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Marie Marek lag mit Kopfschmerzen im Bett. Ihre längst angegriffenen Nerven hielten die angestrengte Arbeit nicht aus. Sie war in diesen Wochen bis an die Grenze ihres Könnens gegangen.
Morgen war ihr Konzert, das ihr die Entscheidung und den Höhepunkt ihres Lebens bringen mußte: Den Beweis ihres Talents und die Eröffnung einer Laufbahn, die ihr ganzes Leben rechtfertigen mußte.
Sie wußte: Ich kann etwas. – Ich kann wahrscheinlich mehr als viele von denen, die jetzt Namen und Rang haben. Und sie hatte nur eine Sorge: würde ihre Gesundheit standhalten?
Es war der dringende Rat des Gesangsprofessors nötig gewesen, um sie zu einigen Tagen Ruhe zu bringen. Niemand durfte zu ihr. Auch Bruno nicht, der täglich nachfragte.
Wenn sie lange mit geschlossenen Augen lag, und der eiserne Reif, der ihre Stirn zu sprengen drohte, nachließ, fühlte sie sich froh, alles konnte noch gut werden.
Aber dann winkten das Klavier und die Noten und das Programm für das Konzert und schufen ihr Halluzinationen von lärmenden Kundgebungen für und wider sie, von Klatschen und Pfeifen, und sie riß sich wieder auf zur Arbeit.
Heute fühlte sie sich wieder etwas wohler, und sie beschloß, nachher bei Leonhardi vorzusprechen. Er mußte doch feststellen, ob ihre Stimme nichts an Schmelz und Biegsamkeit in diesen Tagen verloren hatte.
Draußen an der Flügeltür klingelte es laut und vernehmlich, so daß es selbst ihre schwerhörige Wirtin gehört haben mußte.
Marie hörte sie zur Tür gehen und mit ihrer rauhen Stimme abwehrende Worte sagen.
Wer konnte es sein? Bruno kam nie um diese Stunde, und Peter Trautmann hatte seit jenem Tage nichts mehr von sich hören lassen.
In diesem Augenblick gab es draußen einen lärmenden Zank. Zwei Frauenstimmen schrien einander an, und endlich öffnete sich ihre Zimmertür mit einem energischen Ruck.
»Hat man so etwas gehört? Eine Mutter, die zu ihrem Kinde eilt, sollte kein Recht haben, einzutreten?«
»Du bist es, Mama?« Marie richtete sich auf. Ihre Mutter war die letzte, die sie erwartete.
»Ja, ich, deine Mutter,« sagte Theresa Marek und öffnete mit einer großen Gebärde beide Arme. »Komm an mein Herz, mein armes Kind! Hier am Mutterherzen wirst du gesunden.«
Als Marie liegen blieb und nur nach der Kompresse tastete, die neben ihr in einem Schüsselchen lag, fuhr sie sich über die Stirn, »Ja, bin ich denn ganz von Sinnen? Ich vergesse ganz, daß mein Mia-Kind hier krank liegt? Was fehlt dir, mein Herzblatt? Wer ist schuld, daß du hier so elend liegst? Wo tut es denn weh? Liegst du schon lange so? Was sagt der Arzt? Du hast doch einen? Kümmert sich niemand um mein Mia-Kind?«
Marie schloß die Augen vor dem Ansturm der Fragen, bemühte sich dann, zu lächeln, und sagte: »Es ist schon wieder besser, Mama. Es waren nur Kopfschmerzen und nicht der Rede wert.«
»Mir fällt ein Stein vom Herzen, glaube mir. Ich fühle deine Schmerzen stärker als du selber. Aber nun mußt du bald gesund werden. Sei getrost. Du wirst die pflegende Hand einer Mutter spüren.«
Sie legte ihrer Tochter Kompressen auf, sprach ununterbrochen dabei, lief heraus, schrie die Wirtin an, verlangte Eis oder Tee aus Tausendgüldenkraut und fragte, wo denn das Fieberthermometer stecke.
