Paul Enderling
Der Fremdling
Paul Enderling

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Marie Marek stand am Fenster ihrer kleinen Stube. Wenn sie die Stirn an die Scheiben preßte, konnte sie jeden sehen, der auf dem Bürgersteig ging. Das tat sie seit einer Viertelstunde.

Dann ließ sie von dem erfolglosen Versuch ab und ging seufzend ins Zimmer zurück. Herr Trautmann kam nicht.

Er hatte ihr gestern so viele Versprechungen gemacht, und er war auch so anders als die Herren vom Film – sie schauerte leicht zusammen, wenn die Erinnerungen an ihre erste Zeit dort auftauchten – aber der junge Trautmann konnte nichts Besseres, als goldene Luftschlösser bauen, die nun zerfielen.

Am einfachsten war es doch wohl, wieder zur Filmgesellschaft zu gehen und zu fragen, ob man sie nicht wenigstens für kleinere Rollen brauchen könne. Ja, fragen konnte sie immerhin, das kostete nichts.

Dieser Herr Trautmann, der sie sehr beschäftigte, hatte es vielleicht ganz gut gemeint. Aber er konnte wohl selber nichts halten und kam nun lieber erst gar nicht.

Sie war an Enttäuschungen gewöhnt. Sie fand sich auch schon damit ab, daß dies Erlebnis nur den einen Zweck gehabt hatte, einen Sommerabend in Grünau etwas lustiger zu verleben, als es die letzten Jahre möglich gewesen war.

Er sah auch gar nicht aus, als wenn er ihr helfen könnte. Seine Kleidung zum Beispiel war durchaus zweiten Ranges gewesen. Daß sie das nicht gleich überdacht hatte! Sie hatte doch sonst einen scharfen Blick für solche Dinge.

Sie ging zum Kleiderschrank, in dessen oberer Etage neben zwei Hüten ein in Zeitungspapier gewickeltes Brot und etwas Teegeschirr stand. Sie schnitt ein Stück Brot ab und überlegte sich einen Augenblick, ob sie etwas kleingehackte Zwiebeln darauflegen sollte. Es war ein Rezept ihrer Mutter: wenn man die Augen schloß, schmeckte es wie Tatarbrötchen. Übrigens waren Zwiebeln auch für die Stimme sehr gut. Aber vielleicht kam der Besucher doch, und dann war Zwiebelatem nicht das richtige.

So beschmierte sie das Brot denn mit Marmelade und kaute eifrig, während sie dabei den Brief las, den sie vor einer Stunde bekommen.

Er war von ihrer Mutter, die sie wieder einmal anborgte.

In der Ecke des großen Briefbogens stand in feierlicher Umrahmung der Name des Theaters. Sie hatte also nicht einmal den Briefbogen gekauft.

Die Mutter schrieb:

»Meine über alles geliebte Mia!

Du weißt, wie die Träume und die Wünsche einer einsamen Mutter fortwährend die Häupter ihrer Kinder umflattern, ob sie auch in weiter Ferne sind. ›Ach, eine Mutter hat man einmal nur‹, heißt es in einem Gedicht, das ich früher mit großem Erfolg deklamierte, dessen Verfasser ich aber vergessen habe. Bruno, der übrigens bodenlos schreibfaul ist, war damals so entzückt darüber, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Direktor Dietlein hat mir meine Ehrengage nicht erhöht, obwohl ich mich neulich angeboten habe, für die erkrankte Darstellerin der Jungfrau einzuspringen, was ihm einen großen Ausfall erspart und mir einen großen Triumph verschafft hätte. Denke nur, was die guten Bürger für Augen gemacht hätten, wenn wieder Theresia Marek auf dem Zettel geprangt hätte. Ach, die goldenen Zeiten auf dem Theater sind vorbei. Es sinkt von Stufe zu Stufe, was jede Theaterkritik nachweist. ›Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder‹, wie's bei Schiller so schön heißt. Es sinkt zur Operette und zum Kientopp.

