladen,« sagte Schelius. »Ich gebe eine kleine Kneipe. Echtes und Eisbein.« – Bernhard lief das Wasser im Munde zusammen. »Dunnerwetter,« murmelte er.
»Aber was ist das alles?« fing Gottlieb Schelius wieder an, »was nützt es, wenn man es auf der Welt immer weiter bringt und einem doch das fehlt, wonach man sich herzlich sehnt?« – »Tscha, tscha,« bemerkte P. C. Behm und war verlegen über die Feierlichkeit, mit der Schelius auftrat. – Der fuhr weich fort: »Und deshalb komme ich eigentlich zu Ihnen, Fräulein Anna . . .« – Anna stand auf und ging ans Fenster. – »Darf ich Sie hier, in Gegenwart Ihrer ehrwürdigen Eltern (Frau Bolette weinte) und Ihres mir so liebgeschätzten Herrn Bruders (Bernhard richtete sich stolzer empor und zwirbelte den Schnurrbart auf), darf ich Sie fragen, ob Sie die Meine werden wollen zu einer vom echten christlichen Geiste durchdrungenen Ehe?« – Alle sahen gespannt auf Anna. P. C. Behm 211 hielt wie beschwörend die Hände gegen sie, Frau Behm hatte die ihren im Schoße gefaltet, und Bernhard fragte: »Na, Schwesting?« – Und Anna sagte leise und schlicht: »Ja, Herr Schelius.«
O nein, da war große Freude in Familie P. C. Behm. Bernhard eilte, daß die Verlobungsanzeige noch heute abend in die Zeitung kam, ordentlich fettgedruckt sollte sie werden und mit einem Rand aus lauter Rosen. Frau Behm kochte einen wunderschönen Kaffee; die Zichorie, die sie des kräftigeren Geschmackes wegen zusetzte, war mit ihren Thränen benetzt worden, und der Alte holte schnell von Michelsen um die Ecke ein Dutzend Zigarren à sechs, die eine Hälfte von der dunklen und die andere Hälfte von der hellen Sorte. – »Sehen Sie, lieber Herr Nachbar,« sagte der kleine Michelsen, dessen Gesicht und Hände braun waren wie abgelagerte Brasilblätter, »es ist Einbildung, wenn die Herrschaften sich einbilden, daß die dunkeln stärker sind als die hellen. Aber kann ich was dagegen machen? Ich kann es nicht. Darum sag' ich auch garnichts dazu. Na, viel Vergnügen!« – Währenddessen war Anna mit Schelius allein im Zimmer geblieben. Nun durfte sie ihn nicht mehr zurückweisen, als er kam und sie küssen wollte. Er umfaßte sie und küßte sie langsam, lauernd, daß ihr heiß ward, und hielt sie eisern fest und flüsterte, und sie konnte die Augen nicht zu ihm erheben. Sie schämte sich und dachte einen Augenblick: wie frei sie Körting hatte anblicken können draußen unter der 212 großen Buche auf dem hohen Ufer. – Schelius nahm Besitz von ihr, er goß etwas in sie hinein, das sie noch nie empfunden hatte, das sie schlaff machte. Als Bernhard zurückkam und Mutter Behm den Kaffee brachte und Vater Behm sich eine helle à sechs anzündete, war Anna eine andere geworden. Ihre Nasenflügel zuckten, und ihre Augen hatten etwas Brennendes.
Was war es für eine herrliche Verlobungsfeier. Die Alten schwammen in Behagen und Wonne, und Mies bekam ein Stück Stuten in lauwarmer Milch. Das Kaffeegeschirr blitzte blank wie noch nie, der Rahm war schön fett gelb und der Zucker so leicht löslich! Frau Behm ging hin und her und nötigte und häufte ihrem lieben Schwiegersohn einen ganzen Berg von Plättchen, sieben für einen Groschen, auf den Teller und schenkte ihm immer wieder ein, und er trank, trank ihr zu Gefallen immer wieder aus, während er seinen einen Fuß auf Annas Fuß gesetzt hielt, die sich ihm nicht zu entziehen wagte, obschon es ihr weh that. Als der Kaffee verzehrt war, gab es Bier, und P. C. Behm wollte eine Rede halten und verfiel dabei in den alten Chronikenstil: »Alldieweil und insofern, insonderheit und wasmaßen in diesem Jahre und an diesem Tage es sich also begeben, . . .« – »Vadding, halt die Luft an,« bat Bernhard, »laß sie einfach leben, – sonst fängst du doch noch erst bei der Gründung von Koggenstedt an.« – Der Alte nahm den Scherz garnicht übel, 213 lachte und hob sein Glas und schwenkte es ordentlich in der Luft herum und ließ das Brautpaar leben, und Bernhard stimmte mit ein, aber er rief: »Hurra, hurra, hurra!« ganz kurz, mit dem Ton auf der ersten Silbe und ohne die beiden r mit auszusprechen. Er war nämlich in Uniform, da durfte er sich doch nicht des simplen Zivilistenhochs bedienen. Frau Bolette aber rief: »Hoch!« und das klang, als wenn die Schiffe schon ganz weit weg vom Kopenhagener Hafen sind und dann noch einmal tuht! sagen. Ja, die glückliche Schwiegermutter trank sogar ein Glas Bier, doch das vertrug sie nicht, denn sie wurde nun so ausgelassen, daß sie ihren lieben neuen Sohn immer auf die Backe streichelte und ihrem Pappa den Rücken klopfte und Anna auf den Arm tippte und Mies kraulte. Bernhard bekam einen Kuß von ihr. Alle tranken mit Schelius auf du und du, und dieser erzählte, daß er sich beim Reichstagsbureau als Stenograph melden wolle – später, denn erst müsse man sich hier gemütlich einrichten. Dabei drückte er Anna, die ziemlich ernst und nachdenklich war, hart die Hand. Es schmerzte sie, aber der Schmerz war ihr fast lieb. – Nachher zog Schelius mit Bernhard und dem Alten ab, denn P. C. Behm mußte auch mit zu der Kneipe, und er steckte sich fünf gebrannte Kaffeebohnen ein. Wenn man die während des Trinkens kaute, schadete einem das Bier nicht. Die beiden Frauen blieben zu Hause. Die Zeitung kam. Da stand es drin: Die Verlobung 214 ihrer einzigen Tochter . . beehren sich . . . – Anna starrte neben ihrer Mutter sitzend lange auf das Blatt. Was Körting wohl dazu sagte? Mit einem Male sprang sie auf und eilte, ehe die Mutter sie fragen oder zurückhalten konnte, zum Haus hinaus, ins Freie.
