Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am 27. April 1882 starb zu Concord bei Boston im achtzigsten Jahre seines Lebens Ralph Waldo Emerson, der letzte große Vertreter und Lehrer der idealistischen Philosophie. Die philosophische Schule, die im vorigen Jahrhundert durch Kant in Deutschland begründet wurde, sollte auf der entgegengesetzten Hemisphäre ihren spätesten, eigentümlichsten und poesievollsten Vertreter finden.
Ein amerikanischer Idealist – schon diese beiden Worte scheinen einen Widerspruch zu enthalten. Aber Emerson hat im Geistesleben der Vereinigten Staaten eine mächtige Wandlung hervorgerufen; Thomas Carlyle konnte ihm schreiben: »Sie sind eine neue Ära, mein Freund, in Ihrem neuen gewaltigen Lande.«
Obgleich sein Geist auch in Deutschland in immer weiteren Wellenkreisen zu wirken begonnen hat und man die Spuren seines Einflusses bereits vielfach verfolgen kann, ist diese Wirkung doch eine weit langsamere, als man nach der Bedeutung Emersons und bei der sonst so willigen Art, mit der gerade das deutsche Volk die großen Männer des Auslandes aufzunehmen pflegt, erwarten sollte.
Der Grund liegt vielleicht darin, daß Emersons Werke dem Übersetzer ungewöhnliche Schwierigkeiten bieten und in der besten Übersetzung wie im Original an sich eine schwere, nicht jedem zugängliche und nicht jedem zusagende Lektüre bilden.
Und dennoch verdient er gerade in Deutschland besondere Beachtung, da er es war, der im Vereine mit den anderen Teilnehmern der sogenannten »transcendentalen Bewegung« zu Boston unserer Litteratur in Amerika maßgebende Geltung verschafft hat. Es waren dies Leute, welche die Kantsche Philosophie und die großen deutschen Dichter, vor allem Goethe, kennen gelernt hatten und, unter dem ungeheueren Eindruck derselben stehend, sie in das amerikanische Geistesleben einzuführen suchten.
Denn zweimal hat das Germanentum die ganze Welt befruchtet und regeneriert; einmal direkt als Rasse zur Zeit der Völkerwanderung und nunmehr geistig, in einer Bewegung, die noch lange nicht zu Ende ist, durch die gewaltigen Werke, die es um die Wende des letzten Jahrhunderts geschaffen hat.
Ralph Waldo Emerson wurde am 25. Mai 1803 zu Boston dem Prediger William Emerson als dritter Sohn und viertes Kind geboren. Seine Familie war im Anfang des 17. Jahrhunderts in Amerika eingewandert und durch acht Generationen waren seine Vorfahren puritanische Geistliche gewesen. Er selbst verlor den Vater früh und wurde von drei Frauen, seiner Mutter, einer Tante und von der Lehrerin Sarah Bradford erzogen. Von welchem Schlage diese Frauen, insbesondere seine Tante Mary Moody Emerson war, wie wenig Weichliches diese Erziehung hatte, beweist eine Regel, die ihm dieselbe einschärfte: »Thu immer das, was du zu thun dich fürchtest!« Von seiner Mutter Ruth Haskins sagt Mrs. Bradford: »Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals ungeduldig gesehen oder je eine unzufriedene Äußerung von ihr gehört zu haben.« Sie war dabei eine energische und tüchtige Hausfrau, und ihr Sohn soll von ihr das noch im spätesten Alter schöne Gesicht, das musikalische Organ und die Ruhe des Wesens geerbt haben. Seine beiden Brüder Edward und Charles, die für die begabteren der Familie galten, starben frühzeitig. Insbesondere von Edward Emerson wird berichtet, daß er ein Ideal männlicher Schönheit, von unwiderstehlichem Zauber der Persönlichkeit, und im Gegensatz zu Ralph Waldo von leidenschaftlicher Aktivität »ein geborener Führer der Menschen« gewesen sei. Nichtsdestoweniger pflegte er, wenn man ihn pries, zu sagen: »Der wahre Löwe vom Stamme Judah ist noch daheim!« Er wurde im Jahre 1828 geisteskrank, erholte sich wieder, starb aber sechs Jahre später zu Portorico. Der jüngste Bruder Robert blieb zeitlebens schwachsinnig. Von einem anderen Bruder William, der in Deutschland Theologie studierte, ist bemerkenswert, daß er Goethe aufsuchte, um ihn in Gewissenszweifeln um Rat zu fragen. Goethe empfing ihn freundlich und gab ihm den bezeichnenden Rat, seine Zweifel in sich auszukämpfen, und seine frommen Angehörigen damit nicht zu quälen. Auch Ralph Waldo studierte Theologie und wurde Prediger zu Boston, er zog sich aber bald von der Ausübung seines Amtes zurück und verbrachte den größten Teil seines Lebens auf einem kleinen Gute zu Concord bei Boston. Er war zweimal verheiratet, zum erstenmal mit Ellen Tucker aus Boston, die er als siebzehnjähriges Mädchen kennen lernte und ein Jahr darauf heiratete. »Ich sah sie,« schreibt er, »in all ihrer Schönheit, und sie hat mich nie und durch nichts enttäuscht, außer durch ihren Tod.« Sie war eine berühmte Schönheit, leidenschaftlichsten Gemüts, geistig und künstlerisch reichbegabt, aber von zartester Gesundheit. Sie wurde lungenkrank, als er einen Monat mit ihr verlobt war; er heiratete sie im September 1829 und anderthalb Jahre später starb sie »von allen vergessen, außer von ihm.« An sie hat er das folgende Gedicht gerichtet:
»Noch leuchten deine Augen mir,
Obgleich ich weit ins Land gezogen,
Wie ich den Strahl des Sterns, der mich
Nicht sieht, seh' zittern auf den Wogen.