Meine liebe Mia, da Du, wie Du mir schreibst, am dortigen Film so gut angekommen bist, solltest Du auch etwas für Deine arme, einsame Mutter tun. Hat man dort nicht Verwendung für mich? Eventuell würde ich auch ältere Rollen spielen (mit Vorliebe Damen der guten Gesellschaft). Redakteur Knapp, Du weißt, der immer so liebenswürdig ist – aber bisweilen kann er auch sehr streng sein – er sagte mir gestern, als er mich in der Konditorei traf (ich trank nach langer Zeit wieder einmal eine richtige Tasse Kaffee, und er spendierte ein Glas Danziger Goldwasser, was ich nun einmal für mein Leben gern trinke und was meinem Magen auch immer so gut bekommt), ja, also Doktor Knapp sagte mir, ich besäße die Grazie einer Herzogin unter Ludwig XVII. (es kann auch der XVIII. oder XIX. gewesen sein), was sagst Du zu diesem Schwerenöter?

Liebe Mia, sende mir sofort Geld. Ich habe versehentlich einen Handspiegel meiner Wirtin zerschlagen und muß ihn ersetzen. Sende sofort, sonst kostet er noch mehr. Es genügt, wenn Du mir –«

Marie ließ den Brief sinken und lief wieder ans Fenster.

Ach, am besten wäre es gewesen, sie wäre in dem schmutzigen Fluß versunken, und alles wäre zu Ende gewesen. Sie wußte gut, warum sie ins Wasser geglitten war. Es war nicht nur Ungeschick gewesen, o nein, es war einer jener Schwächeanfälle gewesen, die sie in letzter Zeit öfter überkamen und ihre Augen verdunkelten und ihre Widerstandskraft lähmten. Darum hatte sie auch die dunklen Ringe um die Augen, die am Film alle für Schminke hielten – so »interessant« und »pikant« waren sie.

Ob wohl einer geweint hätte, wenn sie, vielleicht von einem Herzschlag getroffen, versunken wäre? Sie blickte auf den Brief. Ja, Mutter würde wohl weinen und sich eine Trauergarnitur verschaffen, und wenn sie sie aus der Theatergarderobe borgen müßte. Sie hörte ihre Deklamationen über die früh geknickte Blüte, die auf dem Asphalt nicht hatte gedeihen können. Sie sah ihren schwankenden Gang, wenn sie dem Direktor die Nachricht brachte und um Vorschuß zur Reise bat. Sie würde sich an den Direktor klammern, schluchzen und dabei denken: ›Wie gut ich doch so eine Rolle hinlege.‹

Es war nicht recht, daß sie so von ihrer Mutter dachte. Sie fühlte es gut. Aber sie konnte diese grellen Bilder nicht verscheuchen, so sehr sie auch schmerzten.

Vielleicht würde auch Bruno trauern. Er kümmerte sich nicht um sie und trieb sich hier in Berlin herum, wer weiß wo. Aber schließlich war es doch ihr Bruder.

Vielleicht würde auch Hans Ruthardt trauern, der dort aus der Photographie so trotzig herausblickte, wenn er es erfuhr ... wenn er es erfuhr ...

Sie nahm die Photographie in die Hand, die einen jungen Mann darstellte, der an einer Plastik herumknetete. Ob Hans Ruthardt noch in Berlin war? Es war so lange her, daß sie ihn nicht gesehen, seit jenem dummen Zerwürfnis.

Als es in diesem Augenblick klingelte, versteckte sie die Photographie in den Kleiderschrank. Sie tat es ganz instinktiv, ohne zu überlegen.

Dann jagte sie auf den Vorflur. Es war nicht nötig, daß ihre Wirtin den Besucher zuerst sah.

Sie legte den Finger auf den Mund zum Zeichen des Schweigens, als Peter Trautmann sie anreden wollte, und winkte ihm herein. Ihre Wirtin war ja schwerhörig, aber es war so besser.

Peter gab ihr zwei blaßrote Rosen und fragte leise nach ihrem Befinden.

»Es ist mir ganz gut bekommen, danke. Aber solche teure Blumen müssen Sie nicht kaufen.«

Er wehrte lächelnd ab und trat, um seiner Verlegenheit Herr zu werden, an das Klavier. Als er ein paar Akkorde anschlug, fragte sie, ob er spielen könne. Er nickte und spielte eine kurze Stelle aus einer Pfitzner-Oper.