Nach einem langen Spaziergang kehrte sie heim. – »Ja, wo bist du bloß, Anna? Ich sitz' hier in Sorge um dich!« – »Ich mußte frische Luft haben, Mutter.«
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Nun wurde überlegt und beraten. Wo sollte das junge Paar wohnen, wenn es im Herbst Hochzeit machte? Bernhard war dafür, daß sie sich eine schöne Wohnung in der Ulmenstraße nähmen. – »Wenn's auch was kostet, Kinder, es sieht auch nach was aus. Es ist für mich lange nicht einerlei, wie mein Schwager wohnt. Die da oben lassen sich über alles Bericht erstatten.« – Aber Frau Behm brachte es nicht über's Herz, ihre Tochter von sich wegziehen zu lassen. – »Nein, nein, wenn ich dich nicht seh' jeden Tag, so wird mir rein einsam. Ihr könnt ja doch hier in der zweiten Etage wohnen, da spart ihr die viele Miete und wir sind immer zusammen.« – Schelius gab ihr recht: »Ja, Mutter, ich kann es dir nicht verdenken. Du hast nur die eine Tochter. Und wir haben uns alle so lieb, daß es 215 eigentlich Sünde ist, wenn wir voneinander gehen.« – »Das ist wieder sehr schön gesagt, mein Junge,« meinte P. C. Behm. – Er entbehrte Anna auch nicht gern, und deshalb beschloß man nach vielen, vielen Beratungen, daß die Vorderstube im zweiten Stock, die unbenutzt stand, das Schlafzimmer der jungen Eheleute werden sollte. Weiter brauchte nichts geändert zu werden. Sie wollten die alte Wohnstube gemeinschaftlich haben und ebenso gemeinsam kochen. Das war das allereinfachste und billigste. – »Wir könnten es uns großartiger leisten,« bemerkte Schelius, »aber ich bin immer dafür, daß man das alte patriarchalische Familienwesen hochhält.«
Ein Paar hübsche Betten, zwei Waschtische mit marmorierter Platte und andere kleine Möbel wurden gekauft. Schelius bezahlte alles, und damit war die Ausstattung fertig. Anna fing an, ihre Wäsche und ihr Brautkleid zu nähen. Frau Behm half redlich, sie saß den ganzen Tag im Laden und nähte und säumte und strickte, und Mies schaute zu ihr auf, als wollte sie fragen: »Du, was ist eigentlich hier los?« – Mies war alt geworden und mochte nachts garnicht mehr auf kleine Piepmäuse jagen, sie wurde grämlich und fett und fauchte die Käufer an, die sie in ihrer Ruhe störten. Besonders feindlich war sie gegen Schelius gesinnt, obgleich er versuchte, sie mit Leckereien und Schmeicheleien zu gewinnen. Sie tatzte nach ihm, wenn er ihr nahe kam. – Vater Behm schlug vor: »Laß uns sie abschaffen.« – »Ach nein, 216 laß sie man hier,« bat Frau Behm. »Sie stirbt wohl bald.« – »Der Gerechte erbarmt sich des Viehs,« sagte Schelius, und seine kleine Schwiegermutter faltete gleich die Hände. – Schelius mischte sich in alles. Er wählte die Leinwand mit aus, die Anna für ihre Aussteuer brauchte, er wünschte, daß sie diese oder jene Spitze verwendete, und wenn er mit der fleißig nähenden Anna allein war, machte er Bemerkungen über das, was sie da nähte. Sie errötete, aber es kam auch schon vor, daß sie lachen mußte. Abends ging das Brautpaar Arm in Arm in den belebtesten Straßen spazieren, und Schelius grüßte die Leute wie ein Geheimer Oberjustizrat.
Sogar nach Goldau fuhren sie einmal hinaus – alle Behms zusammen. Anna langweilte sich auf der Fahrt. Sie hörte nicht mehr auf das emsige Buttje buttje des Dampfers, und der Maschinist hatte Öl genug im Kännchen und brauchte nicht künstlich zu schmieren. Die Tiepe-Hühner und das kleine Jip-jip-Zeug, die in Hinrichsens Garten angetrippelt kamen und Brot und Stuten haben wollten, wurden von Bernhard und Schelius fortgejagt, der Kaffee war flau und die Butter alt. Im Walde war auch nichts, was Anna reizen konnte. Sie pflückte Blumen und schmückte sich und ihren Bräutigam damit, aber der sah nicht gut aus mit einem Strauß am Busen und warf ihn weg, weil er das fühlte. – »Es sind oft Ohrwürmer in den alten Dingern,« sagte er. – Sie gingen alle fünf auf den Waldwegen mit 217 Gesichtern, als ob sie im Grunde nicht wüßten, was sie hier sollten. Bernhard erzählte, daß in Goldau kürzlich eine Postagentur eingerichtet worden sei, und der alte Behm hatte dem Vater von dem jetzigen Hinrichsen vor Jahren einmal sechs Unterjacken, von den dicken halbwollenen verkauft. Der neue Hinrichsen kaufte unten am Wasser bei seiner Tante. Nur in Frau Behms Seele weckte der Wald etwas wie poetische Erinnerungen. – »O, das ist gerade beinah wie in Dyrehave. Da bin ich oft gewesen, als ich war ein junges Mädchen. So spielten wir Reifen und Verstecken mit die jungen Herren. O ja.« – Sie kamen auch an die Stelle, wo Anna und Körting einst umschlungen gestanden hatten, aber sie traten nicht auf den Rand des hohen Ufers unter die Buche hinaus. – »Es zieht,« warnte Schelius. – Anna warf einen Blick nach dem Platz. Hatte sie von ihm geträumt? Oder war sie wirklich dort gewesen? Sie wußte es fast nicht mehr. – Auf der Heimfahrt setzten sich Behms alle in die Kajüte eng zusammen, denn oben an Deck war es zu kalt. Das war Anna Behms Brautfahrt nach Goldau.
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Schelius hielt sie fest in den Fingern und wurde immer mehr Herr in der Familie. Anna mußte stets an ihn denken. Es war freilich keine klare, hohe, freie Liebe, mit der sie zu ihm hinsah. 218 Bisweilen fühlte sie sogar einen Haß gegen ihn darüber, daß er sie in der Gewalt hatte. Leise kam er, leise sagte er ihr Dinge, die in ihr nachwirkten wie Gift, und brachte ihr Bücher, die sie erst wegschleuderte und dann, wenn sie allein war, doch hervorholte. So machte er sie willfährig. – Die Familie that bald nichts, ohne zu fragen: was sagt Schelius dazu? Bernhard lehnte sich freilich dann und wann gegen diese Herrschaft auf, aber das half ihm nichts mehr, und er war auch zu bequem und freute sich schließlich, wenn der Schwager für alles sorgte. Bisweilen verreiste Schelius, wie er angab, in Geschäften nach Hamburg oder Kiel, und es kam Behms dann förmlich leer vor. Anna war eifersüchtig und quälte ihren Bräutigam, wenn er wiederkam, daß er ihr alles erzählen sollte, was er gethan und gesehen hatte. Der sprach nur von Arbeit und Arbeit, doch in Anna blitzte es manchmal auf: Jetzt sagt er mir nicht die Wahrheit. – Sie hatte kein Vertrauen zu ihrem zukünftigen Manne, desto eifriger war sie aber deshalb bestrebt, ihn zu fesseln. Sie kokettierte mit ihm und war oft freigebig mit kleinen Rechten.
