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Drittes Buch.

»Du sollst mit Schmerzen
Kinder gebären«

Genesis.

 

Als Magdalene am folgenden Morgen aufwachte, läuteten die Glocken das Weihnachtsfest ein. Sie lag eine Weile ganz still und horchte auf diese tiefen summenden Töne, die eine ganz seltsame Empfindung in ihr auslösten, und dann begann sie ihre Umgebung zu mustern, genau ebenso wie damals, als sie zum erstenmal in dem Hause der Madam Zech die Augen öffnete.

Natürlich – es war dennoch ganz anders, denn sie wußte sehr genau, wie sie in diesen engen alkovenartigen Raum hineingekommen war, während an jenem entsetzlichen Morgen ein dichter Schleier über ihrer Erinnerung ruhte; aber ein Mann hatte sie auch hierher gebracht – die Männer spielten überhaupt eine verhängnisvolle Rolle in Magdalenes Leben.

Julius Mohrmann war es gewesen; derselbe, den Käthe im abergläubischen Wahn für den auferstandenen Nazarener gehalten hatte und der doch nur im Munde des Hamburger Pöbels die verächtliche Bezeichnung eines verrückten Apostels trug – Julius Mohrmann, an den Magdalene seit Jahren nur mit leisem Lächeln dachte, weil er so gar nicht dem Mannesideal eines schönen und schönheitsdurstigen Weibes entsprach.

Und nun lag sie in seinem Bett.

Ein schmales, eisernes Gestell, wie es bei Madam Zech aus verschiedenen Gründen niemals möglich gewesen wäre; eine spartanische Ruhestatt, deren Matratzen so hart waren wie Holz und deren Leinen die zarte Haut wundrieben.

Aber sie lag wenigstens allein. Er, der sie hierher gebracht hatte, mochte nebenan genächtigt haben, in jenem ärmlichen Mansardenzimmer, wo sie gestern abend stundenlang bei einer schwelenden Petroleumlampe gesessen hatten: er stumm, grübelnd, oder spärliche Fragen stellend, sie in Tränen aufgelöst, im wahren Sinne eine büßende Magdalena, die das dunkle Bild ihres Lebens rückhaltlos aufrollte. – Oder doch nicht rückhaltlos? – – –

Es gibt keinen Platz auf dem Erdenrund, der die Lüge so systematisch züchtet und die Wahrheit so selbstverständlich schminkt, als das Haus der Wollust und der Unzucht, denn es muß dort selbst das erlogen werden, was wir unsere elementarsten und natürlichsten Empfindungen nennen, und auch Magdalene hatte ihre Anklagen vielleicht zu ausschließlich gegen die harte und unbarmherzige Menschheit gerichtet.

Nun fühlte sie sich gewissermaßen entsühnt; sie hatte den Schlüssel zur Vergangenheit umgedreht und in einen tiefen Abgrund geworfen; was jetzt werden sollte, das erfüllte sie mehr mit einer seltsamen Neugier als mit Scham und Grausen.

Man hatte ein Stück Weiblichkeit in ihr totgetreten.

Als nebenan alles still blieb, erhob sie sich leise und begann Toilette zu machen. Das war sonst mit allem was dazu gehörte, ein Werk mehrer Stunden gewesen, und sie empfand über die Dürftigkeit ihrer Umgebung ein gewisses Unbehagen; es war tatsächlich nichts weiter vorhanden als ein Wasserkrug, ein grobes Handtuch und ein Stück ordinärer Waschseife; selbst der Spiegel fehlte, dessen doch auch die Männer kaum ganz entraten können.

Die Kleider waren dieselben, mit denen Magdalene das Haus der Schande betreten hatte: ein eleganter Straßenanzug, der das ganze Milieu zu verspotten schien; aber wenn Magdalene sich ihrem Beschützer nicht im Hemde zeigen wollte – – – – –«

Eine Sekunde lang dachte sie wirklich daran; es wäre wahrhaftig nicht das erstemal gewesen, daß sie so einem Mann unter die Augen trat; es war eigentlich das Natürlichste und überdies konnte dieser Asket kaum unter die Männer gerechnet werden – aber dann wurde sie plötzlich von einer brennenden Scham übergossen und bemühte sich nur, den eleganten Sitz des Kleides möglichst zu verpfuschen.

Dann öffnete sie die Tür zu dem anstoßenden Raum.

Julius saß an einem kleinen Schreibtisch aus gebeiztem Fichtenholz, der in die Nähe des einzigen Fensters gerückt war und dessen Aufsatz ein halbes Dutzend Bücher trug. Sonst war in dem engen und niedrigen Raum keine Spur einer Wissenschaft zu entdecken; seine Ausstattung bestand in einem harten Kanapee, auf dem noch eine alte Schlafdecke lag, aus Tisch, Kommode und zwei Stühlen. Auf dem Tisch stand ein halbes Schwarzbrot und daneben brodelte die Kaffeekanne über einem dunstenden Spirituskocher.

Julius rauchte aus einer langen Pfeife seinen schon auf der Universität berüchtigten Kneller, und das ganze Zimmer schwamm in grauen Wolken – Magdalene konnte kaum Atem schöpfen, obwohl sie an Zigarettenrauch gewöhnt war und ein Hustenanfall verriet zuerst ihren Eintritt.

Julius erhob sich und sah sie an:

»Guten Morgen, Schwester. Hast du es auf der Brust?«

»Nein,« entgegnete sie hastig, »ich bin ganz gesund.« Und dann, als seine Augen noch immer forschend auf ihr ruhten, wiederholte sie heftiger:

»Du darfst es mir glauben, Julius; ich bin so gesund, wie ein Mensch überhaupt sein kann; ich habe sogar Hunger und bitte dich um eine Tasse Kaffee.«

»Seltsam,« sagte er – »die Mehrzahl von euch leidet an der Lunge. Aber desto besser – nimm Platz und bediene dich; es ist nicht viel, aber ich muß mich sehr einschränken.«

Das war nicht gerade ein Anfang, der den Appetit reizen konnte. Magdalene setzte sich und würgte ein paar Bissen hinunter: dann fuhr es ihr heraus:

»Ich werde dir nicht lange zur Last fallen, Julius; es muß sich ja irgendein Ausweg finden – so, oder so.«

Er hatte ihr gegenüber Platz genommen und rauchte heftiger als zuvor; sie erhob keinen Einspruch dagegen, denn ein rücksichtsloses Benehmen seitens der Männer war ihr zur Gewohnheit geworden; daß er niemals in seinem Leben mit einer Frau verkehrt hatte, kam ihr auch nicht entfernt in den Sinn.

»Von einer Last kann gar nicht die Rede sein,« sagte er endlich.

»Vielleicht ist es dir bekannt, daß ich eine Leibrente von achtzehnhundert Mark zu verzehren habe; das ist natürlich mehr als ich für mich selbst brauche, und wenn ich von Einschränkungen sprach, dann hatte das eine ganz andere Bedeutung. Wir sollen von unserm Überfluß abgeben, und das habe ich bis jetzt im Interesse meiner Arbeit getan; jetzt kommt das dir zugute, und damit ist die Sache erledigt.«

»Was ist das für eine Arbeit, Julius?«

Sie kannte schon aus früheren Jahren den Blick mit dem er sie jetzt ansah und auf dem Gymnasium hatten sie ihn auch gekannt. Wenn Julius Mohrmann sich über den Begriff der Humanität ganz im allgemeinen äußern sollte, dann konnte er beredt werden und seine Augen nahmen einen schönen Glanz an. Aber es war ihm versagt, praktische Konsequenzen zu ziehen, es fehlte ihm an der nötigen Logik und dieser Mangel übersetzte sich auch in sein tägliches Handeln.

»Es ist schwer auszudrücken,« entgegnete er. »Ich gehe zu den Verworfenen und suche sie von dem Wege der Sünde abzubringen – bisweilen mit Hilfe der Bibel, aber weit häufiger ohne sie; denn wir leben in einer neuen Zeit, und ich kann auch nicht alles glauben, was geschrieben steht. Die Hauptsache bleibt immer, daß die Leute verworfen und darum elend sind; mit den Gerechten gebe ich mich nicht ab.«

»Und ich bin die Verworfenste von allen, nicht wahr, Julius?«

Er stutzte und wurde immer verwirrter; da hatte ihm die Logik schon wieder einen Streich gespielt, denn er gab sich doch tatsächlich mit Magdalene ab, und es widerstrebte ihm, das harte Worte auf dieses Mädchen anzuwenden.

»Ich meine eigentlich die Verführten, Schwester. Denn du kannst doch nicht leugnen – –«

Nein, sie wollte gar nicht in Abrede stellen, daß man sie schändlich verführt und gemißhandelt hatte, nur mit seinen Worten mochte sie es nicht hören, ihre eigenen hatten das gestern viel besser ausgesprochen.

Und sie reichte ihm die Hand.

»Du ahnst nicht Julius, wie dankbar ich deine Güte empfinde und wie sehr ich dich bewundere. Aber eine Bitte mußt du mir erfüllen: gib mir nicht den Namen »Schwester«, denn wir sind doch gar nicht miteinander verwandt, und er erweckt die Erinnerung an einen andern, den ich eben so sehr hasse, wie ich dich lieben möchte – – –«.

Sein Blick wurde immer hilfloser, und er durchirrte mit den Augen das enge Zimmer, in dem sie nahe beisammen sitzen mußten, um überhaupt Platz zu finden.

»Eigentlich hast du ja recht, Magdalena, aber unser Verhältnis, wie ich mir das ausgedacht hatte, läßt sich wohl am besten in der Geschwisterrolle durchführen. Um das Gerede der Leute kümmere ich mich freilich sehr wenig – – –«

»Glaubst du, daß mir daran gelegen ist?« unterbrach sie ihn heftig. »In dem Hause, wo ich zuletzt gelebt habe, drehte sich alles und jedes um das Geschlecht, und dadurch wurde man selbst vollkommen geschlechtlos. Jawohl, so wunderlich das klingt, es ist doch wahr, wir kamen so weit, daß es uns ganz einerlei war, ob Mann oder Weib, und ich könnte mich vor deinen Augen – –«

»Nackt ausziehen,« wollte sie sagen, aber das Wort blieb doch ungesprochen.

Vielleicht ahnte er nicht einmal, daß es in der Luft schwebte, aber das andere fiel in seine Seele und begeisterte ihn so sehr, daß er jetzt wirklich dem Nazarener ähnlich sah:

»Es steht geschrieben, daß wir dereinst alle geschlechtlos sein werden,« sagte er und legte die geballten Fäuste aus den Tisch. »Selig, Magdalena, wer es schon auf Erden sein kann! Also wir bleiben beisammen, wie es zwei guten Kameraden zukommt, und der enge Raum soll uns nicht daran hindern. Du schläfst da drinnen in der Dachkammer, und ich werde mir ein Lager auf dem Kanapee einrichten –«.

»Nein,« entgegnete sie hastig, »ich will kein Bett. Betten sind schrecklich, ich habe genug davon gehabt, ich will jede Erinnerung abstreifen. Und nun wollen wir beraten, wie ich dir bei deiner Arbeit nützen kann – natürlich nur vorläufig und bis sich etwas anderes findet, denn« – setzte sie mit einem trüben Lächeln hinzu – »meine Vergangenheit berechtigt mich wohl kaum, die Verlorenen der menschlichen Gesellschaft zurückzugeben.« – – – – –

Diese beiden Weihnachtstage standen im Zeichen jener Unklarheit, die das ganze Dasein von Julius Mohrmann beherrschte. Er hatte Magdalena aus dem Sumpf befreit, und darin lag die Stärke seines Charakters: aber er besaß so wenig Erfahrungen im praktischen Leben, er bewegte sich so ausschließlich in einer idealen Welt, daß die Zukunft des Mädchens wie ein dunkler Schleier vor ihm lag – eine Hülle, die ihre Hände nicht hinwegzuziehen wagten, weil sie darunter etwas Unheimliches ahnten.

Den Vertrag über das geschlechtlose Dasein führten sie getreulich durch. Selbst das Auge eines Lüstlings, der überall sinnliche Beziehungen wittert, würde keinen Blick und keine Bewegung entdeckt haben, die nicht vor der strengsten Moral bestehen konnten, aber Magdalena fühlte mit weiblichem Instinkt heraus, daß die räumlichen Verhältnisse eine Dauer dieses Zusammenlebens unmöglich machten.

Sie war daran gewöhnt, mit Männern zu verkehren – wenn eine Nacht kam, wo auch in diesem Heiligen die Bestie aufwachte, so hatte sie nicht einmal den Vorwand einer unberührten Jungfrauschaft. Wer allen gehört hat, der kann sich auch dem Freunde nicht verweigern. – – –

Da trat ein Ereignis ein. – – – –

Magdalena wurde vor das Gericht gefordert, und zwar »in Sachen betreffend den Nachlaß des verstorbenen Dr. med. Heller aus X...«; sie zeigte Julius das amtliche Schreiben und fragte, was davon zu halten sei.

Der »Prophet« zuckte die Achseln.

»Ich bin in den Formen des Rechts nicht bewandert,« sagte er mit seiner polternden Stimme, »aber es steht geschrieben, daß wir der Obrigkeit untertan sein sollen. Du wirst also hingehen, Magdalena, vermutlich handelt es sich um einen törichten Formelkram.«

So machte sie sich auf den Weg. Halb und halb ahnte sie, daß eine Wendung ihres Schicksals bevorstehe; dieser Tote war ja doch ihr natürlicher Vater gewesen, Julius hatte es ihr mit nackten Worten berichtet, aber er war viel zu weltfremd, um praktische Folgerungen daraus zu ziehen.

Und nun kam vielleicht das Glück. – – –

Auf dem Korridor traf Magdalena mit Franz zusammen. Madam Zechs Gatte saß im eleganten Gesellschaftsanzug auf einer Bank und starrte gleichgültig vor sich hin; als er des Mädchens ansichtig wurde, wendete er den Blick ab und bürstete an seinem spiegelblanken Zylinder.

Die beiden wurden zusammen in das Richterzimmer gerufen und fanden dort einen alten Herrn von sehr gemessenen Formen, der Magdalena einen Stuhl anbot und ihren Begleiter vorläufig zu ignorieren schien.

Erst als er eine Weile in den Akten geblättert hatte, wendete er sich plötzlich an Franz und fragte nach Name und Stand.

»Also Rentier, sagen Sie? Es ist doch richtig, daß Sie hier in Hamburg ein öffentliches Haus leiten?«

»Tut das etwas zur Sache, Herr Amtsrichter?«

»In diesem Falle allerdings. Ich erlaube Ihnen übrigens, ebenfalls Platz zu nehmen.«

So saßen die Geschwister dicht nebeneinander und rückten unbehaglich auf ihren Stühlen; der Amtsrichter aber fuhr fort:

»Ich bin von dem zuständigen Gericht ersucht worden, Ihnen den letzten Willen des verstorbenen praktischen Arztes Dr. med. Max Heller zu eröffnen; es wird Ihnen natürlich bekannt sein, daß der Erblasser durch Selbstmord endete; über die Gründe dieser beklagenswerten Handlung brauche ich mich nicht auszulassen, sie gehören tatsächlich nicht vor dieses Forum.«

Eine kleine Pause, dann begann die Verlesung:

 

»Angesichts eines freiwilligen Todes, aber mit klarem Verstand errichte ich hiermit meinen letzten Willen.

Ich enterbe meinen einzigen Sohn Franz Heller, weil er wider meinen Willen einen ehrlosen und unsittlichen Lebenswandel führt.

Ich ernenne zum Universalerben meine natürliche Tochter Magdalena Klein, die sich zurzeit ebenso wie mein Sohn Franz in Hamburg aufhält.

Ich bedaure, meinem Sohn Franz ein Kapital von zweimal hunderttausend Mark überlassen zu müssen, welches von meiner geschiedenen Ehefrau Jutta herstammt und nach dem zwischen uns getroffenen Übereinkommen nur bis zu meinem Tode in meinem Nießbrauch und in meiner Verwaltung verbleiben, alsdann aber dem genannten Franz Heller zufallen sollte.

Möge er von diesem Gelde einen würdigen Gebrauch machen.«

 

Der Richter legte das Quartblatt auf den Tisch und blickte finster vor sich nieder.

»Dieses Testament ist von dem Erblasser eigenhändig unterschrieben; es trägt Ort, Datum und Unterschrift; wird es von den Anwesenden anerkannt?«

»Ja,« sagte Magdalena einfach, während Franz sich aufrichtete.