Sie schlug glücklich in die Hände. »Wie fein! Da können Sie mich ja begleiten, wenn ich –«

Mitten im Satz hielt sie inne. Es klang ja gerade so, als wenn sie ihn an sein Versprechen mahnen wollte, ihr ihre Gesangsstunden zu ermöglichen.

»Warum vollenden Sie Ihren Satz nicht?« fragte er verwundert.

Sie machte sich an den Blumen zu schaffen. »O nichts. Es war nur so eine Idee, was machen wir übrigens mit den alten Kleidern? Sie müssen doch dem Lokal zurückgegeben werden.«

»Bewahre. Sie sind reichlich bezahlt. Aber ich möchte gern, daß Sie Ihren Satz vollenden.«

»Ja, ich weiß ihn nicht mehr.« Sie hielt die Rosen vor das Gesicht und blinzelte ihn durch sie hindurch an.

Peter trat näher auf sie zu. »Ich sollte Sie begleiten, wenn Sie wieder singen werden. So war es doch gemeint, nicht wahr?«

Sie nickte, ohne ihn direkt anzusehen.

»Das kann bald geschehen, in wenig Tagen.«

Nun ließ sie die Rosen niedergleiten. »Wie sollte das möglich sein?«

»Hören Sie einmal zu. Es ist eine lange Geschichte. Aber erst setzen wir uns wohl, wie?«

Sie schob eifrig zwei Stühle herbei und wartete, Peter fiel es auf, daß sie blaß aussah, und er sagte es ihr.

»Ich habe nur ein wenig Kopfschmerz, weiter nichts.«

»Also doch eine Folge von gestern?«

»O nein, von dem unfreiwilligen Bad kommt das nicht.« Sie wußte gut, daß die immer wiederkehrenden Kopfschmerzen eine Folge des ewigen Grübelns, der Aufregungen und der schlechten Ernährung waren. Aber das konnte sie diesem jungen Menschen doch nicht sagen, was verstand er wohl davon?

Und um weitere Fragen abzuwehren, drängte sie: »Sagen Sie mir schnell, was Sie sagen wollen. Es ist nicht recht, daß Sie mich auf die Folter spannen.«

Peter begann zögernd, denn die Situation war doch peinlich, und er wußte nicht, ob er die rechten Worte finden werde. Die rechten – das waren die, die nicht verletzten, und die sie zur Annahme des Geldes überreden wollten. »Die Sache ist so: Ich selber habe nicht viel übrig und kann Ihnen von mir aus nichts geben.«

Sie nickte. Das hatte sie sich selber gedacht, daß ein Student der Bergakademie noch kein Bergwerk besaß. Und ihre Hoffnungen sanken.

»Aber ich habe einen Onkel in der Provinz, der ein Stipendium für angehende Künstler, speziell Sänger, verwaltet, von dem kann ich sofort Geld kriegen, das zum Studium und zum Lebensunterhalt reicht. Ja, so ist es.« Er hatte ganz schnell gesprochen. All dies hatte er sich lange überlegt und fast auswendig gelernt. So war es wohl am besten: Ein Stipendium konnte jeder annehmen.

Als sie immer noch nicht antwortete, wurde er unruhig. »Nun, wäre das nicht etwas?«

»Wie hoch ist das Stipendium?« fragte sie. Das war eine Frage, auf die er nicht vorbereitet war. Er hatte ja keine Ahnung, was sie brauchte.

»Das weiß ich nicht genau.«

»Aber ungefähr?« beharrte sie.