Der Hochzeitstag kam. Bernhard hatte Galauniform angelegt, und der alte Behm wandelte im langen Bratenrock einher und bürstete immer mit dem Ärmel auf seinem Zylinder herum. Anna war bleich. Sie trug ein dunkelbraunes Wollkleid, das ihr gar nicht stand, aber Schelius liebte braune Wolle. Frau Behm war im Schwarzseidenen, dessen Nähte auf dem 219 Rücken platzten. Um zehn Uhr kam Schelius mit einem großen Strauß und fein angethan wie ein Ministerialassessor, der bei Exzellenz zu Diner soll. Bernhard drückte dem Schwager männlich gefaßt die Hand, sie waren beide ein bißchen heiser und sahen verschwommen drein, denn sie hatten gestern abends stark gekneipt. Der Wagen fuhr vor, und das Brautpaar mit P. C. Behm und Bruder Bernhard stieg ein. Die Nachbarn hatten sich auf dem Fußsteig aufgestellt und begutachteten alles. Minna von gerade schräg über vor war mit der Partie zufrieden. »Bloß das alte Braune hätte sie nicht anziehen müssen. För'n Bruut hört sich wat helles.« – Der Wagen fuhr ab, und Frau Behm stand in der Hausthür und sah ihm nach. – Im Standesamt erfuhr Anna zu ihrem Erstaunen, daß ihr Mann gar nicht Gottlieb, sondern August Philipp Schelius heiße. Diese Entdeckung beschäftigte sie so stark, daß ihr Jawort ganz mechanisch herauskam. Beim Gehen fragte sie ihn: »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du August heißt?« – »Ach, weißt du, Gottlieb klingt besser. Ich nahm mir den Namen an, als ich viel für den Jünglingsverein arbeitete.« – »Mir hättest du's aber sagen müssen.« – »Na, das bleibt sich ganz gleich,« entgegnete er ärgerlich und schob sie in den Wagen. Das war ihre erste Unterhaltung im jungen Ehestand. Bernhard fand, es sei ein famoser Witz, daß Schelius sich bei den Frommen Gottlieb genannt habe, aber P. C. Behm war ernst dabei und bat: »Wir wollen 220 es Mudding nicht sagen. Sie hat sich einmal daran gewohnt. Wir können dich ja immer Gottlieb nennen.« – »Aber bei der Trauung hört sie es,« warf Anna ein. – »Denn sagen wir einfach, der Paster hat sich versprochen,« entschied Schelius kurz. – Daheim küßte die kleine Frau Behm ihre Lieben voller Rührung, und Bernhard und Schelius nahmen sich ab und zu einen kleinen aus der Flasche im Eckschrank, zur Ermunterung. Alle freuten sich über die Blumen und die Glückwünsche, die von den Bekannten kamen, und über die große silberne Kuchenschale, die der Rechtsanwalt, dessen Bureau Schelius vorstand, geschickt hatte. Um halb zwölf kam eine Deputation von der Koggenstedtia, und sie stießen mit Mosel an, der sauer war und ihnen die Kehle zusammen zog. Das war aber gerade feierlich. Um zwölf aßen sie; es wurde zwar nur wenig. Dann steckten sich die Männer ihre Zigarren an, doch der alte Behm druselte bald ein bißchen, wie gern er sich auch hatte wach halten wollen. Frau Behm zog Anna für die Trauung an, und die junge Frau sah stattlich aus in ihrem weißen Mullkleide mit Schleier und Myrtenkranz. »Daß ich gar keine Brautjungfern habe,« klagte sie. – »Ja, ja,« stimmte die Mutter wehmütig ein, »wer sollte das aber sein? Du gehst nicht um mit einer, und es wäre viel teurer geworden, wenn wir hätten gegeben Gesellschaft«. – Anna schwieg, früher hatte sie sich ihren Hochzeitstag anders vorgestellt. Nun, damit mußte sie sich abfinden. Das Leben war nicht, wie 221 ein junges Mädchen es sich träumte. Die Droschke fuhr wieder vor, und diesmal stieg die kleine Frau Behm mit ein, um zur Kirche zu fahren. Bernhard ging zu Fuß, weil doch nur vier in die Droschke hineinkonnten und die Leute ihn gewiß auch gern mal in Galauniform sahen. – Pastor Borchert sprach in Sankt Anschar herzlich vom lieben Gott, der auch diese Ehe nach seinem weisen Ratschluß geschlossen hatte und die Eheleute fortan begleiten wollte bis an ihr seliges Lebensende. Frau Behm überhörte es in ihrer Rührung, als der Geistliche endlich den vor ihm knieenden August Philipp Schelius aufforderte, sein Jawort zu sprechen. Pastor Borchert hatte sich über den Namenwechsel wohl gewundert und konnte sich keinen rechten Vers darauf machen, aber Böses dachte er nicht von seinem lieben Schelius. Er segnete das Paar und blickte treu auf die beiden: es waren ein Paar echt christliche Herzen, die er miteinander verbinden durfte. – Nach Hause ging der alte Behm zu Fuß, denn Bernhard sollte auch etwas von der Droschke haben. Der Nachmittag schleppte sich hin. Die Männer machten einen Spaziergang, während Anna sich umzog und Frau Behm das Abendessen bereitete. Der Laden war geschlossen. Sie aßen zusammen; Mutter hatte wunderschöne Matjes bekommen und herrlich mehlige Pellkartoffeln, die stippten sie in klare Butter.
Anna saß dabei, sie war wie abgeschlagen. Sie hätte weinend in ihr Mädchenstübchen fliehen mögen. 222 Aber es gab kein Entrinnen. Dann kamen noch peinliche Stunden. Man saß und saß, und niemand wollte zuerst gute Nacht sagen. Endlich ging Anna, die die Beklemmung nicht mehr ertragen konnte, hinaus, ohne ein Wort zu sagen. Sie wollte das Flurfenster öffnen und Atem holen. Da folgte ihr Schelius und zog sie nach oben. So wurde Anna Behm Frau Bureauvorsteher Schelius.
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Eigentlich änderte sich mit Annas Verheiratung nichts in der Familie P. C. Behm. Es war nur einer mehr am Tisch, und er aß tüchtig und kümmerte sich im übrigen um alles, was im Hause vorging. Frau Behm saß nach wie vor in ihrem kleinen Laden, der Alte schrieb an seinem Brief, wenn er nicht, was ab und zu vorkam, auf einem Wagen oder mit der Bahn eine Tagesfahrt auf's Land hinaus machte, um die Kundschaft zu besuchen, und Bernhard war in dieser ersten Zeit ein Herz und eine Seele mit seinem Schwager. Anna beschäftigte sich wie gewöhnlich mit Handarbeit. Sie ging nicht mehr so häufig aus wie früher, sie war nicht frisch und hatte etwas Lässiges im Wesen, aber das fiel niemandem auf. Es war reichlicher im kleinen Haushalt, denn Schelius steuerte gut bei zur gemeinschaftlichen Kasse, und auch Bernhard zahlte eine höhere Pension, weil er die schöne Zulage bekommen hatte. Sonst war alles wie immer, 223 nur Mies war nicht mehr da. Die hatten sie eines Morgens tot auf dem Boden gefunden, und Frau Bolette weinte ihr ein paar Thränen nach und war in ihrem Gewissen froh und ruhig darüber, weil man das treue Tier bis zu Ende behalten und nicht im Alter verstoßen hatte. Eine neue Mies mußte angeschafft werden, weil die Mäuse überhand nahmen. Und es kam ein großer gelber Kater ins Haus, lange nicht so sanft und zutraulich wie seine Vorgängerin, aber auf Mäuse war er schärfer. Er mochte nicht in der Stube sein und erhielt deshalb sein Essen draußen auf dem Flur. Die alte Mies fehlte der Mutter recht im Laden; oft sah sich die kleine Frau beim Gehen um, denn es schien ihr, als scheuere sie ihr noch am Kleide. Und wenn sie dann die Täuschung bemerkte, konnte sie traurig werden.
