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Wenn wir jetzt die Verhältnisse, unter denen die englische Arbeiterklasse der Städte lebt, in ziemlicher Ausführlichkeit betrachtet haben, so wird es nun an der Zeit sein, aus diesen Tatsachen weitere Schlüsse zu ziehen und diese wiederum mit dem Tatbestande zu vergleichen. Sehen wir denn zu, was unter solchen Umständen aus den Arbeitern selbst geworden ist, was für Leute wir an ihnen haben, wie ihr körperlicher, intellektueller und moralischer Zustand beschaffen ist.
Wenn ein einzelner einem andern körperlichen Schaden tut, und zwar solchen Schaden, der dem Beschädigten den Tod zuzieht, so nennen wir das Totschlag; wenn der Täter im voraus wußte, daß der Schaden tödlich sein würde, so nennen wir seine Tat einen Mord. Wenn aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sie Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können; wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen läßt – so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibt Mord. Ich werde nun zu beweisen haben, daß die Gesellschaft in England diesen von den englischen Arbeiterzeitungen mit vollem Rechte als solchen bezeichneten sozialen Mord täglich und stündlich begeht; daß sie die Arbeiter in eine Lage versetzt hat, in der diese nicht gesund bleiben und nicht lange leben können; daß sie so das Leben dieser Arbeiter stückweise, allmählich untergräbt und sie so vor der Zeit ins Grab bringt; ich werde ferner beweisen müssen, daß die Gesellschaft weiß, wie schädlich eine solche Lage der Gesundheit und dem Leben der Arbeiter ist, und daß sie doch nichts tut, um diese Lege zu verbessern. Daß sie um die Folgen ihrer Einrichtungen weiß, daß ihre Handlungsweise also nicht bloßer Totschlag, sondern Mord ist, habe ich schon bewiesen, wenn ich offizielle Dokumente, Parlaments- und Regierungsberichte als Autorität für das Faktum des Totschlags anführen kann.
Daß eine Klasse, welche in den oben geschilderten Verhältnissen lebt und so schlecht mit den allernotwendigsten Lebensbedürfnissen versehen ist, nicht gesund sein und kein hohes Alter erreichen kann, versteht sich von vornherein von selbst. Gehen wir indes die einzelnen Umstände nochmals und in spezieller Beziehung auf den Gesundheitszustand der Arbeiter durch. Schon die Zentralisation der Bevölkerung in großen Städten äußert ungünstigen Einfluß; die Atmosphäre von London kann nie so rein, so sauerstoffhaltig sein wie die eines Landdistrikts; drittehalb Millionen Lungen und drittehalb hunderttausend Feuer, auf drei bis vier geographischen Quadratmeilen zusammengedrängt, verbrauchen eine ungeheure Menge Sauerstoff, der sich nur mit Schwierigkeit wieder ersetzt, da die städtische Bauart an und für sich die Ventilation erschwert. Das durch Atmen und Brennen erzeugte kohlensaure Gas bleibt vermöge seiner spezifischen Schwere in den Straßen, und der Hauptzug des Windes streicht über den Dächern der Häuser hinweg. Die Lungen der Einwohner erhalten nicht das volle Quantum Sauerstoff, und die Folge davon ist körperliche und geistige Erschlaffung und Niederhaltung der Lebenskraft. Aus diesem Grunde sind die Einwohner großer Städte zwar den akuten, besonders entzündlichen Krankheiten weit weniger ausgesetzt als die Landleute, die in einer freien, normalen Atmosphäre leben, leiden aber dafür desto mehr an chronischen Übeln. Und wenn schon das Leben in großen Städten an und für sich der Gesundheit nicht zuträglich ist, wie groß muß dieser nachteilige Einfluß einer abnormen Atmosphäre erst in den Arbeiterbezirken sein, wo, wie wir sahen, alles vereinigt ist, was die Atmosphäre verschlechtern kann. Auf dem Lande mag es unschädlich genug sein, dicht neben dem Hause eine Mistpfütze zu haben, weil hier die Luft von allen Seiten freien Zutritt hat; aber mitten in einer großen Stadt, zwischen verbauten, allem Luftzuge abgeschnittenen Gassen und Höfen, ist es ganz etwas anderes. Aller verfaulende animalische und vegetabilische Stoff entwickelt Gase, die der Gesundheit entschieden schädlich sind, und wenn diese Gase keinen freien Abzug haben, so müssen sie die Atmosphäre verpesten. Der Unrat und die stehenden Pfützen in den Arbeitervierteln der großen Städte sind daher von den schlimmsten Folgen für die öffentliche Gesundheit, weil sie gerade die krankheiterzeugenden Gase hervorbringen; ebenso die Ausdünstungen der verunreinigten Flüsse. Aber das ist noch lange nicht alles. Es ist wirklich empörend, wie die große Menge der Armen von der heutigen Gesellschaft behandelt wird. Man zieht sie in die großen Städte, wo sie eine schlechtere Atmosphäre als in ihrer ländlichen Heimat einatmen. Man verweist sie in Bezirke, die nach ihrer Bauart schlechter ventiliert sind als alle übrigen. Man entzieht ihnen alle Mittel zur Reinlichkeit, man entzieht ihnen das Wasser, indem man nur gegen Bezahlung Röhren legt und die Flüsse so verunreinigt, daß sie zu Reinlichkeitszwecken nicht mehr taugen; man zwingt sie, allen Abfall und Kehricht, alles schmutzige Wasser, ja oft allen ekelhaften Unrat und Dünger auf die Straße zu schütten, indem man ihnen alle Mittel nimmt, sich seiner sonst zu entledigen; man zwingt sie dadurch, ihre eignen Distrikte zu verpesten. Damit noch nicht genug. Alle möglichen Übel werden auf das Haupt der Armen gehäuft. Ist die Bevölkerung der Stadt überhaupt schon zu dicht, so werden sie erst recht auf einen kleinen Raum zusammengedrängt. Nicht damit zufrieden, die Atmosphäre in der Straße verdorben zu haben, sperrt man sie dutzendweise in ein einziges Zimmer, so daß die Luft, die sie nachts atmen, vollends zum Ersticken wird. Man gibt ihnen feuchte Wohnungen, Kellerlöcher, die von unten, oder Dachkammern, die von oben nicht wasserdicht sind. Man baut ihre Häuser so, daß die dumpfige Luft nicht abziehen kann. Man gibt ihnen schlechte, zerlumpte oder zerlumpende Kleider und schlechte, verfälschte und schwerverdauliche Nahrungsmittel. Man setzt sie den aufregendsten Stimmungswechseln, den heftigsten Schwankungen von Angst und Hoffnung aus – man hetzt sie ab wie das Wild und läßt sie nicht zur Ruhe und zum ruhigen Lebensgenuß kommen. Man entzieht ihnen alle Genüsse außer dem Geschlechtsgenuß und dem Trunk, arbeitet sie dagegen täglich bis zur gänzlichen Abspannung aller geistigen und physischen Kräfte ab und reizt sie dadurch fortwährend zum tollsten Übermaß in den beiden einzigen Genüssen, die ihnen zu Gebote stehen. Und wenn das alles nicht hilft, wenn sie das alles überstehen, so fallen sie der Brotlosigkeit einer Krisis zum Opfer, in der ihnen auch das wenige entzogen wird, was man ihnen bisher noch gelassen hatte.
Wie ist es möglich, daß unter solchen Umständen die ärmere Klasse gesund sein und lange leben kann? Was läßt sich da anderes erwarten als eine übermäßige Proportion von Sterbefällen, eine fortwährende Existenz von Epidemien, eine sicher fortschreitende körperliche Schwächung der arbeitenden Generation? Sehn wir zu, wie die Tatsachen stehen.
Daß die Wohnungen der Arbeiter in den schlechten Stadtteilen, vereinigt mit der sonstigen Lebenslage dieser Klasse, eine Menge Krankheiten hervorrufen, wird uns von allen Seiten her bezeugt. Der oben zitierte Artikel des "Artizan" behauptet mit vollem Recht, daß Lungenkrankheiten die notwendige Folge von solchen Einrichtungen sein müssen und wirklich besonders häufig unter den Arbeitern vorkämen [ 1892)vorkommen]. Daß die schlechte Atmosphäre Londons und besonders der Arbeitergegenden die Ausbildung der Schwindsucht im höchsten Grade begünstigt, zeigt das hektische Aussehen so vieler Leute, denen man auf der Straße begegnet. Wenn man morgens früh um die Zeit, wo alles an die Arbeit geht, ein wenig durch die Straßen streicht, so erstaunt man über die Menge halb oder ganz schwindsüchtig aussehender Leute, denen man begegnet. Selbst in Manchester sehen die Menschen so nicht aus; diese bleichen, hochaufgeschossenen, engbrüstigen und hohläugigen Gespenster, an denen man jeden Augenblick vorüberkommt, diese schlaffen, kraftlosen, aller Energie unfähigen Gesichter hab' ich nur in London in so auffallender Menge gesehen – obwohl auch in den Fabrikstädten des Nordens die Schwindsucht eine Menge Opfer jährlich hinwegrafft. Mit der Schwindsucht konkurriert noch, außer anderen Lungenkrank- heiten und dem Scharlachfieber, vor allen die Krankheit, die die fürchterlichsten Verwüstungen unter den Arbeitern anrichtet – der Typhus. Dies allgemein verbreitete Übel wird von dem offiziellen. Bericht über den Gesundheitszustand der Arbeiterklasse direkt aus dem schlechten Zustande der Wohnungen in Beziehung auf Ventilation, Trockenlegung und Reinlichkeit abgeleitet. Dieser Bericht – der, nicht zu vergessen, von den ersten Medizinern Englands auf die Angaben von anderen Medizinern hin ausgearbeitet ist – dieser Bericht behauptet, daß ein einziger schlechtventilierter Hof, eine einzige Sackgasse ohne Abzüge, besonders wenn die Bewohner gedrängt wohnen und organische Stoffe in der Nähe sich zersetzen, imstande ist, Fieber zu erzeugen, und es fast immer erzeugt. Dies Fieber hat fast überall denselben Charakter und entwickelt sich beinahe in allen Fällen zum ausgebildeten Typhus. In den Arbeiterbezirken aller großen Städte, selbst in einzelnen schlechtgebauten und -gehaltenen Straßen kleinerer Orte findet es sich, und seine größte Verbreitung erhält es in den schlechten Vierteln, obwohl es natürlich auch in den besseren Bezirken einzelne Opfer aufsucht. In London hat es seit geraumer Zeit geherrscht; seine außerordentliche Heftigkeit im Jahre 1837 veranlaßte den erwähnten offiziellen Bericht. Nach dem Jahresbericht des Dr. Southwood Smith über das Londoner Fieberhospital im Jahre 1843 war die Zahl der verpflegten Kranken 1 462, um 418 höher als in irgendeinem frühern Jahr. In den feuchten und schmutzigen Gegenden des Ost-, Nord- und Süddistrikts von London hatte diese Krankheit außerordentlich heftig gewütet. Viele der Patienten waren eingewanderte Arbeiter vom Lande, die unterwegs und nach ihrer Ankunft die härtesten Entbehrungen ausgestanden, an den Straßen halbnackt und halbverhungert geschlafen, keine Arbeit gefunden hatten und so dem Fieber verfallen waren. Diese Leute wurden so schwach ins Hospital geliefert, daß eine ungewöhnlich große Quantität von Wein, Kognak, Ammoniumpräparaten und anderen stimulierenden Mitteln angewandt werden mußte. Von sämtlichen Kranken starben 16 1/2 Prozent. Auch in Manchester ist dies bösartige Fieber zu finden; in den schlechteren Arbeitervierteln der Altstadt, Ancoats, Little Ireland usw., ist es fast nie exstinkt, doch herrscht es hier, wie überhaupt in den englischen Städten, nicht in der Ausdehnung, die man erwarten sollte. In Schottland und Irland dagegen grassiert der Typhus mit einer Heftigkeit, die alle Begriffe übersteigt; in Edinburgh und Glasgow trat er 1817 nach der Teurung, 1826 und 1837 nach den Handelskrisen mit besonderer Wut auf und ließ jedesmal, nachdem er etwa drei Jahre lang gewütet, für eine Zeitlang etwas nach; in Edinburgh waren während der Epidemie von 1817 an 6 000, in der von 1837 an 10 000 Personen vom Fieber ergriffen worden, und nicht nur die Zahl der Kranken, sondern auch die Heftigkeit der Krankheit und die Proportion der Sterbefälle vermehrte sich mit jeder neuen Wiederholung der Epidemie (2). Aber die Wut der Krankheit scheint in allen früheren Perioden ein Kinderspiel gegen ihr Auftreten nach der Krisis von 1842 gewesen zu sein. Ein Sechstel aller Armen in ganz Schottland wurde vom Fieber ergriffen und das Übel durch wandernde Bettler mit reißender Schnelligkeit von einem Ort zum andern getragen; es erreichte die mittleren und höheren Klassen der Gesellschaft nicht – in zwei Monaten waren mehr Fieberkranke als in zwölf Jahren vorher. In Glasgow erkrankten im Jahre 1843 zwölf Prozent der Bevölkerung, 32 000 Menschen, am Fieber, von denen 32 Prozent starben, während die Sterblichkeit in Manchester und Liverpool gewöhnlich nur acht Prozent beträgt. Die Krankheit hatte ihre Krisen am siebenten und fünfzehnten Tage; an diesem letzteren wurde der Patient gewöhnlich gelb, was unsere Autorität für einen Beweis hält, daß die Ursache des Übels auch in geistiger Aufregung und Angst zu suchen sei (3). In Irland sind diese epidemischen Fieber ebenfalls heimisch. Während 21 Monaten der Jahre 1817/18 gingen 39 000 Fieberkranke und in einem späteren Jahr nach Sheriff Alison (im zweiten Bande der "Principles of Population") sogar 60 000 Fieberkranke durch das Dubliner Hospital. In Cork hatte das Fieberspital l8l7/l8 den siebenten Teil der Bevölkerung aufzunehmen, in Limerick war zu derselben Zeit ein Viertel und im schlechten Viertel von Waterford neunzehn Zwanzigstel der Einwohner fieberkrank (4).