Sie erfüllte die ganze stille Wohnung mit Lärm und hundert Wünschen. Sie füllte die Stube gleichsam mit ihrer Person aus.
Mit flehenden Blicken folgte Marie dem aufgeregten Hin und Her ihrer Mutter. Sie bat: »Setz' dich nur. Ich habe ja alles, was ich brauche.«
Endlich setzte Theresa Marek sich ans Bett ihrer Tochter. »Wunderst du dich nicht, mich zu sehen?« fragte sie mit pfiffigem Lächeln.
»Ich freue mich,« sagte Marie matt.
»Nun,« sagte die Mutter mit Würde, »dann wirst du dich noch wundern müssen. Es ist nämlich keine Kleinigkeit, bei diesen Wucherpreisen die Reise nach Berlin zu machen.«
»Du bist doch noch bei Dietlein am Theater?« fragte Marie, von einer plötzlichen Besorgnis erfaßt.
»Und ob ich es bin! Ich studiere jetzt die Rolle der Frau Warren, du weißt, in diesem modernen Stück. Sie ist mir zuwider. Du weißt, daß edle Verse meine Stärke sind. Aber die Zeiten sind vorüber, da die Kunst dem Wahren, Schönen, Guten huldigte.« Über dies Thema verbreitete sich Frau Marek lange. Es war ihr Lieblingsthema, und Marie kannte ihre Klagen seit Jahren, eigentlich so lange sie denken konnte.
»Aber es wäre doch schön, wenn du wieder einmal solche tragenden Rollen spielen dürftest, Mama.«
»Wieder einmal? Du scheinst es für eine – Ausnahme zu halten. O, da irrst du. Ich habe erst vorige Woche die Generalin in dem neuen Lustspiel gespielt. Alles war entzückt, mit welcher Eleganz ich mich in das Fach der Alten hineinfand. Sie können eben alles, sagte der Kritiker von der Allgemeinen Zeitung. Nun, da er es sagt, darf ich es wohl wiederholen, ohne unbescheiden gescholten zu werden, nicht wahr?«
»Gewiß, Mama.«
»Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern oben drauf, haha. Lerne das, Mia-Kind! Ich glaube, du hast diese Lehre nötig. Du bist immer allzu bescheiden gewesen und hast dir das Leben dadurch zu schwer gemacht.«
Marie winkte mit einer müden Handbewegung ab. –
Die Mutter verstand sie falsch, erneuerte den Umschlag, lief dann in die Küche hinaus und schickte die Wirtin in die Apotheke, Tabletten zu holen, die sie aufschrieb. Es gab draußen eine kurze, heftige Debatte, Türen wurden zugeworfen, daß sie knallten. Endlich kam sie mit triumphierender Miene zurück.
»Es ist unglaublich, was doch das Wort vermag. Selbst diese seelenlose Kreatur da draußen beugte sich. Wie sie mich ansah! Wie sie sich duckte! Ja, die Macht des Worts. Nun fliegt sie, um meinem lieben, verlassenen Mia-Kinde zu helfen. Willst du nicht vielleicht einen Wickel haben?«
»Nein, Mama.« Sie wollte sagen, daß sie nur Ruhe brauchte, aber sie wollte die Mutter nicht erzürnen.
»Wie es mich gefreut hat, daß du dem Film wieder den Rücken gekehrt hast, vermag ich dir nicht zu sagen. Man soll der Kunst keine Konzessionen machen, um wieviel weniger sie verraten. Und die Filmspielerei war doch nun einmal Verrat an der Kunst.« Sie runzelte die Stirn und seufzte tief auf.
