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»Ich suche die Missetat der
Väter an den Kindern heim.«
Das Gesetz Mose.
Dr. Heller hatte Sedan gefeiert und war im Aufbruch begriffen. Das lag noch zur Zeit des alten Kaisers, einige Jahre vor dessen Tode, als die Begeisterung und Verehrung der Nation ihren Höhepunkt erreicht hatte, und das Fest war denn auch dementsprechend verlaufen – jetzt aber machten sich die Geister des Weines sehr deutlich bemerkbar, und der Arzt stand von seinem Stuhl auf, als der Kaffee gereicht wurde und die Zigarren zum Vorschein kamen. Ganz sicher fühlte er sich auch nicht mehr auf den Füßen. Er hatte mit seinem Tischnachbarn und Freunde, dem Gymnasialprofessor Mohrmann am Beginn des Festes eine sogenannte »Saufehe« abgeschlossen, und war mit ihm auf zwei Flaschen Sekt und eine Flasche Burgunder gediehen – für zwei trinkfeste Holsteiner wäre das nicht zuviel gewesen, aber der Professor zeigte sich als ein schlechter Partner, und der Doktor mußte daher den Löwenanteil auf sich nehmen.
Übrigens merkte man ihm nicht viel davon an, denn als Arzt wußte er sich zu beherrschen, und mit seinen vierzig Jahren hatte er schon manchen Strauß ausgefochten.
Er ging aus dem Bankettsaal in die Garderobe und trat einen Moment vor den großen Spiegel; die weiße Krawatte saß ein wenig schief und auf dem bauschenden Vorhemd zeigten sich ein paar kleine Rotweinspritzer, aber sonst war alles noch tadellos, von den Lackstieseln bis zum Frack, der die hohe und schlanke Gestalt knapp umschloß.
Man nannte ihn oft den schönen Heller. Sein hageres, scharfgeschnittenes Gesicht hatte einen etwas zynischen Ausdruck, aber die feinen Falten wurden durch den blonden Vollbart verdeckt, der am Kinn spitz zugeschnitten, unter der geraden Nase in zwei langen Spitzen auslief; die Kopfhaare begannen sich bereits stark zu lichten. Die Tochter der alten Garderobenfrau brachte ihm Hut und Überzieher. Das hübsche Mädchen reichte dem stattlichen Manne just bis an die Brust, und Dr. Heller kniff es in der Weinlaune ein bißchen in die Backen – dann gab er zwei Mark Trinkgeld, denn gegen die Weiber war er immer nobel, das wußte man in der ganzen Stadt, und die Weiber erwiesen sich auch dankbar dafür.
Draußen lag eine weiche stille Herbstnacht. Die Festgenossen hatten ziemlich lange bei Tisch gesessen, denn vom Turm der Ägidikirche schlug es gerade neun Uhr und die Straßen der holsteinischen Stadt waren vollkommen menschenleer. – Der Trubel, wie er am Sedanfest zu herrschen pflegt, begann erst viel später, wenn die Kneipen sich leerten und der Alkohol in den Köpfen sein Recht forderte. Aber in dieser feuchten Luft fühlte Dr. Heller nun doch, daß er etwas zuviel getrunken hatte.
Seine Wohnung lag ziemlich weit vom Kasino, draußen in der Nähe des Schloßparkes, und er hatte ungefähr eine Viertelstunde zu gehen; dennoch machte er einen Umweg, obwohl ihn eigentlich niemand daheim mit Spott und Schmollen erwartete, denn seine Frau war nach Hamburg zu Verwandten gefahren; sie tat das am 2. Sept. schon seit einer Reihe von Jahren, und zwar mit der Begründung, daß alle Ehemänner an solchen Festtagen unleidlich wären.
Also das war kein Grund, um die Heimkehr zu verzögern, aber Dr. Heller dachte an etwas anderes. Als er heute nachmittag seine Villa verließ, um zum Essen zu gehn, hatte Martha Klein, die junge Frau seines alten Kutschers, vor der Tür des Gartenhauses gestanden und ihm zugenickt; und als er an ihr vorüberstreifte, da hatte sie ihn gefragt, ob der Jochen – das war nämlich ihr Mann – heute abend wohl in seinen Verein gehen dürfte.
»Es ist ja in der letzten Zeit was besser mit seinem Trinken geworden«, sagte sie dabei.
Der Martha konnte Heller nichts abschlagen. Die Leute munkelten davon, daß er vor seiner Verheiratung – also vor etwa zehn Jahren – mit ihr ein kleines Verhältnis gehabt hätte, und daß Jochen Klein diesem Umstande seine jetzige Kutscherstelle verdanke; jedenfalls stand die jetzt dreißigjährige, kinderlose Frau bei dem Doktor sehr in Gunst, und wenn sie einen Wunsch aussprach, so wurde der fast immer erfüllt.
Sie hatte aber noch niemals Urlaub für ihren Mann erbeten, denn das war ein arger Söffel, und die Frau war es wohl wiederum, die ihn in seiner Stellung hielt. –
Also die Martha war heute abend allein.
Dr. Heller dehnte seinen Umweg immer weiter aus. Er hatte so 'ne Ahnung, als ob ausgerechnet heute am Sedanfest irgend etwas geschehen könnte, vor dem er sich bisher sorgfältig gehütet hatte, denn wenn er sonst auch das Ehewildern nicht gerade für eine Sünde hielt, im eigenen Hause war es doch gemein und obendrein gefährlich.
Endlich sah er bei dem Glimmen der Zigarre auf die Uhr. Es war dreiviertel zehn, also lag Frau Martha wahrscheinlich in den Federn und hatte die Tür ihrer Gartenwohnung zugeschlossen – ein Riegel ist immer das beste Mittel gegen laxe Moral. –
Die Gartenpforte klirrte. Um in seine Villa zu gelangen, mußte Heller den ganzen Garten durchschreiten, und zwar gab es dabei zwei Wege. Der eine führte geradeaus, der andere machte einen Bogen und streifte das einstöckige Gebäude, in dem der Kutscher seine Wohnung hatte – und hol' mich der Teufel, da war noch ein Fenster erleuchtet!
Heller schlug doch den krummen Weg ein; unter seinen Lackstiefeln knirschte der feine Kies, und als er in der Höhe des erhellten Fensters war, öffnete sich neben ihm die Tür.
Der Mond war inzwischen aufgegangen und beschien den ganzen Garten; Martha Klein trat in seinen Lichtkreis und fragte halblaut: »Bist du das, Jochen?«
Der Doktor lachte ebenso leise.
»Nein, Martha, wenn Ihr Alter Urlaub hat, dann kommt er wohl nicht vor morgen früh.«
»Das glaube ich selbst«, entgegnete sie, stehen bleibend, »aber ich hörte die Gartenpforte und wollte doch nachsehen –«.
»Sind Sie deswegen so lange aufgeblieben, Martha?«
Die junge Frau schwieg und nestelte an ihrer Kleidung, und nun sah Heller erst, wie leicht die war: ein rotwollener Unterrock und eine weiße Nachtjacke, die den vollen Busen nur schlecht verhüllte; die schwarzen Haare hingen ihr wirr um das hübsche freche Gesicht, aber dabei machte sie doch keinen lottrigen Eindruck – Dr. Heller wußte von früher, wie sauber sie an Leib und Wäsche zu sein pflegte. »Martha«, sagte er ganz leise – »ich glaube, du hast auf mich gewartet, du schöner Racker!«
»Machen Sie doch keine Dummheiten, Herr Doktor!«
»Eine Dummheit wär's allerdings; aber wozu ist denn Sedan da?«
Sie trat in das Haus zurück und ließ die Tür offen.
»Es könnte ein Unglück geben!«
»Wenn's weiter nichts ist, mein Mädel – das haben wir vor zehn Jahren auch schon verstanden, und man lernt immer mehr hinzu!«
»Mein Alter kann jeden Augenblick kommen!«
Er stand schon im Hausflur und drückte die Tür hinter sich zu; aus der Stube nebenan fiel ein Lichtschein auf beide.
»Ich scher' mich den Teufel um deinen Alten!« sagte der Doktor brutal. Das Blut war ihm in die Schläfen gestiegen, er umfaßte heftig den Leib der Frau und hob ihn an seine Brust empor. Sie konnte sich nicht anders helfen, sie umklammerte mit ihren Armen seinen Nacken und keuchte:
»Max, Max, du bist betrunken – wenn es ein Unglück gibt!« – – – –
Eine Stunde später betrat Dr. Heller seine Villa, zündete im Arbeitszimmer die Lampe an und stellte sich vor den Spiegel.
Donnerwetter, er sah doch ein bißchen anders aus als vorhin in der Garderobe des Kasinos! Die weiße Binde hatte er verloren, das Vorhemd war vollständig zerknittert, im Frack hingen Federn und Fasern von Leinwand – aber das ließ sich alles wieder gut machen. Natürlich – übermorgen, wenn seine Frau aus Hamburg zurückkehrte, waren auch die Spuren im Gesicht verschwunden, aber in dieser Mitternachtsstunde sahen sie häßlich aus – sehr häßlich.
»Mit vierzig Jahren soll man die Dummheiten lassen,« sagte der Doktor ärgerlich, »aber dieses Weib ist der reine Satan, die bringt drei Männer um!«
Er setzte sich in den Lehnsessel und betrachtete seinen Handrücken, über den ein paar rote Streifen hinliefen.
»Gekratzt hat sie mich vor lauter Liebe, es fehlte nicht viel, so hätte sie mich auch noch gebissen! So war das früher nicht, aber freilich, mit dreißig Jahren sind sie am schlimmsten, da brauchen sie einen Blitzableiter, und nicht so'n Trottel von Ehemann.«
Er lachte und steckte die Hände in die Tasche.
»Jochen, Jochen, hoffentlich hab' ich dir kein Kuckucksei ins Nest gelegt, das wäre eine schöne Bescherung, und noch dazu mit dem verfluchten Alkohol im Leibe!«
Dann wurde er plötzlich ernst.
Das Gesinde schlief, es war im Hause so still wie das Grab, und Dr. Heller stand auf.
Er nahm seine Lampe, ging in den anstoßenden Salon, von dort durch das Speisezimmer und gelangte so in das Schlafgemach, wo die beiden Betten der Ehegatten nebeneinander standen; sie waren aufgedeckt, wie gewöhnlich, obwohl Frau Jutta in Hamburg weilte und nichts an ihre Person erinnerte als höchstens das reich gestickte Nachthemd, dessen Verschluß durch blauseidene Schleifen gebildet wurde. Und der Anblick dieser zierlichen, leicht aufzulösenden Bändchen erregte in dem Arzt ganz eigentümliche Empfindungen. Sie waren sehr oft der Gegenstand verliebter Tändelei gewesen und sie waren es bisweilen noch, denn das Eheleben der Gatten hatte nicht ganz seinen geschlechtlichen Charakter eingebüßt, Frau Jutta galt als eine anziehende Frau und sie konnte es jedenfalls getrost mit der gleichaltrigen Martha Klein aufnehmen.
Wenn sie nicht ausgerechnet gerade heute die Marotte mit der Hamburger Reise ausgeführt hätte, dann wäre die Geschichte mit der Martha sicherlich nicht passiert, aber dafür vielleicht etwas anderes, wie es nach einer fröhlichen Gesellschaft so leicht vorkommt.
Und Dr. Heller fühlte, daß dieses andere etwas Schlimmeres sein könnte, und daß seine kluge Frau nicht nur einer Laune gefolgt war. –
Er verspürte noch keine Neigung zum Schlaf. Der Rausch war vollständig verflogen, jetzt kam das Denken und Grübeln, und das Herumwälzen in den Kissen – nicht etwa wegen der kleinen Eheirrung, der er sich schuldig gemacht hatte, sondern wegen ihrer etwaigen Folgen, die doch möglicherweise eintreten konnten, denn die Martha war wie eine tolle Katze gewesen, und sie hatten sich beide vergessen. –
Aus dem Ehegemach führte eine Tür in das anstoßende Zimmer, wo der achtjährige Franz schlief. Dieser Junge war das einzige Kind der Gatten und wurde infolgedessen sehr verzogen; er brauchte sich des Nachts nur zu rühren, dann waren Vater und Mutter an seiner Seite, denn sie bildeten sich ein, daß er an den Nerven leide, obwohl er ein strammer und gesunder Junge war. Aber sie hatten wohl selbst ein bißchen mit den Nerven zu tun.
Auch jetzt glaubte Heller ein Geräusch zu hören, und er ging daher ohne die Lampe zu seinem Sohne, obwohl er es gerade heute lieber vermieden hätte.
Der Bengel schlief ganz fest, es war ihm nur ein wenig Mondlicht auf das Gesicht gefallen und er hatte deshalb den Kopf weggedreht; aber auch im Schatten sah man noch deutlich seine auffallend hübschen Züge, äußerlich ganz das Bild der Mutter, mit den dunkeln Haaren und der starken römischen Nase.
Äußerlich die Mutter – ob wohl auch im Charakter? Mit acht Jahren läßt sich nicht viel sagen, da ist der Mensch noch ein unbeschriebenes Blatt, und es gehören scharfe Augen dazu, um nur die Papiersorte zu beurteilen.
Aber Dr. Heller hatte seine geheimen Sorgen.
Er setzte sich an das Bett und versank in tiefes Grübeln; seine Gedanken gingen zurück in die Zeit, als er noch Bräutigam war und dicht vor der Hochzeit stand. Da hatte er mit einem alten Kollegen beim Wein gesessen, einem sehr klugen Arzte, der in vielen Familien verkehrte und das Leben bis auf seine Hefe kannte. »Lieber Freund,« hatte der gesagt, »wir sind nun bei der dritten Flasche, da ist es vielleicht angebracht, daß ein alter Praktikus Ihnen für das Eheleben einen guten Rat mitgibt. Wenn Sie verheiratet sind, dann machen Sie mit Ihrer Frau einen unverbrüchlichen Kontrakt. Sie sind ein Mann, der das Leben von der heiteren Seite nimmt, und ich will das weiter nicht tadeln; aber legen Sie sich ein Gastzimmer an. Und jedesmal, wenn Sie mit Ihrer Gattin, oder wenn Sie alleine aus einer fröhlichen Gesellschaft kommen, wo der Sekt eine Rolle gespielt hat, dann machen Sie es wie die ganz vornehmen Leute, die getrennt schlafen. Ich brauche die Sache nicht weiter auszuführen, denn Sie verstehen mich, und wenn das Frauchen nur den Riegel zu handhaben weiß, dann gibt sich das andere ganz von selbst. Aber ein ehrlicher Kontrakt muß es sein, über dessen Gründe die Frau aufgeklärt ist, denn sonst gibt es Mißverständnisse und Tränen, und die Versöhnung nach einem ehelichen Streit ist unter Umständen das Allergefährlichste.«
So hatte der kluge Arzt gesprochen, und es war zwischen Max und Jutta wirklich zu einem Vertrag gekommen; aber du lieber Gott, Völker schließen Verträge um sie zu brechen, wie sollte es bei zwei verliebten Menschen anders sein! Also es war doch einmal zum Mißverständnis und zu Tränen und zur Versöhnung gekommen, und neun Monate später war Franz geboren.
Gott sei dank, körperlich und geistig gesund war er ja, und das mit den Nerven konnte auf das Konto der Modetorheit gesetzt werden, aber im Rausch streckt die Bestie im Menschen ihre Krallen aus und die Geheimnisse der Zeugung hat noch kein Arzt ergründet.
*
Am übernächsten Tag kehrte Frau Jutta von ihrer Reise zurück, und Heller holte sie mit dem Wagen ab, denn der Bahnhof lag ziemlich weit draußen. Unterwegs scheuten die Pferde, und der Kutscher Jochen Klein hatte einige Mühe, die feurigen Tiere wieder in Ordnung zu bringen, aber sie gingen doch.
»Er wird alt,« sagte Jutta leise zu ihrem Gatten – »ich würde ihn gehen lassen.«
»Er ist erst fünfzig, liebes Kind.«
»Freilich, aber der Trunk; das heute ist wohl noch eine Nachwirkung von vorgestern – oder hatte er keinen Urlaub?«
»Doch; den habe ich ihm gegeben.«
»Und da ist er natürlich erst am hellen Morgen heimgekommen?«
»Ich weiß es wirklich nicht,« sagte Heller zerstreut – »ich selbst kam schon gegen zehn, und da war Licht in der Kutscherwohnung.«
Jutta wußte eigentlich selbst nicht, warum sie so hartnäckig an diesem Gespräch festhielt, denn von den Beziehungen ihres Mannes zu Martha hatte sie natürlich keine Ahnung; aber Hellers Verlegenheit fiel ihr auf, und sie setzte noch hinzu:
»Das kann auch Martha gewesen sein. Schon der Frau wegen möchte ich den Jochen fort haben – sie hat so freche Augen.«
Dann fuhren sie durch das Tor in den Garten. Von dem Gesinde war just niemand anwesend, aber Martha kam aus ihrer Wohnung heraus und dienerte um den Wagen!
»Gnädige Frau sind schon von der Reise zurück? Ich dachte, gnädige Frau würden noch länger in Hamburg bleiben.«
Sie wußte sich sehr zu beherrschen, denn Heller bekam nicht mal einen Seitenblick, aber als sie ihrer Herrin beim Aussteigen helfen wollte, da übersah Jutta die Geste und stützte sich auf die Hand ihres Mannes. Dabei entdeckte sie ein paar rote Streifen, die über seinen Handrücken liefen und fragte:
»Hast du dich verletzt, Max?«
Er wurde feuerrot und stammelte:
»Ein wenig am Rosenstrauch da vorne – als ich vorgestern heimkam.« Dann gingen sie in das Haus und es war Jutta als hörte sie hinter sich ein unterdrücktes Kichern; aber das konnte auch Täuschung sein und sie sagte zu ihrem Gatten:
»Also vorgestern bist du in den Rosenstrauch geraten – da ist es wohl doch ganz gut, daß ich die Hamburger Reise unternommen habe; am Sedanfest finden die Männer ihr eigenes Bett nicht.« –
Etwa vierzehn Tage später war Jutta in einen Damenkaffee geladen. Es dämmerte bereits, als Heller von seiner Praxis zurückkehrte und die Frau nicht zu Hause fand. Franz spielte wie gewöhnlich um diese Zeit im Nachbarsgarten mit dem gleichaltrigen Sohne des Professor Mohrmann, und das Gesinde hatte die Abwesenheit der Herrschaft benutzt, um seine eigenen Wege zu gehen – die Villa war so leer wie eine Eierschale. Als der Doktor sich eine Zigarre anstecken wollte, merkte er, daß sein Vorrat zu Ende war, und er ging in die Kutscherwohnung hinüber, um Jochen zum Tabakshändler zu schicken.
Das war noch ganz absichtslos. Aber als er den Auftrag erteilte und Jochen seine Mütze nahm, um den ziemlich weiten Weg anzutreten, winkte Martha mit den Augen, und deutete verstohlen nach einem Winkel des Gartens, der besonders einsam und von verwilderten Büschen durchwuchert war; dann machte sie sich wieder an ihre Näharbeit.
Heller hatte den Wink wohl verstanden. Er sah seinem Kutscher nach, bis die Gartenpforte zufiel und entfernte sich dann langsam in der bezeichneten Richtung; unterwegs brummte er vor sich hin:
»Das Frauenzimmer ist wohl toll! ich muß wirklich sehen, daß ich sie mir vom Leibe schaffe, sonst merkt Jutta noch den Braten.«
Lange zu warten hatte er nicht nötig; nach einigen Minuten erschien Martha zwischen den Büschen, vorsichtig um sich blickend und wie eine Katze schleichend; aber ihre Mienen verrieten nichts Gutes, der erste Gedanke des Doktors war entschieden falsch, es handelte sich jedenfalls nicht um ein zärtliches tete a tete.
»Was gibts?« fragte Heller ziemlich brüsk, als die junge Frau vor ihm stand und anscheinend seine Anrede erwartete, obwohl sie doch selbst die Veranlassung zu dieser Zusammenkunft war. Sie würgte auch ein wenig an der Antwort, aber dann kam es plötzlich heraus:
»Sie haben neulich was Schönes ungerichtet!« Geahnt hatte er das natürlich schon aus ihrem Benehmen, aber als sie ihm nun so die brutale Tatsache in das Gesicht warf, da zuckte er doch zusammen und zerrte nervös an seinem langen Schnurrbart – und dann versuchte er es mit einem verlegenen Lachen.
»Unsinn, Martha, woher wollen Sie das denn schon jetzt wissen?«
»Es hat geklappt« – entgegnete sie in der ordinären Ausdrucksweise des Volkes. »Woher ich das wissen soll? Wenn eine Frau schwanger ist, dann fühlt sie es ganz von selbst, da braucht sie keinen Doktor und keine Hebamme dazu.«
Und dann warf sie sich plötzlich auf eine Bank nieder, die unter Hollunderbüschen in einem feuchten Winkel stand und schlug die Hände vor das Gesicht!
»Ach Gott, wenn es nur wenigstens kein Mädchen wird!«
Das war ihm nun vorläufig ziemlich einerlei, und er verstand auch gar nicht, was sie damit meinte, aber die Tatsache selbst ging ihm durch den Kopf, und er kratzte sich mißmutig hinter den Ohren. »Das ist aber eine dumme Geschichte, Martha; an deinen Alten wird kein Mensch denken, und ich kann dir sagen, daß meine Frau schon hellhörig geworden ist.–
»Dann wird man uns wohl fortjagen, was?«
»Nein, davon kann keine Rede sein, das würde die Lage noch schlimmer machen; wir müssen natürlich tun, als ob die Sache in schönster Ordnung wäre. Ei, ei, warum bist du nicht in deiner Stube geblieben, als ich an dem Abend nach Hause kam – ich dachte mir nichts Schlimmes, und wäre wahrhaftig gradewegs in mein Bett gegangen.«
»Wirklich?« entgegnete sie und sah ihn mit ihren dunklen Augen spöttisch an. »Ich glaube, Max, wir kennen uns besser.«
Und dann brach es plötzlich bei ihr los:
»Gut, also wenn du es wissen willst: jawohl, ich habe dich aufgelauert, ausgerechnet an dem Abend, dem ersten, wo wir mal wieder allein waren! Und ich kann dir auch sagen, warum ich das getan habe – ich habe es getan, weil ich ein Weib bin, und weil ich Muttergefühle habe und weil mein Mann ein Kapaun ist!«
Sie strich sich das wirre Haar aus der Stirn und fuhr erregt fort:
»Da schreiben die Leute von Mutterrechten und sie reden in den Versammlungen vom Mutterschutz; jede verheiratete Frau in der Stadt hat ihr Kind an der Brust, und ich alleine soll herumlaufen wie ein Spott, daß die Weiber mit Fingern auf mich zeigen und mich eine Unfruchtbare nennen! Jawohl, Max, ich wollte ein Kind haben, so gut wie die andern, und weil ich es nicht von meinem Manne kriegen konnte, so warst du mir noch immer der Nächste dazu, denn ich sollte denken, daß wir uns in der Art kennen. Und nun weißt du auch –«
Sie wurde rot und schwieg und sah vor sich nieder. Heller hatte neben ihr Platz genommen und legte seine Hand in ihren Schoß.
»Ja, Martha,« sagte er, »nun weiß ich freilich, warum du das nicht wolltest, was in solchem Falle doch am nächsten liegt, und was wir beide auch kennen. Ich konnte es eigentlich nicht begreifen –«.
»Das tun die Männer nie, aber es bleiben doch Schweinereien. Unter Ledigen ist es brauch, und wenn viele Kinder da sind, geschieht es auch in der Ehe, und wer dumm ist, der wird durch die Zeitungen klug gemacht; aber ich habe einen Ekel davor bekommen, denn die Natur will von so was doch nichts wissen.«
Es war fast ganz dunkel geworden, und die beiden saßen eine Weile schweigend nebeneinander; dann nahm Dr. Heller wieder das Wort:
»Eigentlich begreife ich dich nicht, Martha. Ich hätte was Schönes angerichtet, sagst du – wenn es dein eigener Wille war, dann ist ja alles in bester Ordnung.«
Darauf begann sie die Hände ineinander zu falten und mit den Fingergelenken zu knacken.
»Jawohl, in bester Ordnung! Gestern sprach ich zufällig mit dem Oberkellner, der euch bei dem Sedanfest bedient hat, und der fragte, wie du denn nach Hause gekommen wärst, mit zwei Flaschen Sekt und einer Burgunder im Leibe – denn der Professor Mohrmann hätte so gut wie nichts getrunken.«
»Hast du mir was angemerkt?« fragte Heller bedrückt.
»Ach Gott, bei so 'ner Sache! da ist der Liebesrausch von dem andern nicht zu unterscheiden!«
Und dann brach sie wieder in die seltsamen Worte aus:
»Wenn es nur wenigstens kein Mädchen wird – nur wenigstens kein Mädchen!«
Es wurde ihm unheimlich bei dieser fixen Idee, und er legte den Arm um ihren Leib.
»Was soll denn das, Martha? Sind die Mädchen nicht ebenso gut wie die Jungens?«
Sie knackte noch immer mit den Fingergelenken, und ihre Antwort kam so furchtsam heraus, als ob sie in eine schwarze Zukunft schaute.
»Das Kind wird schlecht werden,« sagte sie. »Nicht weil es ein Kind der Sünde ist, denn an so was glaube ich nicht, aber wegen dem andern. Schlechte leichtsinnige Jungens schickt man in die Welt hinaus, und wenn sie nur klug sind, wie alle Bankerts, dann bleiben sie oben auf. Aber die Mädchen – weißt du, Max, was aus den Mädchen wird?«
»Mütter«, entgegnete er, und sie neigte die Lippen an sein Ohr: »Huren!« – – –
Nun konnte es nicht dunkler werden, sie sahen kaum mehr einer die Gestalt des andern, und Dr. Heller stand auf.
»Dein Mann wird bald zurückkommen, Martha – nimm Vernunft an. Wie er ist, wirst du ihn überzeugen können, daß das Kind von ihm ist?«
Mit dem schnellen Übergang, der leichtsinnigen Naturen eigen ist, begann sie zu lachen.
»Die Mannskerls sind alle eitel, jeder hält sich für einen Bullen. Das ist meine geringste Sorge, aber ich sage dir, das Kind wird dein Gesicht haben, deine Teufelsvisage. Ich möchte es auch gar nicht anders, denn du bist doch der einzige Schatz, den ich jemals gehabt habe.«
Dann schob sie ihn von sich:
»Nein, Herr Doktor, zwischen Ihnen und mir ist es trotzdem aus, so eine bin ich nicht, und wenn Sie auch mit der schlechten Redensart von Freibillett kommen täten. Als Sie neulich vom Rosenstrauch sprachen, da mußte ich lachen, und das hat Ihre Frau gehört – es ist nicht notwendig, daß ein gesprungener Topf gleich in Scherben geht.« – – –
Es war die höchste Zeit, daß sie auseinanderkamen, denn man hörte die Gartenpforte klirren, und als Jochen die Zigarren brachte, da nahm der Doktor eine Handvoll aus der Kiste und sagte:
»Du bist zwar ein Saufmatz, Jochen, und ich hatte eigentlich die Absicht, dir zum 1. Mai zu kündigen. Aber deine Frau tut mir leid, und so will ich es noch mal ansehen. Da hast du was zu rauchen und bei deiner Frau kannst du dich bedanken, aber so, wie 's ein ordentlicher Kerl tut. Verstanden?«
Da kam der November. An einem schönen Tage fuhr Heller auf die Praxis, und Jochen saß wie gewöhnlich auf dem Bock.