Im Nebel klomm ich auf den Berg,
Und streifte rings durch grüne Heide,
Du schwebtest vor mir auf dem Pfad
Im stillen Tau – du, meine Freude!
Wenn leis der Fink die Schwinge hebt
Und zeigt der Seiten Purpurflammen,
Wenn eine Rosenknospe reift,
Les' ich in beiden deinen Namen!«
Im September 1835 vermählte er sich zum zweitenmal mit Lydia Jackson, die eine brave, unbedeutende Frau gewesen zu sein scheint. Von ihr hatte er, wenn ich nicht irre, zwei Kinder. Sein Sohn Waldo starb jedoch im Alter von acht Jahren.
Im übrigen war sein Leben ruhig und arm an Ereignissen, er reiste hie und da, hielt in verschiedenen Städten Vorträge, und war dreimal in Europa, das dritte Mal 1872, hochgefeiert; in Glasgow wollte man ihn sogar zum Lord-Rektor der Universität wählen, aber er – der sich übrigens keineswegs darum beworben hatte – unterlag gegen Disraeli. Sonst lebte er meist ruhig auf seinem Gute Musquetaquit, das er in einem Gedichte folgendermaßen preist:
»Weil ich begnügt mich mit so armen Feldern,
Der offnen Heide und dem trägen Strom,
Und mir ein Heim in Gegenden gegründet,
Die andere verschmäht, darum belohnten
Des Waldes Götter meine Liebe doppelt,
Und gaben mir die Freiheit ihres Standes,
Und ihr geheimer Rat hat jene teuren
Furchtbaren Mächte, die das Leben lenken,
Zu meiner Gunst gestimmt, und die Planeten
Sowie den Mond in seinen Bund gezogen,
Und in die Einsamkeit, in der ich hause,
Die, felsgleich, mir Gewohnheit worden, dringt
Millionenstrahlig mir der Geist, die Liebe.«
In seinen Schriften findet sich kaum eine persönliche Stelle. Er wurde mit niemand wahrhaft intim. Unter hervorragenden Männern stand ihm Carlyle am nächsten, mit dem er einen umfangreichen Briefwechsel führte, der in Amerika und England bereits in verschiedenen Ausgaben veröffentlicht worden ist.
Sein Gesicht erinnert ein wenig an Richard Wagner – es ist jedoch viel milder im Ausdruck. Sein Benehmen hatte eine ruhige, natürliche Würde; seit frühester Jugend soll ihn niemand hasten oder laufen gesehen haben. So machen denn auch seine Schriften den Eindruck, als ob jemand still, mit leiser Stimme, aber zugleich mit der unterdrückten Begeisterung des Redners, der von seiner Sache aufs innigste durchdrungen ist, Satz für Satz vortragen würde. Er ist überhaupt einer der wenigen Philosophen, die nach ihrer Lehre auch gelebt haben. So zurückgezogen er sich meistens hielt, als der Sklavenkrieg ausbrach und in Boston mehrere Redner, die für die Emanzipation zu sprechen gewagt hatten, vom Volke verhöhnt, ja beinahe gelyncht wurden, trat Emerson auf und hielt gleichfalls eine Rede für die Emancipation und ging ruhig und unangefochten wieder nach Hause.
Sein Ruhm nahm in Amerika und auch in Europa, vor allem in England stetig zu, desgleichen der Einfluß seiner Philosophie, die dem materialistischen, in jeder geistigen Hinsicht philiströsen, verdollarten Leben seiner Heimat ins Gesicht schlug. Sein erstes Werk, der Essay über »Natur,« der im Jahre 1836 erschien, wurde nur spärlich gekauft, von der im Jahre 1860 publizierten »Führung des Lebens« war die ganze Auflage nach zwei Tagen vergriffen. Als im Jahre 1872 sein Haus niederbrannte, wurden ihm die Mittel zum Wiederaufbau durch eine nationale Subskription verschafft. – In Amerika und England ist sehr viel über ihn geschrieben worden. Ein Verzeichnis nennt mehr als zweihundert Werke und Aufsätze. In Deutschland dürfte am bekanntesten die Skizze von Hermann Grimm sein. Seine Werke sind teils noch gar nicht, teils in durchaus ungenügender Weise ins Deutsche übersetzt. Vortrefflich sind die Übersetzungen der Essays über »Shakespeare« und »Goethe« von Hermann Grimm, sowie jene der »Führung des Lebens« von Sartorius. Ich habe mich in den nachfolgenden Übersetzungen bemüht, den eigentümlichen Stil des Autors, soweit es, ohne der deutschen Sprache Gewalt anzuthun, möglich war, nachzuahmen.