Mitten in langen Erörterungen unterbrach sie sich und blickte Marie mit Gönnermiene an. »Heute will ich kein Geld von dir, liebes Kind. Heute bringe ich Geld mit. Was sagst du?«
»Ich freue mich, Mama.«
»Du gutes Kind! Ich lade dich auch ein. Du wirst heute mein Gast sein. Keine Widerrede, wir soupieren irgendwo zusammen und sind vergnügt.«
Marie wollte sagen, daß sie in diesen Tagen auf Schleimdiät gesetzt sei, aber die Mutter ließ ihr keine Zeit dazu. Sie zog einen Postabschnitt hervor, las eine Zahl ab und setzte hinzu: »Das habe ich als Geschenk bekommen.«
»Von wem?« fragte Marie matt. Ihr war alles so gleichgültig.
»Von einem Verehrer meiner Kunst.«
»Kenne ich ihn?«
Theresa Marek lachte ein herzliches Bühnenlachen. »Närrchen. Ich kenne ihn ja selber nicht.«
»So?«
»Das ist ja gerade das Reizende daran. Begreifst du das ganz und gar? Kränze und Blumen und andere Geschenke habe ich genug in meinem Leben erhalten, aber immer war eine Karte mit dem Namen des Gebers dabei. Ich muß schon in meine Anfänge zurückgreifen, wie ich als Kunstnovize zum erstenmal den Pagen in einem Stück von Scribe spielte. Du kennst es nicht, mein Kind. Da bekam ich einen Strauß mit einer Karte, auf der mit Knabenhandschrift stand: ›Ein Unbekannter huldigt der Göttlichen‹«
»Ich weiß, Mama.«
»Habe ich's dir schon einmal gezeigt?« Theresa Marek hatte an jedem Ruhetage ihre Kinder um sich gesammelt und ihre Reliquien gezeigt, die sie dann bewundern mußten, wenn sie nicht des Nachtisches verlustig gehen wollten. Marie kannte alle diese zerknitterten Schleifen, diese vergilbten und befleckten Briefe, das Album mit den eingeklebten Kritiken und Programmen.
»Wie gesagt, seit damals ist mir das nicht wieder geschehen. Und diese zarte Rücksichtnahme! Er hat nicht gewagt, das Geld von einem Postschalter unserer guten Stadt abzusenden, wo man ihn vielleicht erkannt hätte. Er hatte den Umweg über Berlin nicht gescheut. Ich möchte gerne wissen, ob er die delikate Angelegenheit einem Freunde überließ, oder ob er eine Reise hierher benutzte, oder wohl gar deswegen hierherfuhr?« Sie blickte verträumt und glücklich in die Ferne.
Marie hörte nur halb zu. Sie fühlte den eisernen Ring sich wieder um ihre Stirne pressen. Aber sie biß die Zähne zusammen, um ihre Schwäche nicht zu zeigen.
»Wie er wohl aussieht?« träumte Theresa Marek weiter. »Jung oder alt? Oft sind es nicht einmal die jungen Leute, die sich die kostbaren Illusionen in unserer Zeit bewahrt haben, was meinst du dazu, Mia-Kind?« Und ein Abglanz jener Zärtlichkeit, die ihr Blick eben dem unbekannten Verehrer gewidmet hatte, traf jetzt die Tochter.
»Hat er nichts geschrieben?« fragte Marie mühsam.
»Nur dies.« Fast verschämt zeigte Theresa Marek die Rückseite des Postabschnitts. Dort stand nur: »Von einem Verehrer Ihrer Kunst.«
Marie richtete sich plötzlich auf. »Gib her!« Sie riß das Blättchen aus der Hand ihrer Mutter. Sie las die Worte und die Zahl der riesigen Summe und wieder die Worte.
Sie war ganz blaß geworden, als sie es wieder zurückgab: sie hatte Peter Trautmanns Schriftzüge erkannt ...
Sie wandte sich der Wand zu und drückte das Taschentuch vor den Mund, um nicht laut aufzulachen.