»Es ist, der Geldentwertung entsprechend, erhöht worden,« sagte er mit nachdenklicher Miene und wunderte sich selbst, wie er lügen konnte. »Um wieviel, weiß ich nicht. Es reicht aber sicherlich zur Vollendung Ihrer Gesangsstudien. Wäre das nicht das Gegebene für Sie?«

Sie nickte. Ihre Stimme klang schon freier, aber noch immer von Vorsicht gedämpft, als sie fragte: »Und Ihr Onkel würde es mir nur auf Ihre Fürsprache hin geben?«

»Sofort,« antwortete er eifrig. »Das heißt, einige Tage werden Sie natürlich warten müssen. Er hat es mir selbst für meine Klavierkünste angeboten. Aber ich habe keine Verwendung dafür. Ich bin mit meinem Studium vollauf beschäftigt. Ich brauche es nicht.«

Marie Marek schwieg. Plötzlich blickte sie ihn an und sagte dann unvermittelt: »Sie haben sehr kleine Hände. Ich möchte gern wissen, was Sie eigentlich sind.«

Unwillkürlich versteckte Peter seine Hände, und darüber mußte sie etwas lachen.

Es kam ihm wunderlich vor, daß sie ihn nach seinem Stande fragte. Er hatte ihr doch erzählt, was er treibe und hatte ihr sogar seine Studentenkarte gezeigt.

»Ist an mir denn etwas Besonderes?«

»Sie wirken wie aus einem alten Geschlecht,« sagte sie langsam, »aber Sie sind ja nicht einmal adelig.«

»Nein, aber meine Mutter war es.« Es drängte ihn, jetzt zu diesem doch fremden Mädchen von seiner Mutter zu sprechen. Marie Marek hatte eine schwache Ähnlichkeit mit ihr. Wenigstens hing in Wolfsheim ein Jugendbild von ihr mit ebenso großen, gleichsam erschrockenen, dunklen Augen und langen, schwarzen Haaren. Aber das von der Ähnlichkeit sagte er ihr nicht ...

»Ihre Mutter war eine Spanierin, nicht wahr?«

»Nein. Sie war aus dem Geschlecht der Inka. Alte Überlieferungen ihrer Familie bestätigen es. Schriftliches ist da natürlich nicht vorhanden.«

»Natürlich nicht. Also der Inka.« Sie wußte die Inka nirgend recht unterzubringen, mochte es ihm aber nicht sagen.

»Die Inkas waren allmächtige Fürsten in Peru. Meine Mutter stammt von dem letzten ab, wie sie erzählte. Er hieß Atahualpa, und er wurde nach seiner Ermordung wie alle Sonnensöhne einbalsamiert im Sonnentempel bestattet. Garcilasso de la Vega berichtet von ihm, ein Verwandter des großen Räubers Pizzarro.« Er sprach alles vor sich hin, als sagte er es sich selber vor, gleichsam um eine schon erlöschende Erinnerung wieder zu beleben. Mit müdem Lächeln setzte er hinzu: »Aber das ist alles lange her, sehr lange ...«

Marie Mareks verschleierte Augen bekamen einen tiefen Glanz, als sie es hörte. »Davon müssen Sie mir mehr erzählen,«

»Ein andermal,« bat er. »Wir werden uns nun ja öfter sehen. Und bald werde ich Sie singen hören. In einem Konzertsaal, von einer Bühne herab, wer weiß wo.«

»Das wäre herrlich!« sagte sie versonnen.

»Wieviel brauchen Sie denn im Monat?« fragte er schnell, um eine feste Grundlage zu bekommen. Sie waren doch hier nicht beisammen, um über Peru zu plaudern.

Sie begann sofort angestrengt mit gerunzelter Stirne zu rechnen, erbat dann einen Bleistift und schrieb auf die leere Schlußseite des mütterlichen Briefs einige Zahlenreihen, die sie ihm endlich zögernd zu lesen gab.

Er las die Zahlen durch. Es kam ihm lächerlich wenig vor, was sie zum Leben brauchte. Jedenfalls war es weniger, als was die lustige Frau Kriebe ihm anzurechnen pflegte. Damit konnte sie unmöglich auskommen.