Als sie durch einen Hohlweg fuhren und die Räder so recht langsam mahlten, drehte Jochen sich plötzlich um und machte ein schlaues Gesicht.
»Na, was gibt's?« fragte Heller gut gelaunt.
Jochen grinste.
»Nämlich, Herr Doktor, weil wir doch gerade zu einer Wöchnerin fahren. Wissen Sie, als Sie mir damals die Zigarren schenkten – das sind nun zwei Monate her, – da sagten Sie doch, ich sollte mich wie ein ordentlicher Kerl bei der Martha bedanken, das hab' ich denn auch besorgt, und nun ist es soweit, Sie hat mirs heute früh gestanden.«
»Donnerwetter,« sagte Heller, »wie alt bist du eigentlich, Jochen?«
»Vergangenes Jahr fünfzig, Herr Doktor.«
»Na ja, das ist noch kein Alter. Aber offen gesagt: eigentlich hätte ich dir das nicht zugetraut.«
»O, Herr Doktor, wenn man vorher einen Ordentlichen nimmt!«
»Natürlich, wenn man einen nimmt! Habt ihr euch die Zeit schon ausgerechnet?«
»Ja, da wollte ich Sie eben fragen, Herr Doktor, denn wir sind nicht ganz einig darüber. Die Martha meint Juni nächsten Jahres, und ich meine Juli. Was ist denn nun richtig?«
Heller lachte.
»Ja, Jochen, so genau wissen wir Ärzte das auch nicht, ein paar Wochen auf und ab lassen sich schwer berechnen. Aber die Frau hat immer recht, und deine wird es wohl auch haben. Na, einerlei, dann soll ich wohl Pate stehen, was?«
»Wenn der Herr Doktor das wollten!« sagte der erfreute Kutscher; »Sie oder die gnädige Frau, je nach dem. Es kann ja auch ein Mädchen werden, und dann ist die gnädige Frau doch wohl die nächste dazu.« »Ich glaube, meine Frau macht sich nicht viel aus dem Patenstehen. Aber verlaß dich draus, Jochen, es wird gewiß ein Junge – das ist allemal so, wenn die Frau viel jünger ist als der Mann, wir haben darüber Tabellen angelegt, und die stimmen ganz genau.« Der Kutscher nickte zufrieden.
»Das habe ich noch nicht gewußt, aber mir kann es ja recht sein. Bei den Mädchen muß man immer aufpassen, daß sie keine Dummheiten machen, aber ein richtiger Kerl schlägt sich schon durch das Leben. Donnerwetter, ich hätte selbst nicht gedacht, daß mir noch so'n Glück auf meine alten Tage beschert sein sollte, und wenn ich die Sache richtig betrachte, Herr Doktor, dann verdanke ich sie Ihnen ganz allein.«
*
Es beschrie die Wände und es war ein Mädchen, genau am 24. Juni 1883, in jenem verteufelten Regensommer, wo der Himmel seinen ganzen Tränenvorrat auf die schleswig-holsteinische Erde niederschüttete, und konnte doch niemand behaupten, daß die Menschen in diesem Jahre mehr gesündigt hätten als sonst.
Jochen war der erste, der es in der Frühe des Johannistages seinem Herrn meldete, als dieser mit Jutta beim Kaffee saß und über das Wetter schimpfte.
»Es ging ganz leicht,« sagte der stolze und erfreute Vater. »Ich hatte kaum Zeit, die Hebamme zu holen, und es ist eine hübsche gesunde Deern. Ein Junge wäre mir freilich lieber gewesen, aber mit den Tabellen kann es doch nicht so genau stimmen.«
Heller erhob sich von seinem Stuhl.
»Da muß ich doch mal nach dem Rechten sehen, Jochen, deine Frau ist in solchen Dingen noch unerfahren. Du erlaubst wohl, liebe Jutta, der Beruf geht immer vor.
In diesem Augenblick kam Franz herein. Seit Ostern besuchte er die Sexta des Gymnasiums und hatte schon den Schulranzen umgehängt, obwohl es noch ein bischen früh am Tage war.
Heller strich ihm mit der Hand die Haare aus der Stirn.
»Du, Franz, drüben beim Jochen hat der Storch –« fast hätte er gesagt: »ein Schwesterchen gebracht« –, aber er gab sich noch rechtzeitig einen Ruck und fuhr fort: »hat der Storch ein kleines Mädchen gebracht; willst du dir das mal ansehen?«
Der Junge dachte ein paar Sekunden nach.
»Mädchen sind dumm,« entgegnete er dann, »und an den Storch glauben wir in der Sexta nicht mehr.«
Heller lachte ein bißchen und entfernte sich mit Jochen; er sah noch, wie Jutta den Knaben an sich zog, als wenn sie ihn vor dem Wege nach drüben behüten wollte, und es fuhren ihm allerlei Gedanken durch den Kopf.
Vielleicht war es doch besser, daß er die Kutschersleute möglichst bald anderswo unterbrachte, der beständige Anblick eines begangenen Unrechts war keineswegs angenehm, und man konnte auch sonst nicht wissen, wie der Hase lief.
»Ich muß nachher auf die Praxis fahren und du wirst heute bei deiner Frau bleiben wollen. Lauf hinüber zum Posthalter Claussen, er soll mir den kleinen Einspänner schicken, dann kann ich selbst kutschieren.« Jochen ging, barhäuptig wie er war, durch den Regen davon, und Dr. Heller betrat die Gartenwohnung – seit dem 2. September verflossenen Jahres war er nicht mehr darin gewesen.
Auf dem Flur kam ihm die Hebamme entgegen, die den Arzt respektvoll begrüßte.
»Wie steht es da drinnen, Frau Weber?«
»O Herr Doktor, da fehlt sich nichts! Das ist 'ne Frau, die müßte ein Dutzend kriegen, die ist dazu wie geschaffen. Morgen will sie wieder aufstehen, sagt sie.«
»Na, na, das muß ich ihr doch ausreden; lassen Sie mich nur erst mal allein mit ihr.«
Er betrat die Wochenstube und sah sich nach dem Bett um – das stand nicht mehr an derselben Stelle wie damals; man hatte es weiter vom Fenster abgerückt, obwohl der trübe Regentag nur wenig Licht hereinließ.
Martha lag in den weißen Kissen, sauber wie immer, und mit einem gesunden Rot auf den Wangen; das Kind war bereits gewickelt und ruhte an ihrer straffen Brust; sie hatte wohl schon den Versuch gemacht, ihm Nahrung zu geben.
Und Dr. Heller setzte sich an das Bett. Es war ihm wunderlich zu Mute, und er suchte vergeblich nach Worten; er wünschte, daß sie zuerst anfangen möchte, aber sie schwieg und drückte nur mit zwei Fingern die Brust ein wenig beiseite, so daß er das Gesicht des Kindes besser betrachten konnte. In diesem Augenblick trat das Weib vollkommen vor der Mutter zurück, vielleicht hätte sie sich jedem Manne ebenso gezeigt wie dem Arzt und dem Vater ihres Kindes.
»Also das ist es,« sagte Heller endlich leise.
»Das ist es, Max, ein Mädchen.«
»Und dazu ein gesundes.«
»Ja, Frau Weber hat es gesagt. Weißt du, was sie noch mehr sagte?«
»Nun?«
»Vom Alten hätte es nichts.«
»Aber von dir, Martha, desto mehr.«
»Meinst du? Sieh' es dir nur genau an – willst du das arme Ding nicht küssen?«
Er horchte nach der Hebamme, die draußen rumorte, und neigte den Kopf auf das winzige Gesicht des Kindes; es war fast, als ob er die Mutter auf den nackten Busen küssen wollte, und seine Wange berührte auch unwillkürlich die warme Fülle.
Da schrie das Kind.
Heller richtete sich auf, und seine Schläfen waren rot angehaucht, aber er beherrschte sich und lächelte ein wenig.
»Der Bart, Martha.«
»Meinst du?« wiederholte sie wie vorhin. »Nun ja, so'n kleines Wesen ahnt wohl nichts, sonst würde es wohl noch viel mehr weinen.«
»Ich will sein Pate sein, Martha.«
»Das hat Jochen schon gesagt. Es ist ja etwas, wenn auch nicht viel.«
»Als Vater kann ich mich doch nicht bekennen, Martha.«
»Nein, die Welt ist nun mal so wunderlich. Was sagt deine Frau?«
»Vorläufig nichts – was sollte sie auch sagen?«
»Das wird schon mit der Zeit kommen. Und der Bub?«
»Er wollte die Kleine nicht sehen.«
»Das wird ein Schlimmer,« sagte sie und bettete das Kind fester an ihrer Brust. »Ich beobachte ihn bis weilen – neun Jahre, und läuft schon jetzt den Mädchen nach. Aber von einem Schwesterchen mag er nichts wissen.«
»Es war eine kindische Rede, Martha.«
»Ja, das heißt so. Wenn dies arme Wurm groß und hübsch werden sollte, vor dem Franz ist es freilich sicher, das liegt wohl im Blut; aber Liebe hat es auch nicht von ihm zu erwarten, Geschwister lieben sich nur, weil sie es wissen, daß sie Geschwister sind. So bleibt nur der Haß übrig.«
Heller stand auf. Es war ihm ein bißchen unheimlich bei diesen Reden geworden, die eigentlich über den Horizont der einfachen Frau hinausgingen; vielleicht hatte sie doch etwas Fieber, obwohl ihr Puls es nicht verriet, und man tat besser daran, sie allein zu lassen. Jochen kam auch zurück. Er tapste in die Stube hinein und kriegte gleich das Kind auf den Arm, und als Heller schon unter der Tür stand, sagte er in seiner plumpen Manier:
»Drei Wochen zu früh, Herr Doktor, nach meiner Rechnung, aber es wiegt seine sieben Pfund, es ist doch die richtige Kleinsche Rasse, wenn Frau Weber auch sagt, daß es sonst nichts von mir hätte. Na, das ist am Ende auch besser, denn sonst kriegte der Racker es noch mit dem verflixten Saufen, ha, ha, ha!« –
Die Kindtaufe verzögerte sich bis in den August hinein, denn am Tage nach der Geburt hatte Jochen sich in seiner Vaterfreude einen Rausch angetan und den Arm gebrochen. Er trug ihn auch noch jetzt in der Binde, aber am 10. August, am Tage des heiligen Laurentius, sollte die Feier begangen werden, und schon am Abend zuvor regnete es Sternschnuppen vom Himmel, die das Volk die Tränen des Laurentius nennt.
»Morgen kommen noch viel mehr,« sagte Heller zu seinem Sohne, der mit ihm am Fenster stand um das prächtige Schauspiel zu betrachten und der aufgeweckte Junge wollte wissen, was es mit dem Laurentius auf sich habe.
»Das war ein frommer Mann,« sagte der Doktor, »und er wurde deshalb von einem bösen Mann langsam im Feuer zu Tode gemartert. Da weinte der Himmel so sehr, daß die Sterne herunterfielen, und seitdem spricht man von den Tränen des heiligen Laurentius.«
Franz hatte nicht für einen Groschen Phantasie im Leibe, denn er hörte wohl aufmerksam zu, aber dann entgegnete er:
»Das glaube ich nicht, Vater. Unser Lehrer hat gesagt, die Sternschnuppen wären nichts anderes als kaputt gegangene Sterne, und wenn ein Stück davon auf die Erde fällt, dann ist es häßlich und schwarz. Werden denn alle frommen Menschen zu Tode gemartert?«
»Viele,« sagte Heller, der von dem Realismus seines Sohnes angesteckt wurde, und der Junge hatte darauf eine sehr logische Antwort:
»Dann will ich lieber nicht fromm werden.« – –
Diese kleine Unterhaltung am Vorabend der Kindtaufe gab dem Doktor allerlei zu denken und beschäftigte ihn sogar in seinen Träumen. Denn Martha hatte doch gesagt, daß Franz mal ein Schlimmer werden würde, und dies prophetische Wort verband sich mit den feurigen Himmelstropfen zu einer Schicksalstragödie, die über dem Haupte des namenlosen Kindes schwebte und seinem Erzeuger die Schweißperlen aus den Poren trieb. – – – – – –
Jutta nahm nicht an der Feier teil. Sie war sonst keineswegs eine hochmütige Frau, und da ihr Gatte nun einmal die Patenstelle übernommen hatte, so wäre ihr natürlicher Platz wohl an seiner Seite gewesen; aber Martha hatte es doch nicht gewagt, ihre Rivalin förmlich einzuladen, es steckte in diesem Weibe neben einem starken Naturgefühl doch noch ein Rest gesellschaftlicher Scham, und Jutta dachte nicht daran, sich den Leuten aufzudrängen.
Auch sonst war außer der Hebamme, die nie fehlen darf, nur der Geistliche anwesend. Dieser junge Prediger, der den Namen Roller trug, stand in dem Rufe eines etwas mystisch veranlagten Mannes, aber er war ein bedeutender Kanzelredner und hatte die Gewohnheit, sich der Eingebung des Augenblicks hinzugeben und ohne Vorbereitung aus dem Stegreif zu sprechen.
Diese fünf Menschen – das Ehepaar Klein, der Doktor, der Prediger und die Hebamme – waren um den Täufling versammelt, und weil Jochen die Stelle des zweiten Paten vertrat, so wäre es auch an ihm gewesen, das Kind über die Taufe zu halten. Aber Jochen trug den Arm noch immer in der Binde, und so geschah es, daß die Hebamme das kleine Mädchen in die Arme des Arztes legte, und daß Heller auf diese Weise die Hauptperson bei der ganzen Handlung wurde. An ihn richtete denn auch der Geistliche die übliche Frage nach dem Namen des Kindes, und darauf sahen sich die Anwesenden verlegen an, denn seltsamer weise hatte noch niemand darüber gesprochen, und auch auf dem Standesamt war in dieser Beziehung eine vorläufige Lücke gelassen. Dr. Heller aber faßte sich schnell. Es fiel ihm ein, daß seine eigene Mutter den Namen »Magdalena« getragen hatte, und weil der ihm besonders geläufig war, so nannte er ihn, ohne viel zu überlegen.
Und der Geistliche neigte das Haupt.
Er begann davon zu reden, daß dieses Kind am Tage der Sonnenwende geboren sei, der in vielen Gegenden als Totenfest gefeiert werde, und er hob hervor, daß dies ein Überrest des heidnischen Sonnenkultus wäre, während die christliche Sitte sich auf Johannes den Täufer berufe, der das Erscheinen eines größeren Gestirns angekündigt habe.
Im Zusammenhang damit kam er auf den Namen »Magdalena«. Sie sei eine Sünderin gewesen, sagte er, und auch dieses Kind werde wie alle Menschen ein Kind der Sünde sein; aber Magdalena habe gebüßt und sei eine Dienerin des Herrn geworden: so möge es auch mit diesem Kinde der Fall sein. – Es war eine Rede, wie Pastor Roller sie gerne und oft hielt: schwermütig beginnend, von Wolken umhüllt, bis der Stern durch die Nacht brach.
Aber die kleine Magdalena schwankte in den Armen ihres Erzeugers, und Martha, das robuste Weib, vermochte sich kaum auf den Füßen zu halten.
Und am Abend dieses Tages fielen die Sterne vom Himmel wie ein Feuerregen. – –
*
Als Dr. Heller mit dreißig Jahren heiratete, war sein Freund, der damalige Gymnasialoberlehrer Mohrmann, vierzig Jahre alt; und sie feierten eine Doppelhochzeit. Jutta war eine wohlhabende Hamburgerin, lebenslustig und bis über die Ohren verliebt in ihren schönen eleganten Gatten – Marie Mohrmann stammte aus der Marsch, wo der ewige Nebel die Leute schwerfällig macht und ihnen ein mystisches Gepräge aufdrängt.
Sie hatte einen langen Brautstand hinter sich, verblühte und wurde grämlich; endlich fiel ihr ein Erbteil von dreißigtausend Mark zu, und dann wurde geheiratet.
Die beiden Freunde wurden Nachbarn und wohnten nur durch einen Gartenzaun getrennt; ihre Frauen konnten sich nicht recht ineinander finden, denn der Unterschied des Charakters war zu groß; aber als sie beide zu gleicher Zeit in andere Umstände kamen, da entwickelte sich doch zwischen ihnen jenes vertrautere Verhältnis, wie es durch die gleiche Lage bedingt wird.
Sie nannten sich »du«, und als die Entbindung immer näher heranrückte, da kamen sie sogar auf jene Dinge zu sprechen, die sonst der Außenwelt ein Geheimnis zu bleiben pflegen.
»Du hast es gut –« sagte eines Tags Marie Mohrmann, die viel zu lesen pflegte. »Du wirst einem schönen und klugen Kinde das Leben schenken, denn eure Ehe ist auf Leidenschaft gegründet. Der große Menschenkenner Shakespeare hat es an mehr als einer Stelle ausgesprochen – ich glaube er nennt es irgendwo einen Raub der Natur.«
Jutta war oberflächlicher und verstand nicht ganz, was jene damit meinte; sie bat um nähere Aufklärung, aber dazu war Marie zu keusch. »Ich kann das nicht,« sagte sie, »aber dein Mann besitzt ja viele englische Bücher. Lies doch mal Sternes »Tristam Shandy«, und zwar das erste Kapitel; dann wirst du mich besser begreifen.«
Als Jutta von dem nachbarlichen Besuch nach Hause kam, fiel sie über die Bibliothek ihres Mannes her und kramte das Buch des berühmten Humoristen hervor, von dem sie in ihrem Leben nichts gehört hatte, und da fand sie denn jene köstliche Schilderung, wie ein Ehemann im entscheidendsten Moment des Ehelebens von seiner Gattin mit der Frage unterbrochen wird: »ob er auch nicht vergessen habe, die Uhr aufzuziehen.«
Anfangs lachte Jutta, daß ihr die Tränen in die Augen kamen, und sie stellte sich vor, daß in diesem besonderen Falle wohl der pedantische Mohrmann die hausväterliche Frage gestellt haben könnte – und dann wurde sie plötzlich ernst.
Ach du lieber Himmel, wenn zwischen Eheleuten nichts anderes vorkommt, als diese Nüchternheit!
Aber Marie Mohrmann war eine Regentrude, eine Trauerweide und sie zergrübelte sich das Leben, vor dem man doch am besten die Augen fest zumacht! Dann kamen die Kinder zur Welt: Franz und Julius, denen das Schicksal die Rolle von David und Jonathan, von Orest und Pylades zugewiesen hatte, und die Väter tranken auf die künftige Freundschaft eine Flasche Burgunder – Heller wie gewöhnlich fünf Glas – Mohrmann eins.
Als sie die Knaben leben ließen, vergaßen sie die Mütter – vier Wochen später war Marie Mohrmann tot.
Nein, Gott bewahre, sie starb nicht an einer Krankheit, die sich vererben konnte; eine gewissenlose Hebamme hatte sie mit dem Kindbettfieber angesteckt, und Dr. Heller sagte, dieser Junge würde achtzig Jahre alt werden –« viel älter als mein Bub'«, sagte er, »denn er hat einen solideren Vater.« –
Dem letzten Argument pflichtete Mohrmann bei. Aber dieser wunderliche Pedant, der an die Uhr dachte, wenn er andere Dinge zu besorgen hatte, litt an einer anderen fixen Idee.
»Alt wird er wohl werden,« meinte er, »aber Jungens schlagen der Mutter nach; meine Marie war eine grübelnde Natur. Sie dachte viel und las viel, aber es war keine Klarheit darin, und sie blieb nie bei der Stange. Sie war auch fromm, aber es steckte ein Hauch von Mystik darin, just wie bei meinem primus omnium, dem Roller. Wenn der Junge das erbt, dann wird es dunkel um seine Zukunft stehen.«
Fünf Jahre wälzte er diesen Gedanken; dann überraschte ihn Julius mit der Erklärung, er wolle König werden, denn der König könne alle Menschen glücklich machen.
»Also ein Weltbeglücker, ein moderner Christus« – sagte Mohrmann, der damals gerade Professor geworden war zu Dr. Heller – »ich habe nun mit Müh und Arbeit die persönliche vierte Rangklasse erreicht, und der Bengel will mit einem Sprung über alle hinaus; es ist das erste Aufmucken des Charakters und nicht bloß kindische Rede – er kann als Leutnant der Heilsarmee enden.«
Und Mohrmann ging hin nahm den größten Teil des mütterlichen Erbteils und kaufte seinem Jungen eine Leibrente von achtzehnhundert Mark mit dem achtzehnten Lebensjahr beginnend.
Der praktischere Doktor schalt.
»Wenn er nun vorher stirbt dann ist das schöne Geld zum Teufel!«
»Du hast ihm selbst ein hohes Alter prophezeit,« entgegnete Mohrmann,« und außerdem kenne ich diese Rasse. Sie wollen die Welt erlösen und leiden für ihre Narrheit Hunger und Durst – das gibt ein dickes Fell und eine zähe Natur, und weil es nicht mehr Mode ist, solche Leute an das Kreuz zu schlagen, so kriegen sie zuletzt weiße Haare und werden zum Kinderspott. Nun habe ich wenigstens dafür Sorge getragen, daß Marias Sohn einen Platz bezahlen kann, wo er sein Haupt hinlegen darf.«
Seit jener Zeit hieß Julius in der Hellerschen Familie der Rentner. Und bisweilen, in sorgenvollen Stunden, wie sie jedem Menschen kommen, sah Jutta ihren eigenen Jungen an und meinte, dem könne solche Sicherstellung der Zukunft auch nicht schaden, aber der Doktor lachte sie aus.
» Der,« sagte er, »und ein Dreihellermann! Unser Franz wird mal sehr viel Geld gebrauchen, denn er hat die Genußlinie um den Mund, und weil er ein kluger Kopf ist, so wird er sich das viele Geld wohl auch verdienen. Kommt es anders, so hilft ihm auch keine Leibrente, denn die kann man verkaufen und verpfänden und dafür will ich kein Kapital hinausschmeißen.«
So waren die beiden Knaben von ihren Vätern gewissermaßen im voraus gezeichnet! Der eine mit der Linie des Genusses und der andere mit der Furche der Aszese – das Leben aber sollte ausweisen, ob dieses Horoskop richtig gestellt war.
Inzwischen wurden sie unzertrennliche Freunde. Das gleiche Alter, die nahe Nachbarschaft und der tägliche Verkehr ihrer Väter hätte das schon allein schaffen können, aber außerdem entwickelte sich ihr Charakter zu einem Gegensatz, der sich wie die feindlichen Pole anzog – bei verschiedenem Geschlecht hätte sie wohl mit der Zeit ein tragisches Liebespaar abgegeben. Nach dem Eintritt in die Schule zeigte Franz sich als der Begabteste. Das Lernen wurde ihm sehr leicht, aber seine Faulheit war so groß, daß er immer nur mit genauer Not das Ziel der Klasse erreichte, während bei Julius die Versetzung niemals in Zweifel gezogen wurde. Aber das kam nur daher, weil der Professor ihn niemals aus den Augen ließ und ihm beständig auf den Hacken saß. In seinen Erholungsstunden zeigte er ein verträumtes Wesen, beschäftigte sich mit Plänen, die außerhalb der Wirklichkeit lagen und dichtete sogar zum Schrecken seines prosaischen Vaters.
»Unklares Zeug –« sagte der Professor zum Doktor. »Ich lese selbst mit der Prima meinen Horaz« – es waren die Schreckensstunden der Klasse – »und ich glaube meine Schüler für die klassische Schönheit begeistern zu können« – sie nannten ihn nur den Skandierhengst – »aber mein eigener Sohn macht Reime und sie sind nicht einmal rein.«
»Wenn sie nur von einer reinen Phantasie zeugen,« entgegnete der Arzt, der an seine eigenen poetischen Ergüsse denken mochte, die einmal konfisziert waren und ihm fast die Relegation von der Schule eingetragen hatten.
Mohrmann machte große Augen.
»Na, das fehlte noch!«
Aber Heller tastete vorsichtig weiter. Die beiden Jungen standen damals schon im dreizehnten Lebensjahre und der Doktor beobachtete an seinem eigenen Knaben das erste Erwachen sinnlicher Neigungen; das scheue, verträumte und zerfahrene Wesen des andern war ihm schon längst verdächtig vorgekommen, und er nahm eines Tages seinen Freund einmal gründlich vor.
»Diese geheimen Sünden sind jetzt sehr weit verbreitet, sagte er, »sie drohen sogar eine Volkskrankheit zu werden. Es ist nicht zu verwundern, denn unsere Jugend wird nervös überreizt und das Sportleben dringt nur langsam vom Ausland herein. Meines eigenen Jungen bin ich sicher; er ist zwar ein Aas, aber er läuft wenigstens den Mädels nach und das ist immer eine gesunde Regung. An deiner Stelle würde ich auf den Julius mal acht geben, es wäre doch schade, wenn das bißchen Energie, was er hat, auf diese Weise zum Teufel geht.«
Nach diesem schwülen Gespräch war der Professor eine lange Zeit sehr bedrückt. Aber dann kam er freiwillig darauf zurück und sagte zu Heller:
»Du hast dich wohl getäuscht. Er turnt jetzt in der ersten Riege und der Lehrer lobt ihn wegen seines Eifers. Aber euer Beruf geht durch so viel Schmutz und Sünde, daß der pädagogische Blick darüber abhanden kommt. Ich verlasse mich auf den Römergeist, der unsern Knaben eingeimpft wird und was Tacitus von den alten Germanen geschrieben hat, das besitzt noch heute seine Geltung.«
O ja, er war ein überzeugter Schulmeister, der Professor Mohrmann, und er war so blind wie die Mehrzahl seiner Kollegen.
Aber jene körperlichen und seelischen Kämpfe, die seinen Sohn später fast an den Rand des Verderbens führten, sie hätten doch wohl auf ein geringeres Maß herabgemindert werden können, wenn Mohrmann weniger in einer lichten Vergangenheit und mehr in einer dunklen Gegenwart gelebt hätte.
Das war ihm eben nicht gegeben. – – – –
Jenes Wort, das Heller über seinen eigenen Sohn gesprochen hatte, wurde allmählich in der Nachbarschaft zu einem geflügelten. Franz war mit sechzehn Jahren ein ausgemachtes Aas und er hatte es arg auf die Mädchen.
Kräftig entwickelt, auffallend hübsch und von einem einschmeichelnden Wesen, gefiel er dem weiblichen Geschlecht und hatte seine kleinen Abenteuer unter denen, die ihm im Alter voraus waren.
Zum Glück fiel er damals noch nicht in die Netze eines reifen sinnlichen Weibes. Wenn er in Hamburg gelebt hätte, so wäre das sicherlich früher oder später geschehen, aber die Verhältnisse der kleinen Stadt waren zu durchsichtig, und so blieb es bei abendlichen Spaziergängen um den schönen See, wobei der weibliche Teil vorsichtig genug war, die im tiefen Schatten stehenden Bänke zu vermeiden.
Einmal kam es zu einer seltsamen Begebenheit, da saßen Franz und Julius schon in der Obersekunda, und Franz hatte mit zwei »kleinen Mädchen« angebändelt, die als Verkäuferinnen in einem Konfektionsgeschäft angestellt waren, Grete und Lili hießen sie, und es waren die ersten, die vor den dunkeln Bänken keine Scheu hatten. Niedliche Dinger mit heißen Augen und unzertrennlich wie die Sympathievögel, und Franz hatte es noch nicht zum Mormonen gebracht; da zog er seinen Freund Julius zum ersten Male ins Vertrauen.