Die Mutter schien ihre sichtliche Erregung mißzuverstehen. Sie sagte, über ihr Haar streichelnd: »Dir wird es auch einmal blühen, Mia-Kind. Ach, diese Jugend! Sie will nicht abwarten. Sie möchte die Blumen und Früchte pflücken, ehe sie noch recht gesät hat. Liebes Veilchen, wart' ein Weilchen!«
Marie wandte sich, gepeinigt und gequält von ihren Gedanken, warum hatte er ihrer Mutter Geld gesandt, und wann war dies geschehen? Gern hätte sie aus dem Datum ersehen, ob es nach jener Feier am Wannsee gewesen war. Aber sie wagte nicht, den Abschnitt zu erbitten, der doch so viel erklären konnte.
Plötzlich wurde ihr auch der Sinn von Brunos Andeutungen klar, neulich, als sie ihn endlich vorgelassen hatte. Er wußte von ihrem Verhältnis zu Peter Trautmann und deutete sicherlich alles auf seine Weise.
Peter Trautmann war reich. Daran war nun kein Zweifel. Dies sogenannte Stipendium kam von ihm, wie das Geld des Verehrers ihrer Mutter. Er spann sie in ein goldenes Netz von Verpflichtungen ein, um sie sicherer einzufangen – das war das einzige, was sie jetzt, in der Gereiztheit ihrer Nerven begriff. Sie fühlte sich gedemütigt und hintergangen.
Einen Augenblick lang überkam sie der Wunsch: Wäre er doch der arme, gute Junge, als der er ihr erschienen war. Vielleicht konnte sie ihn dann lieben, auch wenn sie nie seine Frau würde.
Aber dann peitschte sie das dunkle Bewußtsein einer Abhängigkeit von ihm und seinem Reichtum. Alles verdankte sie ihm, von jenem Abend in Grünau an bis zum Konzert, das natürlich er ermöglicht hatte und nicht die Konzertdirektion, die bei ihr angefragt.
Während die Mutter wohlgefällig weiterschwatzte von Erfolgen und Geld, trat der Gedanke erlösend vor sie hin: Morgen würde sie siegen, denn sie mußte ja siegen, um frei zu werden. Dann gab sie ihm zurück, was er ihr gegeben und womit er sie überlisten wollte.
Sie konnte ihm nicht dankbar sein: Sie wollte es nicht. Peter Trautmann war reich über alle ihre Begriffe. Was er für sie getan, waren nur Almosen, über die er vielleicht geringschätzig lächelte.
Marie redete sich immer tiefer in die Wirrnis ihrer Gedanken hinein, je heftiger ihre Nerven zuckten, und je quälender das ewige Sprechen der Mutter war, vielleicht irrte sie sich auch? Vielleicht liebte er sie dennoch? Er war so zartfühlend gewesen und hatte sie auch an jenem unseligen letzten Abend mit keinem Worte gequält. Er hatte so getan, als sei ihr der Sekt nicht bekommen, und war auch ihrem Wunsche gefolgt, vor dem Konzert sie nicht wieder zu besuchen. Keiner der Männer, die sie kannte, hätte so gehandelt, nicht Hans Ruthardt, nicht die anderen. Und wieder ertappte sie sich auf dem Gedanken: Wäre er doch der kleine Student, der er in Grünau gewesen war!
Aber er war es nicht. Er war ein großer Herr, der mit ihr spielte, nur auf seine besondere Art. Vielleicht verachtete er sie zu dieser Stunde, schon um ihrer Familie willen. Und sie begann seinen Reichtum zu hassen, der ihn zu dieser Verachtung nötigen mußte, der es ihm leicht machte, sie mit seinem Mitleid zu demütigen.
Sie wandte sich um und lächelte der Mutter zu. Sie brauchte jetzt einen Menschen, an den sie sich klammern konnte.
Die Wirtin hatte die Tabletten gebracht. Die Mutter rührte sie mit wortreicher Anpreisung ihrer Vorzüge in warmem Wasser an und zwang Marie, sie zu schlucken.
Plötzlich sagte die Mutter mit freundlichem Lächeln: »Ist es wahr? Bruno erzählte mir, du hättest jetzt einen reichen Verehrer? Einen Spanier mit einem großen Bankkonto?«
Marie schrie auf vor Schmerz und Gram und vergrub ihr Gesicht in das Kissen.