Diese Werke sind fast durchweg Essays – viele davon ursprünglich Vorträge – und zwar über alle möglichen Gegenstände des Lebens, über Kunst, Geschichte, Liebe, Klugheit, Religion, über den Weltgeist, dann litterarische Essays über Milton, über persische Poesie, über die englische Litteratur etc. Einzelne davon sind zu Sammlungen vereinigt, insbesondere die »Representative Men« (Repräsentanten der Menschheit). Als solche nennt er, und diese Auswahl ist höchst charakteristisch: »Plato oder der Philosoph,« »Swedenborg oder der Mystiker,« »Montaigne oder der Skeptiker,« »Shakespeare oder der Poet,« »Napoleon oder der Weltmensch, der Mann des praktischen Erfolges,« »Goethe oder der Schriftsteller.« Man mag die Auswahl richtig oder nicht richtig, vollständig oder unvollständig finden – jeder einzelne Aufsatz beleuchtet den betreffenden Mann und seine Werke in neuer, eigentümlicher Weise. – Weiter eine Sammlung vortrefflicher Essays über England, seine Bevölkerung und Zustände; – eine Sammlung unter dem gemeinsamen Titel »Gesellschaft und Einsamkeit,« welche Julian Schmidt übersetzt hat; sieben Essays über Lebensführung, übersetzt von Sartorius u.a.m. Endlich Gedichte: In diesen finden sich herrliche poetische Stellen, die meisten aber sind mystisch und dunkel, die Übersetzung fast unmöglich.
Wenn ich einen deutschen Schriftsteller nennen sollte, dem ich Emerson am ehesten vergleichen möchte, und zu dem er doch zugleich den schärfsten Gegensatz bildet, so nenne ich den, der heute auf viele, besonders junge Leute eine mächtige Wirkung ausgeübt hat, der zweifellos zu den Erziehern der jüngeren Generation Deutschlands gezählt werden muß: Friedrich Nietzsche.
Ich werde, um das Unbekannte durch das Bekanntere zu stützen und zu beleuchten, die Parallele zwischen beiden im folgenden soweit als thunlich durchführen.
Beide lehren und fordern die schrankenlose Ausbildung der eigenen Individualität, beide stehen in unserer nivellierenden Zeit auf dem Standpunkte einer um so stolzeren Aristokratie, einer Geistesaristokratie, die allerdings bei dem einen mit starrer bitterer Verachtung, bei dem anderen mit lächelndem Mitgefühle auf die Geringeren, die Menge, herabsieht.
Und wenn Nietzsche sagt – man kennt die berühmte Stelle: »Die Massen scheinen mir nur in dreifacher Hinsicht einen Blick zu verdienen, einmal als verschwimmende Kopien der großen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenützten Platten dargestellt, sodann als Widerstand gegen die Großen und endlich als Werkzeuge der Großen, im übrigen hole sie der Teufel und die Statistik!« – so sagt Emerson hingegen in seinem Aufsatz »Kompensationen« freundlich: »Die eigentliche Tragödie des Menschenlebens scheint der Unterschied der Begabung der Menschen zu sein ...«
Wenn Emerson hier gesagt hätte »ist,« so hätte er in diesem tiefen Satz den Finger in eine der schmerzlichsten Wunden des Menschengeschlechtes gelegt, aber seine optimistische Güte läßt das nicht zu, er sagt nur »scheint« und fährt fort:
»Man wird traurig, wenn man daran denkt, man weiß nicht, was man da thun soll. Mitunter scheue ich ihre Augen, ich meine, Gott selbst müsse darüber empört sein. Warum ist der eine häßlich, der andere schön, der eine klug, der andere dumm, der eine liebenswert, der andere gleichgiltig und fade? Es scheint die größte Ungerechtigkeit ... Wenn man die Sache näher ins Auge faßt, so schwinden diese bergähnlichen Ungleichheiten – die Liebe gleicht sie aus, wie die Sonne die Eisberge auftaut. Sobald die Seelen ihren gemeinsamen Ursprung erkennen, hört die Bitterkeit des Mein und Dein auf; sobald ich den liebe, der mir überlegen ist, schwindet der Neid und ich wachse zu seiner Höhe empor.«
Auch er sieht in der Mehrzahl der Menschen nur mißlungene Geschöpfe – aber er sieht in jedem nicht den Mangel, sondern umgekehrt das Gute, das in ihm ist, den Hinweis auf das vollkommene Wesen. »Ich kann es nicht oft genug wiederholen,« sagt er an einer Stelle, »daß den Menschen nur eine symbolische Bedeutung zukommt.« Und erst in den Größten sieht er die wahren »Repräsentanten der Menschheit,« die großen Männer, die »unser Triumph, unser Entzücken sind, welche die Erde bewohnbar machen,« hierin ganz mit Nietzsches Ausspruch: »Alles Ziel der Kultur ist, einzelne große Männer heranzubilden« übereinstimmend.
Beide sind in gewissem Sinne mit Carlyle verwandt, und ich glaube, etwas allen dreien Gemeinsames zu treffen, wenn ich sie specifisch »ungoetheisch« nenne, und zwar in dem Sinne, als Goethe Natur und Welt, Menschen und Dinge wiedergiebt, wie ein wunderbar fein geschliffener Planspiegel – ohne Entstellung, ohne Verzerrung, nur mit jenem Zauber, mit dem seine Poesie, sein Stil sie ausstatten mußte, während die drei anderen mehr oder minder wie sphärische Spiegel erscheinen, die das Licht brechen und das Bild vollkommen willkürlich verändern. Auch trug Goethe, wie die Makaria seiner Wanderjahre, ein Sonnensystem im Haupte; was er aus sich schöpfend darstellte, war heiter und klar wie der Tag; es ist das Sonnenlicht selbst, das aus ihm wiederstrahlt, während aus anderen Köpfen nur ein subjektives gedämpftes Licht auf die Welt fällt und ihre Darstellungen uns immer eine ganz eigentümlich beleuchtete Scenerie schauen lassen.