»Heute abend bei Mondschein«, sagte er »die beiden Alten haben ihren Skat im Kasino. Die Lili ist rein vernarrt in dich, und du tust mir einen Gefallen, wenn Du sie mir abnimmst, denn sonst will die Grete auch nicht.«
Da kam der seltsam unbeständige Charakter von Julius zutage. Er hatte eine gewisse Scheu vor dem weiblichen Geschlecht, aber die Mondscheinprommenade dünkte ihm höchst poetisch und er entgegnete in seiner polternden Weise:
»Kerl, das ist famos! Ich will doch mal sehen, ob ich von der Kleinen nicht einen Kuß kriege!«
»Zehn«! sagte Franz und lachte.
Sie hatten sich denn auch getroffen, und es war ein schöner, etwas schwüler Juliabend; obendrein Schulferien und die Väter im Kasino.
Paarweise gingen sie, fünf Schritt hintereinander, Franz mit der Grete voran, und er hatte den Arm um sie gelegt; Julius führte die Lili, und sie konnte sich kaum an ihm festhalten, denn er hielt den Arm steif und ungeschickt. Er sprach von dem schönen Sommerabend, und wie es so greulich auf dem Pennal wäre, und zuletzt kam er auf seine Krux, die Mathematik. »Sie« – sagte er immer.
Das Mädchen wurde allmählich stiller und horchte auf das Paar da vorne; die schwatzten und kicherten, und einmal fragte Grete so spöttisch über die Schulter, wie weit sie denn miteinander wären. Plötzlich sagte Franz:
»Du, Julius, das wird ledern. Wir beide wollen hier rechts herumbiegen, und ihr geht links. In einer halben Stunde treffen wir uns bei dem Kriegerdenkmal.«
Es war das Denkmal eines jungen sterbenden Germanen und in der ganzen Gegend berühmt; noch neulich hatte der Direktor bei dem Geschichtsunterricht darauf hingewiesen, und die keusche Schönheit der jungen nackten Glieder hervorgehoben. Da wurde Julius zu Mut, als ob ihn jemand auf den Kopf schlüge; das Unwürdige seiner Situation kam ihm plötzlich zum Bewußtsein – er ließ das Mädchen stehen und rannte davon.
Lili gesellte sich dann zu den andern.
»Du«, sagte sie zu Franz, »dein Freund ist ein wunderlicher Heiliger, das ist wohl gar kein richtiger Mannskerl, das ist gewiß auch so Einer«.
Und dann lachten die beiden verdorbenen Dinger.
Am folgenden Tage gab es eine fürchterliche Szene zwischen Franz und Julius.
»Ich möchte mich vor Scham entmannen«, sagte Julius pathetisch. »Also das sind die Weiber, von denen Tacitus geschrieben hat, und mit denen sollten wir unter dem Kriegerdenkmal zusammenkommen!«
Franz hatte eine zynische Antwort bereit.
»Ich glaube, das Entmannen besorgst du schon sowieso. Ich schäme mich in deine Seele, denn sie haben dich einen schlappen Kerl genannt, und mit der Grete war natürlich nichts mehr anzufangen. Du kannst lange warten, bis ich dir wieder mal eine Gelegenheit verschaffe.«
Hernach freute er sich aber doch, daß die Sache so abgelaufen war. Denn diese beiden Mädchen wurden bald darauf in das Krankenhaus geschafft, und so blieb Franz Heller davor bewahrt, schon in seinem siebzehnten Lebensjahre eine Erfahrung zu machen, die ihm später freilich um so weniger erspart geblieben ist.
Während dieser Zeit wuchs Magdalene zu einem hübschen und feingebauten Kinde heran. Mit Jochen Kleins Trinken war es nicht besser, sondern eher schlimmer geworden, aber Martha hatte es doch durchgesetzt, daß ihr Mann die Kutscherstelle behielt, obwohl Jutta sehr dagegen war, denn sie meinte, es könnte mit dem unzuverlässigen Menschen mal ein Unglück passieren.
Anfangs hielt Heller das nur für einen Vorwand. Es war doch immerhin möglich, daß seine Frau Verdacht hegte, aber als die kleine Magdalene in die Jahre kam, wo man von einem Charakter der Züge sprechen kann, da ließ er allmählich diese Befürchtung fallen. Das Kind war ihm nicht ähnlich. Es hatte die dunkeln Haare, die braunen Augen und die Gesichtsbildung der Mutter, nur war alles bedeutend feiner, aber die stark fortgeschrittene Kultur des neunzehnten Jahrhunderts prägt überhaupt mit einem schärferen Stempel, wir sehen das überall unter den Kindern des Volkes, wenn wir die Gegenwart mit unserer eigenen Jugend vergleichen.
Das Charakterbild Magdalenes war natürlich noch nicht entwickelt. Aber ein Zug trat doch bereits sehr deutlich hervor, und Pastor Roller, der aus seelsorgerischen Rücksichten häufig in die Kleinsche Wohnung kam, nannte ihn in seiner grübelnden Weise das »Muttergefühl«.
Man begann damals die Aufmerksamkeit der Frauenfrage zuzuwenden, und hatte bereits das Schlagwort von den Mutterrechten geprägt, und der stark sozial veranlagte Geistliche war bis zu den amtlich gebotenen Grenzen ein Vertreter dieser Rechte; er behauptete, daß Magdalene Klein sich zu einem Typ entwickeln werde, denn die Art, wie sie mit ihren Puppen spiele, sei absonderlich und vorbedeutend.
Ganz entwegt war diese Beobachtung wohl nicht. Die Phantasie des Kindes ist allerdings so unbegrenzt, daß sie nicht nur mühelos das Leblose belebt, sondern auch eine ferne Zukunft in die Gegenwart rückt, aber der leidenschaftliche Ernst, mit dem Magdalene ihren eingebildeten Mutterpflichten oblag, und der unbewußt geschlechtliche Einschlag, mit dem sie ihr Phantasiegewebe zusammenfügte, ging doch sehr oft über die Grenzen des Spieles hinaus, und gab bisweilen zu ernsthaften Erwägungen Veranlassung.
Und Dr. Heller wurde immer wieder daran erinnert, daß die Mutter dieses Kindes sich ihm selbst in einem Naturdrang hingegeben hatte, der wie die Sturmflut alle Dämme gesellschaftlicher Sitte durchbrach – vielleicht kam die Zeit, wo ein neues Geschlecht in die gebärende Erde griff, um diese Dämme selbst in alle Winde zu verstreuen. Der Siegeslauf aber geht über Leichen. – – – – – – – – – – – –
Räumliche Verhältnisse ergaben es von selbst, daß Magdalene sehr oft mit Franz und Julius zusammenkam. Eine Spielkameradschaft konnte sich nicht entwickeln, denn zu dem Unterschied des Geschlechts trat der noch größere des Alters; aber ein ritterliches Schutz- und Trutzbündnis wäre desto natürlicher gewesen.
Und Julius, dieser »teutsche Jüngling«, der freilich nicht in allen Dingen die Spuren seiner germanischen Vorfahren innehielt, wurde tatsächlich auch sehr bald der Ritter des feingegliederten Mädchens; »ein junger Bär, der mit Schmetterlingen tändelt«, wie Dr. Heller sich etwas spöttisch ausdrückte.
Der Sohn des Professors fand nicht selten Gelegenheit, seine Beschützerrolle auszuüben, denn Franz verfolgte die Kleine mit einem zähen Haß, der sonst gar nicht in seiner oberflächlichen Natur begründet war.
In dieser Beziehung hatte Martha recht gehabt, als sie am Tage der Geburt davon sprach, daß es nur einen Weg zwischen dem geschlechtlichen Widerspruch der Blutsverwandtschaft und der Erkenntnis ihres ethischen Gehalts geben könne; weil Franz nicht wußte, daß Magdalene seine Schwester war, und weil die Natur ihm zuraunte, daß sie für ihn niemals die Trägerin einer Geschlechtsrolle werden könne, so überschüttete er sie mit seiner Feindschaft und fand dabei eine Unterstützung in seiner eigenen Mutter.
Freilich, Jutta war viel zu fein veranlagt, um das Kind aus dem Kutscherhause zu mißhandeln, wie das wohl gelegentlich durch Franz geschah; aber sie zeigte gegen Magdalene stumme Verachtung, obwohl die Kleine eine zutunliche Art hatte und sich um so lieber an Jutta angeschlossen hätte, weil sie von ihrer eigenen Mutter nicht gerade bevorzugt wurde.
Martha war darin inkonsequent wie so viele Frauen. Ein Kind hatte sie zwar haben wollen, und dieses Kind erhielt ihr sogar die gesicherte Stellung im Hause der Herrschaft; sein Dasein war ihr auch nicht eine Gewissenspein, denn über solche Dinge setzte sie sich leicht hinaus, aber Magdalene war in ihren Augen eine Gefahr. Schon der Name wurmte sie, denn er klang zu indiskret in die Familie Hellers hinein; es hätte nur noch gefehlt, daß dieser sorglose Mann den Vornamen der eigenen Gattin wählte, um den Skandal offenkundig zu machen.
Aber sonst auch konnte die Geschichte durch diesen lebenden Zeugen herauskommen, so oder so; denn so oft Dr. Heller die Kleine erwischte, konnte er sich seines Vatergefühls nicht erwehren; er nahm sie auf den Arm und küßte sie; er nannte sie seinen Schatz und seinen Liebling – es war wirklich nicht ganz leicht, das alles auf die Patenrolle zu setzen, zumal der Doktor keineswegs zu den kirchlich gesinnten Leuten gehörte.
Er tat aber noch mehr.
Als Magdalene sechs Jahre alt wurde, sorgte er dafür, daß sie in eine bessere Schule hineinkam, und bei dieser Gelegenheit brach Jutta zum ersten Male das Schweigen, welches sie sonst in Beziehung auf die Familie Klein hartnäckig bewahrte.
»Was soll das heißen«, sagte sie – »du stellst das Kind über seinen Stand; es wird später darunter leiden müssen.«
Und Heller hatte nur die matte Antwort, daß die Neuzeit höhere Anforderungen stellte, und Bildung noch keinem Menschen geschadet hätte.
Es war ein unerquickliches Thema, und es fiel unter den Tisch.
*
Als Magdalene im zweiten Jahr die Schule besuchte, trat ein Ereignis ein, oder eigentlich war es eine Summe von Begebenheiten, die wie eine Kette zusammenhingen.
Im Sommer 1890 war es, der sich durch sehr viele Gewitter auszeichnete.
Mit Jochens Trinken wurde es immer schlimmer; er selbst behauptete, die schwüle Luft sei daran schuld, er müsse bei jedem Donnerschlag einen nehmen, um den Schreck hinunter zu spülen, aber die Leute redeten anders darüber.
Er sei hintersinnig geworden, sagten sie, und das käme nicht vom Saufen, denn da sähe einer höchstens Mäuse und Ratten.
Jochen war nun achtundfünfzig, und ein Kerl, der noch fest in den Schuhen stand, aber an einem Morgen, als er seinen Herrn auf die Praxis fahren sollte, stand er nicht fest, um zehn Uhr vormittags war er schon betrunken.
Jutta verlor endlich die Geduld.
»Jag' den Kerl fort und laß dich vom Posthalter fahren«, sagte sie – »schließlich muß die Sache mal zum Klappen kommen«.
Heller schüttelte den Kopf.
»Es ist so oft gut gegangen, es wird auch heute nichts passieren.« Da sah die Frau ihn an mit einem Blick, der ihm durch und durch ging; aber sie entgegnete nichts, und er beeilte sich, auf den Wagen zu kommen.
Ein leichter Holsteiner und zwei junge Pferde davor – dazu der betrunkene Kutscher auf dem Bock, das war wahrhaftig keine Kleinigkeit; aber sie kamen doch glücklich bis in den tiefen Hohlweg, denselben, wo vor acht Jahren das Gespräch über die Zeit von Marthas Entbindung stattgefunden hatte.
Da flog eine Krähe über den Weg, so'n Unglücksvieh, und das Schlimmste nächst einem alten Weibe; die Pferde scheuten, das linke Vorderrad kam auf den Hang, und der Wagen lag da, mitten im tiefen Sande. Es hätte freilich ärger kommen können, denn die Pferde standen, und die beiden Männer erhoben sich auch wieder unversehrt; aber der Doktor war wütend, und Juttas Rede lag ihm noch in den Ohren.
»Kerl«, sagte er, »jetzt ist es aus, nun jag' ich dich fort!«
Jochen war von dem Sturz ganz nüchtern geworden. Er stemmte mit seiner Bärenkraft den leichten Wagen auf, bastelte am Geschirr und drehte sich bei den Worten des Doktors plötzlich um.
»So Herr, Sie wollen mich fortjagen? Mich allein, oder auch die Martha mitsamt dem Bankert?«
Das war ein Wort, das schlug ein, als ob die dunkeln Wolken da oben auch schon geredet hätten. Der Doktor war ganz blaß geworden, er hielt sich am Wagen fest und begann zu stottern!
»Was soll das heißen, Jochen – was soll das bedeuten?«
Jochen Klein blieb so gelassen, daß es fast einen unheimlichen Eindruck machte, denn es gibt Leute, die können nicht aus sich heraus; und je mehr es in ihnen kocht, um so weniger sieht man ihnen das an. Er strich sich nur die Haare aus der Stirn und schluckte ein paarmal, als ob ihm die Kehle trocken geworden wäre.
»Was das heißen soll, Herr? Wir sind doch just auf derselben Stelle wie vor acht Jahren und da fiel es mir gerade bei! Wissen Sie noch, wie wir über die Martha redeten, und daß es mit der Zeit nicht ganz stimmen täte?«
Also acht Jahre hatte dieser schwerfällige Mensch gebraucht, um über seine Zweifel ins reine zu kommen! aber wenn es weiter nichts war, dann hatte Heller sich umsonst geängstigt, und er sah schon auf seine Uhr und machte ein ungeduldiges Gesicht.
»Ein bißchen müssen Sie mich schon noch anhören«, fuhr Jochen fort. »Sehen Sie, Herr, die Lene ist ein schmuckes Kind, viel zu fein für unsereins, und das ist mir schon lange durch den Kopf gegangen, aber zum Klappen kam es doch erst vor ein paar Wochen, als Margarethe Lassen starb, wissen Sie, dieselbe, die früher bei dem Professor Mohrmann Haushälterin gewesen ist.«
Er bastelte wiederum an dem Geschirr und schielte seinen Herrn von der Seite an.
»Die hat es mir nämlich auf dem Totenbett gestanden, mir ganz allein, weil ich doch der Nächste dazu bin, und ich muß es ihr wohl glauben, denn mit Lügen tut man sich auf dem Sterbebett nicht abgeben und am Sedanfest schien der Mond hell genug, daß sie es von ihrem Fenster aus sehen konnte.«
Jochen hatte das Geschirr in Ordnung gebracht, und drehte sich nun ganz nach seinem Herrn um.
»Eine Frage ist ja wohl erlaubt, Herr, bloß eine einzige Frage: was haben Sie an jenem Abend bei meiner Frau gemacht – eine geschlagene Stunde, oder drüber hinaus? Mich dünkt, daß ich als Mann wohl ein Recht habe, das zu wissen.«
Also es war heraus – richtig nach acht Jahren, und Jochen sah aus, als ob er partout eine Antwort haben wollte.
Zwei bis drei Sekunden lang überlegts der Doktor. Die Zeugin war tot und sie hatte bis zu ihrem Ende geschwiegen; wenn er jetzt leugnete, dann ließ sich schwerlich etwas beweisen; aber es war gar nicht einmal nötig, zu leugnen – der Arzt wird zu jeder Zeit ins Haus gerufen, warum sollte das nicht auch an jenem Abend der Fall gewesen sein? Aber dann kam eine andere Erwägung. Dieser schlichte Mann hatte nun einmal seinen Verdacht; der fraß in ihm weiter, und das Kind mußte es jedenfalls entgelten – es war schon besser, der Wahrheit die Ehre zu geben; Jochen Klein hatte ein Anrecht auf die Wahrheit.
Da richtete Heller sich auf und sagte ganz ruhig:
»Es stimmt schon, Jochen, Margarete Lassen hat richtig gesehen – ich bin bei deiner Frau gewesen, und die Magdalene ist mein Kind.«
Der Hohlweg war sehr einsam und er lag so tief, daß niemand hineinsehen konnte; wenn jetzt etwas geschah, wie es unter solchen Verhältnissen zwischen zwei feindlichen Männern geschehen kann, dann kam es nur darauf an, wer die Oberhand behielt: der schlanke Patrizier oder der vierschrötige Sohn des Volkes.
Aber es geschah nichts dergleichen.
Jochen Klein nickte nur mit dem Kopf und spuckte aus.
»Dann ist es also richtig mit dem Bankert. Sehen Sie, Herr, vielleicht hätte ich ganz stillgeschwiegen, denn ein Saufmatz wie ich verdient gar kein Kind, und der Martha kann ich es nicht groß verdenken. Der Lene wird es auch nichts schaden, wenn sie einen so vornehmen Vater hat, und so könnten wir einen Strich über die Sache machen – aber nun reden Sie vom Fortjagen, und das ist mir ins Geblüt gegangen.«
»Ich will nicht mehr davon reden«, sagte Heller halblaut.
»Also bleibt alles beim alten?«
»Ja – und für die Lene soll auch gesorgt werden«.
Da spuckte Jochen noch einmal aus.
»Es ist ein schnurriges Ding, Herr, und ich weiß nicht, was Sie von mir denken. Aber ich meine, man soll eine Sache nehmen, wie sie ist – ändern läßt sich doch nichts mehr daran. Ich möchte nur noch von Ihnen erfahren, ob es bei dem einen Mal geblieben ist, denn hol' mich der Teufel, zu einem Hurenkasten will ich mein Haus doch nicht hergeben!«
»Es ist nie wieder vorgekommen, Jochen – mein Ehrenwort!«
»Na, dann steigen Sie man wieder ein. Der Wagen ist in Ordnung, und diese Affäre ist auch in Ordnung – wenn ich mal wieder einen nehme, dann kommt es auf die Rechnung vom Sedanfest.«
Das Gewitter hatte eingeschlagen, aber der Blitz hatte nicht gezündet – es vergingen ein paar Tage mit Lauern in der Luft und schwüler Stimmung. Zwischen den Eheleuten Klein schien alles zu bleiben, wie bisher; wenn Heller und Martha einander begegneten, schlug der Doktor wohl die Augen nieder, aber der Frau war nichts anzumerken. Nur einmal blieb sie stehen und klagte darüber, daß es mit dem Jochen immer schlimmer würde.
»Jeden Tag sternhagel voll«, sagte sie – »kann er nicht zum blauen Kreuz kommen oder zu den Guttemplern?«
Heller zuckte die Schultern.
»Ich kann ja mit ihm reden, aber helfen wird es wohl nichts. Er schlägt Sie doch nicht, Martha?«
Die beiden nannten sich wieder »Sie«, auch unter vier Augen; es war ein stillschweigendes Übereinkommen; und das Weib senkte auf die Frage den Kopf:
»Schlagen könnte er mich meinetwegen, ich würde stillhalten. Aber er tut es nicht.«
Dann kam ein Abend, da löste sich das Lauern in der Natur zu einem schweren Gewitter aus. Die Familie Heller saß am Teetisch und horchte auf jeden Schlag; Franz, der Obersekundaner, ging bisweilen an das Fenster und freute sich über die grellen Blitze, denn Furcht kannte er nicht, Julius war bei solchen Naturereignissen viel aufgeregter.
Plötzlich, als der Garten wieder einmal hell war, sagte er:
»Vater, da bringen sie den Jochen, der muß heute besonders schwer geladen haben, sie tragen ihn auf einer Leiter.«
Jutta fuhr auf:
»Wie lange willst du den Skandal noch dulden, Max?!«
Aber Heller horchte und hob die Hand:
»Still, da ist was passiert! Ich habe es mir längst gedacht.« Zwischen dem Rollen des Donners hörte man eine jammernde Frauenstimme; so oft das Gewitter einsetzte, wurde sie erstickt, wenn es eine Pause machte, schrillte sie wieder auf.
Der Doktor erhob sich:
»Ich muß doch mal hinübergehen; das klingt ja unheimlich«.
Aber da kam es schon über den Hausflur gefegt. Die Tür wurde aufgerissen und Martha stürzte herein: barhäuptig, mit wirren Haaren, bloß und zitternd.
»Herr Doktor, gnädige Frau! Ach Gott, das Unglück!!«
»Was gibt's?!«
»Der Jochen! Er ist gestürzt –«.
Heller hatte die Frage gestellt, und die Frau sah ihn mit leeren Augen an:
»Tot? Nein – aber es wird wohl das Ende sein.«
Auch Jutta war aufgesprungen, der Schreck fuhr ihr doch in die Glieder; aber bis ihr Mann mit Martha das Zimmer verlassen hatte, setzte sie sich wieder an den Teetisch und zupfte die Decke zurecht. So was kam öfters vor, aber freilich, diesmal war es doch etwas anderes. –
Franz hatte seine Ruhe nicht verloren. Er wartete eine Weile, ob seine Mutter etwas sagen würde; als sie aber schwieg und immer vor sich hinstarrte, trat er an den Tisch.
»Nicht wahr, Mutter, wenn Jochen stirbt, dann kommen die anderen doch auch aus dem Haus – die Martha und die Lene?«
»Natürlich, Kind. Dein Vater braucht doch einen Kutscher, und die Wohnung ist dazu da.«
»Ich habe die Lene nie leiden können, Mutter.«
»Ich auch nicht – ich auch nicht.« – – –
Nach einer langen Zeit kam Heller zurück.
»Es steht sehr schlimm,« sagte er bedrückt, »ich glaube nicht, daß der Mann die Nacht überlebt. Er war natürlich wieder betrunken, jawohl, und da ist er mit der Brust in die eisernen Spitzen von einem Gartenzaun gefallen. Zum Glück hat er wenig Schmerzen, aber die Wunde ist tödlich, ich kann ihm nicht helfen.«
»Ist er bei Besinnung, Max?« fragte Jutta.
»Ja – warum?«
»Muß ich – muß ich hinübergehen?«
Er sah ihr in das Gesicht und schlug die Augen nieder.
»Es hat wohl keinen Zweck – die Frau ist ja bei ihm.«
Da wurde wieder die Schelle gerissen; diesmal von einem Boten aus der Stadt:
»Herr Doktor möchten doch gleich zur Frau Oberlehrer Schulz kommen; es wäre so weit.«
Sterben und Geborenwerden in einer Nacht! Dr. Heller nahm seine Instrumente und verließ das Haus; Jutta begleitete ihn noch bis an die Tür und da drehte er sich um:
»Leg dich nur schlafen, es kann lange dauern – die Frau ist schlecht gebaut.«
Und Jutta entgegnete:
»Wir sind alle zum Leiden auf die Welt gekommen.«
Das war ein Wort, das ihr sonst nicht lag, denn sie hatte keine schwermütige Ader, aber heute kam es ihr unwillkürlich auf die Lippen.
Und dann blieb sie noch eine Weile unter der Haustür stehen. Das Gewitter hatte sich verzogen und ein paar dunkle Wolken lagerten noch am Horizont, aus denen es beständig wetterleuchtete; wenn der Wind sich drehte, konnten sie wieder heraufkommen. In Schleswig-Holstein dreht sich ja der Wind beständig – wie das Schicksal. Und das Schicksal ist auch anderswo wetterwendisch. – – –
Drüben in der Kutscherwohnung war Licht. Natürlich, das brannte die ganze Nacht durch, und wenn es gegen Morgen erlosch, dann kam der Tod.
Die meisten Menschen sterben gegen Morgen und die meisten werden in der Nacht geboren.
Dazwischen liegt das Schicksal.
Jutta fühlte sehr deutlich, daß es ihre Pflicht war, hinüberzugehen, denn der Kranke war doch eine Art Hausgenosse – wenn das Herz auch nicht mitsprach, so redete doch die Sitte darein; und Frau Dr. Heller erkannte jetzt, daß sie im Grunde genommen dem Manne da drüben nicht gram sei.
Er war ein Säufer, jawohl – aber du lieber Gott, vielleicht hatte er seine Ursache dazu; wer an einem Gram trägt und keine Bildung besitzt, der wirft sich dem Branntwein in die Arme; bisweilen tun das auch gebildete Leute.
Aber die Frau.
Jutta haßte dieses Weib, das sich so demütig stellte und dabei so freche Augen hatte; und wenn sie immer wieder versuchte, den Mann aus seiner Stellung zu drängen, so meinte sie eigentlich das Weib. Das war ein instinktives Gefühl, ohne Klarheit und Logik, aber es war um so tiefgründiger; denn das Geschlechtsleben der Frau ist so fein organisiert, und es beherrscht so übermächtig ihr gesamtes Empfinden, daß die geheimste Beleidigung desselben einen Zustand hervorruft, der auf die Dauer ebenso unerträglich wirkt, wie der magnetische Schlaf und das schattenhafte Hellsehen der Somnambule. – –
Von dem Ägidikirchturm schlug die Uhr zehn und Jutta trat in das Haus zurück; sie wollte gerade die Tür schließen und warf nur noch einen letzten Blick in den Garten, da sah sie eine dunkle Gestalt herankommen – zögernd, schleichend, mit verhülltem Gesicht, hinter jedem Buschwerk anhaltend und doch mit einer geraden Richtung auf das Haus.
Es war Martha Klein. Sie winkte mit der Hand und bewegte den Kopf, und als Jutta ihr einige Schritte entgegenging, sagte sie hastig:
»Gnädige Frau, ich habe einen Auftrag auszurichten. Mein Mann möchte mit Ihnen reden, und er ist ja auch so weit ganz klar, aber das ist doch kein Anblick für eine Dame, und wenn Sie nein sagen, so will ich ihm die Antwort bringen.«
»Ich komme«, entgegnete Jutta und wendete sich sofort nach der Kutscherwohnung, während die andere scheu beiseite trat und ihr in einiger Entfernung folgte. So kamen sie beide bis in die Krankenstube.
Jochen Klein war allerdings berauscht gewesen, als er von dem Unfall betroffen wurde, aber der Blutverlust hatte ihn vollkommen ernüchtert, und er machte jetzt nur den Eindruck eines Menschen, der mit dem Leben so ziemlich abgeschlossen hat.
Er deutete auf einen Stuhl neben seinem Lager und winkte Martha mit den Augen.
»Geh' hinaus.«
Als die Frau zögerte, wiederholte Jutta die Aufforderung:
»Lassen Sie uns allein; Sie sehen doch, daß Ihr Mann es haben will.«
Da blieben Sie allein. Und der Kranke begann in seiner langsamen, schwerfälligen Weise zu sprechen:
»Gnädige Frau,« sagte er, »das ist nun mal nicht anders. Der Herr Doktor hat mir den Reisepaß ausgestellt, sonst sollte kein Wort über meine Lippen kommen. Aber wenn ich tot bin, dann werden Sie dafür sorgen, daß die Martha und das Kind aus dem Hause kommen, und das soll nicht sein, denn es ist wider die Natur. Eine Witwe mit ihrem Kinde tut nicht gut auf der Landstraße, sonderlich so eine wie die Martha, und wenn das Kind obendrein ein Mädchen ist.«
Er röchelte ein wenig und sah Jutta an.