»Wie hoch beläuft sich der Nachlaß meines Vaters, Herr Amtsrichter?«

»Rund fünfzigtausend Mark.«

»Kann ich das Testament mit Erfolg anfechten?«

»Geben Sie zu, der Leiter eines öffentlichen Hauses zu sein?«

»Das kann ich nicht in Abrede stellen.«

»Dann hat die Anfechtung keine Aussicht auf Erfolg.«

Noch einmal machte Franz Heller einen schamlosen Versuch, seine Lage günstiger zu gestalten. Er hob seine Hand und deutete auf Magdalena:

»Die da ist Erbin geworden, Herr Amtsrichter – und sie war bis vor wenigen Tagen Dirne in meinem Hause.«

Da richtete sich der alte Herr stramm auf, und es war, als ob er mit der Faust auf den Tisch schlagen wollte:

»Herr, ich habe Sie nicht danach gefragt! Treten Sie die Erbschaft an, Fräulein Klein?«

»Ja,« sagte Magdalena abermals, und ihre dunklen Augen sprühten einen unheimlichen Blitz. – – –

Die Verhandlung war zu Ende; sie hatten das Protokoll unterschreiben müssen, aber der Richter gab jedem eine besondere Feder in die Hand; dann verließen sie nebeneinander wie sie gekommen waren, das Zimmer, und draußen auf dem Korridor drehte Franz sich nach dem Mädchen um:

»Erbschleicherin!«

»Louis!« – – – –

Rein, sie hatten nicht unter dem Herzen derselben Mutter gelegen, so grausam verirrte sich die Natur nicht in diesem Geschwisterpaar. Aber ein Tropfen gemeinsamen Blutes rann doch in ihren Adern, und das geschändete Blut bäumte sich auf.

Sie gingen mit einem grimmigen Haß im Herzen auseinander. – – –

*

Es kostete Magdalena Mühe, Julius Mohrmann über die Annahme dieser unerwarteten Erbschaft zu besänftigen.

Der wunderliche Heilige hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, daß Magdalena ganz ausschließlich sein Geschöpf sei, und daß er ihre Zukunft allein zu vertreten habe; er polterte allerhand ungereimtes Zeug über »ungerechten Mammon« heraus und wurde erst stutzig, als Magdalena ihn ganz naiv fragte, ob die fünfzigtausend Mark denn besser zu Bordellzwecken angewandt wären.

Nein, das konnte er freilich nicht zugeben, aber nun kam er mit der Idee einer Stiftung heraus: zur Rettung gefallener Mädchen, »oder so ähnlich«. –

Darauf hatte Magdalena eine sehr vernünftige Antwort.

»Mein lieber Julius,« sagte sie, »nach meinem Tode soll diese Stiftung gemacht werden, denn von den gefallenen Mädchen und ihrem Elend weiß ich ein Lied zu singen. Aber zunächst gehöre ich selbst dazu, und Geld ist das beste Schutzmittel gegen einen Rückfall.

Außerdem will ich meiner Mutter zwanzigtausend Mark zuwenden; sie hat zwar nicht schön an mir gehandelt, aber sie bleibt doch immerhin meine Mutter und sie muß sich in ihren alten Tagen plagen. Der Rest gibt dann zwölfhundert Mark Zinsen, und mit deinen achtzehnhundert macht das zusammen dreitausend. Dafür können wir uns eine anständige Wohnung anschaffen, auf deinem Kanapee sind alle Sprungfedern kaputt, und von anderen Dingen will ich gar nicht reden.«

Da gab er brummend nach. Das Geld kam schon nach Verlauf weniger Tage, und als Magdalena wirklich ihre Mutter zwanzigtausend Mark überweisen ließ, da erhielt sie von der alten Säuferin einen rührseligen Brief.

»Meine süße Lene,« schrieb das Weib, »ich habe immer gesagt, daß Du noch der Trost meines Alters werden wirst. Das Geld kommt auf die Sparkasse, und mir sollen die Finger abfaulen, wenn ich einen Groschen von dem Kapital für mich verwende. Das Kapital ist für Dich und Deine Kinderchen, denn nachdem Du ein anständiges Mädchen geworden bist, wird der Himmel Dir auch einen anständigen Mann bescheren. Den Doktor Heller aber will ich in mein Abendgebet einschließen, er hatte doch immer eine noble Ader, und es ist ein wahrer Jammer, daß er so elend um die Ecke gehn mußte.« – – –

Es war bezeichnend, daß Mutter und Tochter sich zunächst nicht wiedersahen. Julius konnte das nicht recht begreifen, denn alles hatte Magdalena ihm nicht erzählt, aber sie sagte ganz ruhig:

»Das ist besser so, wie es ist. Ich habe zu oft schamrot werden müssen, um nicht zu wissen, wie es brennt; man tut meiner Mutter den besten Dienst, wenn man ihr das erspart.« – –

Vielleicht deswegen und auch aus anderen Gründen betrieb sie den Wegzug von Hamburg. Und sie kam damit gewissermaßen den Wünschen ihres Freundes entgegen, denn Julius sehnte sich nach einem größeren »Arbeitsfeld« – er sagte, diese Seestadt sei dem Teufel verfallen, und als er eines Tags heimkam, von oben bis unten mit einem Nachtgeschirr beschüttet, da setzte Magdalena ihren Willen durch.

Sie zogen nach Berlin. –

Weit draußen in der Müllerstraße, wo die kleinen Leute ihr Heim haben, mieteten sie sich eine Wohnung, und Magdalena war sehr erfreut über die Einrichtung derselben; denn nach vorne lag eine geräumige Stube mit Kammer – neben der Küche aber, zum Hofe hinaus und jenseit des Korridors, war eine zweite Kammer ausgebaut, in der das junge Mädchen sein Reich aufschlagen konnte.

Sie kochte jetzt richtig und war tagsüber viel mit Julius zusammen; wenn aber der Abend kam, dann ging er auf seine Arbeit.

Er durchstreifte die Friedrichstraße, ließ sich von den Dirnen anreden und hielt ihnen kleine moralische Vorlesungen; er erregte in diesem Milieu abwechselnd Heiterkeit und Unwillen, aber allmählich nannte man seinen Namen in der Öffentlichkeit, und die Zeitungen brachten sogar Artikel über ihn. –

Eines Tages erhielt er einen Brief. – – –

Man hatte immer geglaubt, daß Jutta längst gestorben sei, denn seitdem sie mit einem Handkofferchen aus dem Hause ihres Gatten nach dem Bahnhof schlich, war nur noch durch die Gerichte mit ihr verhandelt worden und dann nicht mehr.

Dr. Heller war wohl selbst dieses Glaubens gewesen, und als er sich den Pistolenlauf an die Schläfe setzte, da pries er ihr glückliches Geschick.

Und nun wurde ihre Stimme wieder wach, wie nach dem Wahn des Volkes die Stimmen der Toten um Mitternacht. –

Sie schrieb an Julius Mohrmann:

 

»Mein lieber Julius!

Geben Sie einer sehr müden und unendlich einsamen Frau das Recht, noch einmal mit Ihnen zu reden, wie in den glücklichen Tagen Ihrer Kindheit.

Die Öffentlichkeit hat sich so lieb- und erbarmungslos mit mir beschäftigt, daß ich es vorzog, alle Brücken hinter mir abzubrechen, und nun tut sie es abermals mit dem Namen, den ich noch trage, weil man der geschiedenen Frau dieses Letzte gelassen hat.

Ich bin sehr krank.

Die Nachricht von dem schrecklichen Ende meines unglücklichen Gatten kam durch die Zeitungen an mein Ohr, und seitdem geht es mit meinem Leben auf die Neige; aber ich kann nicht sterben, ohne eine Kunde von meinem Sohne erhalten zu haben.

Die Zeitungen nannten seinen Namen nicht, dennoch ist es unmöglich, daß dieser schöne blühende Knabe gestorben sein sollte; wenn er wirklich tot wäre, er hätte mich längst nach sich gezogen.

An die Gerichte mag ich mich nicht wenden; es gibt nichts Schrecklicheres, als das Gericht; mit meinen Angehörigen bin ich zerfallen, aber Sie, lieber Julius, waren der Freund meines Sohnes. Ihr Name wird in Berlin genannt, man sagt, Sie wären ein guter Mann; wer so vielen Unglücklichen zu helfen bereit ist, der wird auch einer armen Mutter sein Mitleid nicht versagen. Aber wenn Sie in mein Haus kommen wollen, dann muß es rasch geschehn, denn ich glaube, daß die Erlösungsstunde bald schlagen wird.«

 

Der Brief stammte aus Berlin und gab eine Wohnung im vornehmen Westend an, und Julius entsann sich, daß Jutta ein bedeutendes Vermögen in diese Ehe gebracht hatte, dessen eine Hälfte bei der Scheidung in ihren Händen geblieben war.

Er trug das Schreiben zu Magdalena und fragte um ihren Rat.

»Es ist grauenhaft«, sagte er; »ich muß dieser unglücklichen Frau eine Antwort geben und ich fürchte, daß die Wahrheit ihr Tod sein wird. Aber es steht geschrieben, daß wir nicht lügen sollen, und ich werde niemals eine Sünde aus menschlichen Rücksichten auf mich nehmen. Wenn du einen Ausweg weißt, so sag' es mir, in solchen Dingen sind die Weiber erfahrener als unsereins.«

Magdalena war über diesen Fanatismus noch mehr entsetzt als über den Brief, aber sie hütete sich sorgfältig, ihrer Empfindung Ausdruck zu geben. Sie hatte Julius nun allmählich kennen gelernt; wenn man ihm mit der Notlügenmoral entgegentrat, dann war er imstande, geradswegs zu der Sterbenden hinzurennen und ihr in die Ohren zu schreien, daß der einzige Sohn ein Bordellinhaber geworden sei.

»Man muß die Sache vorsichtig anfassen,« sagte sie. »Euch Männern ist es nicht gegeben, die Wahrheit in ein mildes Licht zu rücken und ihr häßliches Gesicht zu verschleiern. Wenn es dir recht ist, gehe ich selbst zu Frau Heller – sie wird mich nicht fragen, was ich gewesen bin, und auf ungestellte Fragen braucht man keine Antwort zu geben.«

Er sah sie nachdenklich an.

»Du darfst eins nicht vergessen, Magdalena; du bist das Kind ihres geschiedenen Gatten.«

»Das weiß sie nicht, Julius. Es hat nur in dem Testament und in dem Briefe gestanden, den mein Vater – den Dr. Heller an dich schrieb. Die Zeitungen meldeten nur den Selbstmord.«

Nein, sie hatten keine Kenntnis von jener Nachtszene, die dem Sterben Jochen Kleins vorausging, und in dem Ehescheidungsprozeß war auch nichts davon verlautet. Und was sie etwa ahnten, das verschwieg einer dem andern – es ist immer im Leben das Beste, die Augen fest zu schließen, wir müßten sonst viele Dinge unterlassen, die doch eine Notwendigkeit sind und nicht umgangen werden können.

Und so machte Magdalena sich auf den Weg. –

Es war ein stürmischer Märztag, dessen Wolken das Hereinbrechen der Dämmerung beschleunigten, und diese trübe Witterung blieb nicht ohne Einfluß auf Magdalenas Stimmung. Die ganze sonnenlose Vergangenheit rollte sich vor ihr auf, und es kam eine Versuchung über sie, die einen moralischen Hintergrund zu haben schien und dennoch aus der Rachsucht geboren wurde.

So lange Magdalena zurückdenken konnte, war Jutta ihr immer feindlich entgegengetreten, gerade als ob sie in dem unschuldigen Kinde die Ursache ihres zerstörten Ehelebens geahnt hätte. Und nun war die Zeit der Vergeltung gekommen. Einer doppelten Vergeltung, denn wenn dieses stolze und gekränkte Weib erfuhr, daß ihr eigenes Fleisch und Blut den Weg der tiefsten Schande ging, dann vermachte sie ihren Mammon den Armen, und der Hamburger Louis konnte sich das Maul darnach wischen.

Er, den die Mutter ihren schönen und blühenden Knaben genannt hatte. –

Aber gerade über diesen Ausdruck kam Magdalena nicht hinaus.

Wenn ein Kind allmählich von uns abfällt, wenn es Faser um Faser unseres Herzens zertritt, dann wird das Herz zwar zucken und bluten, aber es bricht nicht. Das Jähe ist der Tod. – – – –

Eine stille Straße und ein vornehmes Haus. Als Magdalena über die Treppenläufer zum ersten Stockwerk emporstieg, dünkte sie sich selbst wie ein Schatten. Sie war dunkel gekleidet, und der weiche Stoff unter ihren Füßen dämpfte jeden Laut; so wie sie ging der Tod, und sie trug ihn in den Falten ihres Gewandes.

Die Sektlore hatte einmal gesagt, daß es eine Barmherzigkeit sei, den Tod zu bringen, und Käthe in ihrer Lebensfülle hatte hinzugesetzt: »den Sterbenden«. – Die da oben war eine Sterbende, sie hatte sich selbst als solche bezeichnet, und das Leben mochte ihr eine Last sein.

Aber sie hatte in ihrem Briefe hinzugesetzt, daß sie nicht sterben könnte ohne Nachricht von dem Sohne, das sollte heißen, sie wollte in Ruhe und Frieden heimgehen.

Als Magdalena ihre Hand an die Türschelle legte, hatte sie eine Vision. Sie sah sich selbst in Sturm und Nacht und Einsamkeit und sie stand am Rande des Grabes. Hinter ihr lag das Leben, in ihr war die Verzweiflung, vor ihr lag eine grauenvolle Ungewißheit. Die Ungewißheit über das Jenseits. Wenn alles mit dem letzten Atemzug aus ist, dann mag es gleichgültig sein, ob Ruhe und Friede ihn begleiten, aber schwebende Schatten mit quälender Erinnerung sind das Furchtbarste, was die Phantasie sich auszudenken vermag.

Unter dem Druck dieser unklaren Vorstellungen betrat Magdalena Juttas Wohnung und ließ sich, ohne ihren Namen zu nennen, als eine Abgesandte von Julius Mohrmann anmelden. Sie wurde sofort in das Krankenzimmer geführt und sah auf den ersten Blick, wie die Sachen standen, denn sie war an dem Sterbelager der Sektlore gewesen und wußte, wie der Tod aussieht.

Jutta Heller hatte sich furchtbar verändert. Als sie das Haus ihres Gatten verließ, war sie eine immer noch schöne blühende Frau gewesen, und es lag doch wahrlich noch kein Menschenalter dazwischen; aber jetzt machte sie den Eindruck einer gebrochenen Greisin, und Magdalena würde dieses hippokratische Gesicht niemals wiedererkannt haben.

Auch in Jutta schien die Erinnerung an Marthas Tochter erloschen zu sein. Sie bat das Mädchen, neben dem Bette Platz zu nehmen, drehte eine elektrische Nachtlampe an und betrachtete forschend Magdalenas Züge.

»Also Sie kommen im Auftrag von Julius Mohrmann. Darf ich Sie als seine Gattin anreden? Eigentlich machen Sie nicht den Eindruck einer verheirateten Frau.«

»Julius Mohrmann ist ledig geblieben,« entgegnete Magdalena leise.

»Also doch – ganz wie ich mir dachte. Und Ihr Name, mein liebes Fräulein?«

Magdalena zögerte einen Moment. Da man sie nicht erkannte, konnte sie ihren Namen verschweigen, aber sie hatte das ganz bestimmte Gefühl, daß diese Rolle nicht durchzuführen sei:

»Ich bin Martha Kleins Tochter,« sagte sie entschlossen.

Die Bewegung, mit der Jutta nach dem Herzen griff, verriet deutlich genug den Sitz ihres Leidens. An dieser Stelle hatte man sie tödlich verwundet, und an dieser Wunde mußte sie sterben. Magdalena aber ahnte zum erstenmal, daß die unglückliche Frau viel mehr wußte, als in den verschwiegenen Akten stand; sie kauerte sich zusammen und wartete auf die nächsten Worte; mochten die hart oder milde sein: heute, an diesem Lager hätte sie selbst die letzte unverhüllte Wahrheit ausgesprochen. –

»Also die kleine Magdalena,« sagte Jutta nach einer langen Pause und noch immer die Hand aus dem Herzen. »Wie groß und schön sind Sie geworden, liebes Kind, und ganz das Ebenbild von Ihrer Mutter. Nur feiner und vornehmer – ja, viel feiner. Und Sie wollten mir Nachricht von meinem Sohne bringen?«

»Ja, gnädige Frau. Er lebt.«

»Natürlich,« sagte Jutta mit einem strahlenden Lächeln, »wie wäre das auch anders möglich! Er war so blühend und kräftig, er wird alt werden, viel älter als sein unglücklicher Vater. Und es geht ihm gut, nicht wahr?«

Sie hatte die Hand jetzt vom Herzen fortgenommen und zupfte damit an der Decke. Es war jene Bewegung, der die Ärzte eine gewisse Bedeutung beilegen, aber sie schien ganz glücklich zu sein, und es war vollständig unmöglich, dieses Glück auch nur durch einen Hauch zu trüben.

»Es geht ihm recht gut,« entgegnete Magdalena. »Er verdient viel Geld und ist gesund. Er war lange in Amerika.«

»Und jetzt?«

»Jetzt lebt er in Hamburg.«

Es war seltsam, daß die Mutter sich nicht nach seinem Beruf erkundigte. Vielleicht stand sie schon mit einem Fuße an der Schwelle des Grabes, oder sie scheute sich, noch mehr zu fragen; wir haben es ja so oft im Leben erfahren, unter den Blüten liegt der Moder.