Ihre Mutter sah sie erschreckt an. »Bist du so aufgeregt, Kind? Aber da ist doch nichts dabei? wenn er doch nur deine Kunst liebt?«
»Geh, Mutter, ich bitte dich!« bat sie flehend.
»Ich denke nicht daran. Du bist meiner Pflege bedürftiger denn je. Und mit dem Ruthardt ist es aus? Gott sei Dank. Jeder ist seines Glückes Schmied. Ich habe ihn nie gemocht.«
»Schweig, Mutter!«
»Mein Gott, ich bin schon ganz ruhig. Aber ich werde doch wohl noch sagen dürfen, daß der gute Ruthardt ein Tolpatsch ist, der sich mächtig überschätzt und dich nie verdient hat?«
Marie fühlte ihre Schläfen hämmern zum Zerspringen. Am besten war es wohl, ein Ende zu machen. Am besten war es, alles aufzugeben, alle Träume von Kunst und Erfolg. Nein, sagte sie sich dann, bis morgen muß ich noch durchhalten, und dann soll sich alles entscheiden.
Sie war dankbar, als es draußen klingelte und die Mutter dadurch von ihrem Thema abgelenkt wurde.
Die Wirtin kam herein: Der Herr sei wieder draußen, ihr Bruder. Ob er auch hineindürfe.
Theresa Marek sprang sofort mit einem Jubelschrei auf. »Bruno? Selbstverständlich. Hier ist sein Platz.«
Aber Marie hielt ihre Hand mit aller Energie fest. »Ich kann jetzt niemand sehen, Mutter. Niemand. Ich bitte dich, mit Bruno fortzugehen. Ich muß jetzt schlafen.«
»O dieser Schelm! Sie hat nur Angst, daß wir von ihrem Verehrer sprechen würden. Und wir wären doch beide ganz diskret gewesen. Was denkst du wohl von uns? Und du wirst wirklich nicht mit uns beiden soupieren? Ich lade euch ein. Ja, ich lade euch beide ein.«
»Ich muß jetzt schlafen,« rief Marie außer sich. »Hörst du mich denn eigentlich nicht? Muß ich erst zu Hilfe rufen?«
Theresa Marek starrte sie so unglücklich an, daß Marie fast etwas Mitleid mit diesem großen, dicken Kinde empfand, das sie ihre Mutter nannte. Aber dann sah sie überdeutlich die schwarzgetuschten Striche um die Augen dieser Frau und die Schminke auf ihren Wangen.
»Es ist der einzige Dienst, den du mir jetzt leisten kannst. Nicht wahr, du läßt mich nicht umsonst bitten?«
»Wenn man mich hier nicht braucht,« entgegnete Theresa Marek, gekränkt nach ihrem Hut greifend, »dann gehe ich natürlich. Aber ich hätte mir einen Empfang nach so langer Zeit anders gedacht.«
Sie weigerte sich auch, ihre Hand der Tochter zum Abschiedskuß zu reichen.
In der Tür schien ihr doch der Abgang nicht richtig. Sie drehte sich wieder um, tupfte mit dem Taschentuch auf die Augen und sagte weich: »Wenn du mich rufst, werde ich immer zu haben sein. Und du wirst mich rufen. Des bin ich gewiß. Auf wiedersehen morgen beim Konzert.«
*
»Begreifst du Marie?« fragte Bruno unten auf der Straße seine Mutter.
»Da ist nicht viel zu begreifen. Sie ist hysterisch.«
Bruno zuckte die Achseln, »Aber der Grund? Hat sie denn einen Grund? Ist es je einem von uns so gut gegangen wie ihr jetzt? Er würde sie am Ende gar heiraten, dieser halbe Spanier.«
Frau Marek blieb stehen und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Und davon sagt mir Marie nichts? Bin ich ihr so entfremdet?« Sie zog ihr Taschentuch.