»Es tut mir leid um Sie, gnädige Frau, aber ich kann da nicht helfen; jeder ist sich selbst der Nächste. Die Lene ist nämlich nicht mein Kind, sondern der Herr Doktor hat sich mit der Martha vergessen – das war am 2. September vor acht Jahren als die gnädige Frau in Hamburg waren und als hier das Fest gefeiert wurde. Also hat die Lene ein Anrecht auf den Herrn Doktor, er hat es mir selbst zugestanden, und nun müssen Sie das auch wissen, damit das Kind nicht auf die Straße kommt.«
Das war vielleicht die längste Rede, die Jochen Klein in seinem Leben gehalten hatte und sie fiel gerade in das Ende; er legte sich ganz zufrieden in die Kissen zurück und schloß die Augen; alles, was er vorgebracht hatte, entsprach nach seiner Anschauung den Gesetzen der Natur, und um die Gesetze der Menschen kümmerte er sich den Teufel.
Jetzt, in dieser Stunde am allerwenigsten, denn man sah es ihm deutlich an: er wollte nun sterben und in Frieden gelassen werden. Jutta erhob sich leise. Ihr Gesicht war wie Stein, und sie gab keinen Laut von sich; denn sie hatte bisweilen von ihrem Manne gehört, daß man sterbende Menschen noch aufschreien kann, und daß der Todeskampf dadurch verlängert wird. Daran wollte sie nicht die Schuld tragen, denn dieser Mann war unschuldig an allem Leid, es war ihm wirklich zu gönnen, daß er in Frieden heimging.
Sie trat nur an die Tür, hinter der Martha verschwunden war, öffnete einen kleinen Spalt und murmelt hindurch:
»Ich glaube, Ihr Mann stirbt; wenn der Herr zurückkommt, kann ich ihn noch mal herüberschicken.«
»Der Herr« hatte sie gesagt, nicht: »mein Mann«, obwohl die schleswig-holsteinische Hausfrau sonst dem Gesinde gegenüber die letztere Bezeichnung vorzieht; aber es war ihr ganz unmöglich, einen anderen Ausdruck zu finden – der Herr des Hauses gehörte ja gar nicht ihr an, er gehörte vielmehr der andern, sie hatte es mit eigenen Ohren vernommen, und die dumpfen Ahnungen dieser ganzen Jahre waren in eine schreckliche Klarheit umgewandelt. –
Dann fand Jutta sich plötzlich wieder in ihrer eigenen Wohnstube. Wie sie dahin gekommen war, blieb ihr selbst ein Rätsel, aber wahrscheinlich hatte sie doch denselben Weg genommen, auf dem ihr Mann, Gott weiß wie oft, gegangen sein mochte. Denn daß die beiden sich nur ein einziges Mal, daß sie sich nur am Sedanfest »vergessen« haben sollten, war vollkommen ausgeschlossen und ein geradezu lächerlicher Gedanke. Man vergißt sich vielleicht das erste Mal, aber wenn die Gelegenheit so günstig ist, dann kommen die andern Male von selbst, und damit die ganze Häßlichkeit eines heimlichen Konkubinats unter den blinden Augen der betrogenen Frau. Pfui! wie gemein und wie lächerlich zugleich.
Um Mitternacht kam Heller zurück. Er war ungeachtet der heutigen Begebenheit in einer verhältnismäßig gehobenen Stimmung, denn die Entbindung der Frau Oberlehrer Schulz hatte sich wider Erwarten günstig gestaltet und der Arzt konnte sogar dem glücklichen Vater die Versicherung geben, daß einem »da capo« nichts im Wege stünde. Der Oberlehrer hatte gelacht:
»Die Herren Ärzte handeln doch nie nach ihren eigenen Rezepten; warum haben Sie denn nur ein Kind in die Welt gesetzt?« – – –
In Erinnerung an diese kleine Unterhaltung zwischen Tür und Angel lächelte Heller ein wenig, als er durch seinen Garten ging, aber dann sah er sich doch scheu um.
Drüben in der Kutscherwohnung war noch Licht – natürlich, das ging diese Nacht auch nicht aus; aber in seinem eigenen Hause brannte ebenfalls die Lampe, Jutta war also noch auf und sie ging sonst regelmäßig um zehn Uhr ins Bett.
Das war eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit, eine Zärtlichkeit, die bei Doktorsfrauen selten vorkommt, denn die werden ohnehin oft genug im Schlaf gestört.
Sollte sie mit denen da drüben so viel Mitleid haben, daß sie deswegen nicht schlafen konnte?
Ähnlich sah ihr das nicht.
Und Dr. Heller betrat das Haus ungefähr mit jenen gemischten Gefühlen, die ein Ehemann hegt, wenn er aus lustiger Gesellschaft spät in der Nacht heimkommt, wenn er die Stiefel auf dem Flur auszieht, und ihm dann plötzlich durch den Spalt der Tür ein Lichtstrahl in die Augen fällt.
Donnerwetter, das Gesicht!
Jutta saß bei der Lampe und ihre Züge verkündeten allerdings nichts Gutes. Sie war damals achtunddreißig Jahre alt und stand eigentlich noch in der Blüte ihrer frauenhaften Schönheit, denn die Nordländerinnen reifen spät und halten sich desto länger; aber dieses Gesicht von Stein machte sie plötzlich um zehn Jahre älter.
Heller blieb an der Tür stehen.
»Du bist noch auf, Jutta,« sagte er – »haben sie wieder von drüben geschickt?«
»Ja.«
»Dann will ich gleich gehen –«
»Es ist nicht nötig; sie schickten nach mir.«
»Und du bist drüben gewesen?«
»Ja.«
»Wie steht es denn? Ist er – tot?«
»Tot? Ich weiß nicht – ja, er wird jetzt wohl tot sein.«
Der Doktor trat näher an den Tisch heran; er fühlte, daß ihm die Knie zitterten.
»Du bist so sonderbar, Jutta; was bedeutet das?«
Nun sah sie ihn zum erstenmal an – mit einem kalten leeren Blick.
»Was das bedeutet? Drüben ist der Tod; hier ist er auch.«
»Jutta!!«
»Du denkst wohl, daß ich wahnsinnig geworden bin« – fuhr sie mit derselben kalten Stimme fort; »es ist auch zum Verrücktwerden. Jochen hat mir alles gesagt, mit Dir und – der Martha.«
Es kostete sie viel Überwindung, den Namen auszusprechen, aber sie zwang sich dazu, wie jemand, der eine ekelhafte Medizin einnimmt. Und dann nahm sie ein Buch, das zufällig auf dem Tisch lag, schlug es verkehrt auf und starrte hinein.
Heller hatte sich mechanisch in einen Sessel gesetzt und den Kopf in die Hände gelegt – so vergingen ein paar Minuten.
Dann warf die Frau das Buch hin.
»Du leugnest nicht?«
»Nein, Jutta, ich habe mich vergessen – einmal, vor acht Jahren.«
»Einmal – vergessen,« wiederholte sie tonlos, »und nun soll ich es auch vergessen, was?«
»Wenn du kannst Jutta?«
»Das Kind?«
»Wird wohl meins sein,« entgegnete er leise – »die Zeit stimmt wenigstens.«
»Und das soll ich auch vergessen?«
»Es ist schwer, Jutta, ich gebe das zu. Vergessen und vergeben, sonst ist es ja aus mit uns.«
»Ja – sonst ist es aus.«
Wieder eine lange schwüle Pause, in der sie beide hinaushorchten; das Gewitter schien zurückzukehren, es grollte abermals in der Ferne wie das Murren einer Bestie, die gereizt wird und die Pranke zusammenzieht – auch das schillernde Auge fehlte nicht, denn es fuhr bisweilen durch die Kronen der Bäume, wie das Leuchten von Phosphor.
»Wie kam das?« fragte Jutta – »ich will alles wissen.«
»Mein Himmel, wie kommt so etwas! Am Sedanfest – wir hatten ziemlich viel getrunken, und du selbst warst nach Hamburg gereist –«
»Ja,« unterbrach sie seine zögernde Beichte und das Gewitter kam näher – »so sind diese Herren der Schöpfung. Es wandelt sie ein Gelüste an und das muß um Gotteswillen befriedigt werden. Die gesetzliche Konkubine ist nicht zur Hand, da muß die Magd aushelfen oder die Frau des Pferdeknechts – ob sie willig ist oder nicht – –«
»An der Willigkeit fehlte es nicht, Jutta. Sie stand unter der Tür und lockte mich an sich –«
»Das war wohl nicht zum erstenmal!«
»Doch, ich gebe dir mein Ehrenwort. Zum ersten- und letztenmal – das heißt –«
»Das heißt –«
Er hatte sich selbst eine Falle gestellt und die klappte nun zu. Das Ehrenwort ist für jeden akademisch gebildeten Mann ein großes Ding, fast wie ein Schwur, und darin darf keine Zweideutigkeit enthalten sein.
Da sagte Heller:
»In unserer Ehe ist es nur das einzigemal vorgekommen. Früher allerdings, vor meiner Verheiratung, hatten wir ein Verhältnis miteinander; die Martha und ich.«
Das war zuviel; es war mehr als eine Frau ertragen kann. Die einmalige Verirrung hätte sie ihm vielleicht verziehen, trotz allem und allem; was vor der Heirat lag, darnach fragte sie nicht; es gäbe sonst keine Ehe, die nicht auf einem Fragezeichen stünde, aber das Vermischen von einst und jetzt gab ihr einen Schlag in das Gesicht.
Jutta fuhr empor:
»Weißt du auch, was du getan hast? Du hast deine Gattin zu einem Kebsweib gemacht; wer einen Funken Ehrgefühl im Leibe hat, der sperrt die eigene Frau nicht zusammen mit der früheren Geliebten! Pfui, wie gemein und wie ekelhaft, das ist ja schlimmer als im türkischen Harem, da weiß wenigstens jede, was sie von der andern zu halten hat. Wie sie mir wohl nachgegrinst haben mag, deine Hure, wenn ich Arm in Arm mit dir am Hause vorüberging, wie sie wohl gelacht hat, wenn es hinter unsern Schlafstubenfenstern hell wurde! ›Die glaubt einen Mann zu haben, der ihr gehört, und es ist doch nur der Abhub von meinem Bett‹, so hat sie gedacht, das Weib, und du hast es mitgedacht! Kannst du mir darauf antworten? Hast du eine Entschuldigung?«
»Nein, Jutta,« sagte er – »du bist in deinem Recht.«
Sie stand auf und trat vor ihn hin; die Arme unter dem vollen Busen gekreuzt, trotz ihren achtunddreißig Jahren hinreißend schön – fast wie eine Vestalin.
»Habe ich dir jemals diesen Leib verweigert, wenn du ihn begehrtest?«
»Nein.«
»Hast du ihn nicht besudelt wie bei einem Bordellmädchen?«
Er schwieg und blickte vor sich nieder.
»Also nun ist es aus,« sagte Jutta hart; »wir haben nur noch die Formen zu bereden, unter denen dies Konkubinat aufgelöst wird.«
»Ja; der Leute wegen und – wegen unseres Sohnes.«
Dieser Name war noch nicht genannt worden, aber er mußte doch endlich kommen, und Jutta ging wieder auf ihren Platz zurück.
»Wegen meines und deines Kindes; ich kann das mit besserem Recht sagen als der Ärmste da drüben; ich bin dir immer treu gewesen. Wie denkst du dir die Sache.«
»Er ist bald mit der Schule fertig, er wird alsdann mehr des Vaters als der Mutter bedürfen, aber der Vater – – –«
»Das heißt also! Du willst ihn behalten.«
Jutta legte den Kopf in die Hände und zerwühlte ihre Haare; es war ein schrecklicher Kampf, aber diese Frau besaß mehr Energie als man ihr zugetraut hatte.
»Er wäre bei mir wohl besser aufgehoben als bei dir; und wenn wir uns wegen Ehebruch scheiden lassen, dann bist du der schuldige Teil und er ist mein. Der Leute wegen wäre mir das gleichgültig, aber unser Sohn darf von dieser Häßlichkeit nichts erfahren. Ich werde mich opfern müssen.«
»Du hast schon so viele Opfer gebracht, Jutta!«
»Ja, das weiß Gott; aber das Kind geht vor. Es gibt ja nur einen reinlichen Weg zur Scheidung, was die Leute so reinlich nennen. Also das ist die bösliche Verlassung. Du kannst mich nicht verlassen, denn du hast hier deinen Beruf und dein Brot. Folglich muß ich gehen.«
»Nach Hamburg zu deinen Verwandten?«
»Nein,« sagte sie schaudernd, »es hat alles seine Grenzen. Die würden mich auch bei den Haaren zurückschleifen, die stolzen Patrizier. Ich muß weit weg – ich muß mich verkriechen.«
Es war so entsetzlich, daß Heller einen Aufschrei nicht unterdrücken konnte:
»Jutta, bleib bei mir! Das Weib soll noch morgen aus dem Hause!«
»Nein, das ist zu spät. Begreifst du denn gar nicht, daß mir vor dir graut? Einen Flecken willst du ausschneiden und einen Flicken darauf setzen? Pfui, ich gehe nicht in geflickten Kleidern! Morgen reise ich ab. Du bekommst einen Brief, daß ich nicht zurückkehre, den kannst du auf das Gericht tragen; es ist alles so einfach.«
»Du mußt doch Gründe angeben, Jutta?«
»Wozu bin ich ein Weib!« sagte sie und lachte bitter auf. »Von einem Weib verlangt man keine Gründe – Laune, weiter nichts. Ich kann ja allenfalls schreiben, daß wir uns gezankt hätten, das kommt in jeder Ehe vor und die Richter trennen drauf los wie der Schneider eine Nat. Die Ehe ist kaum eine Nat, es sind Reihfäden, weiter nichts.«
Da sah er wohl ein, daß alles in ihr tot war. Sie hätten nun noch über die Geldfrage reden können, denn Jutta hatte ein ziemlich bedeutendes Vermögen eingebracht, aber Heller schämte sich, davon anzufangen, ein Rest ritterlichen Empfindens sagte ihm, daß er jeden Anspruch darauf verloren hatte, wenn sie auch vor der Welt die Schuld auf sich nahm. Und wenn sie ihm die Hälfte ihrer Habe angeboten hätte, in dieser Stunde wäre er stark genug gewesen, es auszuschlagen – er wollte überhaupt ein ganz anderer Mensch werden, der sich nur seinem verwaisten Kinde widmete und die verdammten Weiber wie ein giftiges Gewürm von sich abschüttelte.
O ja, was wollte er nicht alles in dieser Stunde der tiefsten Demütigung! – – – – – –
Am folgenden Morgen reiste Jutta wirklich ab. Es war natürlich niemand da, der sie großartig mit Koffern und Schachteln auf die Bahn fahren konnte, denn Jochen Klein hatte selbst die lange Reise angetreten, von der noch kein Mensch zurückgekehrt ist, aber es lag auch gar nicht in dem Plan der Ehegatten, diese Trennung mit viel Geräusch in Szene zu setzen.
»Wegschleichen« – hatte Jutta gesagt – »das andere regelt sich von selbst aus der Ferne.«
So war sie in den Vormittagsstunden, während Franz im Gymnasium weilte, zu Fuß an die Bahn gegangen, und das Hausmädchen trug ihr einen kleinen Handkoffer nach. Man hatte sich schon daran gewöhnt, daß sie plötzlich auf ein paar Tage nach Hamburg hinüberfuhr; denn der Doktor konnte nur selten von seinen Patienten fort und in der großen Hansestadt gab es immer allerhand Besorgungen.
Bald darauf kam dann eine Postkarte, mit der Dr. Heller zu der Zofe ging und sie ihr zum Lesen gab.
Die gnädige Frau war unvermutet zu einer erkrankten Schwester nach Berlin gerufen worden und mußte sich auf einen längeren Aufenthalt einrichten; die Liesbeth sollte das und das einpacken und an die bezeichnete Adresse schicken, sie wüßte ja mit allen Dingen Bescheid.
Dann wieder etwas später traf der verabredete Brief ein. Er war nicht von Jutta selbst geschrieben, sondern von einem Rechtsanwalt, der in kühler geschäftlicher Form mitteilte, daß Frau Dr. Heller aus gewissen, nicht näher bezeichneten Gründen die Rückkehr zu ihrem Gatten verweigere, daß sie über die rechtlichen Folgen dieses Entschlusses belehrt worden sei und dem Herrn Doktor anheimgebe, die Ehescheidungsklage einzureichen.
Mit diesem Schreiben ging Heller zu seinem eignen Anwalt und bat ihn, die Angelegenheit tunlichst zu beschleunigen. Er deutete nur an, daß zwischen ihm und Jutta seit längerer Zeit tiefe Differenzen bestanden hätten, die eine Aussöhnung vollkommen unmöglich machten, und der Mann des Rechts war diskret genug, das alles mit einer gläubigen Miene hinzunehmen. Es war ja ganz klar, daß der eigentliche Grund nicht an die Öffentlichkeit kommen sollte und daß es mit der böslichen Verlassung nur eine Farce war, aber das Bürgerliche Gesetzbuch hatte damals seine Riegel noch nicht vorgeschoben und auch die Richter beugten sich vor der Farce. Es ging alles ganz glatt und sachte, es ging gewissermaßen auf Fußspitzen und mit angehaltenem Atem, damit nur ja nicht das schlafende Ungeheuer aufgeweckt wurde, das wir die öffentliche Moral nennen.
Die Anwälte überboten einander in liebenswürdigem Entgegenkommen und die Richter lächelten heimlich dazu; es war eine vollkommene Maskerade auf dem Boden des Gesetzes, nur daß die Mitternacht nicht heraufkam, wo die Larven abgenommen werden.
Nach wenigen Wochen wurde die Ehescheidung ausgesprochen, und der Vorsitzende hatte noch nicht das Barett abgenommen, als die Anwälte schon erklärten, daß sie auf ein Rechtsmittel verzichteten; an demselben Vormittag traten sie dann noch einmal zusammen, um die Vermögensverhältnisse zu regeln.
Jutta überließ die Hälfte ihres Eingebrachten dem geschiedenen Gatten zum Nießbrauch und zur Verwaltung, jedoch mit der ausdrücklichen Bestimmung, daß der Zinsabwurf zum Teil für das Studium ihres Sohnes verwandt werden und daß Franz dereinst das Kapital erben sollte.
Und Dr. Heller nahm das großmütige Geschenk an; Jutta war ja vor dem Gesetz der schuldige Teil und er selbst handelte im Interesse seines Sohnes.
Er nahm an und wurde nicht einmal rot dabei; jene Mitternachtsstunde war vergessen – es lagen ja schon zwei Monate dazwischen!
*
Es war außerordentlich bezeichnend, wie die Beteiligten und die Unbeteiligten sich mit dieser Affäre abfanden.
Unter dem Volke wurde überhaupt nicht viel davon geredet. Die Leute hatten ihre Sorgen, vor denen das Eheleben zurücktrat; sie liefen zusammen und liefen auseinander; wenn die »Vornehmen« es ebenso machten, so wunderte sich niemand groß darüber.
Die »Gesellschaft« war froh, daß es keinen Skandal gegeben hatte. Wer den Doktor kannte – und sie kannten ihn alle – der zweifelte natürlich keinen Augenblick daran, daß hier eine »Eheirrung« auf seiten des Mannes und eine heroische Tat auf seiten der Frau vorliege; aber Dr. Heller war ein tüchtiger und beliebter Arzt, er kam in die besten Familien und konnte dort nur schwer entbehrt werden; dem offenkundigen Ehebrecher hätte man Frau und Tochter nicht anvertrauen können – bei dem heimlichen hielt man höchstens die Augen ein bischen offen.
Der weltfremde Professor Mohrmann war vielleicht der einzige, der die Sache nur nach ihrer Außenseite betrachtete.
Als der Ehescheidungsprozeß losging, kam er zu seinem Freunde herüber und drückte ihm die Hand.
»Es sind nicht mehr die Frauen des Tacitus,« sagte er. »Wenn ich dir einen Vorwurf machen kann, so ist es, der, daß du bei deiner Ehe vielleicht zu sehr auf Äußerlichkeiten gesehen hast; meine Marie hätte das niemals fertig gebracht.«
Und Heller steckte so tief in der Lüge, daß er nicht nur den Händedruck erwiderte, sondern noch ein klassisches Zitat fand:
» Semper mutabilis femina« sagte er mit einem resignierten Achselzucken. –
Der Nächstbeteiligte war natürlich Franz, und grade an ihm ging der Abschied von seiner Mutter ziemlich spurlos vorüber.
Im Grunde genommen war es ja auch gar kein Abschied gewesen, Frau Jutta hatte sich buchstäblich von ihrem Kinde weggeschlichen, mit wie blutendem Herzen, das wußte sie allein.
Und sie glitt weiter fort von ihm, wie ein Schatten.
Als Julius einmal in seiner etwas bombastischen Art von einem »verwaisten Sohne« sprach, da zuckte Franz die Schultern.
»Du, wir sind doch Männer, wir wollen das begraben. Wenn ich die Wahrheit sagen soll – und du bist ja so'n Wahrheitsapostel – Mutter war mir immer höllisch auf den Hacken. Nicht den kleinsten Schlenker konnte ich mir gönnen, dann war sie immer gleich mit der Moralpauke bei der Hand – und mit Tränen, die ich nun gar nicht ausstehen kann. Mein alter Herr ist ganz anders; ich glaube, der hat in seiner Jugend eklig gewirkt und davon ist noch sein noblesse oblige geblieben. Dem kann ich beichten; das wäre bei Mutter gar nicht möglich gewesen.«
Nennt ihr das » moral insanity«? Franz Heller hatte keine abstehenden Ohren und keine zurückfliehende Stirn, die Anhänger von Lombroso hätten keinen Fehl an ihm gefunden – aber wir, die wir das Leben kennen, wir wissen, daß in einem sehr schönen Körper eine sehr häßliche Seele stecken kann und daß der schlimmste Trottel bisweilen ein Golgathagänger ist.
Wir sind noch lange nicht am Rande unserer Weisheit. – – – –
Martha? – – –
Sie hatte ihren Mann, der eigentlich nie ihr Mann gewesen war, mit einigen Witwentränen begraben, und es gibt böse Leute, die wissen wollen, daß man aus Witwentränen mitunter eine Perlenschnur zu fünf Groschen machen kann.
Die Schrecken der Todesnacht waren jedenfalls nicht tief gegangen. Sie hatte geheult und geschrien, und es gibt ungläubige Menschen, die nennen das Gewinsel am Sterbebett eine Aprilböe.
Dann kam die Brotfrage.
Es war ja ganz begreiflich, daß Dr. Heller die arme Witwe nicht von heute auf morgen vor die Tür setzte; die »Frommen« wären schön mit ihm abgefahren ob dieser Brutalität. Frau Martha blieb also einstweilen in der Kutscherwohnung sitzen und der Doktor behalf sich indessen mit einem Knecht aus der Posthalterei.
Bis über die ganze Ehescheidungszeit hinaus.
Da begannen die »Frommen« ihre Ohren zu spitzen.
»Ei, ei, das ist doch recht merkwürdig, von dieser Seite kennen wir den Doktor noch gar nicht. Anständig muß der Mensch sein, das versteht sich, aber es gibt eine gewisse Grenze, da wird die Humanität zur Sentimentalität. Ei, ei, –«
War eine ganz alte Madam da, die immer bei den Kaffeekränzchen in der rechten Sophaecke saß.
Die stippte ihre Bretzel in den Kaffee und murmelte mit den zahnlosen Kiefern und sagte:
»Die Frau ist nun glücklich weg aus dem Hause; mich dünkt, das Weib in der Kutscherwohnung könnte allmählich denselben Weg gehen. Ich habe so'n Vögelchen pfeifen hören.«
»Was denn – was denn?!«
»Es ist lange her; damals als er noch in Kiel studierte. Heißt sie nicht Martha? Na, eine Marie ist sie wohl nie gewesen, sie hatte es immer mehr mit dem Irdischen. Im übrigen will ich nichts gesagt haben, denn wir sind allzumal Sünder und der Mensch soll sich nicht den Mund verbrennen!«
Das Wort lief herum wie ein verschütteter Quecksilbertropfen, der sich in andere Kügelchen zerteilt, und die laufen abermals herum – aber es ist doch ein Unterschied zwischen dem giftigen Quecksilber und der giftigen Nachrede, denn die Kinder des Raunens werden zum Geschrei. –
Eines abends in vorgerückter Stunde kam Pastor Roller in die Doktorwohnung, die er sonst nur selten betrat – denn Heller gehörte zwar zu seiner Diözese, aber er setzte keinen Fuß in die Kirche und galt überhaupt als ein arger Freigeist.
Der Geistliche hatte ein sehr feierliches Gesicht aufgesetzt:
»Es ist eine peinliche Angelegenheit, die mich heute zu Ihnen führt,« sagte er zögernd, »und ich weiß nicht einmal ganz genau, wo in diesem Falle die Grenze zwischen meiner amtlichen und gesellschaftlichen Stellung zu suchen ist. Denn im Grunde genommen gilt der Begriff der Kirchenzucht als veraltet, und wenn Sie mir die Tür weisen wollen, so befinde in mich in der Rolle eines wehrlosen Mannes.«
»Es wäre für einen Vertreter der Kirche das erstemal,« entgegnete Heller gut gelaunt; »hat das Konsistorium beschlossen, mich zu exkommunizieren?«
»Nein, aber die öffentliche Meinung ist auf dem Wege dazu.«
Es war gerade die Zeit, wo das Ehescheidungsurteil die Rechtskraft beschritten hatte und Heller wurde ein wenig stutzig.
»Ich kann doch nichts dazu, daß mir meine Frau fortgelaufen ist,« sagte er kühl.
»Davon ist auch nicht die Rede,« beeilte sich der Geistliche zu versichern. »Aber die Stellung des geschiedenen Mannes tritt gewissermaßen wieder in das Junggesellenstadium zurück, nur mit dem Unterschied, daß ein strengerer Maßstab angelegt wird als leider bei den Junggesellen der Fall zu sein pflegt. Um auf die Sache selbst zu kommen, Herr Doktor! man verdenkt es Ihnen, daß Sie dieses Frauenzimmer – die Martha Klein – noch immer im Hause haben, obwohl die äußere Veranlassung dazu in Wegfall gekommen ist.«
Heller biß sich auf die Lippen.
»Man ist sehr gütig, Herr Pastor, sich so fürsorglich mit meinen Angelegenheiten zu befassen. Übrigens kann von demselben Hause nicht die Rede sein, denn es liegt ein Garten dazwischen.«
Die kleine Zynik, die in diesen Worten lag, bestärkte den Prediger noch mehr in seinem Verdacht. Er wurde zugeknöpft bis an den Hals und zuckte die Schultern.
»Ich habe meine Pflicht getan, Herr Doktor. Die Tatsache der öffentlichen Meinung besteht zweifellos, auf ihre Gründe werde ich nicht weiter eingehen; es gibt Dinge, die jeder am besten mit sich und seinem Gewissen abmacht. Ich habe bereits betont, daß der Geistliche in dieser Frage ausscheidet und nur als Sprachrohr der Gesellschaft seine Stimme erhebt! Sie selbst werden am besten wissen, wie sehr der Erfolg eines Arztes von dem Vertrauen abhängt, das man dem Menschen entgegenbringt.«
Die kurze Unterredung hatte ihr Ende erreicht; sie konnte ohne Anschuldigungen und Bekenntnisse gar nicht weitergeführt werden und die beiden Männer hatten das übereinstimmende Bestreben, jede Vertraulichkeit zu vermeiden.
So schieden sie voneinander in vollkommen korrekter Haltung, aber wie zwei Gegner, die sich ihren Kartellträger angekündigt haben – und Dr. Heller wußte ganz genau, daß jetzt das große Duell mit tödlichen Waffen vor sich gehen werde: Der Kampf mit der öffentlichen Meinung – – –
Er sah auf seine Uhr; es war zehn vorüber. Im Hause schlief schon alles; außer Franz war überhaupt nur eine alte Wirtschafterin und das Dienstmädchen vorhanden, die Zofe hatte bereits ihren Abschied erhalten, so daß der Doktor wirklich ein ziemlich unbeobachtetes Junggesellendasein führen konnte.