»Ich glaube, das Stipendium ist größer,« sagte er endlich, ohne aufzublicken. »Nun, jedenfalls ist die Sache nun gemacht, und Sie können sich bei Ihrem Gesangslehrer wieder anmelden. Freuen Sie sich?«

Sie verschränkte die Hände und sagte leise: »Die Kunst ist ein Teufelskram. Wer die Finger davon lassen könnte, wäre glücklich. Aber wer ihr einmal verfiel, den frißt sie mit Haut und Haar.«

»Ich dachte, Kunst macht glücklich?«

»Ach, das verstehen Sie nicht. Es ist, als ob eine Peitsche über einem ist, bei Tag und Nacht. Und doch ist es das einzige, das einzige.«

Plötzlich sprang sie auf, ganz verwandelt. Strahlend, leuchtend, jung. Es war, als sei ihr erst in diesem Augenblick die Erkenntnis ihres verwandelten Geschicks aufgegangen.

Ihr Gesicht war rot geworden vor Verwirrung und Freude. »Weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Sie brauchen nicht zu danken.«

»Befreit von dem blöden Film und all dem andern!« Plötzlich hielt sie inne. »Aber Sie haben mich ja noch gar nicht singen hören? Sie können ja gar nicht wissen, ob ich überhaupt Talent habe?«

Er lächelte. »Erstens glaube ich Ihnen. Man hat doch auch seinen Instinkt.«

»Wie unvorsichtig!«

»Und zweitens höre ich das Ihrer Stimme an.«

»Meiner Stimme? O weh! Die ist ja ganz eingerostet und muß erst geölt werden. Wahrhaftig, sie muß erst geschmeidig gemacht werden.«

Er erhob sich. »Also beginnen Sie bald damit.«

Sie ergriff seine beiden Hände und drückte sie. »Wie gut Sie sind!«

Er fürchtete die ganze Zeit, daß sie nach seinem Onkel fragen würde und nach dem Namen des Stipendiums. Aber sie war viel zu glücklich über den überwältigenden Zufall.

Während er sich verabschiedete, blickte er sich die Photographien auf dem Klavier an. Er deutete auf ein Kabinettbild, das eine Dame im Kostüm, eine Edelfrau, darstellte. »Eine Schauspielerin?«

»Es ist meine Mutter.«

»So jung?«

»Es war eine von Mutters ersten Rollen. Die Kunigunde im Käthchen von Heilbronn. Meine Mutter ist Schauspielerin. Oder vielmehr, sie war es. Sie ist nie aus der tiefsten Provinz herausgekommen. Sie hatte eben kein Glück.« Sie sprach rasch und verlegen und brach ab, als fürchtete sie, schon zuviel gesagt zu haben.

Er verstand ihr plötzliches Schweigen und ging. Erst auf der Treppe bemerkte er, daß er den Brief noch in der Hand hielt, auf den sie ihre bescheidenen Zahlen notiert. Gedankenlos überflog er einige Zeilen. Es war gerade die Stelle mit dem Handspiegel, den die Mutter zerschlagen hatte.

Er las nicht weiter und ging wieder nach oben, um ihn ihr zu bringen. Als er vor der Tür stand, hörte er sie singen. Der Ton klang hell und trotzig durch das stille Haus. Marie Marek übte also schon!

Eine Weile hörte er gespannt zu. Die belegte Stimme schien sich zu befreien. Es war, als stiege sie langsam aus einer Niederung empor, wie ein Vogel, der zum erstenmal nach langer Käfigzeit seine Flügel gebraucht.

Dann ging er wieder die Treppe herunter, leise, auf den Zehenspitzen, als könnte ein lautes Auftreten sie stören ...

*

Glücklich lief er durch die Straßen, immer den Ton im Ohr, mit dem Marie Mareks neues Leben anklang.

Vor einem Laden drängte sich eine Menge. Aber sie war anders, als neulich die vor der Bank.

Er blickte in abgehärmte, versorgte Gesichter von Frauen, die in den letzten Resten einstiger guter Kleidung dastanden. Sie hatten Körbe oder Packpapier bei sich. Die meisten standen sichtlich etwas geniert auf der offenen Straße, wo sie jeder kontrollieren konnte.

Eben kam Frau Kriebe heraus, rosig und rundlich. Sie lachte ihn vergnügt an. »Verwandte Seelen finden sich zu Wasser und zu Lande,« sagte sie so laut, daß man es gewiß bis über den Fahrdamm hören konnte.

»Was gibt es hier?« fragte er.