Daher kommt es denn auch, daß insbesondere Nietzsche und Carlyle immer geistreich, oft paradox, mitunter wahr sind; Goethe immer wahr, meistens geistreich, nie paradox.
Die Ähnlichkeit zwischen Emerson und Nietzsche läßt sich auch äußerlich weit verfolgen: Beide lieben einen schwungvollen, bilderreichen, vor allem aphoristischen Stil, beide gestatten sich in Bildern und Tropen, in der Deutung mythologischer Fabeln die freieste Willkür. Die Stellen, wo beide im einzelnen wörtlich dasselbe sagen, sind gar nicht zu zählen; aber nur im einzelnen, in der Gesamtrichtung ihres Wesens gehen sie in weitem Winkel auseinander.
Emerson sagt von sich selbst: »Ich bin ein geborener Dichter; unzweifelhaft geringen Ranges, aber doch ein Dichter. Mein Singen ist wohl meist unbeholfen und meist in Prosa. Dennoch bin ich ein Dichter, insofern als ich die Harmonien im Geiste und in der Materie erkenne und innig liebe.«
Vor allem aber ist er Philosoph, obgleich er so wenig wie Nietzsche ein eigenes System aufgestellt hat. Seine Philosophie ist die des Poeten, und vielleicht gerade darum eine so hinreißende, so beredte, so in die Tiefe dringende Philosophie. Selbst ein so klarer, nüchterner Denker wie Friedrich Albert Lange erkannte an, wie sehr in den tiefsten, weltbedeutendsten Dingen die Ahnung des Poeten dem Verstande des Forschers überlegen ist, und daß deshalb auch gerade diejenigen Philosophen, die mehr schufen als schauten und deren willkürlicher Bau als solcher von der exakten Forschung widerlegt wird, dennoch durch den Schwung, den Adel des Irrtums, auf den sie ihr Gebäude gründeten, die Menschheit um den stärksten Ruck vorwärts brachten. Emerson vindiciert sich in diesem Sinne selbst nur eine bescheidene Wirkung. Es ist eine seiner Lieblingslehren, die er in der theologischen Vorlesung scharf formuliert: »Wir können von einem anderen Geiste nimmermehr Belehrung, sondern nur Anregung empfangen.« Und in dieser Hinsicht sind seine Bücher unvergleichlich.
Emerson hat, wie oben bemerkt, kein System aufgestellt, aber die Grundzüge seiner Weltanschauung lassen sich aus seinen zahlreichen Essays leicht erkennen und darstellen. Als Transcendentalisten hat er sich selbst bezeichnet, und in der That hat er diese Weltanschauung auf die Spitze getrieben.
Für ihn ist die Materie Geist, eine Inkarnation des Geistes oder der Gottheit, er sieht in der ganzen Natur nur Wunder und Symbole. Vor allem aber ist ihm jeder Mensch Auge und Mund des Geistes oder der Materie – wie man will – ein Organ des einen Menschengeistes ohne Unterschied von Raum und Zeit. Eines seiner Lieblingsbilder ist: Wir gleichen Gefäßen, die auf der einen Seite mit dem Meere in Verbindung stehen, sodaß der Geist in uns einströmt, und wo zwei Menschen sprechen, sagt er einmal, »nickt Jupiter hinter dem einen sich selbst im anderen zu.« Und da kommt es ihm possierlich vor, wenn zwei Menschen einander anlügen oder zu täuschen suchen, da im Innersten, Tiefsten jeder ja nur zu sich spricht. Überhaupt wird ihm die Natur gleichsam transparent, die Hüllen fallen von Häusern und Gegenständen, wir sehen etwas anderes als sonst, es ist, als führte er uns in ein Zauberland, oder als ob unsere Augen auf einmal durch die Dinge durchschauen könnten, und so lange wir ihn lesen, reißt er uns mit, und wir glauben ebensoviel zu sehen. Hermann Grimm vergleicht ihn mit dem heiligen Franz von Assisi auf dem Bilde Giottos, der die Toten berührt, sodaß sie sich erheben und sprechen können, so lange der Finger des Heiligen sie belebt.