Bis jetzt hatte er davon noch keinen Gebrauch gemacht. –
Zehn Uhr vorbei. Der Doktor stellte sich an das Fenster und sah nach der Kutscherwohnung hinüber; in Marthas Wohnstube brannte noch Licht.
Die Frau ging selten vor elf oder halb zwölf ins Bett; sie arbeitete für ein Konfektionsgeschäft und hatte es wohl nicht leicht, obschon Heller für das Kind sorgte und ihr heimlich allerhand zusteckte. Und nun wollten die Leute, daß sie ihre Wohnung verlieren sollte.
Schließlich kam es auf eins hinaus, denn der Doktor konnte auch eine andere bezahlen; aber das kam fast einem Aushalten gleich und wenn die Ohren erst einmal gespitzt sind, dann hören sie das Gras wachsen.
Was wollten die Leute denn überhaupt; was ging sie das alles an? –
Heller war schon auf dem Wege nach der Kutscherwohnung. Vor Magdalene, die mit ihren sieben Jahren auch schon hellhörig wurde, konnte er sicher sein – das Kind schlief nicht bei der Mutter, sondern in einer besonderen Kammer hinter der Küche und lag natürlich schon längst im Bett; es gab gar keine günstigere Zeit für eine vertrauliche Aussprache, und seit ein paar Wochen, seitdem das Ehescheidungsurteil gesprochen war, hatte der Doktor sich förmlich darnach gesehnt. –
Obwohl er sich vollkommen unbeobachtet wußte, ging er doch unwillkürlich sehr vorsichtig – just wie einer, der sich auf verbotenen Wegen befindet – und wenn auch der Teufel diese Wege sehr sorgfältig ebnet, da ist wieder der sogenannte gute Engel, der einen Stein hinlegt.
Dr. Heller stieß mit dem großen Zeh an diesen Stein und es fuhr ihm ein scharfer Schmerz durch den ganzen Fuß; na, es fehlte just, daß sich schon ein kleines nettes Zipperlein meldete!
Mit achtundvierzig Jahren, wo der Mensch erst anfängt zu leben, besonders wenn er eben frei geworden ist!
Aber der Schmerz ging vorüber – es war doch wohl nur der Stein gewesen.
Ahnungsvermögen besaß die Martha nicht, denn sie hatte ihre Tür schon verriegelt und nun kam das Dümmste von allem; wenn der Doktor nicht umkehren wollte, wie ein belämmerter Bursche, der seinen Gaul an einen dürren Ast bindet, dann mußte er an das Fenster gehen – ganz, wie ein richtiger Bursche es zu tun pflegt.
Und er pochte.
Drinnen fuhr ein Schatten in die Höhe; der Vorhang wurde zurückgeschoben, dann folgten leise eilige Schritte und das Klirren des Riegels.
» Endlich kommst du!«
Dieser Empfang entschied für die nächsten paar Jahre; denn es ist wohl ein großer Unterschied, ob der Herr des Hauses – vielleicht nach zehn Uhr abends – durch die offene Tür kommt, um mit seiner Mieterin eine ernste Sache zu bereden, oder ob er »eingelassen« wird. Bei dem Barte des Propheten, das ist ein Unterschied!
Dieses Weib – sie war jetzt in dem gefährlichen Alter von achtunddreißig Jahren –, dieses Weib hatte sich wunderbar erhalten. Nicht wie damals am Sedanfest im Unterrock und lottriger Nachtjacke stand sie vor ihm, sondern in einer enganliegenden schwarzen Witwentracht, die von ihren üppigen Formen nichts verbarg. Und bevor der Doktor noch ein Wort reden konnte, hatte sie ihn um den Hals.
»Endlich!« wiederholte sie halb atemlos. »Abend für Abend habe ich hier gesessen und darauf gewartet; ich hatte schon daran verzweifelt, aber nun bist du da, und nun ist alles gut!«
Das waren die Sirenenlaute, wie damals in Kiel, als er Student und sie ein junges Mädel von siebzehn Jahren war und er wurde so sehr in jene selige Zeit versetzt, daß ihm ein übermütiges Wort auf die Lippen kam:
»Ein schönes Warten, Martha! Bei verschlossener Tür!«
»Immer ehrbar« – entgegnete sie mit leisem Lachen und zog ihn in die Stube. »Ehrbar nach außen und heimliches Feuer! Du Satan weißt gut genug, wie das tut.«
Dann drückte sie ihn auf das Sopha und setzte sich auf seine Knie.
»Still! Kein Wort von der Vergangenheit! Sie sind alle tot und wir leben. Alt, sagst du?«
»Ich habe gar nichts gesagt, Martha!«
»Sollst du auch nicht. Nur unsere Liebe ist alt, und die rostet nicht; wir sind jung, jung, jung!«
Er konnte sich ihrer gar nicht erwehren, so fest hatte sie ihn umschlossen. Sie war schwerer geworden, seitdem er sie zum letztenmal auf dem Schoß gehalten, denn damals am Sedantag hatten sie sich nicht groß mit Präliminarien abgegeben; ja, sie war schwerer und üppiger geworden, aber sein Geschmack hatte sich seitdem auch gewandelt.
Das war doch noch ein Weib!
Allmählich wurde sie ruhiger und ließ ihn frei.
»Willst du erst mal deine Tochter sehen, du Rabenvater?«
»Sie schläft wohl, wir wollen sie nicht stören.«
»Und ob sie schläft! Wie ein Ratz! Die wird nicht wach, und wenn –«
Sie preßte ihre heißen Lippen an sein Ohr und flüsterte ihm ein paar Worte zu.
»Du bist toll!« sagte er darauf.
»Bin ich es, Max? Kann sein, man ist in dem Alter. Aber du irrst dich doch, mein Schatz, es ist nicht so wie vor acht Jahren das Muttergefühl – na ja, Schwamm drüber. Ich sage dir, wir werden jetzt sehr verständig sein, wie ein paar Eheleute, die sechs Kinder haben. Noch mal – nicht in die la main!« Den feiner gebildeten Mann überlief doch ein leises Unbehagen. Dieses Weib, das sich wieder an ihn drängte, das mit den Knien seine Knie suchte, sie war doch eigentlich weiter nichts als eine läufige Hündin, und vielleicht nicht mal so viel. Aber nun war es für ein Zurück zu spät. Es galt höchstens, die Frau zu warnen, daß sie keine Torheiten beging, und Heller erzählte ihr daher, daß der Pastor dagewesen sei, und was er gesagt hatte.
In ihren schwarzen Augen glomm ein feindlicher Strahl aus:
»Du willst mich wohl auf die Straße setzen? Mich und dein Kind?«
»Ich denke nicht daran, Martha.«
»Oder vielleicht ausmieten?« fragte sie weiter, und das Feuer in ihren Augen wurde zärtlicher.
»Auch das nicht, Schatz. Wozu den Weg zu dir länger machen, als nötig?«
»Schatz« hatte er gesagt und er wollte das Verhältnis fortsetzen.
Nun war alles gut, und sie schmiegte sich wieder an ihn.
»So bist du lieb. Heute kommst du nicht mehr zurück in dein kaltes Bett.« – – –
Es war Heller ernst mit seinem Vorsatz. Der Besuch des Predigers hatte seinen Widerspruch gereizt, er wollte den Kampf mit der Welt aufnehmen, er wollte den Leuten zeigen, daß sich kein Mensch um seine Angelegenheiten zu kümmern hatte.
Es kam ja auch nichts heraus, dafür wollte er schon Sorge tragen. – – –
Aber als er dann in der Nacht bei Mondlicht aufwachte und das müde, schlafende Weib neben sich sah – sie hatte das Nachthemd geöffnet, und ihre mächtigen Brüste starrten ihm entgegen – da konnte er sich doch eines Schauers nicht erwehren.
Drüben schlief sein Sohn – schon heute ein mannbarer Jüngling – und in weiter Ferne lebte die Mutter, die sich weggeschlichen hatte, mit seiner Schuld auf ihren Schultern.
Ja, das Dasein war ein Abgrund und man mußte sich nur darüber wundern, daß die Menschen so lange am Rande dieses Abgrundes stehen bleiben.
Und dann küßte Heller die weiße Brust seiner Konkubine. – – –
*
Die letzten Gymnasialjahre waren für Franz und Julius nicht ganz ohne Dornen. Jene charakteristischen Eigenschaften der beiden Freunde – Leichtsinn auf der einen und Zerfahrenheit auf der andern Seite – traten immer deutlicher in den Vordergrund und stellten sogar das Reifeexamen in Frage. Jedenfalls blieben beide in der Unterprima sitzen und rückten auf diese Weise nebeneinander – denn man hatte damals noch die wissenschaftliche Rangordnung, die heute von der Nervenfurcht beseitigt und durch nichtige Äußerlichkeiten ersetzt ist.
Das waren jene Tage, wo Julius, der besonders schwach in Mathematik war, vor sein Lehrbuch die klugen Worte einschrieb: » solamen miseris socios habuisse malorum« – und Franz aus dem » miseris« ein » miserum« machte; das war die Zeit, in der sie Blutbrüderschaft schlossen: ganz nach dem Muster berühmter Afrikaforscher, die ihnen damals besonders beneidenswert erschienen.
Julius plante sogar eine heimliche Flucht aus dem Vaterhause, und Franz meinte, man solle einfach den Direktor verprügeln und dann abgehn – denn der eine war in das Alter seiner Leibrente getreten und der andere hatte etwas von dem mütterlichen Vermögen pfeifen hören.
Inzwischen blieben sie beiden dennoch auf der Schulbank und trugen die Last des Daseins.
Mit Dr. Hellers Praxis ging es zurück, denn obwohl er sein Verhältnis zu Martha so geheim hielt, daß selbst der geschlechtliche Spürsinn des eigenen Sohnes nichts davon merkte, so blieb doch der Trotz gegen die öffentliche Meinung nicht ohne Nachwirkung; man zog sich von dem Arzte zurück und Juttas Name wurde immer häufiger mit einer gewissen Teilnahme genannt.
Ihren Aufenthalt kannte niemand. Sie sollte irgendwo im Süden leben, ruhelos, beständig auf Reisen, gleich jener unglücklichen Kaiserin, die Gatten und Sohn verloren hatte, und überall wie ein Schatten aus der Vergangenheit auftrat – nur daß Eugenie an ihrer eigenen Schuld trug, während Jutta eine fremde mit sich herumschleppte.
Heller sprach niemals von seiner geschiedenen Frau. Aber es gab Zeiten, wo ihr Schatten so deutlich hinter ihm stand, daß er keinen andern Ausweg wußte, als ihn durch nächtliche Gelage zu verscheuchen; dann empfand er auch sein Verhältnis zu Martha wie eine Last und bisweilen glaubte er eine Art Haß gegen sie zu hegen, der im Grunde genommen doch nichts anderes war als der beginnende Überdruß. Es hat eben alles ein Ende und das Feuer der Brunst wird mit Stroh genährt.
Martha zeigte noch keine sichtliche Abnahme ihrer körperlichen Reize. Obwohl nun bald vierzig Jahr alt, war sie noch immer ein begehrenswertes Weib, und ihre eigene Begierde nahm allmählich den Messalinencharakter an – aber sie warf wohl ihre Augen auf jüngere Männer, der alternde, durch Ausschweifung erschöpfte Geliebte ihrer Jugend genügte nicht mehr, sie hielt ihn nur noch fest, weil damit pekuniäre Vorteile verbunden waren. Denn auch von jener Rosenkette, die sonst wohl durch ein gemeinsames Kind um Mann und Weib geschlungen wird, und die ein Konkubinat zur Ehe veredeln kann – auch von ihr war zwischen diesen beiden Menschen nicht die Rede.
Magdalena – der man später den Beinamen »Dolorosa« gegeben hat – Magdalena ist niemals ein glückliches Kind gewesen.
Der Mann, mit dem sie keinen Blutstropfen gemeinsam hatte, war vielleicht noch am liebevollsten gegen sie gewesen, weil seine derben Sinne nicht bis in die Tiefe der Natur reichten; aber grade die Roheit seiner Sitten, die durch Alkohol entfesselte Bestie schreckten das feinbesaitete Mädchen ab und sein Ende bedeutete für sie nichts weiter, als eine grauenvolle Erinnerung. Martha hatte dieses Kind aus einem echten natürlichen Muttergefühl empfangen und wenn der Vater ein freier Mann gewesen wäre – ob er sie heiratete oder ob er sie sitzen ließ – sie wäre wohl auch eine gute Mutter geworden, denn die Kinder der Liebe sind freilich auch Kinder der Sorge, aber die Liebe ist die größere.
Nun aber stand die Schuld neben der Wiege und sie nistete sich in die Windeln, und sie lag wie eine Milchschwester an der Mutterbrust.
Martha Klein hat ihr Kind nie gemißhandelt und sie hat es nie hungern lassen; aber Hunger und Schläge sind eine Seifenblase, wenn nur die Sonne der Liebe ihre Regenbogenfarben hineinmischt; von diesem Glanze hat Magdalena niemals etwas verspürt und wenn sie später ihre Seele dafür hingab, um ein Kind an der Brust zu haben, so ist das nur ein Beweis für die große Naturwahrheit, daß nicht das Anerzogene sondern das Eingeborene die Welt trägt.
Ihr Frauenrechtlerinnen: merkt Euch dies Wort! – Zwischen dem Kinde und seinem Erzeuger stand die Brücke des Instinkts. Aber Dr. Heller war der Herr, der vornehme Villenbewohner, zugleich auch der Pate, der im Vorübergehen seinem Patenkinde den Kopf tätschelte, ihm eine Zuckertüte zusteckte, und – weiterschritt.
So erlosch das Naturgefühl in den Formen der Kirche, und nur, wenn Martha rühmend sagte, daß der Pate das Schulgeld bezahle und die schönen Kleider, nur dann wurde Magdalene nachdenklich und stellte die tiefe Frage:
»Befiehlt das der liebe Gott, oder sind alle Paten so gut?« – – –
Mit Franz blieb das alte feindselige Verhältnis. In der Form änderte es sich wohl mit der Zeit, denn als dieser angeerbte Frauenkenner zum Jüngling heranwuchs, da fielen ihm wohl die feinen Formen des schönen früh entwickelten Kindes in die Augen, und es durchzuckte ihn bisweilen der Gedanke, was das nach sechs bis sieben Jahren für ein Teufelsbraten sein könnte.
Aber es war keine Sinnlichkeit dabei, sondern ein unnennbares Gefühl. Die Stimme der Natur flüsterte, aber sie raunte in ein unkeusches Herz hinein; Franz Heller empfand dabei jenen Ekel, der den Schiffbrüchigen überkommt, wenn er verschmachtend in einem Nachen aus dem Ozean treibt, und um ihn ist nur bitteres Salzwasser.
Sein Haß wurde immer größer. Als Knabe hatte er das Kind gekniffen und gestoßen wo es ihm in den Weg kam, jetzt ging er mit stummer Verachtung an ihm vorüber, und nannte das Mädchen nur die schwarze Kröte, denn Magdalene hatte von ihrer Mutter die dunkeln Haare und die dunkeln Augen geerbt.
Neben dem, was sie sonst noch mitbekommen hatte. – Während Franz Heller sich in unbewußtem Familienhaß verzehrte, wuchs bei Julius die Neigung zu dem schönen Kinde in arithmetischer Progression.
Er konnte stundenlang mit Magdalene spielen, und wie bei fast allem was er tat, seine unstäten Gedanken mehr in der Zukunft als in der Gegenwart weilten, so war es auch hier der Fall.
»Wenn ich groß bin, sollst du meine kleine Frau werden« sagte er einmal.
Sie sah ihn mit ihren Rätselaugen an, und drückte die Puppe mit der sie sich am liebsten beschäftigte, in die Arme.
»Kriege ich dann auch ein Kind?«
Da wurde dieser ungeschlachte Jüngling, der damals noch immer zwischen keuschen und unkeuschen Gedanken hin- und herwirbelte, so rot wie ein Backfisch. Aber dann sah er die Puppe an, und das tröstete ihn.
»Ja«, entgegnete er, »dann sollst du auch ein Kind haben.«
Es ist Wahrheit geworden; dieser Mitternachtsroman wird es Euch melden, Ihr Mütter. –
*
Und nun war die Zeit erfüllt. – Gegen Abend an einem Märztage – damals war der alte Kaiser schon lange tot – ging das Scherbengericht, was wir mündliches Reiseexamen nennen, seinem Ende entgegen. Ihrer sechs waren es, und sie saßen in dem Konferenzzimmer des altberühmten Gymnasiums, vor dessen Eingangspforte das Standbild eines altberühmten Philologen errichtet ist.
Franz und Julius saßen als die Letzten; sie waren noch gerade so eben mitgenommen worden. Und sie waren alle mehr tot als lebendig. »Nun wollen wir noch ein bischen deutsche Literatur prüfen«, sagte der Schulrat mit einem Blick aus die Uhr.
Und der Lehrer, ein junger Neuphilologe – prüfte ein bischen deutsche Literatur.
Es war der Schwanz vom Examen, über den klassischen Kopf war man bereits glücklich hinweggerutscht, der Schwanz hatte keine Bedeutung mehr.
Jeder kriegte der Form halber ein paar Fragen; Franz als der Vorletzte sollte sich über Schillers Werke äußern; er war auch mehr tot als lebendig.
Und er sagte:
»Als Schiller seine zweite Reise nach Italien gemacht hatte, schrieb er seinen Fiasko.«
Durch die Reihe der Lehrer ging ein leises Lachen; der Schulrat sah abermals auf die Uhr und übernahm selbst die Prüfung.
»Nun Mohrmann, wissen Sie auch etwas von Goethe zu berichten?«
Julius schlief schon halb, aber er raffte sich auf.
»Sein letztes Wort war: Mehr Licht.«
»Und mit diesem Wunsche wollen wir schließen«, sagte der humane Schulrat. »Herr Direktor lassen Sie bitte die jungen Leute einige Minuten abtreten, wir können ja gleich beraten.«
Auf dem Korridor liefen sie wie die wilden Tiere herum Franz zerwühlte sich seine hübschen Locken.
»Mensch, ich falle noch durch! Der verdammte Schiller bricht mir den Hals!«
»Dann falle ich mit!« sagte Julius, der Blutbruder.
»Du hast wenigstens was Richtiges gesagt!«
Und Julius sah tiefsinnig vor sich hin.
Verbürgt ist es auch nicht; ich glaube, Goethe hat etwas von »Höheren Wandlungen« orakelt; aber der Teufel soll all das Zeug beisammenhalten!«
Dann wurden sie wieder hereingerufen; sie hatten Alle bestanden, und der Schulrat gab Jedem einzelnen die Hand.
Als er zu Franz kam, sah er den hübschen Menschen prüfend an:
»Literatur wollen Sie wohl nicht studieren, was?« »Nein, Herr Geheimrat – Medizin.«
»Na, ja. »Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen« – das stammt nämlich auch nicht von Schiller, so wenig wie die beiden italienischen Reisen. Aber Fiasko kann man dennoch machen.«
Julius kriegte nichts ab. Der Vater saß mit einem grämlichen Gesicht dabei, und außerdem hatte dieser Prüfling dem alten Herrn Gelegenheit zu einem Witz gegeben. Das fiel günstig in die Wagschale. – Daraus zerstreuten sich die Glücklichen.
Franz wollte gegen seine Gewohnheit heim, aber Julius, der immer von einem Extrem in das andere fiel, polterte ihn an:
»Mensch, sei kein Frosch! Von meinem Alten habe ich mir Urlaub geben lassen, und der kann Deinem Alten Bescheid sagen. Heute wird gelumpt, daß die Schwarte knackt, überhaupt – jetzt geht das lustige Leben an!« So zogen sie Arm in Arm durch die dämmerndere Straßen. Sie begegneten ihrem Feind – das war ein Handlungsgehilfe, der sie mal wegen einer Kneiperei bei dem Direktor verpetzt hatte, und heute trug er unglücklicherweise einen Zylinderhut.
Krach! schlug Julius ihm den Hut über die Nase. – »Das war auch ein Heldenstück«, sagte Franz ärgerlich; »wir haben noch nicht unser Reifezeugnis in der Lasche.«
Aber Julius war außer Rand und Band.
»Frei ist der Bursch! Heute haue ich alles zusammen! Wo gehen wir hin? Zum Katerlies?«
Ein bedenkliches Winkellokal mit Mädchenbedienung; aber Franz hatte wieder die kalte Nase.
»Du versaust noch die ganze Geschichte! Wenn wir Studenten sind – meinetwegen in jeden Bums, aber bis zur Entlassung wird geheuchelt wie ein Pfaff. Wir gehen in den Ratskeller und trinken eine Flasche Burgunder, oder besser noch zwei, denn ich habe Moses und Propheten.«
»Ich, auch, hol' mich der Teufel; jetzt kommt bei mir die Leibrente zum Durchbruch.«
In der stillsten Ecke des Ratskellers setzten sie sich hinter die schwere Sorte, die von den Rittergutsbesitzern bevorzugt wird, wenn sie mit Silbergeschirr in die Stadt kommen.
»Die Nummer von meinem alten Herrn«, sagte Franz. »Überhaupt – das ist ein riesig nobler Kerl; wenn ich durchkäme, wollte er mir dreitausend Mark Wechsel geben, und ich sollte nach Kiel ins Korps. Ich schlage vor, daß wir auf sein Wohl trinken.«
»Meiner ist ein Querkopp«, murrte Julius. »Denke Dir, er will absolut, daß ich Theologie studiere, denn für das andere wäre ich nicht klar genug. Aber ich werde ihm was pfeifen, ich belege Geschichte und Literatur, und dann geht es auf einen akademischen Lehrstuhl los.«
»Mehr Licht«, spottete Franz.
»Ach du – mit deinem Fiasko! Was willst du übrigens bei den stinkigen Anatomieleichen?«
Franz kannte mit einmal seinen Goethe ganz gut. Die Schülerszene im Faust hatte ihm immer sehr imponiert, und er zitierte mit Behagen die berühmte Stelle:
»Versteht das Pülslein wohl zu drücken –«.
Da wurde Julius tiefsinnig.
»Du« – sagte er – »ich glaube, du hast ein großes Talent und das sind die Weiber. Wenn du das ausbeutest, dann kann es dir fein ergehen. Sonst kommst du noch früher unter den Schlitten als ich.«
Diese plötzliche elegische Stimmung war auch ein Charakterzeichen von Julius Mohrmann. Er schäumte empor wie Sekt, und dann wurde er schal – auf dem Gymnasium hatten sie ihn auch die »rostige Wetterfahne« genannt, denn seine Übergänge vollzogen sich immer mit Geknarr und Gequietsch.
Heute aber kam die Abspannung hinzu. Statt der zweiten Flasche tranken sie nur eine halbe, und im großen und ganzen war es so wie vor zehn Jahren bei Sedan, wo die Väter eine Saufehe geschlossen hatten, und der Löwenanteil kam auf das Hellersche Konto.
Vielleicht ist es vom Schicksale bestimmt, daß sich gewisse Dinge immer wiederholen.
Als die beiden Freunde auseinandergingen, lag über der Stadt eine weiche einschmeichelnde Frühlingsnacht, und der feurige Wein tat in den Adern des Achtzehnjährigen genau dieselbe Wirkung, der damals ein reiferer Mann zum Opfer gefallen war.
Mit sich herumgetragen hatte Franz diese Sache schon längst. Es soll zu seiner Ehre oder zur Minderung seiner Unehre nochmals betont werden, daß er nicht die geringste Ahnung von einem Verhältnis zwischen Martha Klein und seinem Vater hatte, denn ungeachtet seiner starken Sinnlichkeit besaß er wenigstens damals ein gesundes Empfinden, und jene tierischen Vermischungen, die aus Raummangel und Inzuchtdegeneration erwachsen, wären ihm ein Greuel und ein Ekel gewesen.
Aber der große Altersunterschied zwischen ihm und der vierzigjährigen Frau kümmerte ihn nicht.
Es ist keineswegs selten, sondern es ist fast die Regel, daß ein sehr junger Mann seine ersten geschlechtlichen Sünden – und im groben Sinne war Franz Heller noch rein –, daß er sie mit einem reifen Weibe begeht, denn mag die Jugend noch so verderbt sein, sie wagt sich fast niemals an die unberührte Blüte, weil ihr noch nicht die Brutalität innewohnt, die zur Überwindung eines Widerstandes erforderlich ist.
###– –
Gegen Mitternacht wachte Magdalena auf. Sie schlief noch immer getrennt von ihrer Mutter in einer hinter der Küche gelegenen Kammer, aber ihre Tür stand offen, und die Küchentür war nur angelehnt. Da hörte sie vorne ein Geräusch: Flüstern, Kichern, zwischendurch noch anderes.
Sie erhob sich und schlich in bloßen Füßen bis an die Schlafstube ihrer Mutter, sie beugte sich nieder und lugte durch das Schlüsselloch in den erhellten Raum. Und was das neunjährige Mädchen in dieser entsetzlichen Mitternachtsstunde gesehen hat, das ist in einem gewissen Sinne für ihr späteres Leben entscheidend gewesen.
Man soll nicht sagen, daß das Häßliche, das grauenhaft Häßliche in der Seele des Kindes immer und überall ein dauerndes Gefühl des Abscheus auslöst; ganz gewiß: jenes Empfinden ist das erste und überwältigende; aber wie unsere Erinnerung allmählich aus der Vergangenheit das Leid abstreift und das Angenehme zurückbehält, so ist es auch mit der Sünde, wenn ihr gleißender Leib einmal in einem Bettlerkleid an uns vorüberging.
In dieser Mitternachtsstunde fiel ein Tropfen Gift auf Magdalenas Seele und betäubte sie.
Dr. Heller war noch aus. Er hatte von seinem Freunde Mohrmann das Ergebnis der Prüfung erfahren und wußte, daß die beiden jungen Leute ins Wirtshaus gegangen seien. In der Erinnerung an seine eigene Jugend fand er nichts weiter darin, jetzt kamen ja doch die Tage, wo nach alter akademischer Sitte das Vaterhaus vor der Kneipe zurücktritt.
Aber erwarten wollte er den Jungen doch. Vielleicht kam er nicht ganz gerade heim, und wenn er der väterlichen Stütze bedurfte, so sollte er gleich erfahren, daß sein Vater kein Unmensch war, sondern Spaß verstand. Freilich, wenn Jutta noch dagewesen wäre – – – –
An diesem Abend mußte Heller überhaupt sehr viel an seine geschiedene Frau denken. Sie hätte sich ja ganz unendlich gefreut, denn das Fortkommen des Sohnes war ihr immer Sorge gewesen; aber nun wären die Sorgen erst recht los gegangen.
Denn der Doktor hatte so'n unbestimmtes, oder vielmehr ein ganz bestimmtes Gefühl: Franz wird ein flotter Student werden – ein sehr flotter Bruder Studio – ein Leichtfuß ersten Ranges.
Verbummeln?
Na ja, dagegen gab es Gott sei Dank mehr als einen Riegel – man konnte ihm den Wechsel beschneiden, man konnte ihn ein Semester einheimsen – Dr. Heller hatte seiner Zeit auch mal philistrieren müssen. Aber er war zu knapp gehalten worden, dieser Fehler durfte nicht wiederholt werden; austoben lassen, das ist die Hauptsache!