Nur eine Bitte sprach sie aus:

»Liebes Kind, ich bin zu schwach dazu, aber hier auf dem Nachttisch liegt Papier und Bleistift. Wollen Sie mir nicht die Adresse meines Sohnes aufschreiben?«

Und Magdalena nahm den Stift, um die Adresse zu schreiben. Sie war ganz fest davon überzeugt, daß es nicht mehr zu einer Korrespondenz zwischen Mutter und Sohn kommen werde, aber dennoch zitterte ihre Hand, denn Jutta war ein Hamburger Kind, und sie kannte vielleicht die schimpfliche Bedeutung jener geächteten Straße.

Aber da gab es keinen Ausweg. Magdalena murmelte nur etwas Undeutliches über die vielen Neubauten und Veränderungen, die es während der letzten Jahre in Hamburg gegeben hätte, und darin legte sie das Blatt so weit weg, daß die Frau es mit der Hand nicht erreichen konnte.

Aber ihre Befürchtung war unbegründet.

Juttas Gedanken schienen sich jetzt mehr mit Magdalena als dem eigenen Sohne zu beschäftigen; sie hatte das Gemurmel von den baulichen Veränderungen in Hamburg verstanden und knüpfte daran eine Frage:

»Sie haben in Hamburg gelebt, Magdalena?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Was trieben Sie denn da?«

»Ich trug Wäsche aus.«

»Armes Kind!«

»Aber jetzt geht es mir besser,« fuhr Magdalena rasch fort; »Julius hat sich meiner angenommen – wir leben zusammen – als Bruder und Schwester.«

»Das sieht ihm ähnlich,« sagte Jutta lächelnd,« er war immer ein Idealist, er wird auch das von seinem überirdischen Standpunkt aus betrachten. Aber hüte dich, Kind, ihr seid beide jung, es kann eine Stunde der Versuchung kommen, und du willst dir doch dein Jungfernkränzchen bewahren, kleine Lene?«

Das war der Augenblick, wo Magdalena Dolorosa fast laut hinausgeschrien hätte. Aber sie preßte das Taschentuch an die Lippen und erhob sich:

»Sie dürfen sich nicht mehr anstrengen, gnädige Frau; ich muß gehn.«

Mit der Kranken war eine seltsame Veränderung vorgegangen. Sie zupfte nicht mehr an der Bettdecke, sondern griff mit der Hand in die Luft und krallte sie in Magdalenas Kleid. Ganz dicht zog sie das Mädchen an sich heran und sagte röchelnd:

»Lene, du weißt – wen ich meine; hat – er – für dich – gesorgt?«

»Ja.«

Die Hand glitt nieder, und Magdalena verließ das Zimmer. Auf dem Flur begegnete sie der Wärterin und deutete hinter sich:

»Sie stirbt. Die Adresse ihres Sohnes liegt auf dem Nachttisch.« – – –

Unter strömendem Regen kam Magdalena heim. Sie ging geradeswegs zu Julius, der an seinem Schreibtisch saß und an einer Broschüre über die Berliner Prostitution arbeitete. Er hatte sie seit einigen Wochen begonnen und das Manuskript sah aus wie ein Schlachtfeld. Magdalena blickte ihm über die Schulter.

»Du besserst immer daran,« sagte sie, »du besserst es doch nicht. Du verstehst auch nichts davon; das müßte ich schreiben.«

Und dann nach einer Pause:

»Jetzt wird sie tot sein; ich habe nicht gelogen.«

»Also die Wahrheit?«

»Natürlich. Ich habe ihr gesagt, daß er in Hamburg lebt und daß es ihm gut geht. Ist das nicht die Wahrheit?«

»Daß es ihm gut geht, Magdalena?«

»Freilich, was sonst. Er hat geerbt und wird wieder erben; seine Eltern sind tot, was will er mehr?«

»Aber die Vergeltung, Magdalena!«

»O,« sagte sie, »darüber kannst du dich beruhigen. Früher oder später gibt er das Geschäft auf und zieht als reicher Mann in eine andere Stadt. Dann ehren ihn die Leute und, er stirbt hochbetagt. Nennst du das Vergeltung – – –?«

*

Von dem Gewissen sprach er niemals mit ihr; es war, als ob er alles totschweigen wolle, was an die Vergangenheit erinnerte. Und Magdalena war ihm natürlich dankbar dafür, obwohl sie bei Julius, der sonst immer gerne predigte und moralisierte, nur an eine Regung des Mitleids denken konnte.

Aber allmählich wurde sie anderen Sinnes.

Wir wissen alle, daß jedes Mitleid einen ganz kleinen Bodensatz Pharisäertum enthält, nämlich die Freude über das eigene Glück oder den Stolz auf die eigenen Vorzüge; aber in Julius Augen war nichts von diesen Empfindungen zu lesen, sie nahmen vielmehr allmählich den Ausdruck des Schuldbewußtseins an, und zwar je häufiger sie an Magdalenas blühender Gestalt hängen blieben.

Und eines Abends, als das Wetter selbst zu miserabel für die Dämchen der Friedrichstraße war, und die beiden diesseits und jenseits der Lampe zusammensaßen, kam es zu einem Bekenntnis.

Magdalena hatte ihren Genossen damit geneckt, daß er sich durch das bißchen Regen und Sturm von seinen gewohnten Wanderungen abhalten ließ; sie hatte dabei die Schultern gerichtet und ihre prächtige Brust herausgedrückt, und da glomm in Julius Mohrmanns Augen ein seltsam düsteres Feuer auf.

»Ich möchte wohl wissen,« sagte er, »ob es wirklich wahr ist, daß alle Schuld sich schon auf Erden rächt. Als du zu mir kamst, Magdalena, da hielt ich es für ganz selbstverständlich, daß du siech und krank sein müßtest, denn wir lesen ja täglich von den Folgen der geschlechtlichen Ausschweifungen, und du hast mir selbst das Ende der armen Lore geschildert. Und nun sehe ich dich vor mir als ein Bild der Gesundheit, und ich werde irre an der Natur. Darf ich ganz offen mit dir über gewisse häßliche Dinge reden?«

Magdalena nickte.

»Meine Ohren haben alle Häßlichkeiten der Welt anhören müssen, und ich hin wenigstens sicher, daß sie in deinem Munde nicht zu Zoten werden.«

»Nein,« sagte er schwer, »davor soll mich Gott bewahren. Also höre: Magdalena: ich habe niemals ein Weib berührt, aber während der Zeit meiner geschlechtlichen Entwicklung lag ich im Bann heimlicher Sünde. Du weißt, was man darunter versteht?«

»Ob ich es weiß!« sagte Magdalena bitter. »Ich habe alte Wüstlinge gesehen, die diese heimliche Jugendsünde offenkundig genug in unser Haus trugen. Eine gewisse Anna – ein perverses Weib – die war darauf dressiert. Was willst du damit sagen, Julius? Ich habe gehört, daß fast alle jungen Leute solchen Anfechtungen unterliegen, und du bist doch längst darüber hinaus!«

»Ja, ich habe gesiegt. Es gab Zeiten, wo die Versuchung der Selbstentmannung an mich herantrat, aber ich bin als Sieger hervorgegangen. Nur die Furcht ist geblieben: Werde ich jemals heiraten dürfen?«

Da fuhr es ihr heraus:

»Wenn du das von dir sagst, Julius – was soll ich denn von mir sagen?!«

Eine tiefe schwere Stille lagerte sich zwischen diese beiden Menschen, die sich selbst quälten; eine Stille wie vor dem Ausbruch des Gewitters.

Endlich stand Julius auf und trat an das Fenster.

»Regen,« sagte er, »Regen und Sturm. Diese beiden Dinge gehören zusammen, sie ergänzen sich, sie können nicht auseinander. Ich glaube, es ist zu spät, um dieses Gespräch fortzusetzen.«

Es wühlte doch in ihnen beiden und wirkte fort. Bisher hatte Magdalena diesen ernsten aszetischen Mann für einen geschlechtslosen Übermenschen gehalten, ähnlich jenem andern, von dem uns berichtet wird, daß Martha für ihn frondete, und Maria zu seinen Füßen saß, aber Frauenliebe berührte nicht sein Weltherz. Magdalena hatte es begreifen können, daß Käthe in einer abergläubischen Regung diesen Gassenwanderer für den Auferstandenen hielt, und nun hatte er sich in seiner nackten Menschennatur vor ihr enthüllt. Er hatte sich unter ihren Augen ausgekleidet, wie die Gäste der Madam Zech es zu tun pflegten, und sie sah oder glaubte zu sehen, daß er nicht viel besser war als sie selbst.

Warum hatte er das getan? Warum hatte er ihr gestanden, was der Mann dem Arzte und dem Freunde gesteht, aber niemals einem Weibe? Oder wenn doch, dann ist es eine Dirne, deren Gegenwart den Kitzel zynischer Gespräche erhöht. –

Magdalena wies diesen Gedanken weit von sich. Es war möglich, daß ihre eigene Vergangenheit seine Bekenntnisse hervorlockte, einer Jungfrau hätte er sie gewiß nicht gemacht –, aber er suchte bei ihr Trost und Hilfe, er stellte sich ihr gleich« –

Das war die Bedeutung jenes Wortes gewesen vom Sturm und Regen, die zusammengehören und nicht voneinander lassen können. –

Eines Wortes aus der Tiefe. –

*

Und nun war es Frühling geworden.

Setzt ihr euch bei diesem Worte behaglicher zurecht, erwartet ihr »endlich« eine jener poetischen Liebesszenen, wo die Vögel singen und die Quellen rauschen und zwei Liebende einander errötend in die Arme sinken?

Ach, auf diesen Blättern steht manches anders als anderswo, und es ist doch wahr. –

Eines Morgens – Magdalena hatte schon den Kaffeetisch gerüstet – trat Julius blaß und übernächtig aus seiner Kammer in das gemeinsame Wohnzimmer.

Er setzte sich vor seinen Schreibtisch, wo noch immer das unvollendete Manuskript über die Berliner Prostitution lag, stützte den Kopf in beide Hände und sagte:

»Magdalena, ich habe mit dir zu reden.«

Sie warf nur einen einzigen Blick in sein Gesicht, nahm einen Stuhl und faltete die Hände in den Schoß:

»Sprich, Julius.«

Nach einer Weile begann er:

»Gestern abend war ich wieder in der Friedrichstraße – es ist ja mein Beruf. Da wurde ich von einer angeredet – sie sah nicht so frech aus als die übrigen, sie war jung und frisch. Willst du es glauben, Magdalena, daß ich nahe daran war – mich verlocken zu lassen?«

»Ja,« entgegnete sie einfach.

»Nicht dieser Dirne wegen,« fuhr er grimmig fort, »aber du weißt ja, was ich dir gebeichtet habe. Ich glaubte, mein Fleisch sei abgetötet, durch Arbeit und Fasten, aber die Anfechtung kommt zurück, siebenfach, wie der Teufel. Ich bin nicht unterlegen, aber der Kampf reibt mich auf, mein Leib schreit nach einem Weibe!«

»Ich will mich dir preisgeben,« sagte Magdalena ruhig.

Er fuhr mit dem Kopf herum und starrte sie an.

»Dich mir preisgeben –? Was soll das heißen?«

Sie senkte den Kopf ein wenig und ein feines Rot stieg in ihren Wangen auf.

»Vergib mir, lieber Julius, wenn ich das Wort aus meiner Vergangenheit nahm, aber es ist doch so. Viele haben meiner begehrt, und vielen habe ich mich hingegeben; wenn ich nicht frei war, dann war es eine andere. Nun begehrst du eines Weibes, und ich bin frei – – –«

»Geh'!« sagte er dumpf.

Sie stand gehorsam auf und ging nach der Tür; dort wendete sie sich um –:

»Soll ich ganz fortgehn, Julius?«

Nun schrie er auf wie ein wildes Tier und streckte die Arme nach ihr aus:

»Magdalena! Komm' her!«

Ebenso gehorsam wie zuvor kehrte sie um, trat neben ihn und legte die Hand auf seine Schulter:

»Ja, Lieber, was willst du denn eigentlich? Mehr kann ich dir doch nicht geben.«

»Glaubst du, daß ich dich schänden will, Magdalena?«

»Ich bin schon geschändet,« sagte sie leise.

»Still! Ich will dich heiraten.«

Das Mädchen zuckte zusammen.

» Deswegen, Julius – –?«

Da saß er in seiner Not und Verwirrung und starrte vor sich hin. Endlich sammelte er seine Gedanken zu einer Entgegnung:

»Tausende heiraten deswegen, Magdalena.«

»Ich nicht,« sagte sie mit einer seltsam klaren Stimme. »Ich habe so unendlich viel Unheiliges in meinem Leben gesehen – und auch getan, Julius – daß ich mir die Heiligkeit der Ehe nicht antasten lasse; darf ich jetzt gehn?«

»Ja; aber nicht fort –«

So schlich der Tag hin. Julius war in der Stadt, er kam weder zum Mittagessen noch zum Abendbrot. Daran war Magdalena gewöhnt, sie legte sich wie immer um zehn Uhr ins Bett, aber während sie sonst die Tür ihrer Kammer verschloß, blieb heute der Riegel offen.

Sie schlief nicht.

Um Mitternacht hörte sie ihn heimkehren. Sein Schritt war tastender als sonst, und er kam an ihre Kammertür.

»Magdalena!«

Sie richtete sich im Bett auf, daß es knackte, und antwortete ganz laut:

»Komm' nur herein, die Tür ist offen; ich habe noch nicht geschlafen.«

Es vergingen ein paar Sekunden, dann tappte er wieder fort, ohne von der Erlaubnis Gebrauch zu machen; Magdalena hörte ihn noch lange in seiner Stube rumoren und mit den Stiefeln schmeißen, aber jetzt stand sie leise auf und riegelte sich ein. –

Am nächsten Morgen sah er sehr verschlafen aus, und seine Augenlider waren dick angeschwollen; er machte den Eindruck eines verschwärmten Menschen, und obwohl Magdalena ganz genau wußte, daß er den Alkohol verabscheute, sagte sie dennoch:

»Du bist gestern abend betrunken gewesen, Julius, du hast den einen Teufel mit dem andern vertreiben wollen.«

»Ja,« entgegnete er, »so ist es. Vielleicht fange ich jetzt das Trinken an, ich bin schon einmal auf der Universität ganz nahe am Untergang gewesen.«

»Du sollst aber nicht untergehen. Ich habe mir die Sache nochmals überlegt, es ist doch besser, daß wir uns heiraten – ob mit oder ohne Liebe, ich will deine Frau werden und dir treu sein.«

Nun fing er an in seiner Art zu philosophieren:

»Im Grunde ist auch wirklich Liebe dabei, Magdalena, und nicht nur dieser verfluchte Naturtrieb. Denn ich könnte jeden Abend eine andere haben, die Frauenzimmer legen es förmlich darauf an, ihren »Propheten«, wie sie mich nennen, zum Fall zu bringen, aber ich denke doch nur an dich allein, und ich mache zwischen dir und den andern einen großen Unterschied. Deine Vergangenheit ist mir ganz gleichgültig, du bist in meinen Augen wie eine unberührte Jungfrau, und wenn das keine Liebe ist, dann hat es vielleicht niemals welche gegeben, und du kannst jedenfalls damit zufrieden sein.«

So hatten sie sich denn wirklich miteinander verlobt, und Magdalena empfand dieses neue Verhältnis als etwas sehr Seltsames.

Denn es fehlten alle jene Begleitumstände, die sonst einen Brautstand auszumachen pflegen.

Sie trennten sich nicht, sondern wohnten nach wie vor zusammen, und nach der Erfahrung jenes einen Abends war Magdalena so sorglos oder so gleichgültig geworden, daß sie ihre Kammertür nicht mehr verschloß, während Bräute in solchen Dingen unter Umständen sehr vorsichtig und mißtrauisch sind.

Es wurde zwischen ihr und Julius niemals eine Liebkosung ausgetauscht. Er hatte ihr immer zum Gutenmorgen und Gutenacht die Hand gereicht, und das tat er auch jetzt in unabänderlicher Gewohnheit; aber seitdem der Tag ihrer ehelichen Verbindung feststand – denn diese Angelegenheit betrieb er mit großem Eifer –, seitdem war jene sinnliche Unrast von ihm gewichen, und für die feurige Sehnsucht des ungeduldigen Liebhabers lagen keine Anzeichen vor. –

Magdalena aber quälte sich während dieser Wochen fort und fort mit einem und demselben Gedanken.

Das Geheimnis der Liebe, welches bei dem Herannahen der Hochzeit wohl jedes Mädchenherz mit Bangen erfüllt – jenes Tasten zwischen Ahnen und Wissen, an dem die Sinne und die Seele ihren gleichen Anteil fordern: das alles war für Magdalena nicht mehr ein verschleiertes Bild von Sais, denn wenn man den günstigsten Fall nimmt, so befand sie sich in der Lage einer jungen Witwe, die zur zweiten Ehe schreitet.

Aber das Muttergefühl kam in diesem geschändeten Mädchen wieder zum Ausbruch.