Nur gut, daß sie nicht viel Zeit hatte! Der Handel ging an manchen Tagen flott, und das verdankten sie Schelius, der viele Leute kannte und jeden den er sprach, darauf hinwies, was man bei P. C. Behm für feine und billige Waren bekam. Auch den Jünglingsverein vernachlässigte er nicht. – »Da sind gerade die drin, die bei uns kaufen,« sagte er, und Anna mußte mit hin, wenn sie auch keine Lust mehr fühlte, Pastor Borcherts freundliche Ansprachen zu hören. – Schelius machte alles. Er führte dem Alten die Bücher, besorgte die Einkäufe, verlangte aber dafür auch nach und nach, daß man ihn als den Ersten im Hause ansah, und es kam soweit, daß er 224 Bruder Bernhard allmählich verdrängte. Er nahm sich immer das größte Ei und den dicksten Bismarckhering, und nach dem Abendbrot streckte er sich gemütlich auf dem Sofa aus, wo Bernhard früher gelegen und seine Zigarre geraucht hatte. Dieser mußte sich mit dem Korbstuhl begnügen, der bei jeder Bewegung knack sagte. Das verursachte den ersten Mißton zwischen den beiden Schwägern, aber Bernhard wagte es nicht, mit Schelius selbst darüber zu sprechen und sein Recht zu verfechten, und schüttete deshalb der Mutter sein Herz aus. – »Du,« meinte er, »das ist alles recht wohl und gut mit Gottlieb (so wurde Schelius trotz seines wahren Namens genannt), aber schließlich bin ich doch auch vorhanden, und das paßt mir einfach nicht, wenn er sich alles nimmt, was ich gehabt habe.« – Mutter war unglücklich. – »Ja, min söde Jung, was soll ich man thun? Soll ich Anna bitten, daß sie mal spricht mit ihm?« – »Ja, das thu' man, Mudding. Auf dem Sofa hab' ich gelegen, so lange ich denken kann.« – Frau Behm kam zaghaft zu Anna: »Klein Deern, ob du es wohl Gottlieb sagen magst? Bernhard wollte abends gern wieder sein Sofa haben.« – Anna setzte eine fast mürrische Miene auf. – »Ich finde,« sagte sie, »das Sofa kann Bernhard meinem Mann gern überlassen. Gottlieb arbeitet viel und muß abends liegen. Wir wohnen hier ja auch bloß, weil ihr es haben wollt.« – Frau Bolette Behm war ratlos und tief bekümmert. Sie fragte den alten 225 Behm: »Ob ein Sofa wohl teuer ist, mein Pappa?« – »Was denn?« – »Ja, ich mein', ob wir uns noch eins anschaffen? Für Bernhard, weil Gottlieb jetzt immer da liegt. – »Wir haben gar keinen Platz dafür, Mamma.« – »Können sie denn nicht abwechseln? Einen Tag Bernhard und einen Tag Gottlieb?« – Behm nahm Partei für seinen Schwiegersohn. – »Bernhard ist ein junger Mann, und Schelius ist verheiratet.« – »Ja, das ist auch so,« sagte Frau Behm ergeben. Einen Ausweg wußte sie nicht.
Anna verschwieg ihrem Manne die kleine Unterredung mit der Mutter nicht. Der lachte nur. Aber am nächsten Abend meinte er höflich zu Bernhard: »Bitte, wenn du hier lieber liegen willst, – ich will dich selbstverständlich nicht irgendwie berauben.« – Bernhard genierte sich und lehnte ab: »Ach nein, ich mach' mir garnichts draus. Leg' du dich nur hin.« – Seit der Zeit war Schelius unbeschränkter Besitzer über das Sofa, und wie in dieser Sache, ging es im Laufe mancher Monate mit allem.
Anna war vollständig sein Geschöpf. Das träge Leben machte sie üppiger, und sie konnte viertelstundenlang müßig sitzen, die Hände im Schoß, mit halbgeschlossenen Lidern und eben offenem Munde. Sie nahm keinen Anstoß an den Manieren ihres Mannes, der sich gehen ließ und keine Spur von der Demut an sich hatte, die er früher zur Schau trug, sie lächelte über die zweideutigen Witze und Worte, die er ihr zuflüsterte. Er konnte thun und lassen, was er wollte, 226 sie verteidigte ihn: »Gott, er hat recht. Was wollt ihr ohne ihn anfangen?« – Sie las nicht mehr, sie dachte nicht über das nach, was sie einst innerlich bewegt hatte, sie sehnte sich nicht ins Freie. Unter seinen Händen ward sie weich und weichlicher, und die Luft lag schwer und lähmend in allen Räumen des schmalen Hauses. Etwas Unreines war darin. Das kam auch daher, weil Anna die Stuben nicht blitzblank hielt. Sie vernachlässigte die Fußböden, die sie sonst mit Milch zu feudeln pflegte, bis sie glänzten, sie wischte nur obenhin Staub und hielt die Fenster am liebsten geschlossen. In der Familie empfand freilich niemand diesen Wechsel. Wenn Schelius jetzt aus alter Gewohnheit Bibelsprüche anführte, zuckte Anna spöttisch mit den Mundwinkeln: sie kannte ihren Mann besser. Sie ging einher, wie eingehüllt in trübgelbe Luft, die vor ihren Augen flimmerte, daß sie nicht klar sah. Sie hatte aber auch garnicht den Wunsch, klar zu sehen, – das Verschwommene war ihr behaglich. Gottlieb Schelius verstand sich darauf, ihre Seele zu dämpfen und das feine Gefühl in ihr zu betäuben.