»Gefrierfleisch vom Magistrat. Aber ich danke für die Eisbeine. Die futtert mein Hugo nicht. Der will was Solides zu präpeln haben. Und man hat es ja dazu –« Beinah' hätte sie hinzugesetzt: »Seit Sie da sind.« Aber sie klappte noch rechtzeitig den Mund zu.

»Ist dies Fleisch billiger?«

»Und ob. Wer lange keins gegessen hat, kann es am Ende auch für Fleisch halten. Übrigens kommt es aus Südamerika, da, wo Sie zu Hause sind. Sagen Sie, essen Sie da alle Tage so was?« Und sie krauste ihr Näschen bedenklich.

»Nein,« entgegnete er kopfschüttelnd. »Ich kann mich nicht besinnen.«

Sie hatte gar nicht zugehört und wickelte ein kleines Paket auf. »Was sagen Sie dazu? Strümpfe. Aber Seide. Fein mit Ei.«

»Für Sie?«

Sie schrie vor Lachen, daß die Passanten zusammenzuckten. »Na, gewiß doch. Dachten Sie, Hugo trägt so 'ne dünne Florchen? Nee, das ist was für meiner Mutter ihrer Tochter.«

Und ihm eifrig zunickend, machte sie sich auf den Weg.

Peter blickte ihr nach. Es schien den Kriebes jetzt ganz gut zu gehen ...

Als er wieder die Reihe der wartenden Hausfrauen betrachtete, kam ihm ein Gedanke: Die alle sollten teilhaben an seinem Glück und einmal für eine Stunde aufatmen können. Er ging über den Hof durch eine Hintertür in den Laden und wurde durchgelassen, da niemand in ihm einen Käufer vermutete. Er fragte nach dem Geschäftsinhaber.

Ein eifriger Herr kam herbeigelaufen und fragte nach seinen Wünschen.

»Draußen stehen dreiunddreißig Frauen, die Gefrierfleisch kaufen wollen. Ich habe gezählt. Packen Sie auf meine Rechnung dreiunddreißig Pakete zu je drei Pfund.«

»Macht einen Zentner,« sagte der Kaufmann schnell.

»Beinahe. Aber rechnen Sie immerhin einen Zentner. Und verteilen Sie das als Geschenk von einem Unbekannten.«

Er schrieb die Summe auf einen Scheck und reichte ihn dem Kaufmann.

Der betrachtete den Scheck und sagte zu ihm: »Bargeld wäre mir lieber. Es ist nur wegen der Schwierigkeit der Einlösung.«

Peter lachte ärgerlich und kramte alles Bargeld zusammen. Es reichte aber kaum für ein Dutzend der Wartenden.

Der Kaufmann rief heraus, daß die ersten Zwölf durch das Geschenk eines Deutsch-Amerikaners umsonst Fleisch bekämen.

Peter, der durch die Hintertüre das Geschäft wieder verlassen hatte und im Hausflur stand, hörte erregtes Geschrei.

Ein wildes Gedränge wogte vor der Ladentür. Schirme schlugen durch die Luft. Schimpfworte kreischten. Wut verzerrte die Gesichter. Kleider gingen in Fetzen. Frisuren lösten sich. Körbe hieben auf Köpfe.

Entsetzt blickte er in das Getümmel.

Ein Schrei gellte auf. Eine ältere Frau war hingestürzt und die andern drängten über sie hinweg.

Im Nu bildete sich ein Auflauf von Müßiggängern. Fahrräder standen still. Autos hielten. Über die Straßen liefen Polizeibeamte herbei.

Peter hörte das Rasseln der herabgezogenen Jalousien, die das gefährdete Ladenfenster schützen mußten, und gleich darauf die etwas fettige Stimme des Kaufmanns: »Ich rate Ihnen, zu gehen, mein Herr. Sonst verhaftet man Sie noch als den Urheber des Auflaufs.«

Langsam ging Peter weiter. Er fühlte sich grenzenlos enttäuscht und ernüchtert, und er wagte nicht, sich noch einmal umzusehen.

Hatte Weiß recht? Konnte man nicht helfen?

*


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