Wenn man sich die Umstände ins Gedächtnis zurückruft, unter denen die Arbeiter leben, wenn man bedenkt, wie gedrängt ihre Wohnungen sind, wie vollgepfropft jeder Winkel von Menschen ist, wie Kranke und Gesunde in einem Zimmer, auf einem Lager schlafen, so wird man sich noch wundern, daß eine ansteckende Krankheit, wie dies Fieber, sich nicht noch mehr verbreitet. Und wenn man bedenkt, wie wenig medizinische Hülfe den Erkrankten zu Gebote steht, wie viele von allem ärztlichen Rate verlassen und mit den gewöhnlichsten diätarischen [ (1892) diätetischen] Vorschriften unbekannt bleiben, so erscheint die Sterblichkeit noch gering. Dr. Alison, der diese Krankheit genau kennt, führt sie geradezu auf die Not und die elende Lage der Armen zurück, wie der zitierte Bericht; er behauptet, daß Entbehrungen und ungenügende Befriedigung der Lebensbedürfnisse den Körper für die Ansteckung zugänglich und überhaupt die Epidemie erst furchtbar mache und rasch verbreite. Er beweist, daß jedesmal eine Periode der Entbehrung – eine Handelskrisis oder eine Mißernte – in Schottland wie in Irland das epidemische Auftreten des Typhus hervorgebracht hat und daß die Wut der Krankheit fast ausschließlich auf die arbeitende Klasse gefallen ist. Es ist bemerkenswert, daß nach seiner Aussage die Mehrzahl der dem Typhus erliegenden Individuen Familienväter sind, also grade diejenigen, welche von den Ihrigen am wenigsten entbehrt werden können; dasselbe sagen mehrere von ihm zitierte irische Ärzte aus.
Eine andere Reihe von Krankheiten hat weniger in der Wohnung als in der Nahrung der Arbeiter ihre unmittelbare Ursache. Die an und für sich schon schwerverdauliche Kost der Arbeiter ist vollends für kleine Kinder ungeeignet; und doch fehlen dem Arbeiter die Mittel und die Zeit, seinen Kindern passendere Nahrung zu verschaffen. Dazu kommt noch die sehr sich verbreitete Sitte, den Kindern Branntwein oder gar Opium zu geben, und aus alledem entstehen unter Mitwirkung der übrigen für die körperliche Entwicklung schädlichen Lebensverhältnisse die verschiedensten Krankheiten der Verdauungsorgane, die ihre Spuren für das ganze Leben zurücklassen. Fast alle Arbeiter haben einen mehr oder weniger schwachen Magen und sind trotzdem gezwungen, fortwährend bei der Diät zu bleiben, die die Ursache ihres Übels war. Wie sollten sie's auch wissen, was daran schuld ist – und wenn sie's wüßten, wie sollten sie eine passendere Diät halten können, solange sie nicht in eine andere Lebenslage versetzt und anders gebildet werden? Aber aus dieser schlechten Verdauung entwickeln sich schon während der Kindheit neue Krankheiten. Skrofeln sind fast allgemein unter den die Arbeitern verbreitet, und skrofulöse Eltern haben skrofulöse Kinder, besonders wenn die ursprüngliche Ursache der Krankheit wiederum auf die geerbte skrofulöse Anlage dieser letzteren wirkt. Eine zweite Folge dieser ungenügenden Ernährung des Körpers während der Entwicklung ist Rachitis (englische Krankheit, knotige Auswüchse an den Gelenken), die sich zur ebenfalls sehr häufig an den Kindern der Arbeiter findet. Die Verhärtung der Knochen wird verzögert, der Knochenbau überhaupt in seiner Ausbildung gehemmt, und neben den gewöhnlichen rachitischen Affektionen findet man oft genug Verkrümmung der Beine und des Rückgrats. Wie sehr alle diese Übel durch die Wechselfälle verschlimmert werden, denen die Arbeiter durch die Schwankungen des Handels, die Brotlosigkeit und den knappen Lohn der Krisen ausgesetzt sind, brauch' ich wohl nicht erst zu sagen. Der temporäre Mangel an zureichender Nahrung, dem fast jeder Arbeiter wenigstens einmal in seinem Leben eine Zeitlang ausgesetzt wird, trägt nur dazu bei, die Folgen der schlechten, aber doch zureichenden Nahrung zu verschlimmern. Kinder, die gerade zu der Zeit, wo sie die Nahrung am nötigsten hätten, nur halbsatt zu essen bekommen – und wie viele gibt es deren während jeder Krisis, ja noch in den besten Perioden des Verkehrs – solche Kinder müssen notwendig schwach, skrofulös und rachitisch in hohem Grade werden. Und daß sie's werden, zeigt der Augenschein. Die Vernachlässigung, zu der die große Masse der Arbeiterkinder verurteilt wird, hinterläßt unvertilgbare Spuren und hat die Schwächung der ganzen arbeitenden Generation zur Folge. Dazu noch die ungeeignete [ 1892) ... noch gerechnet die ungeeignete] Kleidung dieser Klasse und die hier gesteigerte Unmöglichkeit, sich vor Erkältungen zu schützen, dann die Notwendigkeit zu arbeiten, solange die Unpäßlichkeit eben erlaubt, die im Krankheitsfall gesteigerte Not der Familie, die nur zu gewöhnliche Entbehrung alles ärztlichen Beistandes gerechnet – so [ 1892) ... Beistands – so] wird man sich ungefähr vorstellen können, was der Gesundheitszustand der englischen Arbeiter ist. Die schädlichen Folgen, welche einzelnen Arbeitszweigen, wie sie jetzt betrieben werden, eigen sind, will ich hier noch gar nicht erwähnen.
Dazu kommen noch andere Einflüsse, die die Gesundheit einer großen Zahl von Arbeitern schwächen. Vor allem der Trunk. Alle Lockungen, alle möglichen Versuchungen vereinigen sich, um die Arbeiter zur Trunksucht zu bringen. Der Branntwein ist ihnen fast die einzige Freudenquelle, und alles vereinigt sich, um sie ihnen recht nahezulegen. Der Arbeiter kommt müde und erschlafft von seiner Arbeit heim; er findet eine Wohnung ohne alle Wohnlichkeit, feucht, unfreundlich und schmutzig; er bedarf dringend einer Aufheiterung, er muß etwas haben, das ihm die Arbeit der Mühe wert, die Aussicht auf den nächsten sauren Tag erträglich macht; seine abgespannte, unbehagliche und hypochondrische Stimmung, die schon aus seinem ungesunden Zustande, namentlich aus der Indigestion entsteht, wird durch seine übrige Lebenslage, durch die Unsicherheit seiner Existenz, durch seine Abhängigkeit von allen möglichen Zufällen und sein Unvermögen, selbst etwas zur Sicherstellung seiner Lage zu tun, bis zur Unerträglichkeit gesteigert; sein geschwächter Körper, geschwächt durch schlechte Luft und schlechte Nahrung, verlangt mit Gewalt nach einem Stimulus von außen her; sein geselliges Bedürfnis kann nur in einem Wirtshause befriedigt werden, er hat durchaus keinen andern Ort, wo er seine Freunde treffen könnte – und bei alledem sollte der Arbeiter nicht die stärkste Versuchung zur Trunksucht haben, sollte imstande sein, den Lockungen des Trunks zu widerstehen? Im Gegenteil, es ist die moralische und physische Notwendigkeit vorhanden, daß unter diesen Umständen eine sehr große Menge der Arbeiter dem Trunk verfallen muß. Und abgesehen von den mehr physischen Einflüssen, die den Arbeiter zum Trunk antreiben, wirkt das Beispiel der großen Menge, die vernachlässigte Erziehung, die Unmöglichkeit, die jüngeren Leute vor der Versuchung zu schützen, in vielen Fällen der direkte Einfluß trunksüchtiger Eltern, die ihren Kindern selbst Branntwein geben, die Gewißheit, im Rausch wenigstens für ein paar Stunden die Not und den Druck des Lebens zu vergessen, und hundert andere Umstände so stark, daß man den Arbeitern ihre Vorliebe für den Branntwein wahrlich nicht verdenken kann. Die Trunksucht hat hier aufgehört, ein Laster zu sein, für das man den Lasterhaften verantwortlich machen kann, sie wird ein Phänomen, die notwendige, unvermeidliche Folge gewisser Bedingungen auf ein, wenigstens diesen Bedingungen gegenüber, willenloses Objekt. Diejenigen, die den Arbeiter zum bloßen Objekt gemacht haben, mögen die Verantwortlichkeit tragen. Aber mit derselben Notwendigkeit, mit der eine große Menge der Arbeiter dem Trunk verfallen, mit derselben Notwendigkeit äußert der Trunk seine zerstörenden Wirkungen auf Geist und Körper seiner Opfer. Alle Krankheitsanlagen, die aus den Lebensverhältnissen der Arbeiter entspringen, werden durch ihn gefördert, die Entwicklung von Lungen- und Unterleibskrankheiten sowie die Entstehung und Verbreitung des Typhus werden im höchsten Grade durch ihn begünstigt.
Eine andere Ursache körperlicher Übel liegt für die arbeitende Klasse in der Unmöglichkeit, sich in Krankheitsfällen den Beistand geschickter Ärzte zu verschaffen. Es ist wahr, daß eine Menge wohltätiger Anstalten diesem Mangel abzuhelfen suchen, daß z.B. das Krankenhaus in Manchester jährlich an 22 000 Kranke teils aufnimmt, teils mit ärztlichem Rat und Arznei unterstützt – aber was ist das alles in einer Stadt, wo nach Gaskells Berechnung (5) drei Viertel der Einwohner jährlich ärztlicher Hülfe bedürfen? Die englischen Ärzte rechnen hohe Gebühren, und die Arbeiter sind nicht imstande, diese zu bezahlen. Sie können also entweder gar nichts tun, oder sie sind gezwungen, wohlfeile Quacksalber und Quackarzneien zu gebrauchen, mit denen sie sich auf die Dauer mehr schaden als nützen. Eine überaus große Anzahl solcher Quacksalber treibt ihr Wesen in allen englischen Städten und verschafft sich durch Annoncen, Maueranschläge und sonstige Kniffe eine Kundschaft aus den ärmeren Klassen. Außerdem aber werden noch eine Menge sogenannter Patent-Arzneien (patent medicines) für alle möglichen und unmöglichen Übel verkauft, Morrisons Pillen, Parrs Lebenspillen, Dr. Mainwarings Pillen und tausend andere Pillen, Essenzen und Balsame, die alle die Eigenschaft haben, sämtliche Krankheiten in der Welt zu kurieren. Diese Arzneien enthalten zwar selten geradezu schädliche Dinge, wirken aber doch sehr häufig, wenn oft und viel genossen, auf den Körper nachteilig, und da den unkundigen Arbeitern in allen Annoncen vorgepredigt wird, man könne nicht zuviel davon nehmen, so darf man sich nicht wundern, wenn diese fortwährend, mit und ohne sonstige Veranlassung, große Quantitäten verschlucken. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß der Verfertiger der Parrschen Lebenspillen in einer Woche 20 000 bis 25 000 Schachteln von diesen heilsamen Pillen verkauft – und sie werden eingenommen, von diesem gegen Verstopfung, von jenem gegen Diarrhöe, gegen Fieber, Schwäche und alle möglichen Übel. Wie unsere deutschen Bauern zu gewissen Jahreszeiten sich schröpfen oder zur Ader ließen, so nehmen jetzt die englischen Arbeiter ihre Patentmedizin, um sich selbst dadurch zu schaden und dem Fabrikanten derselben ihr Geld in die Tasche zu jagen. Eins der schädlichsten von diesen Patentmitteln ist ein Trank, der von Opiaten, besonders Laudanum, bereitet und unter dem Namen "Godfrey's Cordial" verkauft wird. Frauen, die zu Hause arbeiten und eigne oder fremde Kinder zu verwahren haben, geben ihnen diesen Trank, damit sie ruhig sein und, wie viele meinen, kräftiger werden sollen. Sie fangen oft schon gleich nach der Geburt an zu medizinieren, ohne die schädlichen Folgen dieser "Herzstärkung" zu kennen, so lange bis die Kinder sterben. Je stumpfer der Organismus des Kindes gegen die Wirkungen des Opiums wird, desto größere Quantitäten werden ihm davon gegeben. Wenn das "Cordial" nicht mehr zieht, wird auch wohl unvermischtes Laudanum gereicht, oft 15 bis 20 Tropfen auf einmal. Der Coroner von Nottingham bezeugte einer Regierungskommission (6), daß ein Apotheker nach eigner Aussage dreizehn Zentner Sirup [ In der englischen Ausgabe 1887: ... thirteen hundredweight of laudanum ... [dreizehn Zentner Laudanum]] in einem Jahre zu "Godfrey's Cordial" verarbeitet habe. Man kann sich leicht denken, was die Folgen für die so behandelten Kinder sind. Sie werden blaß, welk und schwach und sterben meist, ehe sie zwei Jahre alt sind. Die Anwendung dieser Medizin ist in allen großen Städten und Industriebezirken des Reichs sehr verbreitet.