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Eines Tages kam Schelius bleich nach Hause. – »Na, nun ist das aus,« sagte er zu seinem Schwiegervater, der allein im Zimmer war. – »Was meinst du?« – »Ach, ich hab' mich mit dem Rechtsanwalt überworfen. Fällt mir nicht ein, mich 227 wie 'n Schuhputzer behandeln zu lassen. Verklagen will ich den Kerl.« – »Um Gotteswillen,« rief Behm, »bloß nichts mit dem Gericht! . . . Hast du deine Stelle verloren?« – »Verloren? Ach du je! Ich könnte da sitzen, bis ich schwarz würde, aber ich will nicht. Ich geh' nicht mehr hin.« – Der Alte war aufs höchste beunruhigt. – »Ja, was soll aber werden, Gottlieb? Wovon wollt ihr leben?« – »Ach weißt du, Vater, das ist das wenigste. Ich tret' einfach bei dir ins Geschäft. Danach hab' ich mich lange gesehnt.« – »Aber du wolltest dich doch beim Reichstag melden oder so . . .« – »Ist ja Unsinn. Ich bin der geborene Kaufmann. Siehst du: ich werde mit siebenhundertfünfzig Mark stiller Teilhaber bei deiner Firma. Dann bringen wir die Sache aber mal in Gang!« – »Ja, das glaub' ich nicht, daß das Geschäft uns alle ernähren kann.« – »Nicht? Oho! Kleinigkeit. Modern muß der Kram eingerichtet werden. Ein Welthaus mach' ich hier auf.« – »Nein, nein. Das soll alles so bleiben. Das hab' ich Mamma versprochen.« – »Nun, denn etablier' ich mich wo anders. Junger Mann wie ich geht nicht unter. – Was sagst du, Anna?« fragte er seine Frau, die in ihrem Morgenrock ins Zimmer kam, obschon es bereits Nachmittag war. »Ist das nicht was anderes, wenn ich den Tag über hier bei dir bin und für uns selbst arbeite, als wenn ich im Bureau sitz' und für fremde Leute schuften muß?« – »Was ist los?« fragte Anna zurück. – »Ich hab' 228 meine Stelle aufgegeben.« – »Auf einmal?« sagte sie mißtrauisch. – Schelius fuhr sie an, denn er fühlte das Mißtrauen heraus: »Glaubst du vielleicht, ich hätte mir was zu Schulden kommen lassen? Das bild' dir nur nicht ein, verstanden? Ich hab' dem alten Esel einfach den Stuhl vor die Thür gesetzt, damit basta.«
Anna wurde ihre eigenen Gedanken nicht los. »So?« entgegnete sie, »gestern warst du noch so zufrieden.« – »Ändert sich eben.« – »Aber furchtbar rasch.« – »Was geht dich das an? Und wenn dein Vater mein Vermögen nicht ins Geschäft nehmen will, denn mach' ich nebenan einen Laden auf, als Konkurrent. Ich versteh' mich auf holländische Waren. Hab' ich gelernt.« – Der Alte ging zu Mamma in den Laden hinunter. »Denk' bloß! Nun ist er von dem Rechtsanwalt weggegangen und will mein Kompagnon werden.« – »So plödslich? O nein! Was da bloß ist passiert?« – »Das sagt er nicht. Aber wenn ich ihn nicht haben will, macht er selber ein Geschäft auf.« – »Gott, wie skrecklich! Ja, denn thu' es man ja. Er kann dir auch viel helfen.«
In der Schlafkammer des jungen Paares, oben im zweiten Stock, gab es einen kurzen heftigen Auftritt. – »Daß du mir nicht die Alten mißtrauisch machst,« zischte Schelius, »ich bin froh, daß ich so davongekommen bin.« – »Also du hast doch was . . .?« – »Nein!« schrie er, »nichts hab' ich. Ich hin gegangen, hörst du?« – »Erzähl' mir wenigstens alles,« 229 bat sie lauernd, und in ihren Augen flackerte Neugier. – »Ach was. Der verdrehte Kerl regt sich auf, um solche Kleinigkeit.« – »Du hast . . .?« Anna wich scheu von ihm zurück. – »Still bist du!« fauchte er und ballte drohend die Hand gegen sie. »Wenn du nicht reinen Mund hältst! Warum brauchst du so viel? Meinst du, ich kann das alles bezahlen von meinen paar Kröten?« – Anna bäumte sich auf: »Nun soll ich die Schuld haben? O Gott, wenn ich das geahnt hätte!« – »Ach was, flenn' nicht. Immer heiter. Die Geschichte ist aus. Wir fangen ein neues Leben an.« – Er kam näher zu ihr und faßte sie um, obschon sie sich wehrte, und sagte mit seinem hämisch-lüsternen Lächeln: »Nun hast du mich immer bei dir. Und du sorgst dafür, daß der Alte auf meinen Plan eingeht. Sonst kann er etwas erleben,« fügte er finster hinzu.
Anna war verweint und voller Angst, sie hatte Haß gegen ihren Mann, aber sie mußte dafür streben, daß nur alles ging, wie er wollte. Deshalb trat sie mit niedergeschlagenen Augen, als hätte sie selbst sich vergangen, vor ihre Eltern und bat, die Hände ineinander ringend: »Vater, thu' es. Mir zu Liebe!« – »Hat er dir erzählt, warum er abgegangen ist?« – Sie schluckte mühsam und log: »Ja. Alles. Er hat bloß Streit gehabt, wirklich bloß Streit. Ihr könnt ihm ruhig glauben.« – Da war der Alte zufrieden, denn daß seine Tochter nicht die Unwahrheit sagte, das wußte er. – »Es geht ja auch. Wir müssen sehen, wie wir durchkommen,« entschied er vergnügt. Anna 230 atmete auf und lief wieder zu ihrem Mann. Der war vergnügt: »Na siehst du wohl? Denn ist alles in Ordnung.« – Er wollte sie küssen nach seiner plumpen Art, aber sie schauderte vor ihm zurück. Sie war ja – wenn er ihr auch nichts deutlich gesagt hatte – seine Mitwisserin, seine Mitschuldige geworden! In diesem Augenblick wurde es ihr klar, daß sie richtig empfunden hatte, als sie ihn einst, auf der Bank zwischen den Gärten, von sich stieß.