Ihr Sohn blickte sie höhnisch an, »Du brauchst vor mir nicht Rührung zu mimen, Mama.«
Sie wollte empört sein, aber er winkte ab. »Es ist ja noch sehr die Frage, ob sie ihn denn nimmt?«
»Das soll eine Frage sein?« schrie Theresa Marek, unbekümmert um die Passanten. »Nein, das ist keine Frage. So dumm ist meine Tochter nicht.«
Er blieb vor einer Anschlagsäule stehen und deutete auf das Plakat, das Maries Liederabend ankündigte. »Er garantiert auch fürs ganze Konzert. Ich habe mich erkundigt.«
»Dann werde ich ihn also morgen kennenlernen?« fragte sie tief erregt.
»Wird was nützen!« meinte ihr Sohn achselzuckend, »Vielleicht liebt sie auch noch den Kerl, den Ruthardt.«
»Unsinn,« sagte sie. »Das ist vorbei.«
»Ich habe sie aber stark im Verdacht. Sein Bild steht auch wieder auf dem Klavier. Eine ganze Weile war es verschwunden. Teufel noch mal!«
Eine Weile ging Frau Marek schweigend neben dem Sohn einher. Endlich sagte sie mit einem Nicken des Kopfes: »Da habe ich am Ende als Mutter doch auch noch ein Wörtlein mitzureden.«
»Das glaubst du doch nicht im Ernst, Mama. So. Nun wollen wir aber hier einkehren. Ich bin doch eingeladen?« fragte er zur Sicherheit, bevor sie eintraten.
»Du bist mein Gast, und ich werde mich nicht lumpen lassen,« Ehe sie die Drehtür des Weinrestaurants in Bewegung setzte, fragte sie: »Ist dieser Trautmann denn wirklich so reich?«
»Märchenhaft. Ich bin über ihn genau orientiert. Mich macht man nicht dumm. Auch Marie nicht, die so tut, als hätte sie von ihm noch keine Geschenke bekommen, Ich habe so meine Verbindungen und weiß, wo Bartel den Most holt. Verlaß dich auf mich.«
»Ja,« sagte Frau Marek mit einem zärtlichen Mutterblick, »auf dich kann man sich verlassen.«
*
An allen Anschlagsäulen stand das kleine gelbe, stark umrandete Plakat:
Liszt-Bülow-Saal. Donnerstag, den 10. Oktober, 8 Uhr: Marie Marek |
Darunter folgten die Namen der Komponisten und zum Schluß:
Am Flügel: Professor Leonhardi.
Peter Trautmann ging von einer Säule zur andern und sah immer nur dies eine Plakat. Aber er zweifelte, ob es auch den andern Passanten so ging. Am einfachsten wäre es ja gewesen, alle Säulen für diesen Tag nur mit diesem einen Plakat zu bekleben. Aber darauf war das Plakatinstitut trotz all seiner Lockungen nicht eingegangen.
Ringsum winkten die vierzig Theater Berlins, die Varietés, Kinos, Bars und Dielen, schrien Aufrufe verzweifelter Eltern nach weggelaufenen Kindern, kreischten Kriminalplakate Riesensummen hinaus für Auffindung von Verbrechern oder Vermißten. Kam der kleine gelbe Fleck des Konzertplakates gegen sie alle an? Übersah man es nicht?
Peter Trautmann ging froh seines Wegs. Er hatte in dieser Woche sein Examen bestanden. Fast so gut wie einst sein Vater, dessen Namen er in den alten Jahrgängen der Akademieverzeichnisse gefunden hatte. Er hatte keine Examensangst gehabt, und war vielleicht darum von all der Verwirrung verschont geblieben, die andere arme Kandidaten im entscheidenden Augenblick um die Früchte ihrer langen Arbeit brachte. Am Ende hatte er sich selbst gewundert, was er alles wußte.