Die Folge von allen diesen Einflüssen ist eine allgemeine Schwächung des Körpers bei den Arbeitern. Man findet wenig starke, wohlgebaute und gesunde Leute unter ihnen – wenigstens unter den Industriearbeitern, die meist in geschlossenen Räumen arbeiten, und von diesen nur ist hier die Rede. Sie sind fast alle schwächlich, von eckigem, aber nicht kräftigem Knochenbau, mager, bleich und mit Ausnahme der bei ihrer Arbeit besonders angestrengten Muskeln schlaff von Fieber. Fast alle leiden an schlechter Verdauung und sind infolgedessen mehr oder weniger hypochondrisch und von trüber, unbehaglicher Gemütsstimmung. Ihr geschwächter Körper ist nicht imstande, einer Krankheit Widerstand zu leisten, und wird daher bei jeder Gelegenheit davon ergriffen. Daher altern sie früh und sterben jung. Die Sterblichkeitstabellen liefern dafür einen unwidersprechlichen Beweis.
Nach dem Berichte des Generalregistrators G. Graham ist die Sterblichkeit von ganz England und Wales jährlich etwas unter 2 1/4 Prozent, d.h. aus 45 Menschen stirbt jedes Jahr einer (7). Wenigstens war dies der Durchschnitt der Jahre 1 839/40 – im nächsten Jahre nahm die Sterblichkeit etwas ab und war nur einer aus 46. In den großen Städten aber stellt sich das Verhältnis ganz anders. Mir liegen (im "Manchester Guardian", 31. Juli 1844) offizielle Sterblichkeitstabellen vor, nach denen sich die Sterblichkeit einiger großer Städte so berechnet: In Manchester inklusive Salford und Chorlton 1 aus 32,72 und exklusive Salford und Chorlton 1 aus 30,75; in Liverpool inklusive West-Derby (Vorstadt) 31,90 und exklusive West-Derby 29,90, während der Durchschnitt sämtlicher angegebenen Distrikte von Cheshire, Lancashire und Yorkshire – und diese schließen eine Menge ganz oder halb ländlicher Distrikte ein, dazu viele kleine Städte – mit einer Bevölkerung von 2 172 506 Menschen eine Sterblichkeit von 1 aus 39,80 ergibt. Wie ungünstig die Arbeiter in den Städten gestellt sind, zeigt die Sterblichkeit von Prescot in Lancashire – einem von Kohlengrubenarbeitern bewohnten und, da die Arbeit in den Gruben keine sehr gesunde ist, an Gesundheit noch unter den Ackerbaubezirken stehenden Distrikt. Aber die Arbeiter wohnen auf dem Lande, und die Sterblichkeit stellt sich auf 1 in 47,54, also beinahe 2 1/2 vorteilhafter als der Durchschnitt von ganz England. Sämtliche Angaben beruhen auf den Sterblichkeitstabellen von 1843. Noch höher ist das Verhältnis der Sterblichkeit in den schottischen Städten; in Edinburgh 1838 39,1 aus 28, ja 1831 in der Altstadt allein 1 aus 22; in Glasgow nach Dr. Cowan (Vital Statistics of Glasgow); durchschnittlich seit 1830 1 aus 30, in einzelnen Jahren 1 aus 22 bis 24. Daß diese enorme Verkürzung der durchschnittlichen Lebensdauer hauptsächlich auf die arbeitende Klasse fällt, ja daß der Durchschnitt aller Klassen durch die geringere Sterblichkeit der höheren und mittleren Klassen noch verbessert wird, wird uns von allen Seiten bezeugt. Eins der neuesten Zeugnisse ist das des Arztes P. H. Holland in Manchester, der in offiziellem Auftrage (8) die Vorstadt von Manchester, Chorlton-on-Medlock, untersuchte. Er klassifiziert Häuser und Straßen in je drei Klassen und fand folgende Unterschiede der Sterblichkeit:
Sterblichkeit | ||
Erste Straßenklasse: Häuser |
I. Klasse |
1 aus 51 |
II. Klasse |
1 aus 45 | |
III. Klasse |
1 aus 36 | |
Zweite Straßenklasse: Häuser |
I. Klasse |
1 aus 55 |
II. Klasse |
1 aus 38 | |
III. Klasse |
1 aus 35 | |
Dritte Straßenklasse: Häuser |
I. Klasse |
fehlen |
II. Klasse |
1 aus 35 | |
III. Klasse |
1 aus 25 |
Aus mehreren andern von Holland gegebenen Tabellen geht hervor, daß die Sterblichkeit in den Straßen zweiter Klasse 18 Prozent und dritter Klasse 68 Prozent größer ist als in denen erster Klasse; daß die Sterblichkeit in den Häusern zweiter Klasse 31 Prozent und dritter Klasse 78 Prozent größer ist als in denen erster Klasse; daß die Sterblichkeit in den schlechten Straßen, die verbessert wurden, sich um 25 Prozent vermindert hat. Er schließt mit der für einen englischen Bourgeois sehr offenen Bemerkung:
"Wenn wir finden, daß die Sterblichkeit in einigen Straßen viermal so hoch ist als in anderen und in ganzen Straßenklassen doppelt so hoch ist als in andern Klassen, wenn wir ferner finden, daß sie so gut wie unveränderlich hoch ist in den Straßen, die in schlechtem Zustande sind, und so gut wie unveränderlich niedrig in gutkonditionierten Straßen, so können wir dem Schluß nicht widerstehen, daß Massen unserer Mitmenschen, Hunderte unserer nächsten Nachbarn jährlich getötet (destroyed) werden aus Mangel an den allergewöhnlichsten Vorsichtsmaßregeln."
Der Bericht über den Gesundheitszustand der arbeitenden Klassen enthält eine Angabe, die dasselbe Faktum beweist. In Liverpool war 1840 die durchschnittliche Lebensdauer der höheren Klassen (gentry, professional men etc.) 35, der Geschäftsleute und bessergestellten Handwerker 22 Jahre, der Arbeiter, Tagelöhner und der dienenden Klasse überhaupt nur 15 Jahre. Die Parlamentsberichte enthalten noch eine Menge ähnlicher Tatsachen.
Die Sterblichkeitslisten werden hauptsächlich durch die vielen Todesfälle unter den kleinen Kindern der Arbeiterklasse so hoch gesteigert. Der zarte Körper eines Kindes widersteht den ungünstigen Einflüssen einer niedrigen Lebenslage am wenigsten; die Vernachlässigung, der es oft ausgesetzt ist, wenn beide Eltern arbeiten oder einer von beiden tot ist, rächt sich sehr bald, und so darf man sich nicht wundern, wenn z.B. in Manchester, laut dem letzterwähnten Bericht, über 57 Prozent der Arbeiterkinder vor dem fünften Jahre sterben, während von den Kindern der höheren Klassen nur 20 Prozent und im Durchschnitt aller Klassen in Landdistrikten von allen Kindern unter dem fünften Jahre nicht volle 32 Prozent (9) sterben. Der mehrerwähnte Artikel des "Artizan" gibt uns hierüber genauere Nachweisungen, indem er die Proportionen der Sterbefälle bei einzelnen Kinderkrankheiten in den Städten denen auf dem Lande gegenüberstellt und so beweist, daß Epidemien im allgemeinen in Manchester und Liverpool dreimal tödlicher sind als in Landdistrikten; daß Krankheiten des Nervensystems in den Städten verfünffacht und Magenübel mehr als verdoppelt werden, während die Todesfälle infolge von Lungenkrankheiten in Städten sich zu denen auf dem Lande verhalten wie 2 1/2 zu 1. Todesfälle von kleinen Kindern infolge von Pocken, Masern, Stickhusten und Scharlachfieber vervierfachen sich: die infolge von Wasser im Gehirn verdreifachen und infolge von Krämpfen verzehnfachen sich in Städten, Um noch eine schlagende Autorität aufzuführen, gebe ich hier eine Tabelle, die Dr. Wade in seiner History of the Middle and Working Classes" (London, 1835, 3 rd ed.) nach dem Bericht des parlamentarischen Fabrikkomitees vom Jahre 1832 gibt.
von 10 000 Menschen sterben |
unter 5 Jahren |
5 bis 19 |
20 bis 39 |
40 bis 59 |
60 bis 69 |
70 bis 79 |
80 bis 89 |
90 bis 99 |
100 und darüber |
in der Grafschaft Rutland – gesunder Agrikulturdistrikt |
2865 |
891 |
1275 |
1299 |
1189 |
1428 |
938 |
112 |
3 |
in der Grafschaft Essex – marschiger Agrikultursistrikt |
3159 |
1110 |
1526 |
1413 |
963 |
1019 |
630 |
77 |
3 |
in der Stadt Carlisle 1779-1787, vor der Einführung der Fabriken |
4408 |
911 |
1006 |
1201 |
940 |
826 |
533 |
153 |
22 |
in der Stadt Carlisle nach Einführung der Fabriken |
4738 |
930 |
1261 |
1134 |
677 |
727 |
452 |
80 |
1 |
in der Stadt Preston, Fabrikstadt |
4947 |
1136 |
1379 |
1114 |
553 |
532 |
298 |
38 |
3 |
In der Stadt Leeds, Fabrikstadt |
5286 |
927 |
1228 |
1198 |
593 |
512 |
225 |
29 |
2 |
Außer diesen verschiedenen Krankheiten, die die notwendige Folge der jetzigen Vernachlässigung und Unterdrückung der ärmeren Klasse sind, gibt es aber noch andere Einflüsse, die zur Vermehrung der Sterblichkeit unter kleinen Kindern beitragen. In vielen Familien arbeitet die Frau so gut wie der Mann außer dem Hause, und die Folge davon ist die gänzliche Vernachlässigung der Kinder, die entweder eingeschlossen oder zum Verwahren ausgemietet werden. Da ist es denn kein Wunder, wenn Hunderte von solchen Kindern durch allerlei Unglücksfälle das Leben verlieren. Nirgends werden so viel Kinder überfahren und überritten, nirgends fallen so viele zu Tode, ertrinken oder verbrennen als in den großen Städten Englands. Namentlich sind Todesfälle infolge von Brandwunden oder Übergießung mit heißem Wasser häufig – in Manchester während der Wintermonate fast jede Woche einmal, in London ebenfalls häufig, doch sieht man dort selten etwas davon in den Blättern; mir ist nur eine Angabe im "Weekly Dispatch" vom 15. Dezember 1844 zur Hand, wonach in der Woche vom 1. bis 7. Dezember sechs derartige Fälle vorgekommen waren. Diese armen Kinder, die auf eine so fürchterliche Weise ums Leben kommen, sind rein die Opfer unserer gesellschaftlichen Unordnung und der bei der Erhaltung dieser Unordnung interessierten besitzenden Klasse – und doch weiß man nicht, ob nicht selbst dieser schreckliche, qualvolle Tod eine Wohltat für die Kinder war, indem er sie vor einem langen Leben voll Mühe und Elend, reich an Leiden und arm an Genüssen, bewahrte. So weit ist es gekommen in England – und die Bourgeoisie liest das alles täglich in den Zeitungen und kümmert sich nicht drum. Sie wird sich aber auch nicht beklagen können, wenn ich sie nach den angeführten offiziellen und nichtoffiziellen Zeugnissen, die sie kennen muß, geradezu des sozialen Mordes beschuldige. Entweder sorge sie dafür, daß diesem entsetzlichen Zustande abgeholfen werde – oder sie trete die Verwaltung der allgemeinen Interessen an die arbeitende Klasse ab. Und zu letzterem hat sie keine Lust, während sie zu ersterem – solange sie Bourgeoisie und in Bourgeoisievorurteilen befangen bleibt – nicht die Kraft besitzt; denn wenn sie jetzt endlich, nachdem Hunderttausende von Schlachtopfern gefallen sind, einige kleinliche Vorsorge für die Zukunft trifft, einen "Metropolitan Buildings Act" erläßt, wonach wenigstens die rücksichtsloseste Zusammendrängung von Wohnungen etwas beschränkt wird – wenn sie mit Maßregeln prunkt, die, weit entfernt, auf die Wurzel des Übels einzugehen, noch lange nicht an die Anordnungen der allgewöhnlichsten Gesundheitspolizei reichen, so wird sie sich dadurch doch nicht von der Anklage reinigen können. Die englische Bourgeoisie hat nur die Wahl, entweder mit der unwiderlegbaren Anklage des Mordes auf ihren Schultern und trotz dieser Anklage fortzuregieren – oder zugunsten der Arbeiterklasse abzudanken. Bis jetzt hat sie das erstere vorgezogen.