Bernhard kam. Er wurde unterrichtet und war starr vor Staunen. – »Die feine Stellung hast du weggeworfen? Na, hör' mal, Verehrtester, – da muß was passiert sein.« – Sein Verdacht ließ ihm keine Ruhe. Nach dem Abendessen entfernte er sich und ging zum Rechtsanwalt. Auf seine Frage, ob er nicht erfahren könne, warum sein Schwager den Dienst verlassen habe, zuckte der Rechtsanwalt die Schultern: »Darüber muß ich Ihnen die Auskunft verweigern – im Interesse Ihrer Familie. Herr Schelius betritt mein Bureau nicht wieder.« – Bernhard ging schweren Herzens heim. Sein Vertrauen zum Schwager, an dessen Ehrlichkeit und Vortrefflichkeit er noch nie gezweifelt hatte, war von Grund auf erschüttert. 231
* * *
Also ward Schelius mit siebenhundertfünfzig Mark, die er sein »Vermögen« nannte, stiller Teilhaber der Firma P. C. Behm. Äußerlich ließ sich alles gut an. Schelius löste Frau Behm im Laden ab, was ihr lieb war, denn sie ging gern mal aus und schnackte ein paar Mund voll, zu Hause wurde ihr jetzt manchmal unruhig, sie wußte garnicht, wie das kam. Schelius führte die Bücher, er erweiterte das Geschäft dadurch, daß er Traktätchen, Pappen mit daraufgedruckten Bibelversen und Schreibmaterialien einkaufte und einen Zettel an das Ladenfenster klebte, auf dem zu lesen stand: »Christliche Buchhandlung.« – Pastor Borchert, der gute, meinte, solch ein Unternehmen müsse man stützen, und nahm ihm für teures Geld einen ganzen Haufen alter Missionsschriften ab, die über die gründliche Bekehrung von zweihundert kleinen Feuerländerbuben in den Jahren 1860 bis 1870 handelten. Für alle die Mühe, mit der er schaffte, bat sich der fleißige Schwiegersohn nur ein kleines Gehalt aus, sodaß der Alte erfreut dachte, die schöne Hilfskraft hätten sie furchtbar billig. Aber die Altern merkten nicht, wie die jungen Eheleute sonst aus ihren Taschen lebten. Anna hatte schwere Kämpfe durchzumachen. Ihr Mann war ein Lügner, das wußte sie längst, nun aber hatte sich noch weit Schlimmeres ereignet beim Rechtsanwalt, etwas, das sie gern wissen wollte und vor dem ihr doch graute, es zu erfahren. Schelius war unredlich, das sah sie, und sie mußte ihn noch unterstützen bei seiner 232 Unredlichkeit, denn sie konnte nicht los von ihm. Sie stand zwischen dem Mann und ihren Eltern. Der Kopf schmerzte ihr oft, wenn sie dachte, was sie in den Jahren mit Schelius erlebt und was sie alles zu vertuschen hatte. Sie sagte ihm ins Gesicht, was sie von ihm meinte, aber er blieb kalt dabei und kam ihr mit Liebkosungen. Er lullte sie ein, bis sie schließlich doch erwachte und voll Widerwillen von ihm floh.
»Jetzt hast du schon wieder Geld aus der Kasse genommen,« sagte sie, »ich hab' es gesehen.« – »Na, was denn?« entgegnete er, »willst du vielleicht die hübschen kleinen Lackstiefel nicht haben, he?« – »Aber wir dürfen das nicht, ohne daß Vater etwas davon weiß.« – »Ich bin Teilhaber. Wer verdient das Geld? Ich, ich ganz allein. Die andern thun garnichts.« – »Weil du ihnen alles abgenommen hast.« – »Warum lassen sie sich's abnehmen? Warum sind sie so dumm?« – »Meine Eltern sind nicht dumm,« rief Anna zornig. – »Ruhig Blut, Schatz, du siehst, daß meine Interessen auch deine sind. Wir kleben zusammen. Wir haben uns viel zu lieb, nicht wahr? Warum regst du dich heute auf? Du hast oft genug für mich geflunkert.« – »Oh,« stöhnte Anna auf, »ich hätte nie geglaubt, daß ich das könnte!« – »Tscha, die Liebe!« – »Ach, sprich das Wort nicht aus. Von Liebe ist keine Rede bei mir – nie gewesen. Du hast mich bloß verdorben. Und wenn meine Eltern nicht drängten, wäre ich nie mit dir 233 zusammen gekommen. Du bist ein schlechter Mensch. Das hat mir immer geahnt. Ich mach' mich auch noch frei von dir und sag' alles an Vater und Mutter.« – »Na und denn? Soll ich hier ausziehen? Kann übrigens früh genug kommen. Aber du kannst mich ja gar nicht entbehren, Kleine.« – »Du sollst nicht so reden, nicht so frech. Ich will das nicht hören. Ich will wieder anders werden, wie ich früher war, als das noch nicht in mir steckte, was du hineingebracht hast. Ich geh' zu Pastor Borchert.« – »Ach ja. Der alte Knacker. Der ist von meiner Gottseligkeit durchdrungen. Bei dem hast du kein Glück, wenn du mich verklagen willst. Außerdem: was willst du ihm erzählen? Wie lieb wir uns haben?«
Wild war Anna. Mit hocherhobener, geballter Hand trat sie auf ihn zu: »Ins Gesicht schlagen könnt' ich dich. So wie du mich herunter gebracht hast. Ach, das ist so häßlich in mir, ich mag keinem Menschen in die Augen sehen und den Eltern erst recht nicht. Weshalb haben sie sich von dir betölpeln lassen, du Heuchler du!« – Sie schlug die Thür hinter sich zu und ging in ihre Mädchenkammer. Sie war erfüllt mit Haß, mit heißem Haß gegen alle, die im Hause wohnten und sich um einander drängten in den niedrigen Zimmern. – Schelius ließ sie toben. Er wußte genau: es kam die Stunde, wo sie wieder schlaff wurde, wo sie wieder sein wehrloses Geschöpf war. Wie ein Alb lag seine Macht auf der Seele des jungen Weibes. Und ihr Herz zuckte wohl unter 234 seinem Druck, aber ihn abzuschütteln hatte sie keine Kraft. So schleppte Anna ihr Dasein hin, schlampig und nachlässig daheim, doch desto mehr herausgeputzt, wenn sie ausging. Ihr Wesen war von seinem angesteckt. Ihr Lachen klang unfein, ihre Bewegungen waren plumper, und sie konnte sich freuen, wenn sie Dinge hörte und sah, von denen sie sich früher mit Abscheu fortgewandt hätte oder aus Unwissenheit gar nicht berührt worden wäre.
Bernhard mied mehr und mehr das elterliche Haus. Ihm war es ungemütlich da, und er kam eigentlich nur noch zum Essen. Mit dem Schwager mochte er sich nicht gern auf der Straße und in der Kneipe sehen lassen und sprach auch nur das Notwendige mit ihm. Einen Bruch wollte er allerdings vermeiden, davor hatte er Furcht, – Schelius vermochte ihm und den Eltern zu viel zu schaden, er war zu eng mit allem verwachsen. Aber daheim, im Familienwohnzimmer, hielt Bernhard es jetzt nicht gut aus, und er machte schon Andeutungen, daß er sich anderswo einmieten und in Pension geben wollte. – »Hier ist man das fünfte Rad am Wagen,« bemerkte er, »am besten ist es, ich laß mich überhaupt versetzen.« – Da jammerte die Mutter: »O nein, nein, mein beste Jung, bleib man bloß und bloß hier! Du sollst es auch so gut hier haben!« – »Ach das weiß ich, Mutter, du thust viel mehr für mich, als du müßtest, aber dieser Schelius. Der ist mir zuwider.« – »Ja, die Leute kommen doch und kaufen. Wir haben ein 235 großes Geschäft.« – »Das mag sein und ist recht gut. Nur das Ganze ist hier so anders seitdem. Anna erkenn' ich gar nicht wieder. Wie sieht die aus.« – »Wenn sie viel zu thun hat . . .« – »Das hatte sie früher auch. Nun macht sie sich ja kaum noch die Haare!« –
Stickig war die Luft in dem Hause. Aber Schelius schwamm vergnügt darin herum und wurde immer munterer. Er regierte längst alles, und Anna wagte kein Wort, um ihre Eltern zu warnen. Immer heftigere Auftritte gab es oben im Schlafzimmer. Es kam bis zum Schlagen, aber alle die wüsten Stürme endeten damit, daß Anna sich der Gewalt ihres Mannes unterwarf. Für Essen und Trinken wurde viel Geld ausgegeben, und das schmeckte auch den Alten gut: sie konnten es sich jetzt leisten! Anna durste sich kaufen, was sie wollte. Er schenkte ihr feine Kleider und kokettes Zeug, und sie nahm es, obschon sie wußte, daß das Geld dafür ihren Eltern gehörte, die Schelius blindlings alles überließen. Was zeigte er dem Alten für herrliche Kassenabschlüsse! – »Ja, ja,« nickte P. C. Behm, »das verzinst sich wahrhaftig gut, daß du bei mir eingetreten bist. Ich kann nun ruhig arbeiten.« Er schrieb langsam an seinem Brief, der bis 1713 vorgerückt war, wo die beiden Koggenstedter Windmühlen durch Blitzstrahl Feuer fingen und die Flügel sich dabei so gewaltig drehten, daß die Funken bis aus den Hafen flogen und die ganzen Holzschiffe in Flammen setzten. »Woraus Eure Majestät 236 denn deutlich ersehen, wie hochnotwendig es ist, daß im Koggenstedter Hafen eiserne Schiffe, nach Art der Kriegsfahrzeuge, zu liegen kommen.«
Eines Tages sagte Schelius, er müsse auf drei Tage nach Hamburg, um einen großen Posten Strumpfwaren billig aus einer Konkursmasse zu erstehen. Er nahm an barem Gelde mit, was im Hause war.