Es hatte niemals ganz geschwiegen, selbst während der schrecklichen Zeit im Freudenhause war seine Stimme nur zum leisen Raunen herabgesunken, und nun schrie es mit den ungestümen Lauten der Natur.

Magdalena erkannte allmählich immer deutlicher, daß sie nicht aus Mitleid gegen Julius, daß sie nicht in dem Streben nach einer bürgerlichen Stellung, sondern daß sie ganz allein aus Sehnsucht nach einem Kinde das Eheversprechen gegeben hatte und mit dieser Erkenntnis kam die Furcht.

Wie hatte doch Lore, dieses kluge und erfahrene Mädchen geredet, als sie noch die Dämmerstunde bei Madam Zech mit schweren und ahnungsvollen Gesprächen ausfüllten?:

»Es steht im ersten Buch Mose geschrieben,« hatte sie gesagt, »daß der Acker verflucht ist um der Sünde willen. Sollen wir es denn besser haben als das unschuldige Land –?«

Das waren die Stunden, wo Magdalena anfing, ihren eigenen Leib zu betrachten. Sie hatte sonst eine instinktive Scheu davor gehabt, er war zu oft von Männeraugen begafft worden; aber nun tat sie es: abends beim Zubettgehn und morgens, wenn sie aufstand. Und sie kam zu der Überzeugung, daß es kein schöneres und blühenderes Weib geben konnte.

Die Fronzeit bei Madam Zech war zu kurz gewesen, um ihren verderblichen Stempel aufzudrücken, aber es gibt übertünchte Gräber.

Am liebsten hätte Magdalena sich von einem Arzte untersuchen lassen. –

Das Gefühl weiblicher Scham hielt sie nicht davon ab, sie wäre sogar imstande gewesen, dem Manne der Wissenschaft ihre Vergangenheit zu offenbaren.

Aber sie fürchtete sich.

Denn es war doch möglich, daß ihr das schreckliche Wort von der Unfruchtbarkeit ins Gesicht gesagt würde, ob mit Verachtung oder Mitleid, das blieb sich gleich –, und dann war es ihre Pflicht, Julius davon zu unterrichten.

Er sprach ja nicht von der Zukunft, aber er hatte einmal gelegentlich geäußert, daß die moderne Beschränkung der Kinderzahl ein Verbrechen gegen die Menschheit bedeute. Ein Mann, der so dachte, sah auch den Zweck der Ehe im Kinde. –

Nein, eine sichere unzweifelhafte Auskunft wollte Magdalena vermeiden, aber in ihrer Sorge und Not ging sie schließlich zu einer Kartenlegerin; der Verkehr mit Käthe, die mitten im Aberglauben steckte, hatte ihr allmählich ähnliche Anschauungen eingeimpft.

Das Weib machte zuerst große Augen.

»Das sei ihr noch nicht vorgekommen. Die Mädchen wollten immer nur von ihr wissen, ob sie eine Schwangerschaft zu befürchten hätten, und da könnte sie bisweilen guten Trost geben. Aber so –!«

Dann mischte sie ihre schmierigen Karten.

»Ja, ein Kind wäre freilich da. Aber es läge nahe bei Treff Aß.«

Magdalena wollte wissen, was das zu bedeuten habe, und die weise Frau machte ein sehr geheimnisvolles Gesicht:

»Ja, liebes Fräulein, das läßt sich schwer sagen. Treff ist allemal ein Kreuz, und das Aß ist das größeste. Wir wissen nicht alles im voraus, es ist auch bei den Karten vieles dunkel, aber an Ihrer Stelle würde ich mich nicht zu sehr nach einem Kinde sehnen; es kann tot zur Welt kommen und es kann schlecht geraten.«

Diese Konsultation, die drei Mark kostete, brachte keinen Trost, sondern neue Unruhe. Was hilft es denn, wenn der Mutterleib zwar fruchtbar ist, und er gebärt taube Früchte!

Da fiel es Magdalena ein, daß sie in der Schule den Katechismus gelernt hatte, und da stand das grausige Wort: »Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern –«

Was von den Vätern galt, das galt wohl auch von den Müttern, oder noch mehr, denn die Mutter trägt das Kind unter dem Herzen.

Aber dennoch hegte Magdalena eine unbändige Sehnsucht. – – – –

*

Als der Hochzeitstag näher heranrückte, sprach Magdalena gelegentlich den Wunsch aus, daß die Eheschließung nur vor dem Standesbeamten erfolgen möchte, und Julius, der in manchen Dingen unendlich naiv sein konnte, fragte ganz erstaunt nach dem Grunde dieses Begehrens.

»Es ist wegen des Kranzes,« sagte Magdalena. »Wenn ich vor den Altar treten soll, dann möchte ich diesen Schmuck nicht gerne entbehren, und ich darf ihn doch nicht tragen, das wäre ja der reine Hohn auf die alte Sitte.«

In dem letzten Punkt gab er ihr freilich recht, aber trotzdem wollte er nicht begreifen, warum sie denn so sehr auf die paar Myrthenblätter versessen war. Sie mußte noch deutlicher werden:

»Es ist ja nur Deinetwegen, Julius. Wenn ein Paar sich trauen läßt und die Braut trägt den Kranz nicht im Haar, dann denkt der Geistliche natürlich, daß die beiden sich vergessen haben und er deutet es wohl gar an. Wir haben uns doch nicht vergessen, Julius, und was mich betrifft, so paßt das Wort auch nicht recht, denn man vergißt sich nur in der heißen Liebe.«

Er antwortete nicht, aber er ging ein paar Tage lang grübelnd umher. Und dann kam er eines abends erregt nach Hause, schlug mit der Faust auf den Tisch und polterte heraus, wie Magdalena das seit ihrer Kindheit an ihm kannte:

»Aufsässig sind sie mir schon längst gewesen, diese Pfaffen, bloß deshalb, weil ich kein Examen gemacht habe und meine eigenen Wege gehe! Aber nun bin ich ganz mit ihnen auseinander, es ist wirklich an der Zeit, daß ein neuer Christus in die Welt kommt.«

Durch Fragen brachte sie dann den Zusammenhang heraus:

Er war bei einem jungen als liberal bekannten Prediger gewesen, und hatte dem sein ganzes Verhältnis zu Magdalena und deren Vergangenheit auseinandergesetzt. Er hatte von dem Bedenken seiner Braut gesprochen und schließlich die Frage gestellt, ob der Geistliche die Trauung übernehmen und das Fehlen des Kranzes nicht falsch deuten wolle. –

Magdalena senkte bei diesem Bericht den Kopf.

»Das hättest du lieber nicht tun sollen, Julius. Ich kann mir ja denken, was der Prediger geantwortet hat.«

»Er gab dir recht! Er bewunderte dein feines Taktgefühl und meinte, wir täten wirklich besser, uns nur zivil trauen zu lassen. Ist das denn keine christliche Ehe, die wir miteinander eingehen wollen?«

»Nein,« sagte Magdalena, »in den Augen der Welt ist sie es wohl nicht ganz. Aber ich will dir dennoch treu sein. Ich glaube, du ahnst gar nicht, wie treu eine Gefallene in der Ehe sein kann.«

In diesen Tagen erhielt Magdalena einen Brief aus Hamburg. Käthe hatte ihre Adresse herausbaldowert und schrieb in ungelenken Zügen:

 

»Hurra, ich bin aus dem Bums heraus. Es war in der letzten Zeit mit Madam nicht mehr auszuhalten, und da habe ich sie eines schönen Tages verwamst. Das hat sie zwei falsche Zähne gekostet und ihr Louis schmiß mich auf die Gasse. Nun bin ich dabei, mir einen Keller mit Grünkram einzurichten, und das soll fein werden, denn von dem Strumpfgeld habe ich mir einen Batzen übergespart.

Wie geht es dir mit deinem Propheten? Weißt du noch, ich hielt ihn für was ganz Großes, aber die Hamburger sagen, er wäre bloß ein bischen verrückt. Auf mich sind die Mannsleute es auch, und ich könnte zehn für einen kriegen; aber ich habe von der Sorte genug, ich danke.«

 

Die Adresse war dem Briefe beigefügt und Magdalena hatte wirklich den Gedanken, diese ihre einzige Freundin zur Hochzeit einzuladen, denn Käthe war ja nun »anständig« geworden. Aber sie wagte nicht, mit Julius davon zu reden, denn er hatte nicht einmal nach ihrer Mutter gefragt; die ganze Vergangenheit sollte eben tot und begraben sein und schließlich war es wohl auch das beste. – – –

So kam der Hochzeitstag heran und es kostete Mühe, die zwei standesamtlichen Zeugen aufzutreiben, denn das Brautpaar lebte ganz allein für sich und hatte keine Bekannte. Schließlich ging Julius im wahren Sinne des Wortes auf die Gasse und kam mit zwei Brüdern von der Heilsarmee zurück, die er irgendwo aufgegabelt und natürlich in seinem Wahrheitsfanatismus mit der ganzen Affäre bekannt gemacht hatte.

Die Leutchen waren erst kürzlich über die Bußbank gerutscht und zeigten eine große Begeisterung, als sie vernahmen, daß der Apostel Mohrmann eine Gefallene heiraten wollte; nach dem standesamtlichen Akt luden sie das Paar auf den Abend zu einer Versammlung ein und Julius schien nicht übel Lust zu haben.

Aber Magdalena sträubte sich dagegen.

»Ich will meine Vergangenheit abbüßen,« sagte sie etwas später zu Julius, »ich will alles in der Stille auf mich nehmen, aber diese Hallelujabrüder sind mir widerwärtig, sie machen mit ihrem Tamtam aus der Reue ein Geschäft.« – – –

Es war ein stiller schöner Frühlingsnachmittag und sie gingen in den Tiergarten.

Als es Abend wurde, hätte Magdalena gern eine ganz kleine Feier veranstaltet, vielleicht ein Glas Wein in einem Restaurant, um den Tag doch ein wenig auszuzeichnen.

Aber Julius drängte heim.

Und sie blickte ihn ängstlich von der Seite an; sie dachte, jener Dämon, den sie schon einmal in ihm hatte lauern sehen, sei wieder zum Ausbruch gekommen.

Darin irrte sie sich freilich.

Als sie ihre Wohnung betraten, traf Julius ganz seltsame Vorrichtungen. Er deckte ein weißes Tuch über den Tisch, zündete zwei Wachskerzen an, die er unterwegs gekauft hatte und sagte:

»Die Kirche hat zwar ihren Segen verweigert, aber wir wollen uns dennoch einen Altar bauen.« Und dann begann er zu beten.

Aus dem Tobias. –

Magdalene hatte solche Worte noch niemals gehört, seit ihrer Konfirmation war überhaupt kein Gebet in ihr Ohr gekommen, und es überschauerte sie.

Aber dann dachte sie an die nächste Stunde und hatte ein unklares Empfinden, daß man Himmlisches und Irdisches nicht zu nahe beisammen rücken soll; es kann schließlich eine Lästerung daraus entstehen. –

Als Julius mitten in der Nacht aufwachte, hörte er sein junges Weib neben sich weinen. Er nahm Magdalena in den Arm und fragte nach dem Grunde ihrer Tränen, und sie entgegnete schluchzend:

»Es gibt viele Mädchen, die nichts in die Ehe bringen als sich selbst. Ich bin ärmer als Alle, und das kommt mir erst heute zum Bewußtsein.« – – – – – –

Magdalena Dolorosa hatte dennoch den guten Willen, eine richtige Ehe zu führen, aber jedes Ding will seinen Anfang haben, und es dünkte sie bisweilen, als ob dieser Anfang bei ihr fehlte.

Denn wenn eine Jungfrau heiratet, so tritt sie gleichsam aus ihrem bisherigen Dasein heraus und wird wie neugeboren; zwischen diesen beiden Menschen aber setzte sich das alte Verhältnis mit einer ganz geringen Änderung fort.

Sie verkehrten geschlechtlich miteinander.

Das ist unter Umständen etwas überwältigend Großes, aber Magdalena konnte niemals den Gedanken los werden, daß sie auch in dem Hause der Madam Zech zu Zeiten einen Liebhaber gehabt hatten, einen »Mann«, wie Käthe sich auszudrücken pflegte.

Nun war Julius ihr »Mann.«

Natürlich durfte er von diesen Gedanken nichts wissen, denn in seiner mystischen Weise hielt er die Ehe für eine Art Sakrament, und stellte sie der Sühne gleich, die man an Taufwasser und Abendmahlswein zu knüpfen pflegt; er sprach es bisweilen geradezu aus, daß seine Gattin jetzt so rein wäre, wie sie aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sei, und er glaubte, ihr damit einen Trost zu sagen.

Aber die Vergangenheit konnte er doch nicht tot machen. Magdalena stickte jetzt für ein Geschäft, und die Ablieferung der Arbeit führte sie oft ziemlich spät in das Innere der Stadt; als sie eines Abends über die Friedrichstraße ging, wurde sie von einem Herrn angeredet.

Das geschieht freilich auch anständigen Frauen und Mädchen, aber der Herr war ein Hamburger, der bisweilen bei Madam Zech verkehrt hatte, und Magdalena kannte:

»Na Kleine«, sagte er »hast du dich selbständig gemacht? Was meinst du, Schatz, wollen wir mal wieder eine fidele Nacht feiern? Alte Liebe rostet nicht, und ich bin hier, um mich zu amüsieren.«

Magdalena sah ihn zornsprühend an:

»Mein Herr, ich bin eine anständige Frau geworden!«

Da lachte der Kerl:

»Frau? famos! Anständig? famoser! Mach' mir doch keine Wippchen vor, liebes Kind – das kennen wir.«

Nur die Nähe eines Schutzmannes verscheuchte ihn, aber der Polizist machte ihr Vorhaltungen: sie hätte den Herrn angeredet, das sei nicht erlaubt.

In Tränen aufgelöst kam sie heim und klagte Julius ihr Leid; aber sie sagte nicht alles – sie verschwieg, daß dieser Mensch schon einmal bei ihr geschlafen hatte, es war ihr nicht möglich, das Wort über die Lippen zu bringen. Und so kam nur eine gewöhnliche Geschichte heraus, die alle Tage passiert, und den »Apostel der Verworfenen« ziemlich kühl ließ. »Du hast dich doch wohl unvorsichtig benommen,« sagte er. »Hier in Berlin muß jede Frau mit niedergeschlagenen Augen gehen; das merken die Männer sofort.«

»Glaubst du, daß ich frech bin, Julius?«

»Nein,« entgegnete er langsam, »das glaube ich nicht. Aber es liegt wohl daran, daß du – ich denke, wir brechen besser davon ab, ich möchte dich nicht verletzen.«

Der wunde Punkt, den sie täglich herausfühlte. Und sie wurde ganz klein und demütig:

»Ich habe eine Bitte, Julius. Laß uns von hier wegziehen, irgendwohin, an einen kleinen Ort – ich sehne mich nach einer reinen Luft.«

Die Andeutung verstand er wohl, es handelte sich nicht um Kohlendunst und Benzingestank, denn daran waren ihre Lungen von Hamburg her gewöhnt; aber seine Antwort war sehr charakteristisch.

»Mein Weg geht durch den Kot,« sagte er. Wenn ich seine Miasmen einatmen kann, so wirst du das wohl auch fertig bringen – ich hätte Gelegenheit gehabt, eine Gräfin zu heiraten.« – – – – – – – –

So blieb ihr nur noch die Hoffnung auf ein Kind.

Gleich am ersten Tage nach der Eheschließung hatte Julius das Buch »Ammons Mutterpflichten« gekauft, und Magdalena erblickte darin eine gewisse symbolische Handlung. Denn es wäre ja Zeit genug gewesen, dieses alte gute Buch zu lesen, wenn sie sich schwanger fühlte; aber es sollte damit wohl jeder Zweifel an einer Unfruchtbarkeit ausgeschlossen sein.

Sie las, und lächelte bisweilen. Man hat es ja oft genug bewundert, mit welcher zarten Keuschheit der berühmte Verfasser auf die notwendige Erörterung geschlechtlicher Dinge eingeht, und Magdalena fand das anfangs altfränkisch und prüde.

Aber dann dachte sie daran, daß dieses Buch ganz gewiß nicht für sie und ihresgleichen geschrieben sei, und ihr überlegenes Lächeln verwandelte sich in bittere Tränen. Julius traf sie einmal in dieser Stimmung und deutete es falsch; er glaubte darauf hinweisen zu müssen, daß die Schmerzen der Geburt eine Folge des Sündenfluches wären, aber Magdalena sah ihn fast zornig an:

»Wer alle Schmerzen seines Geschlechts durchgemacht hat, Julius, dem sind die hier geschilderten eine Wonne!«

Ja – wenn es soweit kam: sie wollte jubeln, wo andere ächzten. – – –

Vorläufig schien indessen noch keine Aussicht vorhanden zu sein, und jedesmal, wenn Magdalena das bei gewissen Veranlassungen ihrem Manne gestehen mußte, schämte sie sich vor seinen fragenden Augen, die bisweilen einen unsicheren Ausdruck annahmen.