Die wenigen der arbeitenden Klasse zu Gebote stehenden Wochenschulen können nur von den wenigsten besucht werden und sind außerdem schlecht, die Lehrer – ausgediente Arbeiter und sonstige untaugliche Leute, die nur, um leben zu können, Schulmeister wurden – sind großenteils selbst in den notdürftigsten Elementarkenntnissen unerfahren, ohne die dem Lehrer so nötige sittliche Bildung und ohne alle öffentliche Kontrolle. Auch hier herrscht die freie Konkurrenz, und wie immer haben die Reichen den Nutzen, und die Armen, für die die Konkurrenz eben nicht frei ist, die nicht die gehörigen Kenntnisse haben, um urteilen zu können, haben den Schaden. Ein Schulzwang existiert nirgends, in den eigentlichen Fabriken, wie wir sehen werden, nur dem Namen nach, und als in der Session von 1843 die Regierung diesen scheinbaren Schulzwang in Kraft treten lassen wollte opponierte die fabrizierende Bourgeoisie aus Leibeskräften, obwohl die Arbeiter sich entschieden für den Schulzwang aussprachen. Ohnehin arbeitet eine große Menge Kinder die ganze Woche über in Fabriken und zu Hause und kann deshalb die Schule nicht besuchen. Denn die Abendschulen, wohin diejenigen gehen sollen, die des Tages beschäftigt sind, werden fast gar nicht und ohne Nutzen besucht. Es wäre auch wirklich gar zuviel verlangt, wenn junge Arbeiter, die sich zwölf Stunden lang abgeplagt haben, nun noch von acht bis zehn Uhr in die Schule gehen sollten. Und diejenigen, die es tun, schlafen dort meistens ein, wie durch den Children's Empl[oyment] Rep[or]t in Hunderten von Aussagen konstatiert ist. Allerdings hat man Sonntagsschulen eingerichtet, die aber ebenfalls höchst mangelhaft mit Lehrern besetzt sind und nur denen, die schon in der Wochenschule etwas gelernt haben, nützen können. Der Zeitraum von einem Sonntag zum andern ist zu lang, als daß ein ganz ungebildetes Kind in der zweiten Lektion das nicht wieder vergessen haben sollte, was es in der ersten, acht Tage früher, gelernt hat. Der Bericht der Children's Employment Commission liefert Tausende von Beweisen, und die Kommission selbst spricht sich aufs entschiedenste dahin aus, daß weder die Wochen- noch die Sonntagsschulen dem Bedürfnis der Nation auch nur im entferntesten entsprechen. Dieser Bericht liefert Beweise von Unwissenheit unter der arbeitenden Klasse Englands, die man nicht aus einem Lande wie Spanien und Italien erwarten sollte. Es kann aber nicht anders sein; die Bourgeoisie hat wenig zu hoffen, aber manches zu fürchten von der Bildung der Arbeiter; die Regierung hat in ihrem ganzen kolossalen Budget von 55 000 000 Pfd. St. nur einen einzigen winzigen Posten von 40 000 Pfd. St. für öffentlichen Unterricht; und wenn nicht der Fanatismus der religiösen Sekten wäre, der wenigstens ebensoviel verdirbt, als er hier und da bessert, so würden die Unterrichtsmittel noch viel elender sein. Aber so errichtet die Hochkirche ihre National Schools [Volksschulen] und jede Sekte ihre Schulen, einzig in der Absicht, die Kinder ihrer Glaubensgenossen in ihrem Schoß zu behalten und womöglich hier und da den andern Sekten eine arme Kinderseele abzujagen. Die Folge davon ist, daß die Religion und gerade die unfruchtbarste Seite der Religion, die Polemik, zum vorzüglichsten Unterrichtsgegenstande erhoben und das Gedächtnis der Kinder mit unverständlichen Dogmen und theologischen Distinktionen vollgepfropft, daß der Sektenhaß und die fanatische Bigotterie so früh wie möglich geweckt und alle vernünftige, geistige und sittliche Bildung schändlich vernachlässigt wird. Die Arbeiter haben oft genug eine rein weltliche öffentliche Erziehung, die Religion den Geistlichen jeder Sekte überlassend, vom Parlament gefordert – sie haben bis jetzt noch kein Ministerium gefunden, das ihnen etwas Ähnliches bewilligt hätte. Natürlich. Der Minister ist der gehorsame Knecht der Bourgeoisie, und diese teilt sich in zahllose Sekten; jede Sekte aber gönnt dem Arbeiter nur dann die sonst gefährliche Erziehung, wenn er das Gegengift der speziell dieser Sekte angehörigen Dogmen mit in den Kauf nehmen muß. Und da sich diese Sekten noch bis heute um die Oberherrschaft zanken, so bleibt die Arbeiterklasse einstweilen ohne Bildung. Zwar rühmen sich die Fabrikanten, der großen Mehrzahl das Lesen beigebracht zu haben, aber es ist auch ein Lesen danach – wie der Bericht der Children's Employment Commission zeigt. Wer das Alphabet kennt, sagt, er könne lesen, und dabei beruhigen sich die Fabrikanten. Und wenn man die konfuse englische Orthographie bedenkt, bei der das Lesen eine wahre Kunst ist und nur nach langem Unterricht gelernt werden kann, so findet man diese Unwissenheit begreiflich. Schreiben vollends können sehr wenige – orthographisch schreiben selbst sehr viele "Gebildete" nicht. Die Sonntagsschulen der Hochkirche, der Quäker und ich glaube noch mehrerer andern Sekten lehren gar kein Schreiben, "weil dies eine zu weltliche Beschäftigung für den Sonntag sei". Wie es sonst mit der Bildung, die den Arbeitern geboten wird, steht, sollen ein paar Beispiele zeigen. Sie sind aus dem Ch[ildren's] Empl[oyment] Commiss[ion's]-Bericht, der sich leider nicht auf die eigentliche Fabrikindustrie ausdehnt.
"In Birmingham", sagt Kommissär Grainger, "sind die von mir geprüften Kinder in ihrer Gesamtheit gänzlich ohne alles, was auch nur im entferntesten eine nützliche Erziehung genannt werden könnte. Obwohl fast in allen Schulen nur Religionsunterricht gegeben wird, zeigten sie doch im allgemeinen auch hierüber die gröbste Unwissenheit." – "In Wolverhampton", erzählt Kommissär Horne, "fand ich unter andern folgende Beispiele: Ein Mädchen, 11 Jahre, war in einer Wochen- und Sonntagsschule gewesen, 'hatte nie von einer andern Welt, vom Himmel oder einem andern Leben gehört'. Ein andrer, 17 Jahre alt, wußte nicht, wieviel zwei mal zwei machten, wieviel Farthings" (1/4 Penny) "in 2 Pence seien, selbst als man das Geld ihm in die Hand legte. Einige Knaben hatten nie von London oder selbst von Willenhall gehört, obwohl letzteres nur eine Stunde von ihrem Wohnort entfernt liegt und fortwährend in Kommunikation mit Wolverhampton steht. Einige hatten nie den Namen der Königin oder Namen wie Nelson, Wellington, Bonaparte gehört. Aber es war bemerkenswert, daß diejenigen, die selbst von Sankt Paulus, Moses oder Salomon nie gehört hatten, über Leben, Taten und Charakter Dick Turpins, des Straßenräubers, und besonders Jack Sheppards, des Diebs und Gefängnisbrechers, sehr wohl unterrichtet waren. Ein Junge, 16 Jahre alt, wußte nicht, wieviel zwei mal zwei machten oder wieviel vier Farthings machten – ein Junge von 17 Jahren behauptete, zehn Farthings seien zehn halbe Pence, und ein dritter, 17 Jahre alt, antwortete kurz auf einige sehr einfache Fragen: 'Er wisse nichts von gar nichts (he was ne judge o' nothin')'" (Horne, Rept., App. Part II, Q. 18, No. 216, 217, 226, 233 etc.).
Diese Kinder, die vier bis fünf Jahre hindurch mit religiösen Dogmen geplagt werden, wissen am Ende soviel wie vorher.
Ein Kind "ist fünf Jahrelang regelmäßig zur Sonntagsschule gegangen; weiß nicht, wer Jesus Christus war, hat den Namen aber gehört; hat nie von den zwölf Aposteln, Simson, Moses, Aaron usw. gehört" (ibid. Evid. p. q. 39, 1.33). Ein andres "sechs Jahre regelmäßig zur Sonntagsschule gegangen. Weiß, wer Jesus Christus war, er starb am Kreuz, sein Blut zu vergießen, um unsern Erlöser zu erlösen; hat nie von St. Petrus oder Paulus gehört" (ibid. p. q. 36, 1.46). Ein drittes "sieben Jahre in verschiednen Sonntagsschulen gewesen, kann nur in den dünnen Büchern lesen, leichte einsilbige Wörter; hat von den Aposteln gehört, weiß nicht, ob St. Peter einer war oder St. Johann, es müßte denn Sankt Johann Wesley (Stifter der Methodisten) sein usw. (ibid p. q. 34, 1.58), auf die Frage, wer Jesus Christus sei, erhielt Horne u.a. noch folgende Antworten: "Er war Adam"; "er war ein Apostel"; "er war der Sohn des Herrn des Erlösers (he was the Saviour's Lord's Son)", und von einem sechzehnjährigen Jungen: "Er war ein König von London vor langer, langer Zeit,"
In Sheffield ließ Kommissär Symons die Sonntagsschüler lesen; sie waren nicht imstande zu sagen, was sie gelesen hatten oder was für Leute die Apostel gewesen seien, von denen sie soeben gelesen hatten. Nachdem er sie alle nach der Reihe wegen der Apostel befragt hatte, ohne eine richtige Antwort zu erhalten, rief ein kleiner schlau aussehender Junge mit großer Zuversicht aus:
"Ich weiß es, Herr, es waren die Aussätzigen!" (Symons, Rept., App. Part 1, pp. E 22 sqq.)
Aus den Töpfereibezirken und aus Lancashire wird Ähnliches berichtet.
Man sieht, was die Bourgeoisie und der Staat für die Erziehung und Ausbildung der arbeitenden Klasse getan haben. Glücklicherweise sind die Verhältnisse, in denen diese Klasse lebt, derart, daß sie ihr eine praktische Bildung geben, welche nicht nur den Schulkram ersetzt, sondern auch die mit ihm verbundenen verworrenen religiösen Vorstellungen unschädlich macht und die Arbeiter sogar an die Spitze der nationalen Bewegung Englands stellt. Not lehrt beten und, was mehr heißen will, denken und handeln. Der englische Arbeiter, der kaum lesen und noch weniger schreiben kann, weiß dennoch sehr gut, was sein eignes Interesse und das der ganzen Nation ist – er weiß auch, was das spezielle Interesse der Bourgeoisie ist und was er von dieser Bourgeoisie zu erwarten hat. Kann er nicht schreiben, so kann er doch sprechen, öffentlich sprechen; kann er nicht rechnen, so kann er doch mit nationalökonomischen Begriffen soviel kalkulieren, als dazu gehört, einen korngesetzabschaffenden Bourgeois zu durchschauen und zu widerlegen; bleiben ihm trotz aller Mühe der Pfaffen die himmlischen Fragen sehr unklar, so weiß er desto besser Bescheid in irdischen, politischen und sozialen Fragen. Wir werden davon noch weiter zu reden haben und gehen jetzt zur sittlichen Charakterisierung unserer Arbeiter über.
Daß der Moralunterricht, der in allen Schulen Englands mit dem religiösen vereinigt ist, von keiner besseren Wirkung sein kann als dieser, ist ziemlich klar. Die einfachen Prinzipien, welche für den Menschen das Verhältnis des Menschen zum Menschen regulieren, Prinzipien, die schon durch den sozialen Zustand, den Krieg Aller gegen Alle, in die greulichste Verwirrung geraten, müssen dem ungebildeten Arbeiter vollends unklar und fremd bleiben, wenn sie mit religiösen, unverständlichen Lehrsätzen vermischt und in der religiösen Form eines willkürlichen, unbegründeten Befehls vorgetragen werden. Die Schulen tragen nach dem Geständnis aller Autoritäten, namentlich der Child. Empl. Comm., zur Sittlichkeit der arbeitenden Klasse fast gar nichts bei. So rücksichtslos, so dumm borniert ist die englische Bourgeoisie in ihrem Egoismus, daß sie sich nicht einmal die Mühe gibt, den Arbeitern die heutige Moral einzuprägen, eine Moral, welche die Bourgeoisie sich doch in ihrem eignen Interesse und zu ihrem eignen Schutz zusammengestümpert hat! Selbst diese Sorge für sich selbst macht der schlaff werdenden, trägen Bourgeoisie zuviel Mühe, selbst das scheint ihr überflüssig. Die Zeit wird freilich kommen, wo sie ihr Versäumnis zu spät bereuen wird. Aber beklagen darf sie sich nicht, wenn die Arbeiter von dieser Moral nichts wissen und sich nicht nach ihr richten.
So sind die Arbeiter, wie körperlich und intellektuell, auch moralisch von der machthabenden Klasse ausgestoßen und vernachlässigt. Die einzige Rücksicht, die man noch für sie hat, ist das Gesetz, das sich an sie anklammert, sobald sie der Bourgeoisie zu nahe treten – wie gegen die unvernünftigen Tiere wendet man nur ein Bildungsmittel auf sie an – die Peitsche, die brutale, nicht überzeugende, nur einschüchternde Gewalt. Es ist also auch nicht zu verwundern, wenn die so wie Tiere behandelten Arbeiter entweder wirklich zu Tieren werden oder sich nur durch den glühendsten Haß, durch fortwährende innere Empörung gegen die machthabende Bourgeoisie das Bewußtsein und Gefühl ihrer Menschheit bewahren können. Sie sind nur Menschen, solange sie den Zorn gegen die herrschende Klasse fühlen; sie werden Tiere, sobald sie sich geduldig in ihr Joch fügen und sich nur das Leben im Joch angenehm zu machen suchen, ohne das Joch selbst brechen zu wollen.