Was war das?! – –
Donnerwetter, der Bengel lag ja wohl besoffen vor der Tür, oder konnte zum mindesten das Schlüsselloch nicht finden! Das tastete und rüttelte und kratzte, wie wenn ein Hund draußen ist. –
Verfluchter Schweinekerl!
Heller verließ die Stube. Im Flur brannte noch die Lampe; er schloß die Haustür auf und prallte zurück; vor ihm stand Magdalena, mit bloßen Füßen, im Hemd, mitten in der Märznacht.
Das Mädchen fiel ihm geradeswegs in die Arme; nicht wie ein scheues Patenkind, sondern wie eine Tochter, die bei dem Vater Schutz sucht; haltlos, kraftlos, halb ohnmächtig.
»Lene, um Gotteswillen! Ist der Mama was passiert? Soll ich hinüberkommen?«
Sie schüttelte den Kopf:
»Nein! nein!«
Er nahm sie auf seine Arme und trug sie in das Wohnzimmer; weil das arme Ding gar so sehr zitterte, wickelte er sie in eine Reisedecke und legte sie auf das Sofa:
»Aber Kind, Kind, so durch den Garten! Du kannst ja den Tod davon haben!«
»Wenn ich nur tot wäre!«
Das war ein entsetzliches, unnatürliches Wort für eine Neunjährige! Und es kam so tief und bitter heraus. Später hat Magdalena dieses Wort noch öfter gesprochen; mit mehr Bewußtsein, aber mit mehr Aufrichtigkeit wohl kaum.
Dann begann sie zu weinen.
Das war gut, und der Arzt wartete geduldig. Aber es war ein schreckliches Weinen, ein gebrochenes Weinen, nicht nur aus den Augen, sondern die Seele schluchzte mit; und zwischen diesen blut'gen Tränen rangen sich einzelne Worte los.
Nichts deutliches, kein Satz. Welches Kind könnte denn auch mit den Lauten der Muttersprache eine Anklage gegen die Mutter erheben! Aber Dr. Heller verstand doch, und es war, als ob ihn ein Schlag auf den Kopf getroffen hätte.
Keine Eifersucht, Gott bewahre, dieses Weib war ihm schon längst gleichgültig, er hätte sie vielleicht gerne bei einer »Untreue« ertappt, um ihr mit Fug den Laufpaß zu geben; aber so so!
Zuerst überkam ihn ein Gefühl des Ekels; dann brach der Zorn aus. Wahrhaftig, er sah sich nach einer Peitsche um, und wenn eine zur Hand gewesen wäre – –
Plötzlich staute ihm das Blut aus den Schläfen zurück und er wurde eiskalt. Er murmelte etwas von »Träumen« und ging an seine Hausapotheke um einen Schlaftrunk zu mischen; er nahm ihn so stark, wie das ärztliche Gewissen es gestattete, und die Wirkung war denn auch dementsprechend. Magdalene schlief in seinen Armen ein und er trug sie hinüber in sein eigenes Bett. In diesem Augenblick hatte er den Vorsatz, seine Sünde vor der Welt zu bekennen und das Kind bei sich zu behalten – mochte daraus kommen, was kommen wollte!
Inzwischen hörte er die Haustür gehen; leise vorsichtige Schritte gingen die Treppe hinauf – die Schande schlich sich in das Haus zurück – sie hatte es eigentlich niemals verlassen.
Und Heller überlegte, ob er morgen ein Strafgericht abhalten sollte.
Er kam sehr bald zu der Erkenntnis, daß es doch wohl besser sei, an diese schmutzige Sache nicht zu rühren, denn erstens konnten geschehene Dinge nicht zurückgeschraubt werden, und sodann ist es ein verfluchtes Gefühl, wenn die gerechteste Zornesröte sich plötzlich in die brennende Farbe der eigenen Scham umwandelt. Also schweigen, soweit Franz in Frage kam.
Das Weib mußte natürlich aus dem Hause – morgen schon, mit Pauken und Trompeten.
Denn so geht es immer in der Welt: schon in der Braut von Corinth spricht die Mutter von jenen Dirnen, die dem Fremden gefällig sind – und von dem Fremden selbst ist überall nicht die Rede. –
Der Doktor blieb die Nacht über auf. Das Kind schlief so fest, daß er es nicht zu stören wagte; und so saß er wieder wie vor zehn Jahren bei dem Schein einer trüben Flamme und forschte in Magdalenas Zügen, ob er irgendeine verhängnisvolle Ähnlichkeit entdecken könnte; zuletzt aber gab er mutlos das Grübeln auf, denn die Eltern dieses Mädchens hatten wohl beide Sorge dafür getragen, daß an seinem Lebenswege mehr Dornen als Rosen aufwachsen würden. –
Als es morgen wurde, und das Gesinde sich zu regen begann, entstand vor der Schlafstubentür ein sonderbares Flüstern und Raunen. Man hatte anscheinend für den Hausherrn irgendeine Nachricht und wollte ihn doch nicht damit stören – zuletzt ging er in das Wohnzimmer und fand dort die alte Schaffnerin in großer Aufregung.
Drüben die Martha sei fort. Man hätte die Tür offen gefunden, einige Kisten und Kasten ausgeräumt, das meiste wäre noch da. Es werde doch kein Verbrechen passiert sein – auch das Kind sei nirgends zu finden. Da hatte Heller eine prachtvolle Lüge zur Hand, die kam ihm so gelegen, daß er mit beiden Händen zugriff.
»Ich weiß schon«, sagte er »sie ist bei Nacht und Nebel durchgebrannt und hat das Kind schmählich in Stich gelassen. Gegen Morgen kam die Kleine im Hemd herübergelaufen und klopfte an mein Schlafstubenfenster – sie vermißte die Mutter und war ganz außer sich. Jetzt schläft sie in meinem Bett. Ich habe das Weib schon längst in Verdacht gehabt, daß es sich einen Kerl angeschafft hat; wir wollen froh sein, daß wir sie los sind.«
Mit einer so sichtlichen Entrüstung brachte Heller dieses Märchen vor, daß es nicht nur geglaubt wurde, sondern noch obendrein eine moralische Nota einbrachte – denn im Grunde genommen dachten alle an ein kleines Techtelmechtel zwischen dem Doktor und der Martha; wenn aber die Martha einen Kerl hatte, mit dem sie bei Nacht davonlief, dann konnte doch wohl kaum etwas an der Sache sein. –
Mitunter frißt der Teufel nicht nur Fliegen, sondern er borgt auch seinen Lieblingen eine Klappe, die zwei Fliegen zugleich schlägt. So erging es auch in diesem Falle dem Dr. Heller.
Franz hatte ihm im Grunde genommen einen Gefallen erwiesen. Eine Schweinerei war es ja immer von dem Bengel, aber das Schlimmste wußte der ja nicht, das blieb zum Glück auf der Martha hängen und nun waren sie das Weib los, ohne Szene, und ohne daß Heller sich mit seinem Sohne zu überwerfen brauchte. Die Hauptsache aber blieb Magdalena.
Was man sich um Mitternacht vornimmt, das hat am hellen Mittag ein ganz anderes Gesicht; es war doch eine verteufelte Geschichte; so vor die Welt hinzutreten und sich als Vater eines Bankert zu bekennen.
Nun ging die Sache viel glatter und einfacher.
Die Mutter hatte das Kind in Stich gelassen, und es war nicht nur begreiflich, sondern obendrein höchst moralisch, wenn der Doktor sich dieser verlassenen Waise annahm und sie auf seine Kosten erzog. Er war ja der Pate, und kein Mensch brauchte zu wissen, daß er eigentlich noch ein bißchen mehr war; von heute ab war ihm dieses Kind ein Ehrenschild, während es sonst immer gedroht hatte, ein Fleck auf der Ehre zu werden. O, man muß nur die Moral am rechten Zipfel anfassen; dann läßt sie sich umstülpen wie ein Handschuh und die öffentliche Meinung macht das Kunststück mit. Freilich, das Kind selbst wußte einiges, was andere Leute nicht wußten. Aber Dr. Heller hatte es nicht schwer, dem Kinde einzureden, daß die Mama mit einem fremden schlechten Kerl weggelaufen sei, und daß es selbst nun in der schönen Villa wohnen sollte. Entweder glaubte Magdalena das für den Augenblick, oder das Grauen schloß ihr die Lippen – Heller sorgte auch dafür, daß die Kleine nicht mehr mit Franz zusammenkam, und nach ein paar Tagen reiste der auf die Universität. –
Man soll aber niemals den Versuch machen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, denn alsdann bleibt sicherlich die eine leben.
Nach etwa zwei Wochen kam aus Hamburg ein Brief an den Doktor; ein Brief, der nach Patschouli roch und auch sonst einige vornehme Anzeichen trug.
Wenn auch nur äußerlich.
Martha schrieb:
»Weswegen ich ausgerissen bin, kannst du dir ungefähr denken; die Lene hat gepetzt und ich verspürte keine Lust nach einer Tracht Prügel – die Mannsleute sind alle Schweinskerle. Daß dein Franz auch einer ist, macht die Sache nicht anders, übrigens ist das einer, der den Rummel versteht; du hast dir da eine nette Pflanze aufgezogen.
Daß mein Kind – leider ist es ja auch deins – denselben Weg geht wie sein sauberer Bruder, ist nicht gerade vonnöten, und deshalb verlange ich von dir, daß du die Lene nach Hamburg bringst. Ich wohne Große Bleichen 21 im zweiten Hof links, eine Treppe, und habe eine sehr anständige Stellung; ich wasche für die Herren feine Wäsche und kann eine brauchen, die sie ausbringt. Ich bin auch bei einem Rechtsanwalt gewesen und habe mich befragt, aber ohne Deinen Namen zu nennen, denn ich bin eine anständige Frau.
Der Herr hat gesagt, daß ich in meinem Rechte wäre, und wenn Fisematenten gemacht würden, dann wollte er eine Klage aufsetzen. Also bringe man gutwillig die Lene, denn es hat doch weiter keinen Zweck.
Dein verflossener Schatz
Martha Klein.
Sie war wirklich eine anständige Frau, bis etwa auf das Papier des Briefes und das Parfüm, dessen aufdringlicher Geruch in dem Doktor allerhand Erinnerungen weckte.
Dennoch kämpfte er mit sich. Wenn er nachweisen könnte, daß diese Frau in Hamburg ein unsittliches Gewerbe trieb – und die feine Wäsche für Herren deckt mitunter viel Schmutz zu –, dann hatte er die Moral für sich; aber noch lange nicht das Recht. Im günstigsten Falle setzte er durch, daß das Kind der Mutter genommen und einem Vormund übergeben wurde, und als Pate war er vielleicht der nächste dazu.
Aber wenn er das Leben der Frau aufdeckte, dann deckte sie sein Leben auf – das war so sicher wie das Amen nach der Predigt.
Er hatte es ja freilich selbst tun wollen – gewiß und wahrhaftig; aber seit vierzehn Tagen war seine Praxis wieder so sehr in die Höhe gegangen, daß ein Bekenntnis nicht viel weniger gewesen wäre, als sozialer Selbstmord.
Ach ja; die Menschen sind zu schlecht! – – – – –
So biß er in den sauren Apfel und reiste mit Magdalena ab. Er redete ihr ein, daß die Mama so große Sehnsucht nach ihr hätte, und ihr sollt mir das Kind zeigen, das sich dafür nicht zur Schlachtbank führen ließe.
Im übrigen kam er bedeutend getröstet zurück. Diese Fahrt war eine Reise mit geschlossenen Augen und verstopften Ohren gewesen; er hatte nicht gesehen oder nicht sehen wollen, daß Martha viel eleganter eingerichtet war, als weiße Herrenwäsche es abzuwerfen pflegt; er hatte nicht hingehört, als die Hauswirtin mitleidig fragte, ob dies schöne feine Kind denn wirklich bei der Mutter bleiben sollte, er hatte nur geantwortet, daß ein Kind immer am besten bei der Mutter aufgehoben wäre, und das: »Na ja, je nachdem« war hinter der Haustür hängen geblieben. – Sein allerletzter Trost war so elend und lumpig, wie dieser ganze Judashandel:
»Wenn sie denn wirklich so eine ist«, sagte er zu sich, »dann wird es jedenfalls bei ihren vierzig Jahren nicht lange Bestand haben. Über ein kurzes wäscht sie wirklich, und dann kommt die Lene in ein reinliches Geschäft.« –
Einmal in ihrem Leben haben Max Heller und Martha Klein sich noch wieder gesehen. Aber das war so gramvoll und grauenvoll, daß sie wünschten, einander niemals gesehen zu haben.
Man sagt wohl im frommen Wahn, daß Ehen im Himmel geschlossen werden, und diese beiden Menschen hatten den fleischlichen Teil der Ehe konsumiert – aber beim heiligen Petrus, wenn es einen Himmel gibt, dann gibt es auch einen Ort, wo die Ehen gebrochen und geschändet werden, und ihr braucht nicht erst die große Ecke, um ihn zu finden!
*
Franz war nach Kiel gegangen, um Medizin zu studieren, und Julius hatte Tübingen durchgesetzt, obwohl sein alter Herr sehr dagegen war, denn der gehörte noch zu den Schleswig-Holsteinern, die alles Heil innerhalb der blauweißroten Pfähle suchen. Aber Julius behauptete, daß die größten Geister in der Literatur von Schwaben ausgegangen wären, wogegen der Professor mehr Gewicht auf die Schwabenstreiche legte. –
Es kam die Zeit, wo die Väter der beiden Studenten sich noch enger aneinanderschlossen, denn ihre Häuser waren so leer geworden wie Eierschalen, und allmählich schlich das Lebensalter heran, in dem keine neuen Freundschaften geschlossen werden. –
Wenn sie so beisammensaßen und von ihren Söhnen sprachen, war Dr. Heller gewöhnlich der erzählende Teil.
»Ein verfluchter Kerl, mein Franz,« sagte er. »Aus der Mensur hat er schon zwei Gegner abgeführt; momentan liegt er freilich selbst in der Falle. Es ist ein sehr anständiges Korps, aber merkwürdig bleibt es doch, wie die Verhältnisse sich geändert haben. Vor fünfundzwanzig Jahren war ich selbst noch dabei, und kam ganz leidlich mit zweitausend Mark aus; es ist gar kein Gedanke, daß der Bengel es mit dreitausend schafft, ich werde ihm noch einen braunen Lappen zulegen müssen.«
»Meiner hat nur seine Leibrente von achtzehnhundert«, brummte der Professor.
»Und macht dabei keine Schulden?«
»Die werde ich einfach nicht bezahlen.«
»Na, Tübingen ist ja auch billiger«, tröstete sich der Doktor. »Bleibt er denn bei der Stange?«
»Warum?«
»Weil er niemals Anlagen zum Karrengaul gehabt hat«.
»Das weiß Gott«, seufzte Mohrmann. »Der Kerl bildet sich ein, genial zu sein, und dabei ist er so zerfahren, wie ein Kaleidoskop. Am besten wär's, er ginge auch in eine Verbindung mit strammer Zucht.«
»Hat er Freunde?«
»Schwerlich – er ist kein Herdenmensch. Wie steht's mit deinem – ich meine, abgesehen von den Korpsbrüdern, denn das ist ja mehr oder minder Zwang.«
Heller wurde nachdenklich.
»Von einem schreibt er bisweilen – sogar mit einer gewissen Begeisterung, die ihm sonst fremd ist; ich kann nicht recht dahinter kommen, was das für 'ne Sorte Kerl ist.«
»Doch kein Katilina?«
»Vielleicht ein Stück davon. Er ist Ausländer, ich glaube Brasilianer, und nennt sich Sanguessa. Franz schreibt, daß er sich studierenshalber in Kiel aufhielte, also wohl so 'ne Drohne – denn Geld soll er wie Heu haben«.
»Schlimm« – sagte Mohrmann. »Unter allen Existenzen sind die Drohnen das Gefährlichste für einen jungen Menschen. Ich würde mal hinüberfahren und mir die Pflanze ansehen.«
»Das hatte ich auch vor. Aber Elternbesuche sind bei den Musensöhnen nicht beliebt, und schließlich kann ich meinen Jungen doch nicht mehr gängeln.«
So war Heller nun mal. Er hatte immer das Wort von »Leben und leben lassen« im Munde geführt; er war ein bequemer Mann, der auch nicht die Spur von einer pädagogischen Ader in sich hatte.
»Die Menschen müssen sich aneinander abschleifen«, pflegte er zu sagen. – – – – – – – – – –
Es war außerordentlich bezeichnend, wie Franz die Bekanntschaft von Philipp Sanguessa gemacht hatte, nämlich in einem jener ordinären Bordelle, wie sie in jeder Seestadt zu finden sind und von der Polizei stillschweigend geduldet werden.
Franz hatte sich nach einer Kneipe in stark angeheitertem Zustande dorthin verlaufen und wurde sofort von einigen Dirnen mit Liebkosungen überfallen. Diese unförmlichen, halbnackten Weiber waren so abschreckend, daß sein Rausch sofort verflog, und er sich durch den Ausgang retten wollte; aber daran war gar nicht zu denken, denn die betrunkenen Megären hielten ihn fest und behaupteten, daß sie nach all dem Rindfleisch auch mal Kalbfleisch haben wollten.
Mitten in dieses Tohuwabohu sagte plötzlich eine tiefe wohlklingende Stimme:
»Aber Kinder, seht ihr denn nicht, daß das ein Grüner ist, der von Muttern kommt? Überlaßt ihn mir, und ich will euch ein paar Pullen Sekt als Lösegeld schmeißen.«
Nun war der Jubel groß, und Franz befand sich plötzlich an der Seite seines Retters, der neben dem Büfett saß und sich bisher mit »Madam«, der Inhaberin des Bordells, unterhalten hatte.
Ein seltsamer Mann, dessen exotische Erscheinung sofort das Interesse des jungen Studenten wachrief. Er war älter als Franz, vielleicht sechs bis sieben Jahre, und ausgesucht elegant gekleidet. Unter den tiefliegenden kohlschwarzen Augen ragte eine starke Adlernase aus dem hageren gelblichen Gesicht, und sein schmaler, durchaus nicht sinnlich geformter Mund wurde von einem ebenfalls schwarzen Henriquatre eingerahmt. An den auffallend schön geformten Händen trug er mehrere blitzende Ringe, und auch die blendend weiße Wäsche war reichlich mit Diamanten verziert.
Mit »Madam« schien er auf ziemlich vertrautem Fuße zu stehen, denn als das gemeine Weib etwas vom »Verderben der Kundschaft« redet, zuckte er nur mit den Schultern und entgegnete:
»Sei still, alte Hexe, oder ich hetze deine Menscher gegen dich auf – du weißt, es kostet mich nur ein Wort.«
Darauf wurde sie zahm, und nannte ihn ihren närrischen Lips. –
An diesem Ort, wo Namen nur ungern genannt werden, stellte Sanguessa sich in aller Form vor, und forderte Franz auf, mit ihm das Lokal zu verlassen.
»Ich sehe, Sie sind in Couleur«, sagte er, »und das ist eine große Unvorsichtigkeit; wenn Ihre Verbindung davon erfährt, werden Sie mindestens auf ein Semester suspendiert; aber zum Glück sind sie an einen Mann geraten, dem Diskretion Ehrensache ist.«
So wurden die beiden mit einander bekannt.
An diesem Abend tranken sie noch eine Flasche Wein in einem anständigen Lokal, und Franz erfuhr bei der Gelegenheit, daß sein neuer Freund sich tatsächlich studierenshalber in Kiel aufhielt.
»Nicht gerade immatrikuliert«, sagte er. »Meine Verhältnisse gestatten mir, auf einen bestimmten Beruf zu verzichten, aber die deutschen Hochschulen sind wertvoll genug, um ihnen ein Lebensjahr zu widmen. Ich nippe hier ein bischen und dort ein bischen, wenn Sie mich mal gelegentlich besuchen wollen, dann werden Sie alle vier Fakultäten bei mir vertreten finden.«
Den Besuch machte Franz sehr bald.
Er sah, daß Philipp Sanguessa so elegant wohnte, wie wohl kaum ein zweiter Student in Kiel, aber von den vier Fakultäten fand er nur sehr mäßige Spuren.
In der Bibliothek Sanguessa's waren allerdings einige wissenschaftliche Werke der verschiedensten Arten vorhanden, hauptsächlich aber bestand die ganze Sammlung aus Büchern, die der Brasilianer allerdings unter den Generalnenner der sogenannten »schönen Literatur« brachte, die aber in Wahrheit weder einen Anspruch auf Schönheit noch auf Literatur erheben konnten.
Eines Tages, als die beiden sich bereits duzten, fand Franz Heller das erlösende Wort:
»Das sind wohl meistenteils Schweinereien«, sagte er, und Sanguessa lächelte nachsichtig.
»Die deutsche Sprache ist doch bisweilen recht ungehobelt. Ich gebe ja zu, daß meine Bibliothek nach dem momentanen Kulturzustand nicht unbedingt in ein Mädchenpensionat hineinpaßt, aber es ist mir vollkommen unerfindlich, warum die schöngeistige Behandlung sexueller Fragen darum unter die Pornographie gerechnet werden muß. Goethe hat, soviel mir bekannt ist, den Casanova einen der größten Menschenkenner genannt, und die hundert Novellen des Boccaccio gelten noch heute als ein Meisterwerk der italienischen Literatur.«
»Ein halbes Dutzend davon sind wirklich ganz nett«, gestand Franz zynisch; »der Rest ist Bockmist.«
Sanguessa machte ein belehrendes Gesicht:
»Siehst du, mein Junge, da liegt der Hund begraben. Wenn man diese Sachen nur liest, um sich physisch aufzuregen, dann gebe ich den Moralpredigern recht; aber die Psyche des Weibes, die doch alle Welt beherrscht, kann ohne das punctum puncti niemals erfaßt werden, denn das Weib ist und bleibt Geschlecht – von der Fürstin bis zur Kuhmagd.«
Sie kamen auf den Beginn ihrer Bekanntschaft und damit auf die Bordellfrage.
»Ich gehe sehr viel in diese Häuser«, sagte Sanguessa mit schöner Aufrichtigkeit. »Es fällt mir natürlich nicht ein, mich mit diesen Weibern abzugeben, und ich rechne es mir zum Verdienst, wenn ich, wie zum Beispiel neulich, einen jungen frischen Menschen aus ihren Klauen retten kann. Aber das hat mit der eigentlichen Sache nichts zu tun.
Solange wir unsere sozialen Verhältnisse nicht auf die unmögliche Höhe hinaufschrauben können, daß jeder geschlechtsreife Jüngling ein geschlechtsreifes Mädchen heiratet, und solange das Rechenexempel nicht ohne Bruch aufgeht, werden wir die öffentlichen Häuser nicht entbehren können; wir müssen nur dafür Sorge tragen, daß sie nicht zu einer Brutstätte der Ansteckung werden. Das ist das Problem, dessen Studium ein Menschenleben wert ist, und da ich nichts anderes zu tun habe, so widme ich mich seiner Lösung.«
Diese Unterhaltung verursachte Franz ein seltsames Behagen, das weit über die Grenzen dessen hinausging, was die Jugend überhaupt bevorzugt. Er redete sich selbst ein, daß sein medizinischer Beruf die genaue Kenntnis aller dieser Dinge fördere, aber in der Tiefe seiner Seele klang eine verwandte Saite, deren Ursprung er sich nicht erklären konnte.
»Wie weit bist du mit der Lösung des Problems gekommen« – fragte er – »oder ist es überhaupt nicht zu ergründen?«
»Die Heiden sind ihm nahe genug auf den Leib gerückt,« war Sanguessas Antwort. »Abgesehen von jener unerreichbaren Vollendung einer mit Geschlechtsreife zusammenfallenden Ehe kann ich mir kein größeres Ideal denken, als den Mylittakult der Babylonier, durch den jedes Weib verpflichtet wurde, sich im Dienste der Gottheit mindestens einmal in seinem Leben dem begehrenden Manne preiszugeben; denn da der Tempel diesen Akt heiligte und seine Folgen nicht als Schande, sondern als Ehre angesehen wurden, so darf man getrost annehmen, daß es nicht bei der Pflichtleistung blieb und daß beide Geschlechter dabei auf ihre volle Rechnung kamen.«
Er sah vor sich hin und lächelte spöttisch.
»Ich kann mir keinen größeren Gegensatz denken als unsere sogenannten Freudenhäuser mit ihrem Qualm, ihrer Schminke und ihren Zoten im Gegensatz zu jenen Hainen der Liebe, in denen Jünglinge und Jungfrauen zusammenkamen, um unter einem ewig blauen Himmel die Nacht mit Gesängen und Tänzen zu begrüßen und ich beneide alle schönen und klugen Kinder, die aus dem Rausch dieser Nächte hervorgingen. Wir könnten damit die ganze Kulturwelt versorgen und die Irrenhäuser wie die Zuchthäuser würden dabei eine schlechte Rechnung machen.
Aber das alles ist in dem Christentum untergegangen, und es bleibt nur bedauerlich, daß seine Lehren in der Theorie stecken geblieben sind und für die Fragen der Geschlechtsnot keine andere Antwort wissen als den Hinweis auf die Aszese.«
Damals wurde das Gespräch nicht weitergeführt. Wie ein Blitz, der aus dunklen Wolken niederfährt, warf es nur einen grellen Schein auf die Anschauung dieses Mannes, der später in Franz Hellers Leben eine verhängnisvolle Rolle spielen sollte –, aber seine Wirkung begann schon weit früher.
Das Dogma von der absoluten Verachtung des Weibes, die Lehre, daß der Geschlechtsgenuß die Welt regiert und ihre Fortpflanzung nur ein Ausfluß des tierischen Triebes ist: diese trübe Erkenntnis lag noch tief unten in der Seele des Jünglings verborgen, und seine Sinnlichkeit war bisher ein Ausdruck strotzender Säfte gewesen.
Aber allmählich fühlte er etwas Krankhaftes in sich.
Das kam zuerst zum Ausbruch, als er begann den Anatomiesaal zu besuchen.
Die Verbindung legte Gewicht darauf, daß ihre Mitglieder nicht verbummelten und in beschränktem Maße wurde daher der Kollegienbesuch zur Pflicht gemacht.
Franz aber empfand vor den oft wenig appetitlichen Präparaten einen körperlichen Ekel, und die Person des alten Anatomiedieners war ihm vollends unsympathisch – denn dieser wunderliche Mann, der übrigens besser sezierte als der Prosektor, hatte die unangenehme Gewohnheit, den besonders faulen Studenten die Präparate wochenlang aufzuheben, und er konnte wie ein alter Waldteufel grinsen, wenn er so'n matschiges Ding wieder zum Vorschein brachte.
Außerdem hielt er streng darauf, daß keine zynischen Bemerkungen gemacht wurden, und trotz seiner untergeordneten Stellung genoß er darin eine gewisse Autorität.
Eines Tags – das Wintersemester hatte schon begonnen – erschien Franz wieder einmal im Anatomiesaal.
Es herrschte eine leichte Aufregung unter den Studenten, denn man hatte die Leiche einer Selbstmörderin gebracht, eines schönen jungen Mädchens, dessen tragisches Schicksal allgemein bedauert wurde, und der starre Körper lag auf der letzten Tafel – noch mit einer Wachstuchhülle bedeckt. –
»Was Neues?« fragte Franz, der seit zwei Wochen gebummelt hatte.
»Für Sie nicht, Herr Heller,« entgegnete der Diener – »ich habe Ihnen Ihr Bein aufgehoben; wissen Sie, das Bein von dem alten Zuchthäusler.«
»Scheußlich!«
Eine Weile arbeitete Franz wütend daraus los. Er zersetzte alle Muskeln und Gesäße und warf schließlich sein Skalpell hin.