Er sagte indessen nichts weiter, weder etwas Tröstliches noch das Gegenteil, und dieses Versteckspiel wurde Magdalena endlich so unerträglich, daß sie sich nach einer Aussprache mit ihresgleichen sehnte, wie das alle junge Frauen gerne tun, auch die glücklichen und hoffnungsreichen.

Und nun kam ihr der Name der Mutter zum ersten Male auf die Lippen.

Damals, als die Alte mit den zwanzigtausend Mark bedacht worden war, hatte sie einen so netten Brief geschrieben, und von den künftigen Kindern ihrer Tochter gesprochen – schließlich muß eine Mutter doch ihr eigenes Fleisch und Blut am besten kennen, und dort ließ sich vielleicht der Trost holen, den die Augen des Gatten zu versagen schienen. –

Wunderbarer Weise hatte Julius gegen einen Besuch in Hamburg nichts einzuwenden. Er selbst konnte sich freilich ganz unmöglich von Berlin losmachen, es gab fast jeden Abend Versammlungen, in denen er nicht fehlen durfte, aber seitdem Magdalena das Wort von den Hallelujabrüdern gesprochen hatte, schien er die Hoffnung auf eine geistige Bundesgenossenschaft aufgegeben zu haben.

Und Magdalene legte seine Einwilligung zur Reise günstig aus.

»Es soll ein Beweis des Vertrauens sein« – dachte sie – »er läßt mich alleine dorthin zurückkehren, wo meine Vergangenheit liegt«, und es gab eine Stunde, wo sie diese Vergangenheit wirklich als tot und vergessen ansah. –

Mit einem wundervollen Herbstwetter kam sie in Hamburg an. Je seltener diese Tage der Klarheit über der alten Nebelstadt aufgehen, um so köstlicher werden sie empfunden, und bei Magdalena gesellte sich noch etwas anderes hinzu, um die Stimmung zu heben: Das Gefühl einer sozialen Stellung, dem auch die geringste Frau aus dem Arbeiterstande sich hingeben darf« – – – – – – – – – – – – – –

Es wurde aber sofort gedämpft, als Mutter und Tochter einander begrüßten. Die Aufbesserung der Lebenslage hatte Frau Martha keinen großen Segen gebracht, sie sah noch verkommener aus als sonst, und die Spuren des Schnapsgenusses waren sehr deutlich in ihren aufgedunsenen Zügen zu lesen. Aber außerdem zeigte sie ein mürrisches und mißtrauisches Wesen.

»Du kommst wohl, um dir das Sparkassenbuch anzusehen,« sagte sie. »Das Leben in Hamburg wird immer teurer, und mit meinen Kräften geht es beständig abwärts. Daß du es nur gleich weißt: Die ganze Summe ist nicht mehr beisammen, das läuft auseinander wie die Butter in der Sonne.«

Magdalena verwahrte sich gegen diesen Verdacht. Sie sagte etwas von der Sehnsucht, und die Alte schüttelte den Kopf:

»Also ist es schon so weit? Behandelt er dich schlecht?«

»Wie kommst du auf den Gedanken, Mutter?«

»Na ja, schlecht ist ja wohl nicht das richtige Wort, prügeln wird er dich nicht. Aber vernachlässigen – was?«

Da lag wieder eine geschlechtliche Andeutung im Hintergrunde, denn diese alte Dirne konnte nicht aus dem Kreise ihres Denkens heraus, und Magdalena entgegnete heftig:

»Wenn ich dir noch nicht die Freude machen kann, Großmutter zu werden – mein Mann trägt nicht die Schuld daran.«

Die Alte grinste wie ein Waldteufel.

»Wirklich, Lenchen? Bist du davon so fest überzeugt? Soviel ich weiß, kann man unserer Race doch nichts vorwerfen. Aber wenn du mich gefragt hättest, ehe du ihn nahmst, ich würde dir nicht dazu geraten haben. So'n Heiliger! Jawohl, ein schöner Heiliger – was dein Vater war, der verstand doch was von dem Rummel, und er nannte ihn einen »Heimlichen.« Nachher kriegt dann die Frau den Abhub, und wenn wirklich mal so'n Wurm auf die Welt kommt, dann ist es auch danach.«

Weiter wurde dieses Thema nicht behandelt. Martha Klein fühlte wohl, daß sie zu weit gegangen sei, und sie suchte den Eindruck ihrer schlimmen Worte durch Liebenswürdigkeit zu verwischen; aber der Stachel saß, und Magdalena verabschiedete sich unter einem nichtigen Vorwand.

Als sie wieder auf die Straße trat, war die Sonne weg. Der Zweck der Reise war erfüllt, wenn auch ganz anders, als die junge Frau es gedacht hatte, und der nächste Zug nach Berlin konnte noch gerade benutzt werden; aber was sollte Julius dazu sagen, er hatte doch als selbstverständlich angenommen, daß die Tochter wenigstens eine Nacht bei der Mutter bleiben würde. Wenn sie heute zurückkam, dann gab es Fragen und Auseinandersetzungen, und Magdalena kannte sich und ihr heftiges Temperament – schließlich schrie sie ihrem Manne in's Gesicht: »Du Heimlicher, gib mir ein lebendes und gesundes Kind!« – – – – – –

Unter diesen trüben Gedanken ging sie langsam vorwärts und reckte doch bisweilen ihre schöngebaute Gestalt, und plötzlich fuhr ihr ein Name durch den Kopf:

Käthe! – – – – –

Das hätte Julius nicht wissen dürfen, aber Magdalena hatte sich schon daran gewöhnt, über manches gegen ihn zu schweigen, und schließlich war Käthe ein »anständiges Mädchen« geworden, wie es ihrer wohl viele in Hamburg gibt.

Es war gar nicht soweit, und als Magdalena vor dem Gemüsekeller stand, da mußte sie wehmütig lächeln, denn über dem Eingang war in großen Buchstaben:

»Katharine Jensen«

geschrieben, und die junge Frau erfuhr heute zum ersten Mal, wie ihre namenlose Freundin eigentlich hieß. Katharine – Julius hatte einmal gelegentlich geäußert, daß es »die Reine« bedeute. – – – – – – – –

Käthe stieß ein Jubelgeschrei aus, als Magdalena bei ihr eintrat. Da war nichts von falscher Scham und zimperlichem Getue, nichts von Büßermiene oder pharisäischem Hochmut – dieses echte Naturweib freute sich ganz einfach über ein unverhofftes Wiedersehn und machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. Sie sah gut aus, die Käthe. Ihre Formen hielten sich noch immer in dem richtigen Verhältnis zu dem mächtigen Körper, und als sie die Freundin umarmte, sagte sie lachend:

»Daß ich dich man nicht zerbreche, mein Deern! Aber ich muß dich mal abknutschen, jetzt steht ja nicht mehr die Anna daneben und macht ihr asiges Gesicht!«

Es war ja gar nicht anders denkbar, Magdalena war extra nach Hamburg gekommen, um diesen Besuch abzustatten, und sie wurde sofort in der Kellerwohnung herumgeführt. Hinter dem Laden lag eine Stube und daneben die Schlafkammer, und Käthe zeigte mit Stolz auf ihr solide gezimmertes Bett:

»Für mich ganz allein, verstehst du, Schatz? Aber diese Nacht kommst du hinein, ich schlafe ebensogut auf den Kartoffelsäcken; ich habe schon schlechter in meinem Leben kampiert.«

»Wenigstens bei Madam Zech,« entgegnete Magdalena, die sofort im Milieu war, und Käthe setzte sich auf einen Stuhl.

»Ja, du, wenn ich das alles überdenke, dann ist es mir wie ein schlimmer Traum. Das Beste dabei sind die Prügel, die ich Madam verabfolgt habe. Weißt du übrigens, daß sie und ihr Kerl das Geschäft aufgegeben haben? So was flutscht, sag' ich dir!«

»Er hat geerbt, Käthe.«

»Also auch noch das; es geht wunderlich zu in der Welt! Sie sollen nach Berlin gezogen sein.«

Als Magdalena zusammenschrak, fuhr Käthe fort:

»Na, dir kann es ja einerlei sein, du bist fein raus. Aber wenn dir mal im Tiergarten so'n Protzenschwein begegnet, in der Gummikalesche und mit Silbergeschirr, das ist einer von den beiden, er oder sie, denn zusammen werden sie sich ja wohl nicht zeigen. Und nun komm', Süßes, ich schließ' die Bude zu und schlag' was Gutes zu Herd – das verstehen wir in Hamburg doch besser als Ihr in Eurem hungrigen Berlin.« –

Magdalena ging mit nach der Küche, und während die Walküre die Ärmel zurückstreifte, um mit dem Klopfholz ein Stück Beafsteakfleisch zu bearbeiten, kam ihr unwillkürlich ein Gedanke.

Sie nannte Anna's Namen, und Käthe tat noch ein paar mächtige Schläge bevor sie antwortete:

»Gut, daß du mich daran erinnerst, der könntest du unter Umständen auch in Berlin begegnen und dann gehst du besser auf die andere Seite von der Straße. Die ist nämlich »Masseuse« geworden.« Klatsch, hieb sie wieder auf das Fleisch los. –

»Ich glaubte, sie hatte etwas anderes im Sinn«, sagte Magdalena zögernd.

»Hatte sie auch, mein Schatz; aber dafür sind wir in Deutschland noch nicht reif. Aber Masseuse sein, das ist bei uns nicht verboten, darum kümmert sich die hohe Polizei den sogenannten Deubel.«

»Ist das nicht ein sehr anständiges Geschäft?« fragte Magdalena, die in gewissen Dingen noch unerfahren war, und Käthe lachte grimmig auf.

»Natürlich, Kind, es kann sehr anständig sein – es gibt auch anständige Hebammen, verstehst du mich? Aber was die Anna mit ihren schlechten Fingern anfaßt, das ist ganz gewiß nicht anständig, aber es wird bei ihr aus und eingehen, wie in einem Taubenschlag, denn es gibt Dinge, die man lieber los wird, als daß man sie kriegt.«

Also von der Sorte. Und nun hätte Magdalena einen Anknüpfungspunkt gehabt, denn sie waren wieder auf das Thema gekommen, von dem die ganze Frauenwelt getragen wird, aber das Eis brach erst am Abend, als Käthe ihren Schlafgast zu Bett brachte und beim Auskleiden zusah.

»Noch immer so schlank wie ein Reh,« sagte sie nachdenklich, und Magdalena kroch in sich zusammen.

»Nun fängst du auch davon an, Käthe. Sieh mal, ich gehöre nicht zu denen, die lieber was los werden, als daß sie es kriegen. Ich habe einen Mann, und ich möchte ein Kind kriegen, aber ehe ich zu dir kam, war ich bei meiner Mutter – –«

Käthe hörte die Beichte an – stumm, mit gerunzelten Brauen, und schwer atmend.

Dann sagte sie mit ihrer tiefen Stimme:

»Das ist ja alles Unsinn, Lene. Deine Mutter sollte sich was schämen, dir so'n Zeug in den Kopf zu setzen; wenn das wahr wäre, dann stürbe die Welt aus. Aber deine Sehnsucht kann ich doch nicht begreifen – haben wir denn Kinder verdient?«

» Wir, Käthe? Ach so, nun verstehe ich dich – aber barmherziger Himmel, hängt uns das denn ewig an?«

»Der Himmel ist gar nicht barmherzig, Lene, er ist höchstens gerecht. Und es ist eine fürchterliche Gerechtigkeit, denn wer von uns ist denn freiwillig auf die Bahn gekommen?«

»Ich, Käthe,« sagte Magdalena furchtsam.

»Nein, Kind, du auch nicht. Es sind die Menschen, und immer wieder die Menschen, die uns soweit bringen. Aber die Mutterfreuden haben wir doch wohl verspielt; ich würde mich fürchten, ein Kind zu bekommen, es steht nun mal geschrieben von dem dritten und vierten Gliede, meinen Katechismus habe ich noch ganz gut im Kopf.«

Magdalena nickte.

»Ich war das erste Glied.«

»Und so geht es weiter, Lene. Du hast einen Mann, da springt es mal mit der Erbschaft und dann geht es weiter. Vielleicht springt es auch nicht, denn Männer sind Zufall.«

So hatte diese Gefallene noch nie gesprochen. Mitten im Elend ihrer Vergangenheit war sie ein trotziges Weib gewesen, die dem Schicksal die Stirn bot, und nun saß sie da, wie mit einem Kainsmal auf der Stirn. Es dauerte freilich nicht lange. Nach einer Weile war Käthe wieder die Alte, schlug sich auf die Schenkel, erzählte ein paar Kalauer, und ging schließlich in die Wohnstube auf das Kanapee.

»Denn« – sagte sie und küßte Magdalena zur Gutenacht – »mit den Kartoffelsäcken war das nur Spaß; wir haben allmählich eine verdammt feine Haut gekriegt und sollten doch lieber dickfellig sein wie die Packesel.« – – – – – – – – – – – – –

*

Magdalena war wieder nach Berlin zurückgekehrt und hatte ihrem Mann nicht viel mitzuteilen. Aber eines Tages trat das große Ereignis ein.

Sie fühlte sich schwanger. –

Es kam so plötzlich und unerwartet, daß sie anfangs nicht daran glauben mochte, und die Entdeckung still mit sich herumtrug. Und während dieser Zeit kehrte etwas wieder, was ihr natürlich unbekannt war, aber wenn sie es gewußt hätte, so wäre es auch nur ein Echo gewesen von Käthe's Worten.

Als Martha Klein vor langen Jahren im Hellerschen Garten ihrem Mitschuldigen das Geständnis machte, da sagte sie immer und immer wieder das eine Wort: »Wenn es nur wenigstens ein Junge wird, und kein Mädchen.« – –

Und Magdalena dachte dasselbe.

Es fiel ihr damals eine Schrift in die Hand von einem phantasiereichen Mediziner, der vertrat die Ansicht, daß Ehegatten im voraus das Geschlecht ihres Kindes wissen, und daß sie es sogar bestimmen könnten.

Und es tat ihr leid, dieses Buch nicht schon früher gekannt zu haben. Aber nun war es zu spät; was sich da unter ihrem Herzen zu regen begann, das glich dem Pfeil, der die Sehne verlassen hat – und wir wissen nicht, wohin er trifft. –

Endlich offenbarte sie sich ihrem Manne.

Die Dichter haben dieses Geständnis ein süßes genannt, und unter normalen Verhältnissen mögen sie damit recht haben; Julius nahm es mit jener tiefernsten Miene entgegen, die ihn nur sehr selten verließ.

»Freust du dich denn nicht ein wenig?« fragte Magdalena schüchtern, und er entgegnete:

»Irdische Freude über Nachkommenschaft ist Hochmut. Aber es erfüllt sich ein Gesetz der Natur, und ich danke Gott, denn ich hatte mir schon Vorwürfe gemacht.«

Also derselbe Laut wie von Martha Kleins Lippen, nur weniger brutal, weniger gemein, und Magdalene horchte, als wenn sie eine ferne Stimme hörte.

»Hoffentlich wird es ein gesundes Kind,« sagte sie.

»Das steht in Gottes Hand.«

»Hoffentlich wird es ein Knabe.«

Sie tastete immer näher an die Wunde, aber er verstand nicht, was sie damit meinte, er faßte das nur in dem gebräuchlichen Sinne auf.

»Gehörst du auch zu den Eiteln, Magdalena? Was ist ein Familienname? Rauch und Schall.«

Nach einer Weile kam das gequälte Weib auf sich selbst zu sprechen: »Was meinst du wohl, Julius, ob es eine schwere Geburt werden wird? Als wir heirateten, hatte ich so viel Mut, und nun fürchte ich mich ein wenig.«

Es lag in seinem religiösen Charakter, daß er ihr auch auf diese rein menschliche Frage mit einem biblischen Zitat antwortete, obwohl die Bibel sonst garnicht seine Domäne war, und er Vieles darin bekämpfte:

»Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären –«

»Das ist doch ein Fluch, Julius – eine Strafe dafür, daß Adam und Eva gesündigt hatten!«

Der Blick mit dem er sie ansah, ging ihr wie ein Dolchstich durch das Herz. O gewiß, er hatte niemals während ihrer Ehe von der Vergangenheit gesprochen, es sollte Alles ausgelöscht und vergessen sein, aber nun kam es in den stummen Augen zum Vorschein, und das ist viel schlimmer, als wenn mal ein bitteres Wort gesagt wird.

Wir wollen in unserm Vergeben und Vergessen der Vorstellung entsprechen, die der Mensch sich von einem göttlichen Wesen zusammengekünstelt hat, und siehe, schon bei der ersten Probe wird es offenbar, daß diese Vorstellung selbst ein Wahn ist. – – –

Von diesem Tage ab trug Magdalena sich mit sehr schweren Gedanken. Ihre ganze Mutterfreude und Muttersehnsucht war dahin, denn die Unvernunft der Menschen hatte ihr den Glauben an das Mutter recht verkümmert.