Das ist also alles, was die Bourgeoisie zur Bildung der arbeitenden Klasse getan hat – und wenn wir die übrigen Umstände erwägen, in denen diese letztere lebt, so werden wir ihr den Ingrimm, den sie gegen die herrschende Klasse hegt, vollends nicht verübeln können. Die sittliche Bildung, die dem Arbeiter in der Schule nicht gereicht wird, wird ihm auch in seinen sonstigen Lebensverhältnissen nicht geboten – wenigstens die sittliche Bildung nicht, die in den Augen der Bourgeoisie etwas gilt. Seine ganze Stellung und Umgebung enthält die stärksten Neigungen zur Immoralität. Er ist arm, das Leben hat keinen Reiz für ihn, fast alle Genüsse sind ihm versagt, die Strafen des Gesetzes haben nichts Fürchterliches mehr für ihn – was soll er sich also in seinen Gelüsten genieren, weshalb soll er den Reichen im Genuß seiner Güter lassen, statt sich selbst einen Teil davon anzueignen? Was für Gründe hat der Proletarier, nicht zu stehlen? Es ist all recht schön und klingt den Bourgeois angenehm genug ins Ohr, wenn man von der "Heiligkeit des Eigentums" spricht – aber für den, der kein Eigentum hat, hört die Heiligkeit des Eigentums von selber auf. Das Geld ist der Gott dieser Welt. Der Bourgeois nimmt dem Proletarier sein Geld und macht ihn dadurch zum praktischen Atheisten. Kein Wunder also, wenn der Proletarier seinen Atheismus bewährt und die Heiligkeit und die Macht des irdischen Gottes nicht mehr respektiert. Und wenn die Armut des Proletariers bis zum wirklichen Mangel der nötigsten Lebensbedürfnisse, bis zum Elend und zur Brotlosigkeit gesteigert wird, so steigt der Reiz zur Nichtachtung aller gesellschaftlichen Ordnung noch mehr. Das wissen auch die Bourgeois großenteils selbst. Symons bemerkt (11) Das Elend läßt dem Arbeiter nur die Wahl, langsam zu verhungern, sich rasch zu töten oder sich zu nehmen, was er nötig hat, wo er es findet, auf deutsch, zu stehlen. Und da werden wir uns nicht wundern dürfen, wenn die meisten den Diebstahl dem Hungertode oder dem Selbstmorde vorziehen. Es gibt freilich auch unter den Arbeitern eine Anzahl, die moralisch genug sind, um nicht zu stehlen, selbst wenn sie aufs Äußerste gebracht werden, und diese verhungern oder töten sich. Der Selbstmord, der sonst das beneidenswerte Privilegium der höheren Klassen war, ist in England auch unter den Proletariern Mode geworden, und eine Menge armer Leute töten sich, um dem Elend zu entgehen, aus dem sie sich sonst nicht zu retten wissen.
Aber noch viel demoralisierender als die Armut wirkt auf die englischen Arbeiter die Unsicherheit der Lebensstellung, die Notwendigkeit, vom Lohn aus der Hand in den Mund zu leben, kurz das, was sie zu Proletariern macht, Unsre kleinen Bauern in Deutschland sind großenteils auch arm und leiden oft Mangel, aber sie sind weniger abhängig vom Zufall, sie haben wenigstens etwas Festes. Aber der Proletarier, der gar nichts hat als seine beiden Hände, der heute verzehrt, was er gestern verdiente, der von allen möglichen Zufällen abhängt, der nicht die geringste Garantie für seine Fähigkeit, sich die nötigsten Lebensbedürfnisse zu erwerben, besitzt – jede Krisis, jede Laune seines Meisters kann ihn brotlos machen -, der Proletarier ist in die empörendste, unmenschlichste Lage versetzt, die ein Mensch sich denken kann. Dem Sklaven ist wenigstens seine Existenz durch den Eigennutz seines Herrn gesichert, der Leibeigne hat doch ein Stück Land, wovon er lebt, sie haben wenigstens für das nackte Leben eine Garantie – aber der Proletarier ist allein auf sich selbst angewiesen und doch zugleich außerstande gesetzt, seine Kräfte so anzuwenden, daß er auf sie rechnen kann. Alles, was der Proletarier zur Verbesserung seiner Lage selbst tun kann, verschwindet wie ein Tropfen am Eimer gegen die Fluten von Wechselfällen, denen er ausgesetzt ist und über die er nicht die geringste Macht hat. Er ist das willenlose Objekt aller möglichen Kombinationen von Umständen und kann vom Glück noch sagen, wenn er nur auf kurze Zeit das nackte Leben rettet. Und wie sich das von selbst versteht, richtet sich sein Charakter und seine Lebensweise wieder nach diesen Umständen. Entweder sucht er sich in diesem Strudel oben zu halten, seine Menschheit zu retten, und das kann er wieder nur in der Empörung und dann seinem Schicksal überläßt, die ihn zu zwingen sucht, in dieser, eines Menschen unwürdigen Lage zu bleiben, gegen die Bourgeoisie – oder er gibt den Kampf gegen seine Lage als fruchtlos auf und sucht, soviel er kann, von den günstigen Momenten zu profitieren. Sparen nützt ihm zu nichts, denn er kann sich höchstens soviel sammeln, als er braucht, um sich ein paar Wochen lang zu ernähren – und wird er einmal brotlos, so bleibt es nicht bei ein paar Wochen. Sich auf die Dauer Eigentum erwerben kann er nicht, und könnte er's, so müßte er dann ja aufhören, Arbeiter zu sein, und ein andrer träte an seine Stelle. Was kann er also Besseres tun, wenn er guten Lohn bekommt, als gut davon leben? Der englische Bourgeois wundert und skandalisiert sich aufs höchste über das flotte Leben der Arbeiter während der Zeit, daß der Lohn hoch ist – und doch ist es nicht nur ganz natürlich, sondern sogar ganz vernünftig von den Leuten, daß sie das Leben genießen, wenn sie können, statt Schätze zu sammeln, die ihnen nichts nützen und die am Ende doch wieder die Motten und der Rost, d.h. die Bourgeois fressen. Aber solch ein Leben ist demoralisierend wie kein andres. Was Carlyle von Baumwollspinnern sagt, gilt von allen englischen Industriearbeitern:
"Bei ihnen ist das Geschäft heute blühend, morgen welk – ein fortwährendes Hasardspiel, und so leben sie auch wie Spieler, heute im Luxus, morgen im Hunger. Schwarze meuterische Unzufriedenheit verzehrt sie, das elendeste Gefühl, das in des Menschen Brust wohnen kann. Der englische Handel mit seinen weltweiten Konvulsionen und Schwankungen, mit seinem unermeßlichen Dampfproteus hat alle Pfade für sie unsicher gemacht wie ein Zauberbann; Nüchternheit, Festigkeit, ruhige Dauer, die ersten Segnungen des Menschen sind ihnen fremd ... Diese Welt ist für sie kein heimatlich Haus, sondern ein dumpfiges Gefängnis voll toller, fruchtloser Plage, Rebellion, Groll, Ingrimm gegen sich selbst und alle Menschen. Ist es eine grüne, blumige Weit, gemacht und regiert von einem Gott – oder ist es ein düster-brodelndes Tophet von Vitriolrauch, Baumwollstaub, Schnapslärm, Wut und Arbeitsqual, gemacht und regiert von einem Teufel?" (13)
Und weiter p.40:
"Wenn Ungerechtigkeit, Untreue gegen Wahrheit, Tatsache und Ordnung der Natur das einzige Übel unter der Sonne ist und das Bewußtsein, Unrecht, Ungerechtigkeit zu ertragen, das einzige unerträglich schmerzliche Gefühl, so wäre unsre große Frage wegen der Lage der Arbeiter diese: Ist dies gerecht? Und vor allem: Was halten sie selbst von der Gerechtigkeit der Sache? – Ihre Worte sind Antwort genug, ihre Taten noch mehr ... Empörung, plötzlicher rachelustiger Trieb zur Empörung gegen die höheren Klassen, abnehmende Achtung gegen die Befehle ihrer weltlichen Obern, abnehmender Glaube gegen die Lehren ihrer geistlichen Obern wird mehr und mehr die allgemeine Stimmung der niederen Klassen. Diese Stimmung mag getadelt, mag bestraft werden, aber alle müssen sie als dort wirklich existierend anerkennen, müssen wissen, daß es traurig ist und, wo nicht geändert, unheilbringend sein wird."
Carlyle hat in den Tatsachen ganz recht und nur darin unrecht, daß er die wilde Leidenschaft der Arbeiter gegen die höheren Klassen tadelt. Diese Leidenschaft, dieser Zorn ist vielmehr der Beweis, daß die Arbeiter das Unmenschliche ihrer Lage fühlen, daß sie sich nicht zum Tier herabdrängen lassen wollen und daß sie dereinst sich aus der Knechtschaft der Bourgeoisie befreien werden. Wir sehen es ja an denen, die diesen Zorn nicht teilen – entweder unterwerfen sie sich in Demut dem Geschick, das sie trifft, leben als ehrliche Privatleute, so gut es geht, kümmern sich nicht um den Gang der Welt, helfen der Bourgeoisie die Ketten der Arbeiter fester zu schmieden [ 1892) ... fester schmieden] und stehen auf dem geistig-toten Standpunkte der vorindustriellen Periode – oder sie lassen sich vom Schicksal werfen und spielen mit ihm, verlieren auch innerlich den festen Halt, den sie schon äußerlich verloren haben, leben in den Tag hinein, trinken Schnaps und laufen den Mädeln nach – in beiden Fällen sind sie Tiere. Diese letzteren tragen denn auch hauptsächlich zu der "schnellen Vermehrung des Lasters" bei, über die die sentimentale Bourgeoisie so entsetzt ist, nachdem sie selbst die Ursachen derselben in Bewegung gesetzt hat.
Eine andre Quelle der Demoralisation unter den Arbeitern ist die Verdammung zur Arbeit. Wenn die freiwillige produktive Tätigkeit der höchste Genuß ist, den wir kennen, so ist die Zwangsarbeit die härteste, entwürdigendste Qual. Nichts ist fürchterlicher, als alle Tage von morgens bis abends etwas tun zu müssen, was einem widerstrebt. Und je menschlicher der Arbeiter fühlt, desto mehr muß ihm seine Arbeit verhaßt sein, weil er den Zwang, die Zwecklosigkeit für ihn selbst fühlt, die in ihr liegen. Weshalb arbeitet er denn? Aus Lust am Schaffen? Aus Naturtrieb? Keineswegs. Er arbeitet um des Geldes, um einer Sache willen, die mit der Arbeit selbst gar nichts zu schaffen hat, er arbeitet, weil er muß, und arbeitet noch dazu so lange und so ununterbrochen einförmig, daß schon aus diesem Grunde allein ihm die Arbeit in den ersten Wochen zur Qual werden muß, wenn er noch irgend menschlich fühlt. Die Teilung der Arbeit hat die vertierenden Wirkungen der Zwangsarbeit überhaupt noch vervielfacht. In den meisten Arbeitszweigen ist die Tätigkeit des Arbeiters auf eine kleinliche, rein mechanische Manipulation beschränkt, die sich Minute für Minute wiederholt und jahraus, jahrein dieselbe bleibt. (14) Wer von Kindesbeinen an jeden Tag zwölf Stunden und drüber Nadelknöpfe gemacht oder Kammräder abgefeilt und außerdem in den Verhältnissen eines englischen Proletariers gelebt hat, wieviel menschliche Gefühle und Fähigkeiten mag der in sein dreißigstes Jahr hinüberretten? Dasselbe ist's mit der Einführung der Dampfkraft und der Maschinen. Die Tätigkeit des Arbeiters wird leicht, die Anstrengung der Muskel wird gespart und die Arbeit selbst unbedeutend, aber eintönig im höchsten Grade. Sie gewährt ihm kein Feld für geistige Tätigkeit und nimmt doch seine Aufmerksamkeit gerade so viel in Anspruch, daß er, um sie gut zu besorgen, an nichts andres denken darf. Und eine Verurteilung zu einer solchen Arbeit – einer Arbeit, die alle disponible Zeit des Arbeiters in Anspruch nimmt, ihm kaum Zeit zum Essen und Schlafen, nicht einmal zu körperlicher Bewegung in freier Luft, zum Genuß der Natur, geschweige zu geistiger Tätigkeit läßt -, eine solche Verurteilung soll den Menschen nicht zum Tier herabwürdigen! Der Arbeiter hat wieder nur die Alternative, sich in sein Schicksal zu ergeben, ein "guter Arbeiter" zu werden, das Interesse des Bourgeois "treulich" wahrzunehmen – und dann vertiert er ganz gewiß – oder sich zu sträuben, für seine Menschheit zu kämpfen, solange es geht, und das kann er nur im Kampf gegen die Bourgeoisie.