Er mußte an den Examenscherz denken, den Professor Schmidt ihm einmal erzählt. Ein geplagter Kandidat gesteht seinem Examinator kurz vor der Prüfung, daß sein Kopf eine Wüste sei, und der Professor tröstet ihn lächelnd, daß wohl auch einige Oasen drin sein werden. »Gewiß, Herr Professor,« stöhnt darauf der Verwirrte, »es ist aber die Frage, ob die Kamele die finden werden?«
Peter lachte noch jetzt vergnügt vor sich hin, während er am Fenster eines Cafés saß, von dem aus er das gelbe Plakat sehen konnte.
Eigentlich war es schade, daß die Zweckarbeit zum Examen vorüber war. Was sollte er nun beginnen? Er zögerte, die Stellung anzunehmen, die man ihm in Oberschlesien angeboten.
Es widerstand ihm, die väterliche Laufbahn zu beschreiten, obgleich er ihr schon viel Arbeit gewidmet. Was konnte ihn daran reizen, immer neue Werte erzeugen zu helfen, die sich doch nur wieder in Geld umwandelten? In Geld, das niemand nützte und alle zu Sklaven machte, jene, die es besaßen, ebenso wie jene, die es erzeugten.
Aber er scheuchte die düsteren Gedanken fort. Heute war keine Zeit dazu. Heute wollte er froh sein. Die Zeit des Zweifelns und Grübelns war ja nun zu Ende. Heute kam Marie an ihr Ziel, an ihr erstes Ziel. Und dann mußten sie sich aussprechen, und es kam zu einer Entscheidung.
Er war sicher, wie die Entscheidung ausfallen würde. Die frohe Stimmung, in der er sich befand, verklärte und erhellte auch Maries Bild. Es hatte in der langen Zeit ihrer Trennung alle Schlacken verloren und war wieder rein und vollwertig herausgetreten wie das Gold aus dem Erz.
Wie hatte er sie so lange entbehren können?
Hinter sich hörte er eine grobe, bekannte Stimme räsonnieren: »Sie sind kein Zeitungsleser, mein Herr. Sie sind ein Zeitungsfresser. Sie glauben wohl, ein Vorrecht zu haben, weil Sie sich Ihre Haare nicht schneiden lassen, Sie unfreiwilliger Simson? Dreckchen, sage ich Ihnen.«
Peter stand auf. Natürlich war es Hans Ruthardt, der sich dort mit einem langmähnigen Herrn um eine Zeitung zankte.
»Guten Tag, Hans. Laß die Zeitung und komme zu mir!«
»Gleich. Ich suche bloß eine Notiz.«
»Das hätten Sie gleich sagen können,« meinte der Langhaarige, »wir hätten uns dann ohne Aufregung geeinigt.«
Peter sah in ein markantes Gesicht, zu dessen fest, wie in Holz gearbeiteten Zügen die weichliche Haartracht wie eine schlechte Maskerade wirkte. Besonders fielen ihm die großen flammenden Augen auf, in denen er Schwärmerei und Kampflust zu lesen vermeinte. Er hatte Lust diesen Fremden kennenzulernen, verwarf aber seine Idee gleich wieder.
Hans Ruthardt saß schon an seinem Tisch und durchstöberte die Zeitung wild, wie ein Hund einen Dachsbau.
»Was suchst du da für eine Notiz?« fragte Peter amüsiert. »Natürlich eine über dich selber?«
»Dreckchen,« murmelte der Bildhauer. Er konnte doch nicht sagen, daß er alle Zeitungen daraufhin prüfte, ob sie Vornotizen über den Liederabend von Marie Marek brachten.
»Ein Käseblatt, wie schon seine Druckerschwärze stinkt!« Und er warf es im Bogen auf den Nachbartisch. Er hatte keine Vornotiz darin gefunden.