»Zum Teufel, ich will was haben, das sich der Müh' lohnt!«
Er ging an die letzte Tafel, wo noch keiner beschäftigt war und riß die Wachstuchhülle herunter und da lag sie vor ihm, das junge schöne marmorweiße Weib, unentstellt, in der ganzen Fülle ihrer zwanzig Jahre, nur mit einer kleinen Wunde unter der linken Brust, da, wo das Geschoß eingedrungen war.
Und in diesem Augenblick ging in Franz Heller etwas Schreckliches vor.
Er, der sich auf den ärztlichen Beruf vorbereiten wollte, empfand gegenüber diesem keuschen Bilde des Todes eine sinnliche Regung, die ihm zugleich das Blut in die Schläfen und zum Herzen trieb; ihn grauste davor, und er konnte sich doch nicht dagegen wehren.
Da kam der alte Anatomiediener und verhüllte die Leiche.
»Das ist nichts für Sie«, sagte er, und aus seiner Stimme klang ein furchtbarer Ernst. Dann sah er den jungen Studenten scharf an und setzte halblaut hinzu:
»Ich glaube fast, Herr Heller, Sie haben hier überhaupt nicht viel zu suchen; es sind schon mehr solche durch meine Hände gegangen, und vor denen wollte sich später kein Weib auskleiden.«
Franz verließ den Anatomiesaal. Der Sturm, wie er im Herbst an der Ostsee zu wehen pflegt, fuhr ihm in das Gesicht, aber das Blut hämmerte ihm noch immer in den Schläfen.
Er fand sich plötzlich in der Wohnung von Sanguessa, der auf dem Sofa lag und eine Flasche Madeira neben sich stehen hatte, denn, obwohl kein Trinker, bekam er bisweilen seine Tour und war dann ganz wie ausgewechselt.
»Willst du mithalten?« fragte er; aber Franz fuhr ihn an:
»Kerl! Du mit deinen verdammten Büchern und deinen verfluchten Reden – Weißt du auch, daß ich ein perverses Schwein geworden bin?! Weißt du auch, daß der nackte Leib eines toten Weibes mich aufregt?! Was soll das werden?!«
»Geh zu den lebenden Weibern,« sagte der Brasilianer zynisch.
»Jawohl, zu den lebenden! Das alte Rindvieh, der Anatomiediener hat's mir ins Gesicht geworfen: vor mir wird sich keine Patientin auskleiden, und wenn es dennoch geschieht, so stehe ich ein paar Wochen später vor den Geschworenen!«
Da richtete Sanguessa sich langsam auf. Sein ohnehin bleiches Gesicht hatte keinen Blutstropfen, und er legte den Kopf in die Hände.
»Auch du? Ich will dir einen Rat geben; helfen tut er freilich nichts, aber er gewährt doch eine Art Beruhigung: frage doch mal deinen verehrten alten Herrn, ob er dich vielleicht in der Besoffenheit gezeugt hat.«
Franz war starr.
»Ich glaube, du bist selbst auf die Art in die Welt gesetzt!« murmelte er endlich.
»Du meinst, weil ich mitunter einen nehme wie zum Beispiel heute? O nein, mein Junge, der würdige Greis, den ich mal Papa genannt habe – er ist längst tot, – dieser Ehrenmann trank keinen Tropfen. Ich sage dir, er verzapfte keinen Tropfen rotes Rebenblut, höchstens was anderes.«
»Was war dein Vater? Du wolltest es mir längst erzählen.«
»Wollte ich das? Heute wäre ich just in der Stimmung. Mein Vater handelte: mit Klugheit, wie der alte Witz besagt, denn er hat mir einen Sack voll Geld hinterlassen; aber damit hört der Witz auch auf. Das andere ist blutiger Ernst, denn es floß zuweilen Blut dabei. Er handelte nämlich ein bißchen mit Menschenfleisch, natürlich schwarzem, man nennt das auch Ebenholz, und es kommt noch heute vor – trotz aller Moral und Sentimentalität. Nun bist du ein Stück klüger geworden, oder willst du noch wissen, womit ich mal handeln werde?«
»Auch mit Menschenfleisch,« fuhr Sanguessa zynisch fort. »Natürlich mit weißem und erst dann, wenn der Geldsack leer geworden ist – aber es kommt auf eins hinaus. Das sind Geheimnisse der Natur; der eine erbt so, der andere erbt so, – aber es ist immer ein Trumpf dabei. Und nun laß mich schlafen; ich glaube, ich bin komplett besoffen und auf die Rede von Trunkenen soll man nichts geben.«
*
Um diese Zeit kamen aus Tübingen wilde Briefe. Die beiden Schulfreunde korrespondierten miteinander und Julius deutete in seiner unklaren Weise an, daß eine große Umwandlung mit ihm vorgegangen sei.
Von Damaskus schrieb er und von Saulus und von einem unreinen Gefäß. Franz konnte nicht recht klug daraus werden und er gab den Brief Sanguessa zu lesen, denn die Familienbekenntnisse des Brasilianers hatten keine Entfremdung herbeigeführt, es war da etwas Verwandtes zwischen ihnen aufgetaucht.
Sanguessa nannte es »das Kismet«.
Und als er die Stelle von Damaskus usw. las, da sagte er:
»Der hat auch sein Kismet. Diese Sätze sind so dunkel und verworren, daß es nur eine Deutung gibt: er wird ein Prophet werden. Natürlich einer von den modernen, die mit dem ganzen Brast ihrer Weltverbesserungsideen beladen, die Welt für eine Kinderstube ansehen. Ein Stück von den alten Propheten haben sie auch übernommen: gelbe Wäsche, ausgefranzte Hosen und einen Schlapphut. Hat er Mammon?«
»Eine Leibrente von achtzehnhundert Mark.«
»Dann hat er einen weisen Vater. ›Armut und Reichtum gib mir nicht‹ – den Reichtum würde er nämlich eklig verzetteln. Ich möchte den Kerl wohl kennen lernen.«
»Was wolltest du mit ihm, Lips?«
»Ihn in seinem Wahn bestärken. Sinn ist ja nicht darin, sonst wäre es Wahnsinn, aber solche Leute sind die glücklichsten, wenn sie nämlich nicht dabei hungern. Du und ich, wir haben keinen Wahn zu verzapfen, wir sehen mit kalter Nase das Ende voraus.
Eines Tages, als Franz in vollem Wichs die Allee von Düsternbrook hinunterbummelte, begegnete ihm eine etwas seltsam aussehende Persönlichkeit. Der junge Mann war vom Kopf bis zum Fuß schwarz gekleidet, trug einen weichen, breitrandigen Filzhut, und der Schnitt seines hochgeschlossenen Rocks streifte etwas an das Militärische heran. Ein dunkler Hungerbart hing ihm um Mund und Wangen – die obere Partie des Gesichts wurde fast ganz von der Hutkrempe verdeckt.
Aber Franz erkannte sofort an dem schlenkernden Gang und den eckigen Bewegungen seinen Freund Julius Mohrmann. Er blieb starr vor Erstaunen mitten im Wege stehen und rief lachend:
»Mensch, wo kommst du her? Wie siehst du aus?!«
Auch Julius hatte halt gemacht und hob langsam den Kopf. Eine Sekunde lang schien er in seiner Erinnerung zu suchen, denn Franz war damals schon etwas aufgeschwemmt und hatte das Gesicht voll von Schmissen – dann streckte er plötzlich den langen Arm aus und spreizte alle fünf Finger in die Luft.
»Hebe dich weg von mir, Satan!«
»Na nu!« sagte Franz verduzt, »ich glaube, der Kerl ist komplett verrückt geworden. Reg' dich man nicht auf, mein Junge, ich geh' dir schon aus dem Wege, mit so 'ner Vogelscheuche kann man sich ja doch nicht vor den Leuten zeigen.«
Mit der »Vogelscheuche« war es eigentlich nicht so schlimm, denn, abgesehen von dem ungewöhnlichen Schnitt, war die Kleidung des andern sauber und heil, und die Schilderung Sanguessas von dem »neuen Propheten« stimmte daher nicht ganz; aber Franz besaß ein sehr feines Gefühl für alles Auffällige, und die Leute drehten sich allerdings um, als sie den bunten und den schwarzen Vogel auf einem Zweig sahen.
Franz ging weiter. Er wollte diese Begegnung möglichst schnell vergessen und vor allen Dingen seinen Jugendfreund gegen jedermann verleugnen; aber das war einfach unmöglich, denn schon nach wenigen Tagen hatte sich unter der Studentenschaft das Gerücht von dem neuen Apostel verbreitet, und man nannte die Namen der beiden Heimatsgenossen in einem spöttischen Gegensatz.
Bald darauf erhielt Franz einen Brief, in dem Julius schrieb:
»Ich möchte den unfreundlichen Eindruck unserer ersten Begegnung verwischen. Wenn du mich aufsuchen willst, so bin ich jeden Abend von sechs bis acht Uhr zu Hause. Den übrigen Teil des Tages gehe ich meinem Beruf nach.«
Franz zeigte auch diesen Brief seinem Freunde Sanguessa und fragte um Rat.
»Du wirst ihn doch nicht befolgen,« sagte der Brasilianer. »Du und er – ihr seid zwei feindliche Körper, die einmal irgendwo im Weltraum zusammenstoßen müssen und es ist besser, die Katastrophe möglichst lange hinauszuschieben. Aber feindliche Körper ziehen sich an, folglich wirst du hingehen und hernach an einer moralischen Indigestion leiden.«
Die Gegend, in der Julius hauste, lag am Hafen und war etwas »duster«. Franz mußte vier Treppen steigen, und dann entdeckte er beim Schein eines Streichholzes eine geschriebene Karte, auf der:
Julius Mohrmann,
stud. theol. et philos.
in unordentlichen Buchstaben stand. Julius hatte immer eine greuliche Pfote geschrieben, und die Graphologen hätten daraus wohl allerhand herauskalmüsert.
Er war zu Haus. Seine Bude war ärmlich ausgestattet; in der Ecke stand eine eiserne Feldbettstelle, er selbst saß bei der trüben Petroleumlampe in Hemdsärmeln an einem kleinen Schreibtisch von Fichtenholz und qualmte einen entsetzlichen Kneller.
Damals rauchte er noch; später hat er auch dieses »Laster« aufgegeben, als er vollständig Aszet geworden war.
Er begrüßte Franz ganz manierlich und ohne jeden Fanatismus, aber der junge Korpsstudent hatte auch wohlweislich seine Farben daheim gelassen – seine Mutter hatte mal vor Jahren ein rotes Tuch besessen und war deshalb bei einem Spaziergang über die Koppeln von dem Vater der Herde arg bedrängt worden. –
»Ich wußte, daß du kommen würdest,« sagte Julius. »Es ist zwar noch nicht so spät in der Nacht – – –«
Er stockte und brach ab. Es hatte wohl die Geschichte von Nikodemus folgen sollen, der bei Nacht zum Nazarener schleicht, wenigstens lag sie in seinen Augen, aber Franz ließ es nicht dazu kommen.
»Du hast dir ja eine verteufelte Räuberbude ausgesucht,« sagte er, und dann fuhr es ihm bis in den großen Zeh, denn Julius spießte das Wort sofort auf wie eine Fliege:
»Der Teufel, lieber Freund, ist überall.«
So ging das entschieden nicht; wenn sie in dieser Weise fortfuhren, dann war der Krach in fünf Minuten da. Franz setzte sich auf einen der hölzernen Stühle – – ein Sofa war nicht vorhanden – und schlug Julius auf die Schulter.
»Also den Mumpitz mit der Geschichte und Literatur hast du aufgegeben, alter Kerl? Ich glaube, es war wirklich das beste, mir liegt noch immer unser Abitur in den Knochen. ›Mehr Licht‹ – Donnerwetter!«
»Mir ist das Licht aufgegangen« – sagte Julius ruhig. »Ich habe mein Damaskus gefunden; ich schrieb dir bereits darüber.«
»Ja, es war ein richtiger Katerbrief. Wann ist denn das gewesen?«
»Nach einer durchsoffenen Nacht.«
»Auch du, mein Sohn Brutus?!«
Julius rauchte schrecklich, und wie er so in Hemdsärmeln dasaß, mußte Franz unwillkürlich daran denken, wenn es nun einem lustigen Maler einfallen sollte, den Rabbi von Tarsus mit der langen Pfeife abzukonterfeien! Jeder Anachronismus wirkt lächerlich, und dieser Mensch war auch aus der Zeit gefallen.
Aber Julius Mohrmann nahm die Sache sehr ernst.
»Wir müssen alle durch die Nacht zum Licht,« sagte er. »Wie ich hier vor dir sitze in meiner leibhaftigen Gestalt – ich war ein verlorener Sohn, der die Träber mit den Säuen fraß. Studieren, meinst du? Ich dachte nicht daran, ich habe den Fuß in kein Kolleg hineingesetzt. Es war auch besser so, je tiefer der Mensch in den Pfuhl hineinkommt, desto schneller kommt er auch wieder heraus; es ist eine uralte Wahrheit.«
»Na, na,« entgegnete Franz, »das ist eine von deinen uralten Narrheiten. Aber einerlei, also nach einer durchsoffenen Nacht –«
»Wurde ich wieder geboren.«
»Und dann gingst du in den Schoß der Kirche. Das hättest du allerdings bequemer haben können, denn soviel ich weiß, hatte dein alter Herr dich immer für einen Pfaffen taxiert.«
Die Pfeife war ausgeraucht und Julius stellte sie zur heimlichen Freude seines Gastes in die Ecke.
»Mit den Pfaffen habe ich nichts zu schaffen,« sagte er melancholisch – »fast so wenig wie mit meinem Vater, denn wir beide sind so ziemlich auseinander.«
»Teufel noch mal! Trotz und ungeachtet –?«
»Das alte Lied, lieber Freund. Die Väter reden immer von Broterwerb und sie haben ja auch in gewisser Weise recht; aber wer die Stimme des Geistes in sich hört, der soll den Menschen nicht folgen.«
Franz fühlte sich immer behaglicher. Das war ja noch der alte verschrobene Kauz, nur noch mehr mit einem Stich ins Mystische. Morgen soff er vielleicht wieder.
»Und was sagt die Stimme deines Geistes, Julius?«
»Sie ist noch dunkel. Vorläufig habe ich mich allerdings als Theologe einschreiben lassen, denn bis zu einem gewissen Grade bedarf es einer Rüstung um den Teufel zu bekämpfen, aber das Examen werde ich wohl nie machen, denn ein Amt gedenke ich nicht zu übernehmen.«
»Das kommt von der verfluchten Leibrente,« platzte Franz heraus. »Wer ist denn der arme Teufel, den du dir vorbinden willst?«
Jener unsichere Blick, den Franz aus der Mathematikstunde kannte, irrte aus den dunklen tiefliegenden Augen.
»Es sind ihrer viele, mein Freund. Hier in Kiel verkehre ich vorzugsweise unter den Seeleuten.«
»Die werden sich schön bedanken, wenn man sie als Teufel anspricht.«
»Sie haben den Bösen doch in sich: Trunk, Lästern, Unzucht – – «
Es entstand eine kleine Pause. Bisher hatte Julius noch nicht nach dem Leben seines Freundes gefragt, und der war ganz damit einverstanden. Aber nun kam es ja wohl:
»Wie geht es Magdalene?« sagte Mohrmann plötzlich.
Auf diesen verhaßten Namen war Franz nicht gefaßt; er hätte sogar lieber von Sanguessa erzählt, obwohl ihm das heute auch nicht so recht lag.
Er machte ein möglichst gleichgültiges Gesicht.
»Was willst du denn mit dem Mädchen? Soviel mir bekannt, ist sie mit ihrer Mutter nach Hamburg gezogen; man hat wirklich mehr zu tun, als sich um fremde Leute zu bekümmern.
»Es gibt keine fremden Leute« – entgegnete Julius – »sie sind alle unsere Brüder und Schwestern. Also nach Hamburg, sagst du, in dieses Babel der Verworfenheit, in diesen Pfuhl der Sünde! Sie ist freilich noch ein Kind, aber das wird nicht mehr lange dauern, die Treibhausluft zeitigt kranke Blüten. Vielleicht gehe ich bald nach dorthin.«
»Dieser Pflanze wegen?«
»Früher oder später wird sie mir auch begegnen. Aber das gehört zu den Dingen, die ich noch nicht klar sehe – es ist überhaupt auf meinem Wege vieles dunkel.«
Darin stimmte Franz vollkommen bei, aber er sprach es nicht aus. Dieser unklare Mensch mit den fanatischen Augen wurde ihm allmählich unheimlich; wenn das so weiter ging, dann endete es vielleicht noch dort, wo so viele von dem vergrübelten Geschlecht der Nebelländer ihren Ausgang finden – sie wollen die Welt aus ihren Fesseln erlösen und liegen selbst in den Banden des Geistes. – – –
Sie gingen kühl auseinander. Die Freundschaft, welche zwischen ihnen einstmals bestanden hatte, war mehr ein Ausfluß der Verhältnisse als der seelischen Harmonie gewesen. Diese eine Saite war zerrissen und die andere gab einen Mißton von sich – aber die Zukunft hatte es dennoch vor, darauf zu geigen. – Um diese Zeit wendete Franz Heller sich einer neuen Leidenschaft zu, die fast allen sinnlichen Naturen nahe liegt, aber bisher in ihm geschlummert hatte.
Er begann zu spielen. –
Das Hasard war in der straff organisierten Verbindung streng verpönt und es war schon vorgekommen, daß man unverbesserliche Jeuratten einfach dimittiert hatte, aber wenn schon dieses Verbot zur Übertretung reizte, so war es noch viel mehr Sanguessas Spott, dessen Einfluß auf den jüngeren Mann von Tag zu Tag größer wurde.
Der Brasilianer hatte zwar keine sinnlichen Anlagen, aber das Laster seiner Rasse war sehr stark in ihm ausgeprägt, und er betrachtete es gewissermaßen als eine Naturnotwendigkeit.
»Jedes Vermeiden einer Gefahr ist Feigheit,« sagte er einmal. »Ich bin in chinesischen Opiumhöhlen gewesen, weniger, um diesen Schmutz kennen zu lernen, als zur Probe auf meine Willenskraft. Das Spiel ist für mich eine angenehme Unterhaltung, aber ich würde mit zehntausend Frank an das Roulett treten und doch nach einem Verlust von tausend aufhören können – wenn ich es mir nämlich vorgenommen habe.«
Das war nicht ganz Renomisterei.
Er besaß eine ungeheure Ruhe und bekam nicht selten im richtigen Moment kalte Füße; aber Franz war anders angelegt.
Nach kurzer Zeit stand er vollständig unter der Herrschaft des Spielteufels und dann kam ein Tag – Nein, es war eine Nacht, als Dr. Heller von dem Läuten der Klingel geweckt wurde. Das geschah seit einiger Zeit recht selten, denn obwohl er sich von Martha getrennt hatte und einen tadellosen Lebenswandel führte, so ging es dennoch mit der Praxis wieder zurück, und die Zinsen von Juttas Kapital waren ein sehr willkommener Zuschuß.
Also die Nachtglocke rasselte und dann folgte die Botschaft:
»Herr Doktor möchten doch mal gleich zum Herrn Professor Mohrmann hinüberkommen; es wäre der alte Anfall, aber schlimmer als sonst.«
Das hatte Heller schon längst kommen sehen. Der Professor litt seit vielen Jahren an einem Herzfehler, und obwohl er erst im Beginn der Sechzig stand, ging er doch mit Pensionsgedanken um, – Heller aber ahnte, daß dieser alte Römer in den Sielen sterben werde. –
Es war eine von jenen nordischen Juninächten, die das Dunkel überhaupt nicht aufkommen lassen und in ihrer durchsichtigen Atmosphäre an die Gegenden der Mitternachtssonne erinnern; eine jener Nächte, die uns vielleicht noch mehr als Sturm und Regen mit Todesgedanken anfüllen, denn es ist alles ringsum Schatten, und nach dem Glauben der Alten, der unseren Tagen wieder nahe tritt, ist diese Dämmerung das Ewigkeitslicht des Hades.
Professor Mohrmann aber lag unter dem Schein der Lampe. Er hatte sich seit einem Jahr den Bart wachsen lassen und weil die Mohrmanns alle früh weiß wurden, so machte er den Eindruck eines sehr alten Mannes, mit dem auch der Arzt lieber die Wahrheit als die Lüge redet.
Hellers Mittel halfen für den Augenblick, er konnte wieder Atem schöpfen und das Sprechen wurde ihm nicht schwer, aber er wollte wissen, wie lange das noch mit ihm dauern werde.
»Vielleicht ist es gut, deinen Sohn zu benachrichtigen,« sagte Heller.
»Das ist nicht mein Wunsch. Wir sind zu weit auseinandergeraten, der Vater und der Sohn, und wenn er da an deinem Platze sähe, dann würde er mich mit seinen Narrheiten quälen. Ich will alleine sterben.«
»Wie ist das gekommen?«
»Es war immer da. Die Zeit ist im Übergang begriffen, das alte und das neue Geschlecht verstehen einander nicht mehr. Wir Alten fußen mit unseren Anschauungen auf der Vergangenheit und unsere Söhne tasten in die Zukunft. Die Enkel werden wieder klar sein, was dazwischenliegt, ist ein unfruchtbares Ringen.«
»Umgeprägte Werte« – sagte Heller halblaut und der Kranke zupfte an der Decke.
»Wertlose Umprägungen. Was macht deiner?«
»Ich glaube, er spielt. Ich kann kaum so viel Geld schaffen, wie er braucht.«
»Sie spielen alle,« sagte Mohrmann. »Mit einer Idee, mit dem Glück, mit sich selbst. Ich bin müde.« –
Er schlief bald darauf ein und es war schon Morgen, als Heller wieder in seine Wohnung hinüberging.
Der da hinter ihm war mit der Welt fertig, ein grämlicher Mann, der die Einsamkeit liebte; ihm selbst, dem jüngeren, graute vor dieser Leere.
Er sah noch ein Stück Leben vor sich, und je mehr ihm bewußt wurde, daß seine eigene Schuld es einsam gemacht hatte, um so verzweifelter klammerten sich seine Hoffnungen und Wünsche an den einzigen Sohn.
Den Spieler. –
Bald darauf kam der Postbote. Er brachte einen Brief von der Verbindung, der Franz angehörte, und Dr. Heller dachte, als er den Zirkel auf dem Kuvert sah, daß es eine Einladung zum Stiftungsfest sein werde – denn Franz war seit Ostern Kassenwart, und die Väter der Chargierten wurden bei solcher Gelegenheit immer sehr geehrt.
Eine Minute lang hielt er das Schreiben uneröffnet zwischen den Fingern; mit seinem alten Freunde Mohrmann stand es eigentlich recht bedenklich, und wenn der Tod dazwischenkam, dann konnte er selbst doch nicht gut feiern.
Was ihm im übrigen sonst recht gelegen gekommen wäre. – –
Donnerwetter, das war ja ein geschriebner Brief und noch obendrein ein ganz langer!
»Ew. Hochwohlgeboren müssen wir leider – – –«
Sie sind immer unheimlich, diese Briefe die mit »leider« anfangen; aber dieser da war mehr als unheimlich: er war niederschmetternd, entsetzlich, unglaublich!!
Franz hatte einen Kassendefekt gemacht – er hatte eine Unterschlagung begangen, wenn dies häßliche Wort auch schonend vermieden wurde.
Man habe ihn schon längst im Verdacht des Hasardspiels gehabt, schrieb der erste Chargierte. Die Verbindung trage keine Schuld daran, sondern vermutlich ein gewisser Sanguessa, eine zweifelhafte Persönlichkeit, deren Tage in Kiel wohl gezählt sein würden.
Das Manko betrage ungefähr tausend Mark, und man wolle mit Rücksicht auf die Familie von einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Abstand nehmen, wenn der Vater sich bereit erkläre, die Summe zu decken. Der Schluß des Briefes lautete:
»Ew. Hochwohlgeboren werden begreifen, daß Ihr Herr Sohn unter diesen Umständen nicht länger ein Mitglied unserer Verbindung bleiben konnte. Wir haben ihn unter Beobachtung derjenigen Formen entlassen, die für einen so ernst liegenden Fall in den Statuten vorgesehen sind.«
Das hieß also mit anderen Worten:
»Ihr Sohn ist cum infamia exkludiert.«
Natürlich – jede anständige Verbindung mußte so handeln, und es war noch eine besondere Rücksicht, daß man die Sache nicht vor das Gericht bringen wollte. –
Also noch obendrein sich bedanken!
Als Dr. Heller von Jutta Abschied genommen hatte, war er ein beschämter Mann gewesen; jetzt glaubte er, ein gebrochener Mann zu sein.
Er hielt es nicht für möglich, daß das Schicksal, dem wir alles, auch die eigene Schuld aufladen, daß dieses grauenhafte Verhängnis noch einen schärferen Pfeil in seinem Köcher haben könnte – und dennoch war er tatsächlich nicht gebrochen, sondern seine elastische Natur richtete sich wieder auf, er suchte nach Entschuldigungsgründen und er suchte nach Auswegen.
Der öffentlichen Schande mußte selbstverständlich zunächst ein Riegel vorgeschoben werden; dann – –
Ja; dann Amerika!
Heller schickte sofort den Fehlbetrag an die Verbindung und zwang sich sogar zu einigen höflichen Redensarten, denn jeder Vorwurf, den er etwa erhoben hätte, konnte den Weg zum Staatsanwalt anbahnen; dann ging er sofort auf die Bank und hob von Juttas Vermögen zehntausend Mark ab. Mittellos hinausstoßen wollte er seinen Sohn nicht, denn das war der Anfang vom Ende –, aber fort mußte er, denn eine moralische Erziehungskur hatte ihre großen Schattenseiten.
Das Leben besorgt dergleichen viel besser.
Dann ein Telegramm:
»Bin von allem unterrichtet. Angelegenheit geordnet. Komme persönlich.«
Diese Nachricht schlug bei Franz wie eine Bombe ein. Er hatte zwar seine Exklusion schon in Händen und das Burschenband war ihm abgefordert worden, aber dennoch hegte er die törichte Hoffnung, die ganze Sache vor seinem Vater vertuschen zu können. Die Verbindung hatte ihm drei Tage Frist gegeben, um den Kassendefekt zu decken und Sanguessa hatte versprochen, das Geld vorzuschießen. Gestern war die Frist abgelaufen, und der Brasilianer machte Ausflüchte, aber heute oder morgen – –
Sanguessa lag auf dem Sofa, als Franz mit der Depesche hereinstürmte. Er richtete sich langsam empor und warf einen neugierigen Blick auf das Blatt.
»Nun, was gibt's?«
»Es ist alles heraus!«
»Bei der Polizei?«
»Nein, bei meinem alten Herrn!«
»Narr, dann ist ja alles in Ordnung. Er wird zahlen und damit basta.«
»Er hat schon gezahlt!«
»Um so besser; warum regst du dich denn auf?«
Franz fiel auf einen Sessel und bohrte den Kopf in die Hände.
»Du bist eben kein Deutscher; du bist nicht der Sohn eines Mannes, der selbst studiert hat.«
»Nein, Gott sei Dank, von diesen Sentimentalitäten weiß ich nichts. Wie ist dein Alter veranlagt?«
»Wie meinst du das?«
»Nun, hat er alle fünf beisammen?«
»So gut wie ich selbst.«
»Dann ist keine Gefahr. Es soll nämlich unter euch Deutschen so verschrobene Kerle geben, die ihren Söhnen gleich eine Pistole in die Hand drücken. Bum, bum!«
Franz stöhnte.