Die drei Tage gingen zu Ende, er kehrte nicht zurück. Eine Woche verfloß, er war noch immer nicht da und ließ auch nichts von sich hören. Vierzehn Tage krochen hin, es kam kein Lebenszeichen. Drei Wochen – vier Wochen: der falsche Gottlieb war und blieb verschwunden.
* * *
Was nun kam, war furchtbar traurig. Frau Behm saß im Laden, da holte sich Minna ein Paar Strumpfbänder aus Gummiband. »Aber bitte recht weit, nicht, Frau Behm? Die andern strammen so. Und denn, was ich sagen wollte: ist es wirklich wahr, was sich alle erzählen?« – »Was denn, Minna?« fragte Frau Behm und sah Minna ungewiß und ängstlich an. – »Daß er durchgebrannt ist mit schrecklich viel Geld?« – »Wer?« – »Na, Frau Behm, das wissen Sie wohl am bestesten.« – »Wer, liebe Minna?« – »Nu, chottedoch, Ehr Schwiegersöhn.« – »Mein . . . so was sagen die 237 Leute?« – »Ja. Seine Frau hätt' er geprügelt, und beim Rechtsanwalt, wo er früher war, da hätt' er – na, ich mag es nicht sagen. Und nun wär' er weg. Nach Amerika.« – Frau Behm sank zurück, schloß die Augen und war totenbleich. Minna bekam es mit der Angst. – »Ach nee, Frau Behm, – wenn ich das gewußt hätte! Ich will auch nichts gesagt haben! Machen Sie bloß die Augen auf!« – Das that die kleine Frau auch. Aber ihr Blick war müde und voll Schmerz. Sie wußte nicht, was sie entgegnen sollte, sie verstand sich nicht zu wehren, sie war nicht schlagfertig genug um Ausreden zu erfinden. Sie hatte alles, was Minna sagte, selbst geahnt, und lügen konnte sie nicht. – »Minna, Minna, die Mennsker sind doch ßu slecht. Daß sie sowas und sagen um uns und unsere Familie. Wenn bloß mein guter Pappa nichts hört davon. Das wird ja jammervoll.« – Minna konnte ihre Neugier nicht zähmen: »Ist er wirklich schon seit dem ersten weg?« – Frau Behm nickte. – »Und Sie wissen nicht, wohin?« – »Hamburg,« lallte die Mutter. – »Ja,, da . . .« sie wollte sagen: da gehen alle die Ausreißer hin, aber sie bezwang sich. Sie wollte Frau Behm lieber trösten. Deshalb meinte sie: »Machen Sie sich man nicht viel draus, Frau Behm. Seien Sie froh, daß Sie ihn los sind.« – »Ach Gott, Minna.«
Minna ging, und hilflos blieb Frau Bolette zurück. Ihr ganzer Körper zitterte, und sie blickte irr 238 und flehend um sich, als sollten ihre Wollsachen ihr raten und beistehen. – Anna war aus gewesen und kam nach Hause. Die Lammel-lammel-Glocke klang heute laut und blechern, wie wenn sie die Schande der Familie P. C. Behm durch ganz Koggenstedt schellen wollte. Frau Behm trat mit verweinten Augen aus dem Laden: »Weißt du schon, Anna?« – Die ballte die Hände. – »Ja. Und wie das Volk einen ansieht auf der Straße.« – »Meinst du denn auch, daß Schelius . . .?« – »Gewiß. Der kommt nicht wieder.« – »Anna! Klein Anna!« – »Der war die letzte Zeit schon immer unruhig und klagte, er könne es hier nicht aushalten. Es sei ihm zu klein. Was hab' ich alles zu hören bekommen. Wie war er zu mir!« – »Aber, nichtwahr, geschlagen hat er dich nicht?« – Anna biß die Zähne zusammen und antwortete nicht. Frau Behm konnte das Weiterforschen nicht lassen. – »Und das mit dem Rechtsanwalt, Anna, ist das wahr?« – »Das hab' ich sogar gewußt.« – »Gott bewahr' uns! Und uns hast du nichts gesagt?« – »Auch noch! Ihr habt ihn mir ja ausgesucht, den Mann.« Sie schüttelte sich vor Ekel. »Ach, was war das abscheulich alles! Jetzt wach' ich allmählich auf, und siehst du, Mutter: ich bin froh, daß er weg ist. Wenn er es wagen sollte, wenn er wiederkommen wollte: ich jagte ihn davon und schlüge ihm die Thür vor der Nase zu! Was bin ich geworden bei ihm! Das habt ihr von eurem Drängen.« – »Aber du mochtest 239 ihn doch selbst gern. Sonst hättst du es wahrhaftig nicht nötig gehabt.« – »Was heißt mögen? Na, gottlob, daß es zu Ende ist. Bloß, was wir noch erleben müssen.« – »Was denn? Was noch?« – »Alles Geld hat er. Mein Sparkassenbuch hat er abgehoben, und Schulden hat er gemacht auf Vaters Namen. Wer soll das bezahlen? Wir werden wohl noch mehr entdecken. Im Elend sind wir durch den Schuft.«
Ja, sie sah: es ging in die Not hinein. Aber da verzagte sie nicht, sondern ein Stück von der alten Tapferkeit brach bei ihr durch, sie fühlte sich frei von der Schwüle, schlang den Arm um die leise schluchzende Mutter und sagte: »Das macht alles nichts, mein Mudding. Das Geld kriegen wir wohl. Ich arbeite. Ich geh' aus zu nähen.« – Unter Thränen erwiderte die kleine Frau: »Ja, aber das ist doch nicht fein.« – »O, das ist viel feiner als mit dem leben. Mudding, beinah glücklich bin ich.« – Sie reckte die Arme und schüttelte den Kopf. Sie warf ab, was noch an Druck auf ihr lag. Die alte Anna stand da. – Frau Behm meinte indessen trübselig: »Was sollen wir unsern lieben Pappa sagen?« –