Es jährte sich die Weihnachtszeit, in der man sie aus dem Hause der Schande befreit hatte, und sie war bis dahin geneigt gewesen, diese Erlösung mit dem Feste der Christenheit in eine mystische und unklare Verbindung zu bringen – ganz ähnlich, wie damals Käthe es mit der Person Julius Mohrmann gemacht hatte; aber nun grübelte Magdalena sich allmählich in jene Erkenntnis hinein, die unsere Gegenwart beherrscht und ihr den Charakter einer erschlaffenden Volkskrankheit aufprägt.

Es gibt keine Erlösung, sondern es gibt nur einen Fluch, und Magdalena trug diesen Fluch unter ihrem Herzen; nur wenige Monate, dann sollte er geboren werden. – –

Alle jenen Szenen wilder Sinnlichkeit, die das Haus der Madam Zech gesehen hatte, alle Verhöhnungen von Gesundheit und Natur traten wieder in die Erinnerung dieser angehenden Mutter, und sie nahmen die Gestalt einer Medusa und das Gesicht einer Gorgo an, denn es fehlte der Rausch, mit dem man damals die Gespenster gebannt hatte.

Das Kind wird Gebrechen haben, denn die Natur rächt sich. Es wird blind oder taub oder ein Troddel sein, denn die Pandorabüchse ist größer als das Füllhorn der Gnade, von dem man in den Kirchen predigt; und wenn es wirklich wie ein Engel aus Gottes Hand zur Welt kommt: wartet nur, bis seine schlimmen Instinkte aufwachen! – – – – – – – – – –

An einem trüben nebelreichen Wintertage kam Magdalena wieder einmal in die Gegend der Friedrichsstadt. Sie arbeitete immer noch für einige Stickereigeschäfte, obwohl Julius den Wunsch aussprach, daß sie sich allmählich mit der Kindergarderobe befassen sollte.

»So'n Wurm braucht nicht viel,« war dann ihre Antwort. –

Jetzt ging sie die Linden entlang. Ungeachtet des unfreundlichen Wetters war um diese Promenadenzeit viel Leben auf der Straße, und das rann alles so wirr durcheinander, daß Magdalena an ihrer eigenen Mutter hätte vorüberstreifen können, ohne sie zu erkennen. Aber plötzlich blieb sie wie gebannt stehen.

Da kam ihr jemand entgegen, eine weibliche Gestalt, noch jung und geschmeidig, dunkel gekleidet, und mit einem fast undurchsichtigen Schleier gegen den Nebel geschützt.

Ein schwarzer Panther. –

Unter Tausenden hätte Magdalena dieses Weib herausgefunden, und es fiel ihr plötzlich Käthes Wort ein: »Wenn du der begegnest, dann ist es besser, auf die andere Seite der Straße gehen.«

Aber die Autodroschken sausten in endloser Reihe den Fahrdamm entlang, es wäre Selbstmord gewesen, in dieses Chaos hineinzulaufen; und Magdalene stellte sich vor das erste beste Schaufenster um die Auslagen zu betrachten.

Es war das Bureau der Hamburg-Amerika-Linie, und sie starrte gedankenlos auf die große Reliefkarte mit den kleinen Schiffsmodellen, die jeden Tag ihren Platz verändern.

Nach einer Weile wurde sie inne, daß die dunkle Frauengestalt neben ihr stand, und eine wohlbekannte Stimme sagte:

»Nicht wahr, Lene, die Welt ist groß; aber sie ist noch lange nicht groß genug – man muß doch immer wieder zusammentreffen.«

Es war die »keusche Anna,« und als sie nun mit der schlanken Hand den Schleier zurückschlug, da sah Magdalena, daß ihre frühere Genossin sich auch im Gesicht nicht verändert hatte.

Dieselben feinen blassen Züge, dasselbe dunkle rätselvolle Auge, derselbe fromme madonnenartige Zug um den roten Mund. –

»Ich will nichts mit dir zu tun haben,« sagte Magdalena.

»Süßes, wie hübsch dir das steht: ›Ich will nichts mit dir zu tun haben‹! Warum bist du denn so böse auf mich?«

»Ich bin jetzt eine anständige Frau, Anna –«

»Denkst du, Lenchen, ich nicht? Komm, wir wollen uns unterfassen und die Linden entlang bummeln. Wenn uns auch nur ein Einziger anredet, dann will ich meine Jungfernschaft für ein Linsengericht verkaufen.«

»Ja – jetzt am Tage!«

»O nein, auch um Mitternacht in der Friedrichstraße. Man muß nur zu heucheln verstehn, dann gibt sich das Alles ganz von selbst – aber freilich, bei Madam Zech, da half auch die Verstellung nichts, da mußten wir eben rann.«

Sie gingen wirklich schon nebeneinander, denn so war es immer gewesen, seitdem die beiden sich kannten: Dieses Weib mit den dämonischen Augen wurde von Magdalena eben so sehr gefürchtet wie gehaßt, und dennoch spielte sie die Rolle der Klapperschlange, die das Vögelchen endlich an sich lockt und umgarnt. –

»Nur ein paar Schritt,« sagte Magdalena – »ich muß wirklich nach Hause.«

»Natürlich – zu deinem Mann. Wie das wunderlich klingt, Lene – sonst sprachen wir immer nur von unserm ›Kerl‹. Ist er denn wirklich so heilig, wie die Leute erzählen, oder hast du auch schon das Vieh in ihm entdeckt?«

»Er ist viel zu fromm für mich, Anna.«

»O, das klingt ganz schlimm; dann hast du also ein zweibeiniges Gewissen im Bett; einen von denen, die jeden Abend beten, bevor sie über die Frau herfallen. Und nun hat er es mit Gottes Hilfe soweit gebracht.« Ihre kundigen und unheiligen Augen glitten an Magdalenas Gestalt nieder, und dann fuhr sie schmeichelnd fort:

»Das mußt du mir alles erzählen, Lenchen. Ich wohne ganz in der Nähe, ein Stückchen über die Kurfürstenbrücke hinaus, und du kannst gerne mitkommen, denn dein Heiligtum streicht jetzt doch durch die Gassen. Weißt du, wie die Mädchen ihn nennen?«

»Nein.«

»Den » Self made man.« Famos, was? Diese Berliner Schneppen haben Witz.«

»Also mit solchen hast du zu tun?« sagte Magdalena, die bei all' ihrem Abscheu eine gewisse Neugier nicht unterdrücken konnte.

»Natürlich, Kleine, mit denen am meisten. Das Geschäft in der Friedrichstraße ist naßkalt, und wenn sie den Rheumatismus im Leibe haben, dann kommen sie zu mir. Ich massiere alles weg.«

»Das hat mir Käthe schon erzählt.«

»Ach ja, die gute Käthe! Du weißt vielleicht, wie sie mit Madam auseinanderkam: als die Keilerei losging, stellte ich mich in die Nähe und hoffte auch auf ein paar Hiebe. Aber ich sage dir: nicht in die la main

»Bist du wirklich so veranlagt?« fragte Magdalena, die endlich einmal Klarheit haben wollte, und die »keusche Anna« lachte leise vor sich hin.

»Freilich, Schatz, ich kann nichts dafür. Aber du hast nichts zu fürchten, du kannst mir nicht helfen; vielleicht eher umgekehrt.«

Es war keine Zeit mehr, auf diese dunkle Andeutung einzugehen, denn sie standen schon vor dem alten düstern Hause, in dem Anna ihr Wesen trieb. Es lag hinter einer ebenso alten Kirche, die von Bäumen umgeben war, und Anna sagte mit einer Bewegung ihrer schlanken Hand: »Diese Nachbarschaft ist besser, als ein Polizeibureau. Du glaubst gar nicht, was das für einen heiligen Geruch gibt.«

Ihre Einrichtung war fast elegant zu nennen, und sie erläuterte es mit der Bemerkung, daß auch feine Damen zu ihr kämen.

»Es gibt so unendlich viel Gelegenheit zum Rheumatismus,« sagte sie zynisch. »Und nun leg' mal deinen Umstandsmantel ab, Kleines, daß ich dich betrachten kann. Heiliger Nepomuk, das ist aber höchster Frachtwagen, wenn noch was geschehen soll; sonst haben wir eine neue Auflage von der ›frommen Magdalene‹, und das würde Dir wohl selbst ungelegen kommen.«

Sie waren in den verschwiegenen vier Wänden, und das verbrecherische Weib hatte die letzte Maske abgeworfen.

Magdalena aber saß da, die Hände im Schoße zusammengekrampft, und ein Schauer nach dem anderen rann ihr über den Leib.

Nein, sie konnte nicht anders, sie mußte in diesen Born der Verworfenheit ihr Leid ausschütten – ihre Angst vor der Zukunft, ihren Glauben an den Fluch.

Und Anna nickte immer dazu mit dem Kopfe.

»Ich habs dir ja angesehen, als du die Linden entlang geschlichen kamst; deine Not ist viel größer als bei den anderen, die sich doch auch in meine Hände begeben. Was will denn das sagen, kein Geld für das Wurm zu haben, oder das bischen Schande zu leiden? So was gibt sich mit der Zeit, und bisweilen rede ich ihnen gut zu. Aber du hast einen Mann und du hast Geld und du mußt das Unglück großziehen. Ein Junge, sagst du? Dann wird er die Weiber notzüchtigen und im Zuchthaus enden. Was aus dem Mädel wird, das weißt du selbst. Es ist nicht schön was ich treibe, und wenn man mich mal beim Wickel kriegt, dann muß ich selbst in's Kittchen wandern. Aber wenn die Weiber bei mir an die verschlossene Tür kommen, dann gehen sie eben ein Haus weiter. Glaubst du, ich wäre es allein? Das wimmelt nur so in Berlin. Wenn alle Kinder, die unterwegs sind, geboren würden, dann könnte man ein Königreich damit gründen, aber König möchte ich nicht sein. Es gibt keine Gerechtigkeit in der Welt, sonst müßte man unsereins dekorieren – meinetwegen mit dem Erlöserorden.«

Es war entsetzlich, dieses Weib anzuhören, und Magdalena empfand auch etwas wie Grauen, aber es war alles in ihr unklar.

Sie hatte in letzter Zeit viel gelesen, auch Geschichte, und da war von einem starken gesunden Volke die Rede gewesen. Spartaner nannte es sich und die Gelehrten berichteten, daß man dort alle krank und schwach zur Welt geborenen Kinder in einem wilden Gebirge ausgesetzt habe – den Wölfen und den Geiern zur Beute.

Das war freilich lange her, und jene Leute lebten in der Blindheit des Heidentums, aber es wollte Magdalena bedünken, daß die Heiden gar nicht so dumm gewesen sind und auch gar nicht so grausam; denn ein einziger Wolf tötet mit einem Biß, aber die christliche Menschheit hetzt langsam zu Tode.

Und Magdalena sah mit einem hilflosen Blick auf ihre frühere Gefährtin. –

Die hatte jetzt ihre Stimme zu einer leichten Trauer herabgedämpft:

»Ich nehme Geld dafür, Kind, daß du es nur weißt. Wir wollen alle leben und der Henker tut es auch nicht umsonst. Aber von dir nehme ich nichts, keinen roten Heller, denn wir haben gemeinsam gelitten, ich vielleicht noch mehr als du. Es ist auch keine große Gefahr dabei, man hilft der Natur ein bischen nach und hinterdrein sagen die Doktors, es sei eine Frühgeburt. Glaubst du etwa, dein Mann wäre damit unzufrieden? Er darf nur nicht wissen, wie und wo, wenn wir nur die Augen dabei zumachen können, dann lügen wir das Blaue vom Himmel herunter.«

Magdalena stand schwerfällig auf. Es flimmerte ihr alles vor den Augen und sie sagte ganz matt:

»Ich will es mir überlegen, Anna, ich kann mich nicht gleich heute dazu entschließen. Vielleicht hast du recht, vielleicht hast du auch unrecht, es ist schrecklich, daß wir nicht in die Zukunft sehen können. Und dann keinen Menschen haben, dem man sich anvertrauen darf!«

»Nein,« entgegnete das Weib, »keine Menschenseele. Vielleicht bin ich sehr unvorsichtig gewesen, denn ich habe von der Sache angefangen, aber ich gebe dir den guten Rat: hüte deine Zunge. An mir ist kein Judaslohn zu verdienen. Wenn du auf die Polizei gehst und den Spitzel machst, so decke ich ganz einfach deine Vergangenheit auf und drehe den Spieß um; das merke dir!«

Weniger freundschaftlich als sie zusammengekommen waren, schieden sie voneinander, und Magdalena kehrte mit einem neuen Stachel in der Seele heim.

Sie fühlte wohl, sie würde nie tun, was man ihr angeraten hatte, aber es war keine sittliche Scheu, die sie davon abhielt, sondern eine körperliche Feigheit und die Furcht vor der Entdeckung. Hätte einer zu ihr gesagt: »Gib mir deine Seele und du sollst deiner Leibesfrucht ledig sein –«, sie hätte ihre Seele ausgeschüttet wie ein unreines Gefäß.

Denn sie fühlte sich nicht rein. – – –

*

Hinter dem Zaune – im buchstäblichen Sinne des Wortes – gebar Magdalena ihr Kind.

Sie war aber nicht von ihrem Manne verstoßen worden, daß sie auf die Straße gehen mußte, sondern es geschah ihr, wie es jeder Bürgersfrau ergehn kann, wenn sie ein wenig unachtsam ist.

Magdalena hatte sich von einem sehr schönen Frühsommertag in den Tiergarten locken lassen, und weil sie bei ihrem körperlichen Zustand nicht gerne unter vielen Menschen war, so ging sie auf einsameren Wegen. Und dort wurde sie so plötzlich und unerwartet von den Wehen überrascht, daß sie sich hinter einen Zaun flüchten mußte.

Man fand sie dort, das lebende Kind im Schoß und brachte die junge Mutter mit einem Krankenwagen in ihre Wohnung; und dann erfuhr sie erst, daß es ein Mädchen sei. – – –

»Ein hübsches, gesundes Mädchen«, sagte die Hebamme, die man herbeigerufen hatte, und setzte nach einer Weile hinzu:

»Das ist doch ein rechtes Glück, Frau Mohrmann, denn auf die Art hätte es auch schief gehn können.«

O ja, bei Kindern, die hinter dem Zaun geboren werden, geht es nicht selten schief, aber daran dachte die Wehemutter natürlich nicht, denn es waren vier Wände vorhanden, und es war ein Vater zur Stelle.

Der sich in seiner Weise auch freute.

Julius Mohrmann ist niemals ein richtiger Kinderfreund gewesen, nicht so wie der, mit dem ihn der Aberglaube verwechselt hatte, und das kam wohl daher, weil er sich immer zu sehr und zu ausschließlich mit der Sünde beschäftigte.

Kleine Kinder haben noch keine Sünde, denn sie besitzen noch keinen Verstand.

Aber Julius tat was er konnte.

Er kochte eigenhändig Wochensuppe, obwohl Magdalena sich so wunderbar kräftig fühlte, daß sie schon am dritten Tage aufstand und ihren Haushalt besorgte.

Ihr Mann geriet darüber fast in Verwirrung.

Denn es war für ihn nicht ein Wort der Natur, sondern es war ein Wort Gottes, daß die Kinder mit Schmerzen geboren werden sollten, und in diesem besonderen Falle hielt er es für eine Gerechtigkeit.

Natürlich sprach er nicht davon, aber seine Natur ging so sehr in theologischen Formeln auf – er hätte vielleicht jetzt ein Examen machen können –, daß ihm in seinen pädagogischen Gesprächen das Wort von der »Erbsünde« auf die Lippen kam.

Selbstverständlich ganz allgemein und ohne besondere Beziehung, aber Magdalena Dolorosa nahm ihren Stab Wehe und schnitt eine neue Kerbe hinein.

Sie war sonst so glücklich, wie man es nur erwarten konnte, die eine große Sorge war ja von ihr genommen worden, sie hatte ein gesundes Kind zur Welt gebracht, und wenn Julius nicht mit seiner Erbsünde so täppisch hineingegriffen hätte, so wäre das andere wohl auch in Vergessenheit geraten.

Nun fing sie wieder an zu grübeln.

Aber doch nicht so tief und nachhaltend wie früher, denn es tauchten andere Sorgen auf, die zwischen den Ehegatten besprochen werden mußten.

Die Taufe. –

»Wir sind zwar nur bürgerlich getraut,« sagte Julius, »aber daran trage ich keine Schuld. Unser Kind soll jedenfalls in den Schoß der Kirche aufgenommen werden, seine Eltern sind auch Christen und vielleicht ebenso gute wie viele andere.«

»Und die Paten?« fragte Magdalena schüchtern. »Willst du wieder die Heilsarmee darum angehn, wie damals?«

Er dachte nach.