Aus solch einer Weltanschauung und Auffassung des Menschentums ergiebt sich mit Notwendigkeit ein Weiteres: Emerson ist ein Mystiker. Daher auch seine Vorliebe für die Neuplatoniker, für Swedenborg und Behmen, sowie für die christliche Mystik, vor allem Thomas a Kempis. Hat er daher auch nicht den krystallenen Stil, den wir an den besten Deutschen und Engländern bewundern, so ersetzt er dies durch einen Bilderreichtum, durch eine sententiöse, schwungvolle, an Kraft des Ausdrucks nicht hinter der Bibel zurückbleibende Sprache. Auffallend, ja dem skeptischen modernen Menschen unheimlich ist die kolossale Sicherheit, mit der er spricht, beweislos spricht, mit dem Glauben eines Evangelisten, aber toleranter als dieser, denn er fordert von keinem den gleichen Glauben, er sucht absolut keine Proselyten, keine Anhänger, er will nicht beweisen, noch überzeugen. »Findest du das wahr, was ich sage, gut; wenn nicht, so hast du offenbar andere Augen, und es wäre thöricht, wenn ich von dir verlangen würde, daß du mit ihnen das sehest, was ich mit den meinen sehe. Es ist darum nicht weniger wahr.« Daher beweist er nie mit logischen Beweisen. Auch Nietzsche hält sich nirgends mit Beweisen auf, und mit Recht – denn was sind denn Beweise für eine philosophische Weltanschauung? Jeder folgende widerlegt den früheren, um seinerseits von einem Nachfolger widerlegt zu werden, der just in den wunden Punkt seine Waffe bohrt, den jener übersah. Die scheinbar vollständigste logische Kette hat klaffende Lücken, zuletzt glaubt jeder, was er glauben muß, und glaubt zu beweisen, was er glaubt.
Und jeder sieht und glaubt und schreibt nur das, was seiner Individualität zusagt, und notgedrungen, unwiderstehlich macht die Struktur des Gehirns den einen zum Orthodoxen, den anderen zum Freidenker, den einen zum Dichter, den anderen zum Mathematiker; und jede Philosophie hat nach einem vortrefflichen Worte S. Hellers nur den Wert, daß wir erkennen, wie die Welt sich in dem betreffenden Kopfe spiegelt.
In Emersons Haupt spiegelt sich die Welt zweifellos in einer interessanten Weise. Das Grundthema, das er beständig variiert, findet sich schon in dem Satze, den Kant in der ersten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft niederschrieb und in der zweiten vorsichtig wieder wegstrich: »Es sei wohl nicht unmöglich, daß das Ich und das Ding an sich eine und dieselbe denkende Substanz seien.« Dieses Grundthema ist also nicht neu – neu ist aber die Art, wie nun fast jede Frage der Welt im Lichte solcher uuerschütterlicher durchgeistigter Auffassung besprochen wird, amerikanisch die Konsequenz, mit welcher er seine Anschauung in seinen Essays auf alle Fragen des täglichen praktischen Lebens angewendet hat. Wo finden sich denn auch in großen philosophischen Grundanschauungen ganz neue Ideen? In irgend einer fernen Zeit, von irgend einem fast verschollenen Weisen eines fast verschollenen Volkes entdecken wir zuletzt die gleichen Erkenntnisse. – Das berühmte » Cogito ergo sum« des Descartes hat Augustinus schon ausgesprochen, das Gesetz der Konstanz von Kraft und Masse hat Demokritos, ein Hauptprincip der Darwinschen Lehre hat Empedocles vorweggenommen. Es ist, um im Stile Emersons zu reden, das eine Universum, das sich im Haupte des Gesamtmenschengeistes hier und dort wiederspiegelt, wie dieselbe Sonne sich im Arktischen und Antarktischen Ocean spiegelt. Wußten sie jene Principien auch nicht zu beweisen, so haben sie sie doch geahnt.
Jene Grundanschauungen Emersons sind vor allem in dem Aufsatz » Oversoul« (Der Weltgeist), der wie eine begeisterte Theodicee klingt, ausgesprochen. Ein zweiter für das Verständnis Emersons höchst wichtiger Aufsatz führt den Titel » Compensation«, einer der klarsten und präcisesten von allen, die er geschrieben.
Emerson sagt, seit seiner frühesten Kindheit habe er sich angeregt gefühlt, einen solchen zu schreiben, und das Thema habe ihn wachend und träumend verfolgt und entzückt, bis die Predigt eines berühmten orthodoxen Geistlichen über das jüngste Gericht ihn zur Ausführung drängte. Es sei lächerlich zu glauben, sagt er darin, daß es in der Welt eine Ungerechtigkeit gäbe, die ganze Natur sei von strengster Ethik erfüllt. Nicht wir – hiermit widerspricht er einer heute herrschenden, insbesondere der Nietzschen Lehre – nicht wir haben die Ethik in die Dinge gelegt, sondern aus der Natur strömt sie unvollkommen in uns über. An jeder Erscheinung der Natur wie in jedem Menschenschicksal können wir sehen, daß alles Ungesunde und Unsittliche früher oder später zu Grunde geht. Es ist unsere Täuschung, wenn wir nicht erkennen, wie jede Schuld sich rächt, wie für jeden Vorteil ein Nachteil in Kauf genommen werden muß. Und er verficht stoisch die Gleichgiltigkeit der Ereignisse und citiert als Grundsatz den des heiligen Bernhard: »Niemand und nichts kann mir schaden, als ich selbst.« Nur Dummköpfe und Schurken glauben, daß ihnen unrecht geschieht. Jeder höher organisierte Mensch dencket bald, daß sein Schicksal das Echo seines Geistes ist. Mit einem fast fürchterlich erscheinenden Optimismus behauptet er, daß es in der Welt kein Unrecht giebt. Er ist überhaupt einer der größten Optimisten, die es je gegeben hat, und dies ist um so merkwürdiger, als er im Laufe seines Lebens Leid genug erfahren mußte.