»Alles, Mutter! Jetzt nicht mehr lügen. Ich hab' genug von der Lügerei für mein ganzes Leben. Wir müssen's zusammen tragen, und sei gewiß: ich nehme mein Teil mit Freuden auf mich!« – Das that sie. Sie war wie verwandelt. Alles spannte sich an ihr. Frisch wurde sie. Sie sagte 240 ihrem Vater rückhaltlos, wie die Sache lag. Der war verzweifelt: »Nein, nein! Nun bin ich ruiniert, ruiniert auf meine alten Tage. Ehrlos!« – »Vater, das bist du nicht. Du bist so brav wie zuvor. Und ich bin gesund. Nun wollen wir Mut haben und sehen, was da kommt.« – Sie war es auch, die Bernhard einweihte: »Du, mein Mann ist weg. Was er alles angerichtet hat, davon haben wir noch keinen rechten Begriff. Schlimm ist es jedenfalls.« – »Dann muß ich meinen Abschied nehmen.« – »Weshalb?« – »Na, hör' mal, ich trag' doch Uniform.« – »Laß die Flausen, mein Junge. Dein sicheres Gehalt brauchen wir sehr nötig.« –»Ich soll von meinem Gehalt?« – »Wenn wir Konkurs machen müssen?« – Konkurs? Schwesting, meinst du wirklich, daß es soweit kommen kann?« – »Wir müssen auf alles gefaßt sein. Wie ich den kenne, dem trau' ich viel zu.« – »O so 'n Kerl, so 'n Kerl!«
Leben war in Anna. Sie freute sich auf den Kampf, der ihr bevorstand. Wohlig dehnte sie sich abends in ihrem Bett: sie war allein. Es wurde hell und heller in ihr, um sie. Sie arbeitete im Hause und machte es sauber und staunte selbst, wie nötig das war. – Dann meldeten sich die ersten Gläubiger. Das waren P. C. Behms Brüder von der Koggenstedtia. – »Ja,« sagte Jaspersen, »er kam und bat. Ihr brauchtet es für das Geschäft. Er hätte alles zu besorgen, du kümmertest dich um nichts. Und ich möchte dir nicht sagen, daß er bei mir 241 gewesen sei, da könntest du dich vielleicht genieren. Na ich gab ihm die zweihundert gern.« – »Dja, hm,« meinte Hannes mit'n scharpen Blick, »er sagte, du hättst 'n Bürgschaft übernommen und der andere wär' durchgebrannt und nun wär' Termin. Da hab' ich ihm vierzig Thaler gegeben. Sicher warst du mir ja. – Auch Maack war da: »Mir erzählte er, du hättst Garn eingekauft, und wenn du nicht in drei Tagen bezahltest, ging die Sache vor Gericht. Na, dat wull ick denn nu nich. Dor geew ick em fiefunsöbentig Dalers.« – Schließlich meldete sich auch noch Ahmsetter: »Bei mir kam er und sagte, du wolltest das Nebenhaus kaufen, und er sollte das Geld dafür zusammenbringen. Aber du dürftest nicht wissen, woher. Mehr als zweihundertfunfzig Mark konnt' ich ihm beim besten Willen nicht pumpen.« – Und alle schlossen: »So 'n Hallunke!« – Der alte Behm stöhnte, Frau Behm weinte. Aber Anna hielt sie aufrecht: »Das bezahlen wir alles ab. Das hat keine Not. Die warten ruhig, bis sie ihr Geld bekommen. Wir sind ehrliche Leute.« – Ja, warten, wollten die Koggenstedtia-Brüder gern, aber sie waren doch ein bißchen böse auf ihren alten P. C. – »Aufpassen hätt' er müssen. Lieber, als immer an dem alten Brief herumschreiben.« – Wie das denn so geht, wenn das Geld dazwischenkommt: Die Freundschaft wurde kühler, und die Sitzungen der Koggenstedtia fielen mehr und mehr von selbst aus. P. C. Behm kam sich wie ein Verbrecher vor. Er mochte nicht auf die Straße gehen. Sein Brief machte keine 242 Fortschritte in dieser Zeit, denn es war ihm gleichgültig, ob Koggenstedt Kriegshafen wurde oder nicht.
Es kam noch ärger. Die Fabriken schrieben. Große Rechnungen liefen ein für Waren, die Behms nie erhalten hatten. Man kam dahinter, das Schelius diese Warenposten für P. C. Behm bestellt und abseits irgendwo für sich selbst hatte verauktionieren lassen. Auch aus der Stadt kamen Mahnungen: vom Weinhändler, vom Schuster, vom Schneider und von vielen anderen, für Dinge, die Behms längst bezahlt wähnten. Mit Zittern machte sich der Alte auf Annas Drängen an die Geschäftsbücher heran. Anna hatte noch nie in solche Bücher hineingesehen, jetzt aber arbeitete sie sich ein und schrak nicht zurück, als eine Fälschung nach der andern an den Tag trat. – »Tragen. Tragen.« Das war immer ihr Wort. »Wir alle haben Schuld mit.« – Sie schaffte, war überall, besorgte den Laden, weil die Mutter zu schlaff war, schrieb die Briefe, die vielen Briefe, die nötig wurden, lief zum Rechtsanwalt und zum Gericht und erreichte es, daß Bernhard einen Teil seines Gehalts verpfändete. Sie wirkte unermüdlich, mit Jugendkraft, mit dem Bewußtsein, daß jeder Tag solcher Arbeit sie mehr aus der Unwahrheit befreite, in der sie vegetiert hatte. Bernhard meinte zwar einmal: »Du, für das, was der Kunde gethan hat, brauchen wir vielleicht nicht einmal aufzukommen. Vater hat nichts davon gewußt.« – Da sah sie ihren Bruder mit großen Augen an: »So? Bin ich nicht die Frau von dem . . .? Sollen mir die Menschen den Rücken 243 zudrehen? Vater hat ihm Vollmacht gegeben, und alles, was Schelius gethan hat, ist eben so gut, als hätte Vater es selbst gethan. Bis zum letzten Pfennig bezahlen wir!« – Bernhard wagte keinen Widerspruch, aber was sie sich vorgenommen hatte, das war nicht leicht auszuführen. Und wie mächtig sie rang und strebte: es kam doch der schwarze, schwarze Tag, wo der kleine Laden morgens verhängt blieb und wo in der Koggenstedter Zeitung zu lesen stand, daß über das Vermögen des Händlers Peter Cajus Behm, hierselbst, das Konkursverfahren eröffnet sei.
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