»Deine Mutter wäre wohl die Nächste dazu; aber ich weiß nicht, Magdalena –«

»Nein, meine Mutter war auch so eine. Können wir nicht selbst –?«

»Es wird wohl das beste sein. Und dann der Name; ich habe noch keinen auf dem Standesamt angegeben, aber das kann nicht so bleiben. Meine Mutter hieß Maria –«

»Jawohl, und meine Marta, und ich heiße Magdalena – lauter biblische Frauen, die auf Golgatha um das Kreuz herumstanden. Weißt du keinen andern?«

»Eleonore.«

»Nein!«

»Katharina –«

»Nein!!«

Sie schrie es förmlich heraus, so daß er ganz erstaunt aufblickte. Aber er wußte ja nichts von ihren Freundinnen Käthe und Lore, es war der reine Zufall, daß er gerade darauf kam.

Und er sagte:

»Es sind ja anständige Namen, aber wenn du eine Antipathie dagegen hast, so will ich nicht weiter darauf bestehen. Was meinst du denn zu Agnes?«

»Hat das eine Bedeutung?«

»Das Lamm,« sagte er lächelnd, »wenigstens kann man es so übersetzen.«

Und Magdalena senkte den Kopf.

»Ja, Julius; das Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Wir wollen unser Kind so nennen.«

Seitdem saß sie oft an der Wiege der Kleinen und wiederholte den Namen. Aber sie sagte nicht »Agnes«, sondern sie sagte: »Mein Lämmchen, mein armes Lämmchen«.

*

Um eine Dämmerstunde war es, wo die tiefgehende Sonne hinter Wolken stand. Magdalena war mit dem Kinde allein, Julius befand sich in der Stadt bei einer Versammlung.

Magdalena hatte lange mit dem Kinde gespielt und den vergeblichen Versuch gemacht, das süße Gesichtchen zu einem Lächeln zu veranlassen. Sie hatte es ja schon gehört, und es stand wohl auch im Ammon, daß Kinder in diesem zarten Alter überhaupt nicht lächeln, sondern nur den Mund mechanisch verziehen, aber wenn sie das tun, so erkennen sie doch wohl die Mutter.

Und die kleine Agnes wollte ihr den Gefallen nicht erweisen, obwohl sie an der Grenze der »dummen sechs Wochen« stand.

Da klopfte es leise an die Tür.

Die Wohnung hatte kein Entree, man konnte unbemerkt bis an die Stube gelangen, aber wer sollte das denn sein, sie lebten ja so einsam, so ganz unendlich einsam!

Magdalena rief »Herein!«

Eine dunkle, elegant gekleidete weibliche Gestalt mit tiefverschleiertem Gesicht erschien auf der Schwelle.

Anna –?

Nein, es war nicht der schwarze Panther, sondern eine andere, von deren Gegenwart Magdalena auf ewig befreit zu sein hoffte, denn der Glaube an die Hölle war ihr im Laufe des Lebens allmählich abhanden gekommen, und auf den Himmel hatte Madam Zech in ihren Augen nur sehr geringe Ansprüche. –

Die ehemalige Bordellbesitzerin rauschte majestätisch in das Zimmer und schlug unterwegs ihren Schleier zurück. Sie war noch immer eine recht ansehnliche Frau, die es mit mancher Jüngeren aufnehmen konnte, und da es ihr jetzt nicht mehr an der Nachtruhe fehlte, so waren auch die dunkeln Ränder unter den Augen verschwunden. An ihrer wohlgepflegten Hand, die sie Magdalena etwas überhastet entgegenstreckte, blitzte nur ein einfacher schmaler Goldreif, während sie sich sonst mit Brillantringen überladen hatte – kurzum: Frau Therese Zech hatte sich vollkommen gehäutet und war aus einer unzweifelhaften Kupplerin eine etwas zweifelhafte Dame geworden.

»Mein liebes Kind,« sagte sie mit leicht bewegter Stimme – »wie sehr freue ich mich, Sie als junge blühende Mutter begrüßen zu dürfen. Es hat mich wirklich Mühe gekostet, Ihre Wohnung ausfindig zu machen – – –«

Der Satz blieb unvollendet. Magdalena hatte sich erhoben und war wie schützend vor das Bett des Kindes getreten; ihre großen Augen funkelten vor Erregung, und sie brachte nur mühsam die Worte heraus:

»Warum haben Sie sich die Mühe gegeben, Madam Zech?!«

»Bitte, Frau Heller, wenn es Ihnen recht ist. Ich wollte gerade den Grund angeben, aber Sie unterbrechen mich ja so unfreundlich.«

Magdalena fühlte, daß ihre Füße sie nicht mehr trugen. Sie setzte sich auf einen Stuhl, und der Besuch entnahm daraus die Aufforderung, dasselbe zu tun.

Ein paar Sekunden lang sahen die beiden Frauen einander stumm an.

»Also der Grund, meine Liebe. Ich will ganz gewiß nicht von der Vergangenheit mit Ihnen reden, das wäre ebenso töricht, wie geschmacklos. Aber die Gegenwart hat auch ihre Rechte. Sie sind auf legitime Weise Mutter geworden und werden den Wunsch hegen, Ihr Kind taufen zu lassen; ich bin aus ebenso gesetzlichem Wege in die Ehe getreten und biete mich zum Paten für Ihr Kind an. Das ist eine höchst einfache Sache, die zwischen zwei Frauen in freundschaftlicher Weise besprochen werden kann.«

»Sie sind ja katholisch,« sagte Magdalena höhnisch.

»Das ist ein Irrtum, Lenchen. Ich habe den Glauben meines Mannes angenommen.«

»Glaubt der auch etwas, Frau Heller?«

»Ich weiß nicht,« sagte die Frau gelassen. »Jedenfalls stehen wir uns mit der Kirche nicht schlecht, denn wir haben für alle Wohlfahrtseinrichtungen eine offene Hand. Das Geld riecht nicht, liebes Kind –«.

»Nein, es stinkt nur bisweilen. Aber ich verstehe den Zusammenhang. Man will nicht nur der Kirche alle Ehren erweisen, sondern man will auch die Ehren der Kirche einheimsen. Und es ist ja wohl eine Ehre, so'n armes unschuldiges Wurm über die Taufe zu halten.«

Die Klangfarbe dieser Worte konnte kaum verächtlicher sein, aber Madam Zech war dergleichen gewohnt. Sie hatte sich ihrer Zeit Saumensch und Hurenaas schimpfen lassen, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, und diese schöne Selbstbeherrschung wirkte noch in ihr nach.

Sie konnte jetzt sogar lächeln.

»Liebes Lenchen, wir wollen uns doch keine Fisematenten vormachen. Sie haben ja ganz recht, es ist mir wirklich viel daran gelegen, bei jeder Gelegenheit meine Reputation nachzuweisen, die Welt ist nun mal so wunderlich, daß sie die Leute erst unanständig macht und ihnen dann das anständige Leben erschwert. Übrigens komme ich nicht mit leeren Händen. Wenn ich wirklich ein wenig Schuld an Ihrer Vergangenheit tragen sollte, so will ich das an Ihrem Kinde wettmachen – Patengeschenke können unter Umständen so reichlich ausfallen – – –«

»Daß man die Geberin darüber vergißt,« unterbrach Magdalena diese großmütige Beichte. »Leider habe ich aber ein sehr gutes Gedächtnis, Madam Zech, und wenn ich Ihren Namen jemals vergessen sollte, so kann man mich getrost in eine Anstalt sperren. Und nun will ich Ihnen etwas sagen: es klingt schrecklich, aber es ist Wahrheit. Da liegt mein Kind, und die Leute sagen, es wäre ein gesundes Mädchen, obwohl seine Mutter eine Hure war. Aber ehe Sie mit Ihren unsauberen Händen dieses Kind berühren, lieber will ich es auf dem Schragen sehn und mit meinen Nägeln in die Erde einscharren!«

Sie konnte nicht mehr, sie fühlte, daß eine Art Betäubung über sie kam. Und in diesem schrecklichen Zustand, der ihre Hände und Füße lähmte, sah sie, daß Frau Heller sich erhob und an die Wiege trat. Und sie hörte undeutlich, aber doch vernehmbar das Weib sagen:

»Es ist wirklich ein schönes Kind, Magdalena, aber es hat einen sonderbaren Blick. Ich bin glücklich, daß mein Leib unfruchtbar ist, man soll mit der Natur nicht seinen Spott treiben.« – – – –

»Es hat einen sonderbaren Blick.« – – –

Wir kennen alle jenes Märchen vom Dornröschen: sechs gute Feen sprachen über der Wiege einen Segen, aber die siebente, die ungeladene, sprach einen Fluch.

Magdalena war nicht mehr kindlich genug, um an Märchen zu glauben, aber sie glaubte desto mehr an das Leben, denn das hatte sie kennen gelernt.

Sie begann ihre kleine Agnes zu beobachten.

Das Kind war jetzt aus den »dummen sechs Wochen« heraus und sollte nun wirklich nach der Meinung aller erfahrenen Mütter lächeln, aber es blieb ernst.

So fürchterlich ernst, daß Magdalena ihren Mann darauf aufmerksam machte, aber Julius entgegnete nur:

»Das Lachen der Sterblichen endet in Tränen; es ist besser, wenn sie nicht lachen.«

Eines Tags, als er wieder in einer Versammlung war – denn das nahm allmählich überhand bei ihm –, rief Magdalena einen jungen Arzt herein, der in der Nachbarschaft wohnte und sich gerade im Hause aufhielt.

Sie zeigte ihm das Kind und sprach in halben dunkeln Worten von diesem »sonderbaren Blick« und sie hing mit ihren Augen an seinen Augen.

Als er die Kleine untersucht hatte, sah er an der Mutter vorüber.

»Ihr Töchterchen ist körperlich gesund, Frau Mohrmann. Mehr kann kein Mensch sagen.«

Nun quälte sie sich noch mehr, denn diese Antwort wollte ihr durchaus nicht genügen. Aber es war ihr nicht möglich, mit Julius davon zu reden, er legte ja doch nur seinen himmlischen Maßstab an alle irdischen Dinge, und dieser Mangel an Verständnis trennte die Gatten immer weiter voneinander.

Einige Wochen später trat dann plötzlich die Katastrophe ein. Sie hatten endlich den Tag der Taufe festgesetzt und alle Vorbereitungen dazu getroffen, aber am Vorabend der Feier bekam das Kind plötzlich einen heftigen Anfall von Krämpfen.

Dieser unheimliche Gast war für Julius vollkommen unerwartet, Magdalena aber hatte schon so etwas geahnt und lief sofort zu dem Doktor, der augenblicklich mitkam und in seiner wortkargen Weise auf dem ganzen Wege keine einzige Frage stellte.

Als sie die Wohnung betraten, war die kleine Agnes schon tot. Julius aber saß an der Wiege, hatte eine Schüssel voll Wasser neben sich, und sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt.

Der junge Arzt nickte vor sich hin.

»Es war ein Glück,« sagte er, »daß es so gekommen ist. Auch Ihre kalten Umschläge konnten den Tod nicht abwenden, Herr Mohrmann, aber Sie haben wenigstens getan, was man bei solchen Anlässen anzuwenden pflegt.«

Da schaute Julius mit großen Augen auf.

»Kalte Umschläge, Herr Doktor? Ich habe das Kind getauft – das ist alles.«

Der Arzt erwiderte kein Wort, sondern wendete sich zum Gehen, und Magdalena, die wunderbar gefaßt erschien, begleitete ihn auf den Flur.

Dort legte sie die Hand auf seinen Arm.

»Ich muß etwas wissen, Herr Doktor. War das Kind geisteskrank?«

»Es hatte die Anlage dazu, Frau Mohrmann.«

»So – also die Anlage. Und wenn ich noch mehr Kinder bekomme?«

Er sah sie mitleidig an, zuckte die Schultern und reichte ihr die Hand.

»Wir Ärzte wissen ja nichts, liebe Frau Mohrmann. Suchen Sie in sich selbst und in Ihrer Vergangenheit – das ist die einzige Antwort, die ich Ihnen geben kann.«

Sie wollte auch nicht mehr als diese Antwort. Ihr ganzes zukünftiges Leben lag für sie jetzt so klar aufgedeckt, als ob es plötzlich mit Röntgenstrahlen durchleuchtet wäre.

Denn damals dachte sie noch an das Leben.

Der Tod, dessen Hand ein Stück von ihr genommen hatte, war im Vergleich zu dieser Erkenntnis so geringfügig, daß sie dieselbe Fassung aus sich selbst heraus schöpfte, wie Julius sie vielleicht nur zur Schau trug. Denn obwohl er sich weniger um das Kind gegrämt hatte als Magdalena, und obschon er durch eine symbolische Handlung für die Seele dieses Kindes gesorgt zu haben wähnte, so war ihm der Gedanke an eine kinderlose Ehe doch schrecklich, und wer konnte wissen, ob ihm zum zweitenmal die heilige Vaterschaft beschert sein würde?

Seitdem die kleine Agnes auf dem Friedhof lag, kamen die Gatten einander scheinbar näher. Oberflächliche Beobachter hätten an jenen natürlichen Vorgang denken können, der sich tausendfach im Leben wiederholt: eine junge Frau hat ihr Kind verloren und sie sieht in dem Manne die einzige Möglichkeit, diesen Verlust wettzumachen.

Aber in Magdalena war nicht nur das Muttergefühl erloschen, sondern es machte einem tiefen Grausen Platz, und eine Vestalin hätte das Feuer der Gottheit nicht sorgfältiger bewachen können, als Magdalena ihren Schoß hütete.

Sie lehnte sich geistig an ihren Gatten. Oder sie machte vielmehr den Versuch dazu, denn jene mystische und fanatische Frömmigkeit, die das Leben Mohrmanns ausfüllte, war im Grunde genommen ihrer Natur fremd; sie bildete keine Ausnahme von der Mehrzahl aller Frauen, deren Glaubensleben nur in einer Nachahmung hergebrachter Formen beruht.

Dennoch kam sie allmählich zu der Überzeugung, daß das Leben ihres Gatten von einer übermenschlichen Macht getragen würde, denn die Hefe der Weltstadt, die das Milieu seiner Tätigkeit bildete, lohnte ihn mit neunundneunzig Prozent Undank, ohne daß er dadurch auch nur eine Sekunde lang in seiner Mission irre geworden wäre.

Und eines Tages fragte sie ihn geradezu, ob er das alles nur in der Hoffnung auf eine ewige Seligkeit täte.

Seine Antwort war sehr seltsam und überraschend.

»Ich habe viel über die Lohntheorie des Christentums nachgegrübelt,« sagte er, »und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß sie einen Tiefstand unseres moralischen Denkens bedeutet. Wir sollen das Gute einfach deshalb tun, weil es gut ist, und nicht auf ein Entgelt hoffen, das im besten Falle über unsere Vorstellung hinausgeht und für den denkenden Menschen einen unheimlichen Hintergrund hat.«

Dann senkte er die Stimme und sah starr vor sich nieder.

»Wir leben in dieser Hoffnung und sind so sehr ihre Sklaven geworden, daß ich selbst unserem sterbenden Kinde die Nottaufe erteilte, um ihm damit eine Brücke in den Himmel zu bauen. Aber ich frage dich, Magdalena, kannst du dir diesen Himmel der Christen, oder kannst du dir mit anderen Worten die Ewigkeit ausmalen, ohne jene geistige Lähmung zu empfinden, die uns bei dem Anblick des Sternenzeltes überschauert?«

»Ich habe es noch nicht versucht,« sagte Magdalena.

»Du hast es, aber es bleibt bei dem Versuch. Wir leben unter der Herrschaft des Endenden, auch das Blatt und die Frucht, die im Frühling wiederkehren, sind neu. Auch unsere Erde wird einmal erstarren, wie der Mond erstarrt ist, und aus dem Fluidum des Äthers werden sich neue Welten bilden. Der Wechsel kann ewig sein, ein Nichts wird es im Weltall niemals geben, aber die christliche Religion lehrt uns, daß das Individuum ewig sein soll. Mir graut davor.«

»Und was hoffst du, Julius?«

Er hatte sich neuerdings einen Globus angeschafft, denn er wanderte viel mit seinen Gedanken. Und er nahm eine Stecknadel und steckte sie mitten auf den großen Ball.

»Ich will zu dir im Bilde sprechen, Magdalena, und du sollst die erste sein, die alles, was in mir wühlt, mit mir teilt. Denke dir, daß auf unserer Erde immer nur ein Mensch zur Zeit lebte, und daß nach dem Tode dieses einen Menschen ein neuer Mensch entsteht.«

Er zog bei diesen Worten die Nadel auf eine Sekunde heraus und pflanzte sie wieder auf ihren Platz.