Und wenn alle diese Ursachen eine Masse von Demoralisation unter der arbeitenden Klasse erzeugt haben, dann tritt eine neue Ursache hinzu, um diese Demoralisation weiter zu verbreiten und auf den höchsten Gipfel zu treiben – die Zentralisation der Bevölkerung. Die englischen Schriftsteller der Bourgeoisie schreien Zeter über die entsittlichenden Wirkungen der großen Städte – diese umgekehrten Jeremiasse weinen Klagelieder nicht über die Zerstörung, sondern über den Flor derselben. Sheriff Alison schiebt fast alles und Dr. Vaughan, Verfasser eines Buches "The Age of Great Cities", noch viel mehr auf diese Ursache. Natürlich. Bei den übrigen Ursachen, die auf Körper und Geist der Arbeiter zerstörend wirken, kommt das Interesse der besitzenden Klasse zu direkt ins Spiel. Sagten sie: die Armut, die Unsicherheit der Stellung, die Überarbeitung und Zwangsarbeit sei die Hauptursache – so würde jeder, so würden sie sich selbst antworten müssen: Also geben wir den Armen Eigentum, garantieren wir ihnen ihre Existenz, erlassen wir Gesetze gegen Überarbeitung – und das darf die Bourgeoisie nicht zugeben. Aber die großen Städte sind so ganz von selbst herangewachsen, die Leute sind ganz freiwillig hineingezogen, und der Schluß, daß einzig die Industrie und die von ihr profitierende Mittelklasse diese großen Städte geschaffen habe, liegt so fern, daß es der herrschenden Klasse gar zu leicht einfallen muß, alles Unheil auf diese anscheinend unvermeidliche Ursache zu wälzen – wo doch die großen Städte nur dem wenigstens im Keime schon existierenden Unheil eine schnellere und reifere Entwicklung geben können. Allison ist wenigstens noch so human, daß er dies anerkennt – er ist kein vollständig ausgebildeter, industrieller und liberaler, sondern nur ein halbentwickelter, torystischer Bourgeois und hat deshalb hie und da offne Augen, wo die wahren Bourgeois stockblind sind. Ihn wollen wir hier reden lassen:
"Es ist in den großen Städten, daß das Laster seine Versuchungen, die Wollust ihre Netze ausbreiten, daß die Schuld durch die Hoffnung der Straflosigkeit und die Trägheit durch häufiges Beispiel angespornt wird. Hieher zu diesen großen Stapelplätzen menschlicher Verdorbenheit fliehen die Schlechten und Liederlichen von der Einfachheit des Landlebens, hier finden sie Opfer für ihre Schlechtigkeit und Gewinn als Lohn für die Gefahren, in die sie sich begeben. Die Tugend wird in Dunkelheit gehüllt und unterdrückt, die Schuld reift in der Schwierigkeit der Entdeckung, Ausschweifungen werden durch unverzüglichen Genuß belohnt. Wer bei Nacht durch St. Giles, durch die engen gedrängten Gäßchen von Dublin, die ärmeren Viertel von Glasgow geht, wird dies bestätigt finden, wird sich nicht wundern, daß soviel, sondern daß sowenig Verbrechen in der Welt ist ... Die große Ursache der Verderbtheit der großen Städte ist die ansteckende Natur des bösen Beispiels und die Schwierigkeit, der Verführung des Lasters aus dem Wege zu gehen, wenn sie in nahe und tägliche Berührung mit der heranwachsenden Generation gebracht werden. Die Reichen sind eo ipso [selbstverständlich] nicht besser, auch sie können in derselben Lage der Versuchung nicht widerstehen; das besondre Unglück der Armen ist, daß sie überall den verlockenden Gestalten des Lasters und den Verführungen verbotner Genüsse begegnen müssen ... Die erwiesene Unmöglichkeit, die Reize des Lasters vor dem jüngern Teile der Armen in großen Städten zu verbergen, ist die Ursache der Demoralisation."
Nach einer längeren Sittenschilderung fährt unser Autor fort:
"Alles das kommt nicht von außerordentlicher Depravation des Charakters, sondern von der fast unwiderstehlichen Natur der Versuchungen, denen die Armen ausgesetzt sind. Die Reichen, die das Betragen der Armen tadeln, würden dem Einfluß ähnlicher Ursachen wohl ebenso rasch nachgeben. Es gibt einen Grad des Elends, ein Sich-Aufdrängen der Sünde, denen entgegenzutreten die Tugend selten fähig ist und der besonders die Jugend gewöhnlich nicht widerstehen kann. Der Fortschritt des Lasters in solchen Umständen ist fast so gewiß und oft ebenso rasch wie der der physischen Ansteckung."
Und an einer späteren Stelle:
"Wenn die höheren Klassen die Arbeiter für ihren Vorteil in großen Massen auf einen engen Raum zusammengezogen haben, wird die Ansteckung des Verbrechens reißend schnell und unvermeidlich. Die niederen Klassen, wie sie jetzt in Beziehung auf religiösen und moralischen Unterricht gestellt sind, sind häufig kaum mehr dafür zu tadeln, daß sie den auf sie eindringenden Versuchungen nachgeben, als dafür, daß sie dem Typhus zum Opfer fallen." (16), verrät uns die andre Seite. Er erzählt uns, daß das Leben in großen Städten Kabalen unter den Arbeitern erleichtere und dem Plebs Macht gebe. Wenn hier die Arbeiter nicht erzogen (d.h. zum Gehorsam gegen die Bourgeoisie erzogen) seien, so würden sie die Dinge einseitig, vom Standpunkt einer sinistren Selbstsucht ansehen und sich leicht von schlauen Demagogen verführen lassen – ja, sie seien kapabel, ihren besten Wohltäter, den frugalen und unternehmenden Kapitalisten, mit einem eifersüchtigen und feindseligen Auge anzusehen. Hier könne nur gute Erziehung helfen, sonst müsse Nationalbankerott und andre Schrecken folgen, da eine Revolution der Arbeiter sonst nicht ausbleiben könne. Und unser Bourgeois hat ganz recht mit seinen Befürchtungen. Wenn die Zentralisation der Bevölkerung schon auf die besitzenden Klassen anregend und entwickelnd wirkt, so treibt sie die Entwicklung der Arbeiter noch weit rascher vorwärts. Die Arbeiter fangen an, sich als Klasse in ihrer Gesamtheit zu fühlen, sie werden gewahr, daß sie, obwohl einzeln schwach, doch zusammen eine Macht sind; die Trennung von der Bourgeoisie, die Ausbildung den Arbeitern und ihrer Lebensstellung eigentümlicher Anschauungen und Ideen wird befördert, das Bewußtsein, unterdrückt zu werden, stellt sich ein, und die Arbeiter bekommen soziale und politische Bedeutung. Die großen Städte sind der Herd der Arbeiterbewegung, in ihnen haben die Arbeiter zuerst angefangen, über ihre Lage nachzudenken und gegen sie anzukämpfen, in ihnen kam der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie zuerst zur Erscheinung, von ihnen sind Arbeiterverbindungen, Chartismus und Sozialismus ausgegangen. Die großen Städte haben die Krankheit des sozialen Körpers, die auf dem Lande in chronischer Form auftritt, in eine akute verwandelt, und dadurch das eigentliche Wesen derselben und zugleich die rechte Art, sie zu heilen, an den Tag gebracht. Ohne die großen Städte und ihren treibenden Einfluß auf die Entwicklung der öffentlichen Intelligenz wären die Arbeiter lange nicht so weit, als sie jetzt sind. Dazu haben sie die letzte Spur des patriarchalischen Verhältnisses zwischen den Arbeitern und den Brotherren zerstört, wozu auch die große Industrie durch Vervielfachung der von einem einzigen Bourgeois abhängigen Arbeiter beitrug. Die Bourgeoisie jammert freilich darüber, und sie hat recht – denn unter diesem Verhältnis war der Bourgeois ziemlich sicher vor einer Auflehnung der Arbeiter. Er konnte sie nach Herzenslust ausbeuten und dominieren und erhielt noch Gehorsam, Dank und Zuneigung in den Kauf von dem dummen Volke, wenn er ihm außer dem Lohn etwas Freundlichkeit, die ihm nichts kostete, und vielleicht einige kleine Vorteile zukommen ließ – alles zusammen anscheinend aus purer überflüssiger, aufopfernder Herzensgüte, und doch noch lange nicht den zehnten Teil seiner Schuldigkeit. Als einzelner Bourgeois, der in Verhältnisse gestellt war, die er selbst nicht geschaffen hatte, tat er allerdings seine Schuldigkeit wenigstens teilweise, aber als Mitglied der regierenden Klasse, die schon dadurch, daß sie regiert, für die Lage der ganzen Nation verantwortlich ist und die Wahrung des allgemeinen Interesses übernimmt, tat er gar nichts von dem, was er mit seiner Stellung übernahm, sondern beutete noch obendrein die ganze Nation zu seinem eignen Privatvorteil aus. In dem patriarchalischen Verhältnis, das die Sklaverei der Arbeiter heuchlerisch verdeckte, mußte der Arbeiter geistig tot, über seine eignen Interessen total unwissend, ein bloßer Privatmensch bleiben. Erst als er seinem Brotherrn entfremdet, als es offenbar wurde, daß er mit diesem nur durch das Privatinteresse, nur durch den Geldgewinn zusammenhänge, als die scheinbare Zuneigung, die nicht die geringste Probe aushielt, gänzlich wegfiel, erst da fing der Arbeiter an, seine Stellung und seine Interessen zu erkennen und sich selbständig zu entwickeln; erst da hörte er auf, auch in seinen Gedanken, Gefühlen und Willensäußerungen der Sklave der Bourgeoisie zu sein. Und dazu hat hauptsächlich die Industrie im großen Maßstabe und die großen Städte gewirkt.
Ein anderes Moment, das von bedeutendem Einfluß auf den Charakter der englischen Arbeiter war, bildet die irische Einwanderung, von der auch schon in diesem Sinn die Rede war. Sie hat allerdings, wie wir sehen [ (1892) sahen ], einerseits die englischen Arbeiter degradiert, sie der Zivilisation entrissen und ihre Lage verschlimmert – aber auch andrerseits dadurch zur Austiefung der Kluft zwischen Arbeitern und Bourgeoisie und so zur Beschleunigung der herannahenden Krisis beigetragen. Denn der Verlauf der sozialen Krankheit, an der England leidet, ist. derselbe wie der einer physischen Krankheit; sie entwickelt sich nach gewissen Gesetzen und hat ihre Krisen, deren letzte und heftigste über das Schicksal des Kranken entscheidet. Und da die englische Nation bei dieser letzten Krisis doch nicht untergehen kann, sondern erneut und wiedergeboren aus ihr hervorgehen muß, so kann man sich nur über alles freuen, was die Krankheit auf die Spitze treibt. Und dazu trägt die irische Einwanderung außerdem noch bei durch das leidenschaftliche, lebendige irische Wesen, welches sie in England einbürgert und in die englische Arbeiterklasse bringt. Irländer und Engländer verhalten sich in vielen Beziehungen wie Franzosen und Deutsche, und die Mischung des leichteren, erregbaren, heißen irischen Temperaments mit dem ruhigen, ausdauernden, verständigen englischen kann auf die Dauer nur für beide Teile günstig sein. Der schroffe Egoismus der englischen Bourgeoisie würde weit mehr in der Arbeiterklasse sitzen geblieben sein, wenn nicht das bis zur Wegwerfung großmütige, vorwiegend vom Gefühl beherrschte irische Wesen hinzugekommen und einerseits durch Stammverschmelzung, andrerseits durch den gewöhnlichen Verkehr den rein verständigen, kalten englischen Charakter gemildert hätte.