Von künftigem Lohn und Strafen will Emerson nichts wissen und in dem ähnlichen Aufsatz über die »Souveränetät der Ethik« sagt er: »Es giebt keine andere Welt.« – Übrigens hat er auch über diese tiefste ruheloseste und manchmal so überflüssig erscheinende Frage der Menschheit, die nach der Unsterblichkeit der Seele, einen eigenen tiefsinnigen Aufsatz geschrieben, in welchem er den Knoten zwar nicht zu lösen aber zu durchhauen versucht.
Was Emerson und Nietzsche am meisten nähert und was sie zu specifisch modernen Schriftstellern macht, ist, daß beide so oft die Überflüssigkeit des historischen Ballastes betonen, den die heutigen Menschen mit sich schleppen, und das daraus entspringende Unheil: die Überschätzung der Vergangenheit, die Unterschätzung der Gegenwart, und die daraus folgende Unselbständigkeit im Empfinden, Denken und Handeln. Immer wieder bekämpft er die Einbildung, daß Athen, Rom oder Florenz im wesentlichen etwas vor uns vorausgehabt, daß man zu anderen Zeiten feierlicher und fruchtbarer leben konnte als heute. Alle geschichtlichen Momente sind gleichwertig, nur wir müssen heute wollen und die Zeit ernst nehmen, nur wir müssen alles Vergangene vergessen und naiv unseren innersten Offenbarungen folgen, dann wird unsere Zeit groß und prächtig wie irgend eine vergangene erscheinen. Wir haben mit neuen Augen in die Welt zu sehen und von dem, was die anderen vor uns gesehen, uns nicht fesseln zu lassen. »Gott ist nicht tot, sondern immer in uns, nur will er sich nicht durch Feiglinge offenbaren lassen.«
Auf dieser Basis hat Emerson seine Ethik aufgebaut, die er am charakteristischsten in seinem umfangreichsten und berühmtesten Aufsatz »Self-Reliance« ausspricht.
Schon der Name »Selbständigkeit« charakterisiert dieselbe; hier verkündet er sein Evangelium: »Ne te quaesiveris extra!« (Suche dich nicht außerhalb deiner selbst!) Der eigentliche Essay beginnt mit den Worten: »Vertraue dir selbst! Jedes Herz vibriert mit dieser eisernen Saite!« Aus unserer tiefsten Überzeugung, aus unseren spontansten Regungen spricht Gott selbst, Nachahmung ist Selbstmord. Wer erst das Urteil der Öffentlichkeit, das Amtszeugnis der öffentlichen Meinung abwartet, ist kein echter selbständiger Mensch mehr. Hier löst er sich vollkommen von jeder Tradition, von jeder »monopolisierten« Moral. Er sagt: »Keine Seele, kein Lehrer, kein Buch, kein Heiland kann uns sagen, was gut oder böse ist. Nur in uns selbst können wir die Entscheidung fällen.« Hier scheint er mit Nietzsche wörtlich übereinzustimmen und meint es dennoch ganz anders. Er erkennt die Gefahr dieser Lehre: »Der Oberflächliche wird hierin einen bloßen Anarchismus, ein Verwerfen jeglichen Gesetzes sehen. Es ist nicht so. Für jeden Menschen giebt es zwei Beichtstühle, an welchen er sich die Absolution holen mag. Entweder kann er fragen: »Habe ich meine vorgeschriebene Pflicht gegen Vater und Mutter, Kirche und Landesherrn u. s. w. erfüllt?« oder: »Habe ich nach dem tiefen Soll, nach dem kategorischen Imperativ in mir gehandelt?« Wenn aber einer glaubt, daß dieses innere Gesetz ein laxes sei, möge er versuchen, es einen Tag lang zu halten. Etwas Gottähnliches muß in dem Menschen sein, der die gewöhnlichen Motive der Menschheit von sich wirft, der sich selbst Lehre, Gesellschaft und Gesetz sein will, für den ein einfacher Vorsatz das sein muß, was die eiserne Notwendigkeit für die anderen ist. Wer den heutigen Zustand dessen, was man im prägnanten Sinne die »Gesellschaft« nennt, betrachtet, wird die Notwendigkeit solcher Ethik einsehen. Ist es doch, als ob Sehnen und Herz aus den Menschen gezogen wären; wir sind verzagte, kleinmütige Winsler geworden. Wir fürchten uns vor der Wahrheit, wir fürchten uns vor dem Schicksal, wir fürchten uns vor dem Tode und fürchten uns einer vor dem anderen. Unsere Zeit schafft keine großen und vollkommenen Persönlichkeiten. Wir brauchen Männer und Frauen, die das Leben erneuern, die socialen Verhältnisse umschaffen sollen, während die meisten Seelen insolvent sind, ihren eigenen Bedürfnissen nicht genügen, einen Ehrgeiz haben, der zu ihrem Können außer allem Verhältnis steht, und Tag und Nacht unaufhörlich borgen und betteln. Unser häusliches Leben ist bettelhaft; unsere Kunst, unsere Beschäftigung, unsere Ehen, unsere Religion wählen nicht wir, sondern die Gesellschaft wählt sie für uns.« »Wer da ein Mann sein will, muß ein Dissident sein.« Die Gesellschaft gleicht einer Aktiengesellschaft, deren Mitglieder, um sich ein bequemeres Brot zu versichern, die Freiheit und Selbständigkeit des einzelnen zu opfern beschlossen haben« u. s. w.