»Siehe, so. – Und nun denke dir weiter, du wärst dieser sterbende Mensch und wüßtest, daß nach dir ein anderer kommt; würdest du das einen Tod nennen?«

»Soll der neue Mensch eine Erinnerung haben?« fragte Magdalena, und Julius entgegnete:

»Hattest du eine Erinnerung nach deiner Geburt? Und dennoch wirst du der neue Mensch mit dem Ichgefühl, und es ist vollständig gleichgültig, ob neben dir noch Millionen andere leben. Ich wählte das Beispiel mit dem einen nur deshalb, weil es meine Idee deutlicher veranschaulicht, dazu sind Beispiele gut.«

»Wenn das dein Glaube ist,« sagte Magdalena, »kannst du ihn in einen Satz fassen?«

»Ja. Es gibt nur einen Tod, wenn alles tot ist.« –

Dieses Gespräch fand zu einer Zeit statt, wo die Natur ihr Sterben begann. Und es übte auf Magdalena eine ungeheuer tiefe Wirkung aus. Sie hatte nicht alles verstanden, was Julius ihr sagte, es war vielleicht überhaupt einem Dritten nicht klarzumachen, aber sie fühlte wenigstens, daß es nicht gleichbedeutend sei mit der Seelenwanderung, von der sie auch kürzlich gelesen hatte, und die sie mit Schrecken erfüllte.

Aber etwas anderes wachte in ihr auf.

Es gab also keinen Schrecken vor dem Tode, denn wir werden wieder neu, und es gab vor allen Dingen keine Verantwortung nach dem Tode, denn der neue Mensch trägt nicht die Schuld des alten. –

Magdalena näherte sich immer mehr dem großen Geheimnis. – – –

Aber sie sollte noch durch ein letztes Leid gehen. –

Es gibt Fälle im Eheleben, wo das bestimmte und klare Wort des Arztes die Gatten zwar nicht der Form nach, aber doch tatsächlich voneinander trennt, und wenn der Mann nicht eine Bestie ist, so fügt er sich stumm in die Notwendigkeit.

Aber Magdalena war eine gesunde und blühende Frau und sie verweigerte sich dennoch ihrem Manne.

Julius aber begriff nicht den Grund, und er empfand diese Weigerung um so härter, weil seine Seele sich der Seele Magdalenas genähert hatte.

Denn der Geist hat einen ebenso großen Anteil an dem Geschlechtsleben wie der Leib, und wenn er die Oberhand gewinnt, dann verwandelt sich die Leidenschaft in die Liebe.

Er litt.

Und es war für die Frau um so schwerer, dieses Leiden anzusehen, weil sie ganz genau wußte, daß Julius von ihrem Grausen vor einer neuen Schwangerschaft keine Ahnung hatte; dennoch aber vermochte sie nicht ein Wort darüber zu reden, denn sie hätte abermals ihre ganze Vergangenheit aufrollen müssen, und wenn er auch das meiste daraus kannte, so wäre es doch der Exhumierung einer halbverwesten Leiche gleichgekommen.

Mitunter dachte Magdalena an eine Trennung. Ihre Mutter in Hamburg kränkelte und schrieb lamentable Briefe über Alter und Einsamkeit. Sie war ja noch gar nicht so alt, aber die Jahre im Dienste des Schnapsteufels zählen doppelt und mit der Einsamkeit mochte es schon seine Richtigkeit haben.

Wenn Magdalena auf ein paar Wochen zur Pflege hinfuhr, dann war wenigstens der Anfang zu einem Auseinandergehen gemacht, und das übrige fand sich wohl von selbst. –

Aber was sollte dann aus Julius werden?

Die Leute nannten ihn schon jetzt nicht mehr den Propheten, sondern einen verrückten Kerl, und die mystische Anlage seines unklaren Geistes ließ allerdings befürchten, daß er ohne verständige Leitung allmählich immer tiefer hinabglitt.

Zum mindesten sah Magdalena ihn schon in der Uniform eines Leutnants der Heilsarmee, und diese Vorstellung war für sie der Inbegriff des Lächerlichen und des Grotesken. –

Inzwischen kam ein Tag heran, von dem Magdalena schon lange vorher gesprochen hatte. Als die grübelnde Marie Mohrmann ihrem einzigen Sohne das Leben gab, hatte sie sich jene unendlich trübe Zeit ausgesucht, wo die letzten Blätter des Herbstes schon von den ersten Winterflocken umweht werden, aber Julius setzte seinen Stolz hinein, gerade am 31. Oktober geboren zu sein.

»Wegen der Trutztat Luthers am Kirchenportal zu Wittenberg,« sagte er. –

Im verflossenen Jahre war dieser Tag von den Ehegatten nur in den vier Wänden begangen worden, aber sie bargen nun schon Erinnerungen an ein Leid, und Magdalena drängte daher zu einem Ausflug in die Umgegend von Berlin.

Julius war merkwürdig bereitwillig. Er hatte sonst wenig Sinn für Naturschönheit, und die düsteren Winkel des Scheunenviertels dünkten ihm anziehender als der märkische Wald, aber die junge Frau sah in der letzten Zeit so blaß und angegriffen aus; es war doch wohl geboten, ihr eine kleine Zerstreuung zu verschaffen. Sie fuhren mit der Bahn nach Wannsee. Das Wetter war für diese späte Jahreszeit ausnehmend schön, und als sie sich im Kaiserpavillon ein wenig erfrischt hatten, machten sie einen Spaziergang längs des Wassers, das noch von Segel- und Ruderbooten freundlich belebt wurde.

Magdalena war noch niemals in dieser Gegend gewesen und sie freute sich über den Anblick der reizenden Villen, die das Ufer des Sees umsäumen und bis an die Lisiere des dunkeln Kiefernwaldes verstreut liegen.

»Wer doch hier wohnen könnte!« sagte sie.

»Das wird uns niemals zuteil werden,« entgegnete Julius. »Du darfst nicht vergessen, Magdalena, daß dein Leben an meiner Seite durch Arbeit und Nacht geht.

Ich verurteile den Reichtum nicht, denn man kann viel Gutes damit stiften, aber ich glaube kaum, daß alle diese Villenbesitzer ihr Vermögen auf ehrliche Weise erworben haben, und darum beneide ich sie auch nicht.«

»Es geht ihnen doch gut, Julius.«

»Es wird ihnen einmal schlecht gehen.«

»Glaubst du wirklich? Sie sterben schließlich in ihrem Bett wie die Guten, und ich habe nicht vergessen, was du mir von dem Tode und von dem neuen Leben gesagt hast.«

Sie standen an dem Gartengitter eines etwas zurückliegenden Hauses, und während Julius finster brütend vor sich hinsah, lugte Magdalena durch das gelichtete Gebüsch nach einer offenen Veranda, die von den Strahlen der Spätherbstsonne überflutet wurde.

Dort saß ein Ehepaar am Kaffeetisch; der Hausherr las die Zeitung, seine Gattin war mit einer Handarbeit beschäftigt, zu ihren Füßen lag eine silbergraue Dogge – das Ganze bot ein Bild des Friedens, wie es schöner nicht gedacht werden kann.

Und plötzlich krampfte Magdalena die Finger in den Arm ihres Mannes.

»Julius, die beiden da! Geht es denen schlecht? Wird es ihnen schlecht gehen –?!«

Nun sah auch er hin, und seine scharfen Augen erkannten die immer noch schönen aber aufgedunsenen Züge seines Jugendgenossen Franz Heller. Auch das Weib erkannte er wieder und er hatte wohl schon längst gewußt, daß sie in Berlin lebten.

Aber es war bis heute noch kein Wort davon über seine Lippen gekommen.

Und auch jetzt sagte er nur vier Worte:

»Sie haben keine Kinder.« – – – –

»Die Glücklichen!«

So leise, wie neben ihnen ein letztes Blatt vom Baum fiel, so leise kam es über Magdalenas Lippen, und Julius hörte nichts davon.

Er wendete sich ab:

»Komm'.«

Als der Abendwind aufschauerte, waren sie wieder im Restaurant Kaiserpavillon und hatten noch ein paar Stunden vor sich bis zur Heimfahrt.

Magdalena klagte über Frösteln.

»Es ist nichts,« sagte sie hastig, »ich habe mich nicht erkältet, ich bin so gesund, daß ich hundert Jahre alt werden kann. Aber laß uns eine Flasche Wein trinken – roten alten Burgunder, wenn es dir recht ist, wir feiern ja deinen Geburtstag.«

Er sah sie prüfend von der Seite an. Das war die Tochter von Max Heller, der auch so gerne Burgunder getrunken hatte – am Sedanfest und an anderen Tagen. Es war das Erbteil des Blutes. Aber er widersprach nicht, sondern ließ den Wein kommen. Vielleicht war es eine dunkle Ahnung, daß nur das Feuer der Rebe in diesem blassen Weibe eine andere Flamme auslösen konnte –, vielleicht streiften ihn auch jene Tage der Hochschule, wo er einer der Tollsten gewesen war.

Er begann mit seiner polternden Stimme zu phantasieren: von Luther, der vor nun bald vierhundert Jahren die erlösende Tat vollendet hatte, und von der Notwendigkeit eines neuen Propheten – – –.

»Denn die Welt ist alt und morsch geworden,« sagte er; »mitten heraus aus dem Volke muß der Befreier erstehen – wenn er nicht schon geboren ist, dann höre ich doch schon das Rauschen seiner Füße!«

Es war spät, als sie heimkehrten.

Und in dieser Nacht gab Magdalena sich ihrem Manne hin. – – – – –

*

Als sie sich am folgenden Morgen erhob, waren ihre Glieder wie zerschlagen.

Das Muttergefühl lebte wieder in ihr und es hatte ein Gorgogesicht; es hatte einen Januskopf, der in die Vergangenheit und in die Zukunft sieht.

Ihr Entschluß stand fest. –

Es war ein Brief von Martha Klein aus Hamburg eingetroffen, der war wieder voll von Klagen.

Die Gicht hätte sich eingestellt, und der Doktor meinte, daß so was sich leicht aufs Herz würfe.

»Das arme Herz,« sagte Magdalena zu Julius, »es wirft sich so vieles darauf.«

Diesmal machte er selbst den Vorschlag, daß sie hinreisen sollte, und fügte einige Worte von den gegenseitigen Pflichten zwischen Mutter und Kind hinzu, wie sie ihm gerade auf die Lippen kamen, und Magdalena entgegnete:

»Ja, Julius, wir haben Pflichten; ich werde gehen.«

Als sie dann reisefertig war und ihm die kalten Lippen zum Abschied bot, machte er ein etwas schuldbewußtes Gesicht und sagte stotternd:

»Du, Magdalena – das gestern abend – das hätten wir lieber nicht tun sollen.«

Und sie entgegnete hart:

»Nein, man denkt immer zu spät daran.« – –

Ohne sich noch einmal umzusehen ging sie nach der Tür. Sie wußte auch ganz genau, daß er sich in demselben Augenblick an den Schreibtisch gesetzt hatte, wo noch immer sein unvollendetes Buch über die Berliner Prostitution lag, und sie dachte bei sich:

»Er wird es nie zu Ende bringen, das Thema ist zu groß; die ganze Welt ist voll Prostitution.«

Nach dem Lehrter Bahnhof ging sie aber nicht, sondern sie nahm eine Droschke und ließ sich auf den Friedhof fahren, wo ihre kleine Agnes begraben lag.

Es war ein winziges Grab, und der Wind hatte den einzigen Kranz heruntergeweht; sie legte ihn wieder an seinen Platz und drückte den Nummerpfahl tiefer in das Erdreich; es war eine sehr hohe Zahl, und Magdalena dachte daran, wie groß der Himmel sein müßte, wenn das alles wieder auferstehn sollte.

»Nein,« sagte sie ganz laut, »lieber nicht!«

Und dann fürchtete sie sich vor dem Klang ihrer eigenen Stimme.

Diese Furcht wich aber von ihr, als sie den Platz der Toten verlassen hatte. Das Gewühl der Großstadt nahm sie abermals auf, und sie fuhr jetzt nach dem Potsdamer Bahnhof, genau denselben Weg, den sie gestern mit Julius zurückgelegt hatte.

Der Wetterumschlag zum November war eingetreten. Es regnete zwar nicht, aber der Wind ging feucht und rauh, und die Wolken flogen über den Himmel.

Magdalena fuhr nach Wannsee.

Es sah dort jetzt ganz anders aus, die Villen machten einen trüben Eindruck, vor einigen standen Möbelwagen, die den Hausrat nach der Stadt überführen sollten.

Die Hellersche Villa zeigte keine große Veränderung. Die letzten Blätter waren freilich fort, man sah die Veranda jetzt ganz deutlich, und es befand sich niemand darauf, aber von Umzug war nichts zu merken.

»Diesen Winter muscheln sie sich hier ein,« dachte Magdalena. »Sie haben noch nicht festen Fuß in der Gesellschaft gefaßt, aber im nächsten Jahr, da kommt auch das. Gottes Mühlen mahlen sehr langsam, sie stehen wohl bisweilen still.«

Der See warf Wellen. Zwischen dem Vorgarten der Villa und dem Ufer lief nur ein Fahrweg entlang, und von diesem konnte man auf einen Bootssteg hinaustreten. Es lag auch ein schmuckes Ruderboot an dieser Stelle, die übrigens etwas verschilft war, wie das an dem Rande solcher Gewässer der Fall zu sein pflegt.

Die Dämmerung brach schon herein, und die Gegend war fast ganz einsam. Aber bisweilen zeigte sich doch eine Menschengestalt, und Magdalena begann zu überlegen, denn bis jetzt war ihr Handeln fast traumartig gewesen.

Also sie überlegte: Wenn sie jetzt und an dieser Stelle geradeswegs ins Wasser ging, dann konnte das möglicherweise bemerkt werden, und dann wurde eine jener törichten und grausamen Handlungen in Szene gesetzt, die das gedankenlose Menschengeschlecht als Barmherzigkeit preist.

Man »rettete« sie.

Gerade als ob das freiwillige Sterben eine Kinderlaune wäre, als ob kein Mensch wüßte, daß es verteufelt sauer ankommt, daß es der allerletzte Ausweg ist, und daß man um Gotteswillen reisende Leute nicht aufhalten darf.

Einmal sterben ist wahrhaftig genug, das soll man nicht in Stücke hacken, wie die Fortsetzungen eines Zeitungsromans!

Als Magdalena so überlegt hatte, ging sie nach dem Walde hinauf.

Der hatte das bißchen Dämmerlicht ganz verschluckt und rauschte im Winde und war sehr schauerlich, aber unter seinen Bäumen war es doch geschützt, und dann stand da eine Hütte mit Winterfutter für das Damwild.

Dort kroch Magdalena unter.

Als ob sie selbst ein Stück Wild wäre, gehetzt von den Menschenhunden, so kauerte sie sich in das Heu hinein und ließ eine Stunde nach der andern über sich hingehen.

Sie wußte, daß gegen Mitternacht der Mond kommen sollte, und den wollte sie abwarten.

Mit dem Leben war sie ganz und gar fertig, aber es zog doch noch einmal an ihr vorüber, und sie prüfte alles nach, wie es ineinandergriff.

Ihre Geburt: eine Sünde.

Ihre Kindheit: eine Lüge.

Ihre Mädchenjahre: eine Schande.

Ihre Ehe: ein Wahn.

Und das sollte sich fortsetzen bis in das dritte und vierte Glied? –

Da kam der Mond. – – – – – – – – –

Er jagte die Schatten der sausenden Bäume durcheinander, wie ein Heer von Geistern, und er schien so hastig durch die Wolkenfetzen zu eilen, als ob er den Untergang nicht abwarten könnte.

Da schüttelte Magdalena die Heuhalme von den Kleidern und zog sie aus ihrem dichten Haar – es war eine letzte mechanische Regung der weiblichen Eitelkeit, und sie dachte daran, wie oft sie sich bei Madam Zech ebenso maschinenmäßig geschmückt hatte, wenn es zum Bettfeste ging.

Nun wollte sie ein reineres Bett. –

Ihr letzter Genosse war kein Mensch, sondern ein Tier.

Denn als sie an dem Steg stand, wo die glitzernden Wellen des Sees in das Schilf hineinfuhren, da bellte es von der Villa Heller her, und die große silbergraue Dogge sprang auf Magdalena ein.

Sie dachte erst, daß der Hund sie zerfleischen werde, wie die Menschen es getan hatten, und sie regte kein Glied.

Aber die Bestie schnoperte nur an ihren Kleidern und sie ließ sich streicheln und schließlich verscheuchen; denn Magdalena dachte daran, daß die Hunde vieles von den Menschen erlernen.

Auch das »Retten«.

Dann ging Magdalena Dolorosa bis auf das äußerste Ende des Stegs und wendete ihr Gesicht dem Ufer zu.

Das Letzte, was sie auf dieser Erde sah, war ein wanderndes Licht hinter den Fenstern der Villa, denn man hatte wohl den Hund gehört und wollte ihn hereinrufen; und das Letzte, was sie auf dieser Erde dachte, war der Glaube und die Überzeugung, daß der neue Mensch nichts von dem alten weiß.

Um Mitternacht nahm die Tiefe sie auf. – – – – –

Das ist der Mitternachtsroman. Wer aber das Leben kennt, der weiß, daß dies kein Roman, sondern furchtbare Wahrheit ist. Und ihr mögt eure Augen davor verschließen und eure Ohren dagegen verstopfen, ihr mögt Tempel bauen und der Tugend einen Altar errichten wie die Athener dem unbekannten Gotte; diese Wahrheit wird euer Schatten bleiben und euer Mahner und eure Abscheu.

Bis an das Ende der Welt. – – – – – – –

*


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