Wir werden uns nach alledem nicht mehr darüber wundern, daß die arbeitende Klasse allmählich ein ganz andres Volk geworden ist als die englische Bourgeoisie. Die Bourgeoisie hat mit allen andern Nationen der Erde mehr Verwandtes als mit den Arbeitern, die dicht neben ihr wohnen. Die Arbeiter sprechen andre Dialekte, haben andre Ideen und Vorstellungen, andre Sitten und Sittenprinzipien, andre Religion und Politik als die Bourgeoisie. Es sind zwei ganz verschiedene Völker, so verschieden, wie sie der Unterschied der Rasse nur machen kann, und von denen wir bisher auf dem Kontinent nur das eine, die Bourgeoisie, gekannt haben. Und doch ist gerade das andre, aus den Proletariern bestehende Volk das für die Zukunft Englands bei weitem wichtigste. Arbeiter wirken. Der Arbeiter ist bei weitem humaner im gewöhnlichen Leben als der Bourgeois. Ich erwähnte schon oben, daß die Bettler fast nur an Arbeiter zu appellieren pflegen und überhaupt mehr von Seiten der Arbeiter für die Erhaltung der Armen getan wird als von seiten der Bourgeoisie. Diese Tatsache – man kann sie übrigens alle Tage bestätigt sehen – bestätigt u, a. auch Herr Parkinson, Kanonikus von Manchester:
"Die Armen geben einander mehr, als die Reichen den Armen geben. Ich kann meine Versicherung durch das Zeugnis eines unserer ältesten, geschicktesten, beobachtendsten und humansten Ärzte, des Dr. Bardsley, bestätigen. Dieser hat öffentlich erklärt, daß die Gesamtsumme, welche die Armen jährlich einander geben, diejenige übertrifft, welche die Reichen in derselben Zeit beisteuern." (18)
Auch sonst tritt die Humanität der Arbeiter überall erfreulich hervor. Sie haben selbst harte Schicksale erfahren und können daher für diejenigen Mitgefühl hegen, denen es schlecht geht; für sie ist jeder Mensch ein Mensch, während der Arbeiter dem Bourgeois weniger als ein Mensch ist; daher sind sie umgänglicher, freundlicher, und obwohl sie das Geld nötiger haben als die Besitzenden, dennoch weniger darauf erpicht, weil ihnen das Geld nur um dessentwillen Wert hat, was sie dafür kaufen, während es für den Bourgeois einen besondern, inhärenten Wert, den Wert eines Gottes hat und den Bourgeois so zum gemeinen, schmutzigen "Geldmenschen" macht. Der Arbeiter, der dies Gefühl der Ehrfurcht vor dem Gelde nicht kennt, ist daher nicht so habgierig wie der Bourgeois, der alles nur tut, um Geld zu verdienen, der seinen Lebenszweck im Anhäufen von Geldsäcken sieht. Darum ist der Arbeiter auch viel unbefangener, hat viel offnere Augen für Tatsachen als der Bourgeois und sieht nicht alles durch die Brille des Eigennutzes an. Vor religiösen Vorurteilen schützt ihn seine mangelhafte Erziehung; er versteht nichts davon und plagt sich nicht damit herum, er kennt den Fanatismus nicht, der die Bourgeoisie befangen hält, und wenn er ja etwas Religion haben sollte, so ist sie nur nominell, nicht einmal theoretisch – praktisch lebt er nur für diese Welt und sucht sich in ihr einzubürgern. Alle Schriftsteller der Bourgeoisie stimmen darin überein, daß die Arbeiter keine Religion haben und die Kirche nicht besuchen. Allenfalls die Irländer sind auszunehmen und einige altere Leute, dann die Halbbourgeois, die Aufseher, Werkmeister und dergleichen. Aber unter der Masse findet man fast überall eine gänzliche Indifferenz gegen die Religion, und wenn es hoch kommt, ein bißchen Deismus, das zu unentwickelt ist, um [ 1892) ... Deismus, zu unentwickelt, um] zu etwas mehr als zu Redensarten dienen zu können oder etwas mehr als einen vagen Schrecken vor Ausdrücken wie infidel (Ungläubiger) und atheist hervorzurufen. Die Geistlichlichkeit aller Sekten steht sehr schlecht bei den Arbeitern angeschrieben, obwohl sie ihren Einfluß auf diese erst in der letzten Zeit verloren hat; jetzt steht sie aber so, daß der bloße Ruf: he is a parson – er ist ein Pfaff! oft genug imstande ist, einen Geistlichen von der Tribüne öffentlicher Versammlungen zu verjagen. Und wie schon die Lebenslage überhaupt, so trägt auch der Mangel an religiöser und sonstiger Bildung dazu bei, die Arbeiter unbefangener, freier von überkommenen stabilen Grundsätzen und vorgefaßten Meinungen zu halten, als der Bourgeois dies ist. Dieser sitzt in seinen Klassenvorurteilen, in den ihm von Jugend auf eingetrichterten Prinzipien bis über die Ohren eingerammt; mit ihm ist nichts anzufangen, er ist wesentlich, wenn auch in liberaler Form, konservativ, sein Interesse mit dem Bestehenden verwachsen, er ist aller Bewegung abgestorben. Er tritt ab von der Spitze der historischen Entwicklung, die Arbeiter treten erst rechtlich und dereinst auch faktisch an seine Stelle.
Dies und die daraus folgende öffentliche Tätigkeit der Arbeiter, die wir später erledigen werden, sind die günstigen Seiten des Charakters dieser Klasse; die ungünstigen sind ebenso rasch zusammengefaßt und folgen ebenso natürlich aus den angegebenen Ursachen. Trunksucht, Regellosigkeit des geschlechtlichen Verkehrs, Roheit und Mangel an Achtung für das Eigentum sind die Hauptpunkte, die der Bourgeois ihr vorwirft. Daß die Arbeiter stark trinken, ist nicht anders zu erwarten. Sheriff Alison behauptet, daß in Glasgow jeden Sonnabendabend an dreißigtausend Arbeiter berauscht sind, und die Zahl ist gewiß nicht zu gering; daß in dieser Stadt 1830 auf zwölf Häuser und 1840 auf je zehn Häuser eine Branntweinschenke kam, daß in Schottland 1823 für 2 300 000 Gallonen, 1837 für 6 620 000 Gall., und in England 1823 für 1 976 000 Gall., 1837 für 7 875 000 Gall. Branntwein Akziseabgabe bezahlt wurde zwei oder drei Häuser zusammenstehen, so ist ganz gewiß ein Jerry-Shop darunter. Außerdem gibt es noch Hush-Shops, d.h. heimliche Schenken, die nicht konzessioniert sind, in Menge und ebensoviele Branntweinbrennereien, die mitten in den großen Städten, in abgelegenen, von der Polizei selten besuchten Vierteln große Quantitäten dieses Getränks produzieren. Gaskell (a. a. 0.) schlägt die Zahl dieser letzteren in Manchester allein auf über hundert und ihre jährliche Produktion auf mindestens 156 000 Gallonen an. In Manchester sind außerdem über tausend Schenken, also im Verhältnis zur Häuserzahl wenigstens ebensoviele als in Glasgow. In allen andern großen Städten sieht es ebenso aus. Und wenn man nun noch außer den gewöhnlichen Folgen der Trunksucht bedenkt, daß Männer und Weiber von jedem Alter, selbst Kinder, oft Mütter mit ihren Kleinen auf dem Arme, hier mit den am tiefsten gesunkenen Opfern des Bourgeoisieregimes, mit Dieben, Betrügern und prostituierten Mädchen zusammenkommen, wenn man bedenkt, daß manche Mutter dem Säugling, den sie auf den Armen trägt, Branntwein zu trinken gibt, so wird man die demoralisierende Wirkung des Besuchs solcher Orte allerdings zugeben. Namentlich Samstagabends, wenn der Lohn ausbezahlt ist und etwas früher als gewöhnlich Feierabend gemacht wird, wenn die ganze arbeitende Klasse aus ihren schlechten Vierteln sich in die Hauptstraßen ergießt, kann man die Trunkenheit in ihrer ganzen Brutalität sehen. Ich bin selten an einem solchen Abend aus Manchester herausgekommen, ohne einer Menge schwankender oder in den Rinnsteinen liegender Betrunkener zu begegnen. Am Sonntagabend pflegt sich dieselbe Szene, nur weniger lärmend, zu wiederholen. Und wenn das Geld aus ist, so gehen die Trinker zum ersten besten Pfandhaus, deren in jeder großen Stadt eine Menge sind – Manchester über sechzig und in einer einzigen Straße von Salford (Chapel-Street) zehn bis zwölf-, und versetzen, was sie noch haben. Möbel, Sonntagskleider, wo sie existieren, Geschirre werden jeden Sonnabendabend in Massen aus den Pfandhäusern abgeholt, um fast immer vor dem nächsten Mittwoch wieder hineinzuwandern, bis zuletzt irgendein Zufall die Einlösung unmöglich macht und ein Stück nach dem andern dem Wucherer verfällt oder bis dieser auf die verschlissene und ausgenutzte Ware keinen Heller mehr vorschießen will. Wenn man die Verbreitung der Trunksucht unter den Arbeitern in England selbst gesehen hat, so glaubt man gern der Behauptung Lord Ashleys welche Zerstörung aller häuslichen Verhältnisse daraus entsteht, kann sich jeder leicht denken. Die Mäßigkeitsvereine haben allerdings viel getan, aber was verschlagen ein paar Tausend "Teetotallers" ["Abstinezler"] auf die Millionen Arbeiter? Wenn Father Mathew, der irische Mäßigkeitsapostel, durch die englischen Städte reist, so nehmen oft dreißig- bis sechzigtausend Arbeiter die "pledge" (das Gelübde), aber nach vier Wochen ist das bei den meisten wieder vergessen. Wenn man z.B. die Massen zusammenzählt, die in den letzten drei bis vier Jahren in Manchester das Mäßigkeitsgelübde abgelegt haben, so kommen mehr Laute heraus, als überhaupt in der Stadt wohnen – und doch merkt man nicht, daß der Trunk abnimmt.
Neben der Zügellosigkeit im Genuß geistiger Getränke bildet die Zügellosigkeit des geschlechtlichen Verkehrs eine Hauptuntugend vieler englischer Arbeiter. Auch diese folgt mit eiserner Konsequenz, mit unumgänglicher Notwendigkeit aus der Lage einer Klasse, die sich selbst überlassen wird, ohne die Mittel zu besitzen, von dieser Freiheit geeigneten Gebrauch zu machen. Die Bourgeoisie hat ihr nur diese beiden Genüsse gelassen, während sie ihr eine Menge von Mühen und Leiden auferlegt hat, und die Folge davon ist, daß die Arbeiter, um doch etwas vom Leben zu haben, alle Leidenschaft auf diese beiden Genüsse konzentrieren und sich ihnen im Übermaß und auf die regelloseste Weise ergeben. Wenn man die Leute in eine Lage versetzt, die nur dem Tier zusagen kann, so bleibt ihnen nichts übrig, als sich zu empören oder in der Bestialität unterzugehen. Und wenn obendrein noch die Bourgeoisie selbst ihr redlich Teil zur direkten Hebung der Prostitution beiträgt – wieviele von den 40 000 Freudenmädchen, die jeden Abend die Straßen von London füllen (21), leben von der tugendhaften Bourgeoisie? – wie viele von ihnen haben es der Verführung eines Bourgeois zu danken, daß sie ihren Körper den Vorübergehenden feilbieten müssen, um zu leben? – so hat sie wahrlich am wenigsten das Recht, den Arbeitern ihre sexuale Brutalität vorzuwerfen.
Die Fehler der Arbeiter lassen sich überhaupt alle auf Zügellosigkeit der Genußsucht, Mangel an Vorhersicht und an Fügsamkeit in die soziale Ordnung, überhaupt auf die Unfähigkeit, den augenblicklichen Genuß dem entfernteren Vorteil aufzuopfern, zurückführen. Aber wie ist das zu verwundern? Eine Klasse, die wenig und nur die sinnlichsten Genüsse sich für saure Arbeit erkaufen kann, muß sich die nicht toll und blind auf diese Genüsse werfen? Eine Klasse, um deren Bildung sich niemand kümmert, die allen möglichen Zufällen unterworfen ist, die gar keine Sicherheit der Lebenslage kennt, was für Gründe, was für ein Interesse hat die, Vorhersicht zu üben, ein "solides" Leben zu führen und, statt von der Gunst des Augenblicks zu profitieren, auf einen entfernteren Genuß zu denken, der gerade für sie und ihre ewig schwankende, sich überschlagende Stellung noch sehr ungewiß ist? Eine Klasse, die alle Nachteile der sozialen Ordnung zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, eine Klasse, der diese soziale Ordnung nur feindselig erscheint, von der verlangt man noch, daß sie diese soziale Ordnung respektieren soll? Das ist wahrlich zuviel. Aber die Arbeiterklasse kann der sozialen Ordnung, solange diese besteht, nicht entrinnen, und wenn der einzelne Arbeiter gegen sie aufsteht, so fällt der größte Schaden auf ihn. So macht die soziale Ordnung dem Arbeiter das Familienleben fast unmöglich; ein unwohnliches, schmutziges Haus, das kaum zum nächtlichen Obdach gut genug, schlecht möbliert und oft nicht regendicht und nicht geheizt ist, eine dumpfige Atmosphäre im menschengefüllten Zimmer erlaubt keine Häuslichkeit; der Mann arbeitet den ganzen Tag, vielleicht auch die Frau und die älteren Kinder, alle an verschiedenen Orten, sehen sich nur morgens und abends – dazu die stete Versuchung zum Branntweintrinken; wo kann dabei das Familienleben existieren? Dennoch kann der Arbeiter der Familie nicht entrinnen, er muß in der Familie leben, und die Folge davon sind fortwährende Familienzerrüttungen und häusliche Zwiste, die sowohl auf die Eheleute wie namentlich auf ihre Kinder im höchsten Grade demoralisierend wirken. Vernachlässigung aller häuslichen Pflichten, Vernachlässigung besonders der Kinder ist nur zu häufig unter den englischen Arbeitern und wird nur zu sehr durch die bestehenden Einrichtungen der Gesellschaft hervorgebracht. Und Kinder, die auf diese Weise wild, in der demoralisierendsten Umgebung, zu der oft genug die Eltern selbst gehören, heranwachsen, die sollen nachher noch fein moralisch werden? Es ist wirklich zu naiv, welche Forderungen der selbstzufriedene Bourgeois an den Arbeiter stellt.