An diesen Aufsatz schließen sich die beiden Essays über »Charakter« und »Heroismus« ergänzend an. Nirgends erinnert Emerson so sehr an Nietzsche wie in diesem letzteren. Hier stellt er sein Ideal, den heroischen Typus, im Gegensatze zu dem aristokratischen Typus Nietzsches auf. Der vornehme Typus Nietzsches ist nicht vornehm, sondern brutal. Es giebt einen aristokratischen Pöbel, wie es einen plebejischen Pöbel giebt.
Emersons heroischer Typus ist immer ein einzelner, er ist titanisch, nicht eupatridisch, er hat mit Klasse und Rasse nichts zu thun. Nicht die rücksichtslose Durchsetzung des unbescheidenen Ichs, wie immer es sei, die Nietzsche predigt und der wir das bis zum Lächerlichen entwickelte Selbstbewußtsein so vieler junger Anhänger des Meisters, der »Übermenschlein« wie sie jemand genannt hat, verdanken, sondern das stolze und doch so bescheidene Wertbewußtsein und das furchtlose, von Hölle und Himmel unerschütterte Durchführen seines Werkes bis zum Tode, nicht seiner Triebe und Marotten kennzeichnet den Heros. So Dante, der vor seinem Wege nach Rom den Ausspruch thut: »Wenn ich gehe, wer bleibt? Wenn ich bleibe, wer geht?« und der sich doch so demütig vor Virgil niederwirft, weil er in ihm den größeren Weisen und Künstler zu schauen glaubt.
Und so wie Nietzsche den Übermenschen, so erwartet auch Emerson einen Messias, den vollkommenen Menschen, dessen einziger bisheriger Repräsentant Jesus war. Im Essay »Charakter« findet sich folgende Stelle: »Die Jahrhunderte jubeln in der Erinnerung an einen Jüngling, der nichts dem Glücke verdankte, der auf dem Richtplatze seiner Nation ans Kreuz geschlagen wurde, und der durch die vollkommene Reinheit seines Wesens die Ereignisse seines Lebens und Todes mit einem epischen Glanze umgoß, sodaß jedes Detail seiner Geschichte zu einem weltbedeutenden Symbol transfiguriert wurde. Diese Niederlage ist bisher unser größter Sieg. Wir verlangen aber einen neuen Sieg über die Sinne, eine Gewalt des Charakters, die Richter, Geschworene, Fürsten und Volk überwältigt und dem Heiland zu Füßen stürzt – die alle Kräfte des Tier- und Mineralreiches beherrscht und mit dem Laufe der Säfte, der Ströme, der Winde, Sterne und sittlichen Regungen eins wird.«
Das ist der antike Gott. Es ist seltsam. Emerson war wie acht seiner Vorfahren unitarischer Geistlicher zu Concord gewesen. Im September 1832 hatte er wegen abweichender Anschauungen über das Abendmahl und darüber entstandener Differenzen sein Pfarramt niedergelegt. Im Jahre 1838 hielt er auf Einladung der theologischen Fakultät zu Cambridge (in den Vereinigten Staaten) seine berühmte theologische Vorlesung, in welcher er sich von jeder historischen Religion lossagte und die ihm die heftigsten Angriffe von Geistlichen aller Sekten eintrug. In dem im Jahre 1860 publizierten Aufsatze über »Gottesverehrung« sprach er es aus, daß eine neue Religion auf Grundlage der Ethik entstehen muß. Jene theologische Vorlesung hatte den wörtlich ausgesprochenen Zweck, eine Neubelebung der seiner Ansicht nach bisher mißverstandenen christlichen Lehren und des christlichen Kultus hervorzurufen. Und da ist es doppelt interessant, daß Emersons Auffassung der Evangelien und insbesondere der Persönlichkeit des Heilands sich nicht ganz, aber größtenteils mit der von Leo Tolstoj in der Vorrede zu seiner neuen Evangelienübersetzung ausgesprochenen Auffassung deckt.
Überhaupt steht in dem seit der Zeit der Apostel ausgebrochenen und seit dem vierzehnten Jahrhundert neu entflammten Kampfe zwischen der Antike und der christlich-mittelalterlichen Kultur, in diesem Kampfe, dessen eigentümlich zweisäftig schmeckende Frucht unsere heutige Kultur ist und in welchem Nietzsche als ein Spätling der Renaissance mit extremer Heftigkeit und Übertreibung die Sache der Antike verficht, Emerson, ohne je einseitig zu werden, weit mehr auf dem anderen Flügel, auf dem Boden der christlich-religiösen Weltanschauung. Hierbei dürfte der Vorgeschichte seiner Familie und der frommen anglo-amerikanischen Umgebung, in welcher er aufwuchs, eine große Bedeutung zuzuschreiben sein.
Wesentlich aber ist Emerson ein Ethiker. Es ist bekannt, daß Nietzsche von der Ethik nichts wissen will und den freien Geistern von ihr abrät. Mir kommt das vor, wie wenn einer den Menschen raten würde, von nun an wieder auf allen Vieren zu gehen. Auch der aufrechte Gang ist etwas mit der Zeit Gewordenes, ein Entwicklungsresultat, und es ist auch keine Frage, daß man auf allen Vieren sicherer geht. Ob es aber darum das Ziel der Menschheit sein sollte?