»Ich habe Courage; aber das – das brächte ich nicht fertig!«
»Ist auch nicht nötig, mein Junge. Dein alter Herr wird dich auf eine andere Universität abschieben, denn nachdem sie dich aus der Verbindung herausgeschmissen haben, kannst du sowieso nicht länger hier bleiben. Wenn er sehr verständig handeln will, so beschneidet er dir nicht einmal deinen Wechsel, denn unzeitige Sparsamkeit hat schon manche Katastrophe – beschleunigt.«
»Beschleunigt,« sagte dieser kaltschnäuzige Mensch – nicht etwa »herbeigeführt«. Und er wußte ganz genau, was er damit zum Ausdruck brachte, denn Franz Heller war schon heute in seinen Augen ein toter Mann, dem wir nur noch ein möglichst anständiges Begräbnis besorgen. – –
Nicht etwa aus moralischen Gründen, o Gott bewahre – um solche Kleinigkeiten kümmerte Sanguessa sich verflucht wenig; aber er vermißte an diesem jungen Menschen die zielbewußte Energie des Willens, ohne deren Treibkraft auch das Böse nicht zu seiner vollen Entfaltung kommen kann.
Ein schlapper Kerl, der niemals etwas Bedeutendes erreichen wird. –
Unterdessen war Dr. Heller auf der Fahrt nach Kiel. Das Telegramm hatte er im ersten Impuls abgeschickt, und nun gereute es ihn beinahe, denn man kann nie wissen, wie solche Lakonismen aufgenommen werden.
Nervös überreizt ist unsere Jugend ja durch die Bank, und mancher geht lieber um die große Ecke, als daß er sich einer peinlichen Szene aussetzt, wo die Moral und andere eklige Dinge das Wort haben.
Auch Franz gehörte vielleicht zu diesen problematischen Naturen. –
Dann stieg der Doktor ein bißchen tiefer in sein Inneres und ertappte sich bei einem Gedanken, der sein Unbehagen in heimliches Entsetzen umwandelte. Er hatte soeben gedacht, daß der Tod eigentlich die beste Lösung in allem Wirrsal ist – ein Alexanderschwert, das den gordischen Knoten zerschneidet. –
So was entwickelt sich mit einer schönen Tragik. Über den blutigen Leichnam – denn auch das Ende muß in herkömmlichen Formen erfolgen – wird die Ehrenflagge der freiwilligen Sühne gebreitet, an der Bahre fallen einige gedämpfte Redensarten von Vergeben und Vergessen –, dann schließt sich die Gruft.
Und die Leidtragenden gehen mit dem tröstlichen Gefühl von dannen, daß sie selber sich noch des Lebens freuen, und daß man ihnen einen Klotz vom Bein gebunden hat –, denn mißratene Söhne sind schlimmer als die Kugel, welche man vordem den Sträflingen an den Knöchel schmiedete.
Der Klotz aber bekommt ein Mausoleum mit ehrenvoller Inschrift. – –
Es kam doch anders. – Als Dr. Heller die Wohnung seines Sohnes betrat, fand er den Sünder springlebendig und quietschvergnügt, denn Franz hatte sich den Trost Sanguessas angeeignet und auch das Telegramm einer nochmaligen Prüfung unterzogen.
Die beiden Worte: »Angelegenheit geordnet« waren schließlich darin doch die Hauptsache. – – –
Unter diesen Umständen kam es kaum zu einer großen Szene, denn Dr. Heller hatte selbst kein ganz reines Gewissen; dieser Mensch, mit dem er hier verhandelte, sollte ja eigentlich von Rechts wegen tot sein. –
Dennoch wurde Amerika aufs Tapet gebracht.
Und seltsam – Franz brach keineswegs zusammen, er bettelte nicht um Gnade und Nachsicht, er machte keine großen Versprechungen für die Zukunft, sondern er spitzte nur die Ohren. –
»Amerika? Eigentlich hast du nicht so unrecht, Papa. Nach dieser dummen Affäre ist mir der deutsche Boden doch ein bißchen heiß geworden, und schließlich kriegt der Staatsanwalt auch noch Wind. Aber die Hauptsache: was willst du mir denn mitgeben?«
»Zehntausend Mark –« sagte Heller etwas kleinlaut –, »ich habe sie gleich mitgebracht.«
»Hm – kann es nicht ein bißchen mehr sein? Ich muß mir drüben doch eine Existenz gründen.«
Das war der Moment, wo Dr. Heller sich in seiner ganzen pädagogischen Größe zeigte.
»Untergehn sollst du nicht, mein Junge, aber der Kampf ums Dasein darf dir nicht erspart bleiben. Dazu ist die Summe, die ich dir bestimmt habe, gerade geeignet. Wenn du drüben Boden unter den Füßen hast und ein Kapital zum Weiterkommen bedarfst, so bin ich immer noch da, und ich werde dich nicht in Stich lassen.«
»Na – denn her damit, Papa!«
Die zehn braunen Lappen wanderten vom Vater zum Sohn, und dann sahen die beiden sich etwas verlegen an.
»Morgen reise ich,« sagte Franz mit einem schönen Brustton, der durch das Geld bedeutend gehoben wurde.
»Natürlich – je eher, desto besser. Hm – dann hätten wir wohl eigentlich nur Abschied zu nehmen.«
»Wie zwei Männer,« sagte Franz gefaßt.
Die zwei Männer gaben sich die Hand. Der Doktor machte auch eine Bewegung, als ob er seinen Sohn umarmen wollte, aber der stand stocksteif und war ganz Held.
So unterblieb die Rührszene und Dr. Heller sagte nur noch an der Tür:
»Da ist mir von einem gewissen Sanguessa geschrieben worden. Der Kerl hat dich wohl verführt und ich möchte eigentlich mal mit ihm abrechnen.«
»Tue das lieber nicht, Papa. Es hat keinen Zweck und ist obendrein unbequem.«
Ach ja, sie waren beide auf dem Wege der Bequemlichkeit, und es hatte wirklich keinen Zweck, sich noch mehr aufzuregen.
Da nannte der Doktor nur noch den Namen von Julius Mohrmann.
»Der ist komplett verrückt geworden,« sagte Franz; »ich komme nicht mehr mit ihm zusammen.«
»Ich meine nur – sein Vater liegt wahrscheinlich im Sterben.«
»Wirklich? Nun, sterben müssen wir alle.«
»Freilich; also – leb' wohl.«
Noch bis um die Ecke sah Franz seinem Vater nach. Ein wenig langsam ging der, ein wenig gebückt. Die Leute hatten mal erzählt, daß Frau Jutta so ähnlich nach dem Bahnhof geschlichen sei – damals, als sie für immer schied.
Und dies war wohl auch ein Abschied fürs Leben gewesen. –
Vater und Mutter – –
Schwamm drüber! – – – –
Eine Stunde später war Franz bei Sanguessa. Er berichtete die ganze Affäre und zeigte die zehn braunen Lappen vor.
Sanguessa schüttelte den Kopf.
»Ich hätte deinen Alten für vernünftiger gehalten. Amerika ist ganz gut, ich selbst gehe auch bald über den Ententeich, aber nimm mir's nicht übel, was willst du da mit lumpigen Zehntausend? Wenn man die Reise abzieht, bleiben zweitausend Dollar – bon pour Nickel. Er müßte von Rechts wegen dein ganzes mütterliches Vermögen herausrücken – wieviel beträgt das?«
»Weiß nicht; doch wohl zweimalhunderttausend.«
»Na also; dann setz' ihm die Pistole auf die Brust.«
»Er tut's nicht, Lips – er tut's nicht!«
»So oder so – er muß. Weißt du was? Mit zehntausend ist nun mal nichts anzufangen, aber du kannst Glück haben; endlich muß das Glück doch kommen. Wir wollen heute abend in den Klub – zum letztenmal, denn die Polizei riecht schon Lunte. Es sind zwei Russen da und ein Amerikaner – lauter schwere Jungen. Va banque – entweder du verzehnfachst dein Kapital oder du verlierst es; im letzten Falle muß dein alter Herr einsehen, daß er eine falsche Note gegriffen hat. Vorwärts, Kerl! Wer nach Amerika will, der muß ein Spieler sein, sonst kommt er unter den Schlitten.« – – – – –
Da war der andere Morgen; grau, voll Nebel und Regen, zum Sterben häßlich.
An diesem Morgen starb Professor Mohrmann; so einsam und verlassen, wie er selbst gewünscht hatte – nicht einmal sein alter Freund Dr. Heller war dabei, denn der Tod kam in der freundlichen Gestalt eines Herzschlags.
In Kiel aber, draußen am Hafen, wo die großen Kriegskolosse liegen, begegneten sich an diesem Morgen zwei.
Der erstere hatte die Nacht hindurch gespielt und alles verloren; Julius war, wie er es häufig tat, in den Schifferkneipen gewesen, hatte Selterwasser getrunken und mit bezechten Seeleuten über »die Seele« geredet – eines bedeutenden Erfolges konnte er sich nicht rühmen, nur ein Jüte hatte ihm den schwarzen Rock zerrissen.
Und so ging er, den Hut in der Hand, durch den Regen.
Viel besser sah Franz nicht aus, als sie einander begegneten. Sein Vorhemd war mit Rotweinflecken bedeckt, den Hut hatte er irgendwo verloren oder vergessen, die Augen lagen ihm tief im Kopf.
Julius blieb stehen und sprach mit seiner hohlen Stimme:
»Ich sehe es dir an! Du bist wieder im Pfuhl der Sünde gewesen!«
»Das weiß der Teufel! Du wohl auch?«
Sie wollten aneinander vorüber; da drehte Franz sich noch einmal um:
Hast du noch keine Depesche bekommen?«
»Woher?«
»Man redet so was; dein Vater soll im Sterben liegen.«
Da bedeckte Julius sein Haupt mit dem Hut.
»Selig sind die Toten. Wir Lebenden müssen leiden.«
Das war die letzte Begegnung vor einer allerletzten, und die lag um Jahre später.
Damals aber glaubte Franz, daß es die allerletzte sei; denn er wollte sterben. Ja, das wollte er, dieser verfluchte Morgen sollte ihn nicht mehr unter den Lebenden finden, denn Julius hatte recht: die Lebenden müssen leiden. –
Daß der Gedanke an den Tod, an das wirkliche, alle Dinge abschließende Ende in Franz Heller ganz klar gewesen wäre, würde niemand, der ihn genau kannte, geglaubt oder behauptet haben. Denn über alles, was ernst und wichtig und entscheidend ist, hatte dieser Lebemann überhaupt noch nicht nachgegrübelt, aber er hegte den lebhaften Wunsch, aus dem Zustand völliger Verzweiflung herauszukommen, und da der Schlüssel zum Juliusturm bei Spandau nicht in seiner Tasche steckte, so rannte er einstweilen auf den Hafen los.
Betrunken war er nicht. Als der letzte Tausendmarkschein hinflatterte – denn zuletzt hatte Franz wie ein Nabob oder wie ein Rasender gespielt, – da war der Rausch plötzlich von ihm gewichen und hatte einer schalen und leeren Empfindung Platz gemacht; einem moralischen Katzenjammer, der noch hundertmal schlimmer war als das bißchen Kopfweh und Übelkeit.
Er rannte also auf den Hafen zu, und wenn es ihm wirklich ernst gewesen wäre, so hätte er keine bessere Gelegenheit finden können, denn die Gegend war um diese Zeit vollkommen verödet, es lagen auch keine Schiffe am Bollwerk, und das Wasser stand ziemlich hoch, als ob es seiner Beute so weit wie möglich entgegenkommen wollte. Franz hatte nur nötig, seinen Lauf nicht zu hemmen, dann verlor er ganz von selbst das Land unter den Füßen und der Rest war eine Bagatelle. Aber er machte rechtzeitig halt.
Das Sterben ist doch schließlich keine Kleinigkeit, und wer es ernstlich vorhat, der will das Ende wenigstens auf möglichst rasche und angenehme Weise herbeiführen – wenn denn überhaupt von einer Annehmlichkeit dabei die Rede sein kann.
Wie ist denn das eigentlich mit dem Ertrinken? –
Nun, man holt noch einmal recht tief Atem – –
Aber das ist ja Unsinn, das ist ja die reine Selbstquälerei! Man atmet im Gegenteil aus, springt mit offenem Munde ins Wasser hinein und läßt sich den Hals hübsch vollaufen; dann soll vor den Ohren ein Singen und Klingen losgehen, ohne Angstgefühl, und höchstens eine bis zwei Sekunden lang – darauf ist mit einem Husch die Besinnung weg.
So schildern es die Leute, die das durchgemacht haben und sie können wohl darum wissen, denn es gibt Tausende, die das Ertrinken bis an den Rand durchgemacht haben und nur noch von mitleidigen oder grausamen Menschen wieder herausgeholt wurden.
Natürlich gehört eins dazu: man muß des Schwimmens unkundig sein.
Und nun fiel es Franz plötzlich ein, daß er etwas schwimmen konnte. Nicht sehr viel, aber doch genug, sich noch einmal in die Höh' zu arbeiten und – um Hilfe zu rufen. Dagegen gibt es wiederum nur ein paar Mittel: man füllt sich die Taschen ordentlich mit Steinen oder bindet sich die Hände zusammen, oder – man geht am besten wieder heim. –
Steine waren auch nicht in der Nähe – ebensowenig ein Strick; es ist geradezu scheußlich! alle Menschen müssen doch einmal sterben, und wenn sie es gerne möchten, dann fehlt die Gelegenheit. – – –
Während Franz so dastand, kam ein »kleines Mädchen« vorüber. Die hatte in dieser Nacht ihre Rechnung wohl nicht gefunden; mißmutig stiefelte sie durch den Regen, und die Schleppe des seidenen Kleides schleifte im Kot. Aber als sie den hübschen jungen Mann am Bollwerk stehen sah, baarhäuptig und in das Wasser starrend, da erwachte in ihr die Dirnengutmütigkeit. Sie trat herzu und faßte Franz unter.
»Kleiner, du willst doch keine Dummheiten machen?«
»Lust hätte ich,« sagte Franz.
»Ist dir dein Schatz untreu geworden?«
»Ach Unsinn – ich habe kein Geld.«
»Das geht mir oft so. Komm' mit, mein Herzchen, ich habe ein schönes Bett.«
»Du hörst ja, Kind, meine Taschen sind leer.«
Da sah sie ihn lüstern an.
»Ich will nichts haben, du gefällst mir; du hast so was für die Weiber.«
Und dann zog sie ihn trällernd fort:
»Was man aus Liebe tut,
Das geht noch 'mal so gut – –«
Er ging wirklich mit. Und es fuhr ihm durch den Sinn: irgend jemand hatte gesagt – richtig, Julius war es gewesen, damals nach dem Abitur, in der tollen Zeit: »Du hast nur ein Talent, und das sind die Weiber –« Und nun rettete ihm dies Talent wohl gar das Leben! Aber als er die Dirne näher ansah, da überlief ihn doch ein Grauen; der Regen hatte ihr die Schminke vom Gesicht gewaschen, und was darunter zum Vorschein kam, das erinnerte an einen Totenkopf. Das war wohl ein Matrosenliebchen, eine von der Sorte, denen aus heißen Zonen die Geschlechtskrankheiten zugeschleppt werden. Den Tod hatte er gesucht, nun ging der mit ihm Arm in Arm. – – – – – –
Da riß Franz sich los und flüchtete in eine Seitengasse. Das Frauenzimmer war wie umgewandelt und schimpfte hinter ihm drein:
»Saukerl, verfluchter! Du bist wohl auch so einer –«
Aber er hörte nicht und rannte weiter, und dann war er plötzlich in seiner Wohnung, wo ein Brief auf dem Schreibtisch lag, der soeben angekommen sein mußte. Dr. Heller hatte ihn gleich nach seiner Rückkehr geschrieben.
»Mein Sohn!
Unser Abschied war wohl etwas kurz, aber so geht es immer im Leben, wenn zwei Menschen sich viel zu sagen haben, ohne den rechten Anfang finden zu können.
Auch in diesen wenigen Zeilen will ich nicht den Versuch machen, das Versäumte nachzuholen, aber es ist meine Pflicht, das Verhältnis zwischen mir und Dir klarzustellen, damit nicht etwa später irrtümliche Auffassungen entstehen.
Du hast einen Fehltritt begangen, den ich Dir verzeihe. Denn ich setze ihn auf die Rechnung der Verführung und des jugendlichen Leichtsinns, und ich würde Dich nicht zwingen, Dein Vaterland zu verlassen, wenn nicht ungeachtet der Ordnung deiner Angelegenheit die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung bestehen bliebe. Ich erwarte hingegen mit voller Bestimmtheit, daß Du aus der Vergangenheit eine ernste Lehre ziehst und in Zukunft ein anderer Mensch wirst. Solltest Du hingegen Deinen bisherigen Lebenswandel fortsetzen, so würde ich Dich als verloren ansehen und meine Hand von Dir abziehen. Nimm Dir diese Worte zu Herzen und betrachte sie nicht als eine leere Phrase; es gibt Grenzen, über die auch ein Vaterherz nicht hinauskommt.«
Der Brief trug keine Unterschrift, denn sein Verfasser hatte wohl nicht recht gewußt, wie er ihn abschließen sollte; aber während Dr. Heller sonst gleich den meisten Ärzten etwas unleserlich schrieb, hatte er jede Zeile sorgfältig hingemalt, und man konnte daraus schließen, daß eine sorgfältige Erwägung ihm die Hand führte. Franz verbrannte die Epistel. Er war jetzt in einen apathischen Zustand geraten, denn nun hatte sich auch die letzte Hoffnung von ihm zurückgezogen; das Spielen mit dem Tode hörte auf, und es handelte sich nur noch darum, nach Ibsens Ausspruch in Schönheit zu sterben. In einer subjektiven Schönheit; d. h. ohne Schmerz. – Und der junge Mediziner durchlief in Gedanken alle Arten des Selbstmordes, die ihm während seines kurzen Studiums bekannt geworden waren; zuletzt blieb er bei dem Opium stehen, denn das sollte einen schlafähnlichen Zustand erzeugen, der den Übergang verwischte – sie hatten auch auf der Schule im Herodot von dem Bunde der »Synakropothanumenoi« gelesen – blasierte Genußmenschen, die sich zum Mahle versammelten und den letzten Becher Wein mit dem Saft der Mohnblume vermischten.
Franz besaß ein Fläschchen mit Opium, das er sich einmal gegen Zahnschmerz hatte geben lassen; es lag noch fast unberührt in seinem Schreibtisch, und der Inhalt genügte für mehr als ein Menschenleben.
Wein war auch vorhanden – von dem alten schönen Burgunder, den Dr. Heller so gerne trank, und für den er eine Neigung auf den Sohn vererbt hatte. Wie wohl so manches andere. – – – – – – – –
Franz füllte sich ein Kristallglas zur Hälfte, denn er wollte das Ganze schnell hinunterstürzen, und dann holte er das Gift aus dem Schreibtisch.
Aber es war seltsam, daß er sich davor scheute, den gesamten Inhalt des Fläschchens in das Glas zu schütten; er bildete sich ein, daß eine geringe Menge auch schon genügen werde, um den Schlafzustand herbeizuführen – das Ganze verursachte vielleicht Schmerzen und machte das Sterben qualvoll. –
Und jetzt die Augen geschlossen und herunter damit!
Im ersten Augenblick spürte Franz nur einen bitteren Geschmack auf der Zunge, dann stieg aus dem Magen ein entsetzliches Gefühl des Übelseins herauf, eine Neigung zum Erbrechen, die doch nicht stark genug war, um der Natur zu helfen.
Aber das Gift war im Leibe. Es wirkte allmählich weiter – es wirkte – – – – – – – – – –
Da kam die Liebe zum Leben.
Mit einer elementaren Gewalt stürzte sie sich auf den Organismus, und weil die Kräfte noch nicht erschöpft waren, so entstand jener entsetzliche Kampf zwischen Wille und Trieb, in dem der letztere immer Sieger bleibt. –
Franz rief um Hilfe.
Als ihn niemand hörte, entsann er sich, daß gerade gegenüber eine Apotheke lag, die er vielleicht noch erreichen konnte.
Nein, die er erreichen mußte.
Er lief die Treppe hinunter, rannte über die Straße und brach in der Offizin zusammen; aber er konnte noch stammeln, daß er aus Versehen Opium genossen hätte.
Man schüttete ihm ein Brechmittel ein, – dann verließen ihn die Sinne. – – – – – – – – –
Im Krankenhaus kam er wieder zu sich. Man sagte ihm, daß er gerettet sei, und daß die Sache keine schlimmen Folgen haben werde; man war diskret genug, nicht nach den näheren Umständen zu forschen. Und er empfand eine Freude darüber, die wohl der Familienvater hegen mag, wenn er nach schwerer Krankheit der Arbeit für die Seinen zurückgegeben wird – in diesem Falle war es freilich nur die tierische Lust am Vegetieren; denn die Verhältnisse hatten sich nicht geändert, das Leben war noch ebenso hoffnungslos wie zuvor.
Und es gibt sehr viele, die diesen halt- und energielosen Menschen darum verachten würden.
Aber wir sollen in solchen Dingen mit unserer Verachtung sehr vorsichtig und sparsam umgehen, denn die ungeheure Macht des Lebedrangs kann nur derjenige ermessen, über dessen Haupt das Damoklesschwert gehangen hat. Und wenn dieser Erhaltungstrieb nicht vorhanden wäre wie das Atmen und das Kreisen des Blutes, so würde die Erde ein großes Leichenfeld sein, denn das Leben ist wahrhaftig nicht wert, daß es um seiner selbst willen gelebt wird. – –
Franz Heller hatte den Wunsch ausgesprochen, daß man seinen Vater über diesen »Unfall« nicht benachrichtigen möge, und wenn auch jedermann ahnte, was es damit für eine Bewandtnis habe, so wurde sein Wille von den Menschen doch geehrt, als ob es der Wille eines Sterbenden sei.
Aber die Wirklichkeit lachte über diese kindischen Sentimentalitäten. Nach zwei Tagen wurde Franz als geheilt aus dem Krankenhause entlassen, und als er seine Barmittel überschlug, da blieb ihm gerade so viel, um in die Heimat reisen zu können.
Natürlich – er besaß noch eine goldene Uhr, einen Diamantring und etwas überflüssige Kleidung, und von dem Erlös dieser Dinge ließ sich ein paar Wochen leben –, aber dann war die Geschichte wie zuvor, und man begann auch schon in Kiel allerhand zu raunen, das Spielernest war zum Beispiel ausgehoben worden. So reiste Franz ab. Die Bahnfahrt wurde ihm nicht sauer, denn da rollten die Räder ohne sein Zutun; aber den Weg vom Bahnhof bis in das Vaterhaus schlich er so langsam, wie seine Mutter in umgekehrter Richtung gegangen sein mochte – damals, als sie sich für den guten Namen der Familie opferte. –
In der Nähe der Villa sah Franz einen Zug aus dem Nachbarhause herauskommen. Sie trugen den alten Professor Mohrmann zu Grabe, und dicht hinter dem Sarg, zur Rechten und Linken des Pastors Roller, gingen Dr. Heller und Julius.
Der Arzt war etwas gebückt und sah vor sich in den Staub; Julius ging aufrecht, und seine Augen waren gegen den Himmel gerichtet – das Weltkind und der Prophet hatten auf diesem Wege die Rollen miteinander ausgetauscht. –
Und Franz hätte sich anschließen können, denn der stille Mann an der Spitze des Zuges war sein Lehrer gewesen und fast wie ein zweiter Vater; aber er zog es vor, in das Haus zu schleichen und dort die kommenden Dinge abzuwarten. –
Nach Verlauf einer Stunde trat Dr. Heller ein. Er prallte zurück und tastete nach dem Türpfosten; dann sagte er etwas unsicher:
»Du hier –? Ich glaubte dich schon unterwegs; war dieses Wiedersehen denn wirklich notwendig?«
»Ja«, entgegnete Franz – »ich habe das Geld verspielt.«
Der Doktor wendete sich ab und trat an das Fenster; die folgenden Worte gingen gleichsam in die Luft hinaus:
»Dann bist du ein Lump.«
»Das wird wohl stimmen.«
»Weißt du, woher ich komme?«
»Ich habe es gesehen.«
»Ich wollte, sie hätten mich hinausgetragen.« »Oder mich.«
Da drehte Dr. Heller sich um.
»Vielleicht wäre es für uns beide das Beste. Nun bleibt mir nur eins übrig: ich muß dich selbst auf das Schiff bringen.«
»Ja.« – – – – – – – – – – – – – –
Noch an demselben Tage reisten sie nach Hamburg. Ein Zufall, den sie dankbar begrüßten, fügte es, daß um zehn Uhr der nächste Personendampfer für New York fällig war, sodaß sie nicht gezwungen wurden, die letzte Nacht beisammen zu sein.
Heller brachte seinen Sohn nicht nur an Bord, sondern er wartete so lange, bis das Schiff von den Angehörigen geräumt wurde, und dann stand er noch am Bollwerk, um Acht zu geben, daß Franz nicht etwa mit einem Boot zurückkehrte.
Neben ihm stand eine alte Frau, die auch ihren Sohn weggebracht hatte, und sie sagte unter Tränen zu dem fremden Manne: »Nicht wahr, lieber Herr Immer noch einen letzten Blick – es ist ja doch das Beste, was wir haben!«
Darauf antwortete Heller nur etwas Undeutliches und ging in die Stadt zurück, denn drüben lichteten sie die Anker. –
Der war nun weg; abgeschoben in der üblichen Weise, und der Arzt dachte jetzt daran, daß er in dem großen Hamburg noch eine Tochter habe. Vielleicht könnte er die jetzt zu sich nehmen, das Gerede der Leute war ihm gleichgültig geworden.
Am folgenden Morgen nahm er eine Droschke und fuhr nach den Großen Bleichen 21; die Adresse war ihm noch genau in der Erinnerung: zweiter Hof links, eine Treppe. Dieselbe Frau, die ihm damals die Auskunft gegeben hatte, als er Magdalena zur Mutter brachte, öffnete ihm auch heute und erkannte ihn sofort wieder.
»Die Martha Klein? Ja, die ist nicht mehr bei mir; es ging nicht gut, lieber Herr, man hat doch auch seine Reputation. In Hamburg wird sie ja wohl noch sein – sie und das hübsche Kind, – aber wenn Sie die Adresse wissen wollen, so müssen Sie sich schon an die Polizei wenden; da kann man Ihnen gewiß die beste Auskunft geben.«
Und dann betrachtete sie den Doktor mit einem teilnehmenden Blick:
» Sie sind auch nicht jünger geworden in den Jahren, lieber Herr; ja, ja, das Leben ist keine Rutschbahn.« – Nein, das Leben ist ein Pfad an Hängen und über Geröll. Etliche Steine wirft uns das Schicksal vor die Füße, viele verstreuen wir selbst, und wenn wir die einen nicht beseitigen können, so ist es uns zu mühsam, die anderen wieder aufzusammeln.
Denn wir müssen uns bücken: vor Gott und vor den Menschen und vor uns selbst. –
Heller gab es auf, weiter nach seinem Kinde zu forschen. Es war soviel Häßliches dabei, und so viel Mühseliges, und so viel Unfruchtbares.
Er kehrte in sein leeres Haus zurück, und die Leute nannten ihn seitdem den »Hintersinnigen« – Einige wollten auch wissen, daß aus dem Lebemann ein Trinker geworden sei. –
Seine Praxis nahm immer mehr ab. – – – – –
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