Die Nichtachtung der sozialen Ordnung tritt am deutlichsten in ihrem Extrem, im Verbrechen auf. Wirken die Ursachen, die den Arbeiter demoralisieren, stärker, konzentrierter als gewöhnlich, so wird er mit derselben Gewißheit Verbrecher, mit der das Wasser bei 80 Grad Réaumur aus dem tropfbaren in den luftförmigen Aggregatzustand übergeht. Der Arbeiter wird durch die brutale und brutalisierende Behandlung der Bourgeoisie gerade ein so willenloses Ding wie das Wasser und ist gerade mit derselben Notwendigkeit den Gesetzen der Natur unterworfen – bei ihm hört auf einem gewissen Punkte alle Freiheit auf. Mit der Ausdehnung des Proletariats hat daher auch das Verbrechen in England zugenommen, und die britische Nation ist die verbrecherischste der Welt geworden. Aus den jährlich veröffentlichten "Kriminal-Tabellen" des Ministeriums des Innern geht hervor, daß in England die Vermehrung des Verbrechens mit unbegreiflicher Schnelligkeit vor sich gegangen ist. Die Anzahl der Verhaftungen für Kriminalverbrechen betrug
im Jahre 1805 |
4605 |
im Jahre 1810 |
5146 |
im Jahre 1815 |
7818 |
im Jahre 1820 |
13 710 |
im Jahre 1825 |
14 437 |
im Jahre 1830 |
18 107 |
im Jahre 1835 |
20 731 |
im Jahre 1840 |
27 187 |
im Jahre 1841 |
27 760 |
im Jahre 1842 |
31 309 |
in England und Wales allein; also versiebenfachten sich die Verhaftungen in 37 Jahren. Von diesen Verhaftungen kommen allein auf Lancashire im Jahre 1842 4 497, also über 14 Prozent, und auf Middlesex (einschließlich London) 4 094, also über 13 Prozent. So sehen wir, daß zwei Distrikte, die große Städte mit viel Proletariat einschließen, allein über den vierten Teil des gesamten Verbrechens hervorbringen, obgleich ihre Gesamtbevölkerung lange nicht den vierten Teil der des ganzen Landes ausmacht. Die Kriminaltabellen beweisen auch noch direkt, daß fast alles Verbrechen auf das Proletariat fällt, denn 1842 konnten von jeden 100 Verbrechern durchschnittlich 32,35 nicht lesen und schreiben, 58,32 unvollkommen lesen und schreiben, 6,77 gut lesen und schreiben, 0,22 hatten noch höhere Bildung genossen, und von 2,34 konnte die Bildung nicht angegeben werden. In Schottland hat das Verbrechen noch viel schneller zugenommen. Hier waren 1819 nur 89 und 1837 schon 3176, 1842 sogar 4189 Kriminalverhaftungen vorgekommen. In Lanarkshire, wo Sheriff Alison selbst den offiziellen Bericht abfaßte, hat sich die Bevölkerung in 30 Jahren, das Verbrechen alle 5 1/2 Jahre verdoppelt, also sechsmal rascher als die Bevölkerung zugenommen. Die Verbrechen selbst sind, wie in allen zivilisierten Ländern, bei weitem der Mehrzahl nach Verbrechen gegen das Eigentum, also solche, die in Mangel dieser oder jener Art ihren Grund haben, denn was einer hat, stiehlt er nicht. Das Verhältnis der Verbrechen gegen Eigentum zur Volkszahl, das sich in den Niederlanden 1 : 7140, in Frankreich wie 1:1804 stellt, stand zur Zeit, als Gaskell schrieb, in England wie 1: 799; das der Verbrechen gegen Personen zur Volkszahl in den Niederlanden wie 1 : 28 904, in Frankreich wie 1 : 17 573, in England wie 1 : 23 395; das des Verbrechens überhaupt zur Volkszahl in Ackerbaudistrikten wie 1 : 1 043, in Fabrikdistrikten wie l : 840 (23), und es sind kaum zehn Jahre, seit Gaskells Buch erschien!
Diese Tatsachen sind wahrlich mehr als hinreichend, um jeden, selbst einen Bourgeois, zur Besinnung und zum Nachdenken über die Folgen eines solchen Zustandes zu bringen. Wenn sich die Demoralisation und die Verbrechen noch zwanzig Jahre lang in diesem Maße vermehren – und wenn die englische Industrie in diesen zwanzig Jahren weniger glücklich ist als bisher, so muß die Progression des Verbrechens sich nur noch beschleunigen – was wird dann das Resultat sein? Wir sehen schon jetzt die Gesellschaft in voller Auflösung begriffen, wir können keine Zeitung in die Hand nehmen, ohne in den schlagendsten Tatsachen die Lockerung aller sozialen Bande lesen zu müssen. Ich greife aufs Geratewohl in den Haufen englischer Zeitungen, die vor mir liegen; da ist ein "Manchester Guardian" (30. Oktober 1844), der über drei Tage berichtet; er gibt sich gar nicht mehr die Mühe, über Manchester genaue Nachrichten zu geben und erzählt bloß die interessantesten Fälle, daß in einer Fabrik die Arbeiter, um höheren Lohn zu erlangen, die Arbeit eingestellt hätten und vom Friedensrichter zu ihrer Wiederaufnahme gezwungen seien; daß in Salford ein paar Knaben Diebstähle verübt und ein bankerotter Kaufmann seine Gläubiger habe betrügen wollen. Ausführlicher sind die Nachrichten aus den Nebenorten: in Ashton zwei Diebstähle, ein Einbruch, ein Selbstmord, in Bury ein Diebstahl, in Bolton zwei Diebstähle, ein Akzisebetrug, in Leigh ein Diebstahl, in Oldham Arbeitseinstellung wegen Lohn, ein Diebstahl, eine Schlägerei zwischen Irländerinnen, ein nicht zur Arbeiterverbindung gehörender Hutmacher von den Mitgliedern der Verbindung mißhandelt, eine Mutter von ihrem Sohn geschlagen, in Rochdale eine Reihe Schlägereien, ein Angriff auf die Polizei, ein Kirchenraub, in Stockport Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem Lohn, ein Diebstahl, ein Betrug, Schlägerei, ein Mann, der seine Frau mißhandelt, in Warrington ein Diebstahl und eine Schlägerei, in Wigan ein Diebstahl und ein Kirchenraub. Die Berichte der Londoner Zeitungen sind noch viel schlimmer; Betrügereien, Diebstähle, Raubanfälle, Familienzerwürfnisse drängen eins das andere; mir fällt gerade eine "Times" (12. September 1844), die nur die Vorfälle eines Tages berichtet, in die Hand, die von einem Diebstahl, einem Angriff auf die Polizei, einem Alimentationsurteil gegen den Vater eines unehelichen Kindes, der Aussetzung eines Kindes durch seine Eltern und der Vergiftung eines Mannes durch seine Frau erzählt. Ähnliches ist in allen englischen Zeitungen zu finden. In diesem Lande ist der soziale Krieg vollständig ausgebrochen; jeder steht für sich selbst und kämpft für sich selbst gegen alle andern, und ob er allen andern, die seine erklärten Feinde sind, Schaden zufügen soll oder nicht, hängt nur von einer selbstsüchtigen Berechnung über das ab, was ihm am vorteilhaftesten ist. Es fällt keinem mehr ein, sich auf friedlichem Wege mit seinen Nebenmenschen zu verständigen; alle Differenzen werden durch Drohungen, Selbsthülfe oder die Gerichte abgemacht. Kurz, jeder sieht im andern einen Feind, den er aus dem Wege zu räumen, oder höchstens ein Mittel, das er zu seinen Zwecken auszubeuten hat. Und dieser Krieg wird, wie die Kriminaltabellen beweisen, von Jahr zu Jahr heftiger, leidenschaftlicher, unversöhnlicher; die Feindschaft teilt sich allmählich in zwei große Lager, die gegeneinander streiten: die Bourgeoisie hier und das Proletariat dort. Dieser Krieg Aller gegen Alle und des Proletariats gegen die Bourgeoisie darf uns nicht wundern, denn er ist nur die konsequente Durchführung des schon in der freien Konkurrenz enthaltenen Prinzips; aber wohl darf es uns wundern, daß die Bourgeoisie, gegen die sich tagtäglich neue und drohende Gewitterwolken zusammenziehen, bei alledem so ruhig und gelassen bleibt, wie sie diese Sachen täglich in den Zeitungen lesen kann, ohne, wir wollen nicht sagen Indignation über den sozialen Zustand, sondern nur Furcht vor seinen Folgen, vor einem allgemeinen Ausbruch dessen, was im Verbrechen einzeln zutage kommt, zu empfinden. Aber dafür ist sie gerade Bourgeoisie und kann von ihrem Standpunkte aus nicht einmal die Tatsachen, geschweige ihre Konsequenzen, wahrnehmen. Nur das ist staunenswert, daß Klassenvorurteile und eingetrommelte vorgefaßte Meinungen eine ganze Menschenklasse mit einem so hohen, ich möchte sagen so wahnsinnigen Grade von Blindheit schlagen können. Die Entwicklung der Nation geht indes ihren Gang, die Bourgeois mögen Augen für sie haben oder nicht, und wird eines schönen Morgens die besitzende Klasse mit Dingen überraschen, von denen sich ihre Weisheit nichts träumen läßt.
Anmerkungen F. E.:
(1) Wenn ich in dem Sinne wie hier und anderwärts von der Gesellschaft als einer verantwortlichen Gesamtheit spreche, die ihre Rechte und Pflichten hat, so versteht es sich, daß ich damit die Macht der Gesellschaft meine, diejenige Klasse also, die gegenwärtig die politische und soziale Herrschaft besitzt und damit zugleich auch die Verantwortlichkeit für die Lage derer trägt, denen sie keinen Teil an der Herrschaft gibt. Diese herrschende Klasse ist in England wie in allen andern zivilisierten Ländern die Bourgeoisie. Daß aber die Gesellschaft und speziell die Bourgeoisie die Pflicht hat, jedes Gesellschaftsglied mindestens in seinem Leben zu schützen, dafür z.B. zu sorgen, daß niemand verhungert – diesen Satz brauch' ich meinen deutschen Lesern nicht erst zu beweisen. Schrieb' ich für die englische Bourgeoisie, da wäre das freilich anders. – ( 1887) And so it is now in Germany. Our German capitalists are fully up to the English level, in this respect at least, in the year of grace, 1886. [Und so ist es jetzt in Deutschland. Unsere deutschen Kapitalisten stehen, zumindest in dieser Beziehung, mit den Engländern auf völlig gleichem Niveau, im gesegneten Jahr 1886.] – ( 1892) Wie hat sich das alles seit 50 Jahren geändert! Heute gibt es englische Bourgeois, die Verpflichtungen der Gesellschaft gegen die einzelnen Gesellschaftsglieder anerkennen; aber deutsche?!?
(2) Dr. Alison, "Manag[ement] of [the] Poor in Scotland".
(3) Dr. Alison, in einem Artikel, vorgelesen vor der Britsh Association for the Adncement of Science [Englische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft], York, Oktober 1844.
(4) Dr. Alison, "Manag[ement] of [the] Poor in Scotland".
(5) "[The] Manufacturing Population of England", c. 8.
(6) "Report of Commission of Inquiry into the Employment of Children and Young Persons in Mines and Collieries and in the Trades and Manufactures in which Numbers of them work together, not being included under the Terms of the Factories' Regulation Act." First and Second Reports [Bericht der Untersuchungskommission über die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen in Bergwerken und Kohlengruben und in den Handwerken und Industrien, in denen viele zusammenarbeiten, die nicht unter das Fabrikordnungsgesetz fallen. Erster und zweiter Bericht]. Grainger's. Rept., second Rept. Gewöhnlich als "Children's Employment Commission's Rept." zitiert – einer der besten offiziellen Berichte, der eine Unmasse der wertvollsten, aber such der schreckenerregendsten Tatsachen enthält. Der erste Bericht kam 1841, der zweite zwei Jahre später heraus.
(7) "Fifth Annual Report of [the] Reg[istrar] Gen[eral] of Births, Deaths and Marriages [Fünfter Jahresbericht des Generalregistrators über Geburten, Sterbefälle und Eheschließungen].
(8) Vgl, "Report of Commission of Inquiry into the State of large Towns and populous Districts", first Report, 1844, Appendix [Bericht der Untersuchungskommission über den Zustand der großen Städte und dichtbevölkerten Gebiete, erster Bericht, 1844, Anhang].
(9) "Factories Inquiry Commission's Report", 3rd vol. Report of Dr. Hawkins on Lancashire, wo Dr. Roberton, "die Hauptautorität für die Statistik in Manchester", als Gewährsmann angeführt wird.
(10) "Arts and Artizans".
(11) "Prin[ciples] of Popul[ation] vol. II, p. 196, 197. d
(12) Wir werden später sehen, wie die Empörung des Proletariers gegen die Bourgeoisie in England durch das Recht der freien Assoziation gesetzlich legitimiert ist.
(13) "Chartism", p. 34 ff.
(14) Soll ich auch hier Bourgeoisiezeugnisse für mich sprechen lassen? Ich wähle nur eins, das jeder nachlesen kann, in Adam Smiths "Wealth of Nationa" (zitierte Ausg.), vol. 3, book 5, cap. 8, pag. 297.
(15) [The] Princ[iples] of Population", vol. II. p. 76 ff., p. 135.
(16) "Philosophy of Manufactures". London, 1835. – Wir werden von diesem saubern Buche noch mehr zu sprechen haben. Die angeführten Stellen stehen p. 406 ff.
(17) (1892) Dieselbe Auffassung, daß die große Industrie die Engländer in zwei verschiedene Nationen gespalten hat, ist bekanntlich, ungefähr gleichzeitig, auch von Disraeli ausgeführt worden in seinem Roman "Sybil, or the Two Nations" [Sibylle oder die beiden Nationen].
(18) "On the present Condition of the Labouring Poor in Manchester etc." [Über die gegenwärtige Lage der arbeitenden Armen in Manchester usw.], By the Rev, Rd. Parkinson, Canon of Manchester. 3rd edit. London and Manchester, 1841. Pamphlet.
(19) Princ[iples] of Population", passim.
(20) Unterhaussitzung vom 28. Februar 1843.
(21) Sheriff Alison, [The] Princ[iples] of Population", vol. II.
(22) [The] Manuf[acturing] Popu[lation] of Engl[and] chapt. 10.
(23) Die Zahl der überführten Verbrecher (22 733) dividiert in die Volkszahl (ca. 15 Millionen).