»Oder suchst du eine Notiz über mein bestandenes Examen?«
»Allerhand Achtung. Haben sie dich wirklich durchschlüpfen lassen? Ich gratuliere, schwarzer Peter.«
»Danke. Den Seinen gibt es der Professor im Schlaf. Was macht übrigens der schreitende Jüngling?«
Hans Ruthardt blähte sich. »Fertig. Und schon zur Ausstellung angemeldet. Er kommt in den Empfangssaal. Wenn ich mich nicht zur Wehr setze, werden sie mich daraufhin zum Professor machen oder statt des schon gedrehten Stricks die ehemals goldene Medaille um den Hals hängen. Aus welchem Metall mag sie jetzt wohl sein?«
Peter Trautmann lachte froh vor sich hin. Alles strebte einem Ziel zu: Der Freund, Marie und er selber, wie schön war das Leben!
Hans Ruthardt stand auf, trat an die Scheiben und sah hinaus. Peter folgte seinem Blick. Das gelbe Konzertplakat leuchtete herüber. »Interessiert dich der Liederabend?«
Da Hans Ruthardt fühlte, wie er bei dieser Frage rot wurde, drehte er sich erst nach einer Weile um und sagte in wegwerfendem Ton: »Ich habe keine Zeit für musikalische Hinrichtungen!«
»Schade. Ich hätte dir sonst ein gutes Billett abtreten können.«
»Wie kommst du zu Billetts zu diesem Konzert?«
»Ich hatte heute abend nichts anderes vor.«
»So?« Hans Ruthardt setzte sich in Positur.
»Und da führst du deine Langeweile in diesen Konzertsaal spazieren, statt zufällig in eine Diele, wo allerlei abgetakeltes Zeug herumgeilt? Da sitzest du dann und fühlst dich für ein paar lumpige Geldscheine als Richter über eine Künstlerin, die sich durchgehungert und durchgerungen hat, bis sie sich diesen Abend ermöglicht, der vielleicht über ihr Leben entscheidet? Ahnst du eigentlich, wie entsetzlich bürgerlich du bist, und wie hoch dieses Mädchen über dir steht, das dir Kunst für Papiergeld schenkt?«
»Aber Hans! Warum so aufgebracht? Du kennst die Dame doch gar nicht?«
Der Bildhauer blickte ihn an; er wollte etwas sagen, zog es dann aber vor, sich in eine Zeitung zu vertiefen.
Da nichts mehr mit ihm anzufangen war, erhob Peter sich bald. Er hatte noch allerlei für das Konzert vorzubereiten: Einige Kritiker anzuläuten und zu erinnern, mit denen er in dieser Woche zusammengesessen – die Blumen in das Konzertlokal zu senden – und allerlei anderes.
Als er dem Ausgang zustrebte, kam er am Tisch des langhaarigen Herrn vorüber, mit dem Hans Ruthardt gestritten. Und wieder fesselte ihn der Ausdruck dieses seltsam gespannten Gesichts.
Unwillkürlich reichte er ihm die Hand. »Ich möchte Sie gerne näher kennen lernen.«
»Warum?« fragte der Fremde verwundert, und, wie es Peter schien, mißtrauisch.
»Sie gefallen mir. Ist das kein Grund?«
»Das passiert mir nicht oft, daß ich jemand gefalle. Auch Sie werden enttäuscht sein, lassen wir das!«
»Nein,« beharrte Peter, »lassen wir das nicht. Aber ich stelle es Ihnen anheim, ob Sie den Verkehr mit mir wünschen. Hier ist meine Adresse.« Er reichte seine Karte.
»Ich besitze leider keine Karte,« sagte der Fremde in höflicher Abwehr.
»Aber einen Namen und eine Adresse werden Sie doch besitzen?« Peter wußte selber nicht, warum er so beharrlich war.
Der andere lächelte. »Nehmen wir an, daß ich Katzian heiße. Erich Katzian. Ein netter, freundlicher, behaglicher Name, nicht wahr? Und meine Adresse ist dies Kaffeehaus zwischen fünf und sieben Uhr.«
»Das ist immerhin etwas,« sagte Peter vergnügt. »Auf Wiedersehen, Herr Katzian.«
Und er blickte sich auf dem Wege zur Türe noch zweimal um und nickte seinem neuen Bekannten zu, als sei er schon mit ihm befreundet.
*