Emerson ist der Ansicht, daß wir vornehmlich ethische Geschöpfe sind. »Wir sind loyal geboren.« Die Ethik ist es, welche die Weltordnung erhält, nicht die Bajonette. Aber Nietzsche fand, daß die christliche Moral uns nicht genüge, daß sie die Sklaveninstinkte der Menschen befördere, daß sie kraftlose Menschen züchte – das haben viele andere, insbesondere J. St. Mill, lange vor ihm weit ruhiger und klarer auseinandergesetzt. In seiner heftigen, einseitigen Art riß Nietzsche, weil ihm ein Flügel mißfiel, das ganze Gebäude ein. Er wollte vom Christentum, von der Religion, zuletzt von der ganzen Ethik nichts mehr wissen.
Emerson ist so sehr Ethiker, daß er in der erwähnten theologischen Vorlesung ausdrücklich das Thema ausführt, daß die Ethik über der Kunst, der Priester über dem Dichter stehe; eine Anschauung, die ihn z. B. verhindert, Goethe gerecht zu werden. So ungemein hoch er Goethe stellt, so herrlich er über ihn schreibt, Übersetzt von Herm. Grimm. »Fünfzehn Essays.« wir hören von ihm den oft wiederholten oberflächlichen Vorwurf, »Goethe sei kalt gewesen,« und ein Wort, das vielen Menschen wunderlich klingen wird: »Wir können ihn nicht lieben.«
Es ist merkwürdig, wie Menschen mit ausgeprägt ästhetischer Veranlagung von streng ethischen Naturen immer wieder mißverstanden werden. Weil der Künstler aus seinen Empfindungen, aus eigenem und fremdem Erlebnisse ein Kunstwerk schafft, weil ihn der Schmerz belebt, der andere lähmt, meinen sie immer, er könne nicht ebenso tief empfinden wie sie! Sie wissen nicht, daß die Arbeit des Künstlers den Schmerz verzehnfacht, ehe sie davon befreit. Das beste Symbol hierfür ist jener Maler der Renaissance, dem der einzige schöne Sohn zum Tode verwundet ins Haus gebracht wird; wie er sich über ihn wirft, ergreift der Ausdruck des Sterbenden den Künstler in ihm so mächtig, daß er, unwiderstehlich getrieben, Stift und Leinwand herbeiholen und, selbst von tödlichem Schmerz erfüllt, das Bild des sterbenden Sohnes festhalten muß.
Wenn aber Emerson auch durchaus Ethiker ist, so ist er zugleich durchaus Individualist, und überall wendet er sich gegen die landläufige zünftige Philistermoral, so gut wie seine Religion vom Katechismus nichts wissen will. Jeder Mensch hat seine eigene Sittlichkeit, Gut und Schlecht sind daher relative Begriffe, von jedem einzelnen nach besonderem Maße zu messen. Das wäre wieder alles nicht neu – aber die Art, wie Emerson uns anweist, diesen kategorischen Imperativ zu finden, wie er uns gleichsam einen Weg in unser eigenes Inneres zeigt, ist höchst merkwürdig. Auch Hermann Grimm sagt, er habe sich vergeblich bemüht, in präzise Worte zu fassen, worin das Geheimnis von Emersons Einfluß beruhe, aber der Einfluß sei überwältigend. Seine Worte scheinen oft auf den ersten Blick banal und willkürlich, und zuletzt erkenne man stets, daß hinter dem scheinbar gewöhnlichsten Satz eine tiefe und neue Wahrheit sich verberge. Bei all seinem Individualismus giebt es für ihn eigentlich kein Individuum: wir sind Erscheinungen, Incarnationen des Geistes – und weil also in uns, aus uns, durch uns solch ein höchstes Agens spricht, dürfen wir seiner Stimme das absoluteste Vertrauen schenken.
Wie gefährlich solch eine Lehre ist, wie leicht sie mißverstanden werden kann, leuchtet ein, und er selbst hat es vorausgesehen und davor gewarnt. Das Beste ruht eben immer auf Messerschneide. Der lebendige Beweis hierfür ist die Nietzschesche Lehre, die just jene Übertreibung des Emersonschen Individualismus enthält, die er vermied. Vom individuellen Maß des Guten und Bösen bis zu »Jenseits von Gut und Böse« war nur ein Schritt. Man hat sich in früheren Zeiten allzu blind vor wahren und falschen Autoritäten gebeugt, heute geht man im Gegenteile im Verwerfen jeder Autorität zu weit. Es liegt eine tiefe Kritik unserer Zeit in Hebbels Ausspruch: »Da, wo die Ehrfurcht fehlt, fehlt alles.« Und es ist geradezu eine kolossale Frivolität, imposant durch ihre Kühnheit, wenn Nietzsche alles das, was die höchsten Menschen durch vier Jahrtausende aufgestellt und verehrt haben, ohneweiters umzustoßen wagt. Und dabei ist jenes kalte, brutale Ideal Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse« gar nicht ernst zu nehmen. Diese ganze stolze Lehre ist nur ein Schmerzensschrei eines vereinsamten, nach Liebe und Verständnis sich sehnenden und zuletzt ingrimmig verzichtenden Menschen. Ihm selbst entringt sich das Bekenntnis: »Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, daß sie zerbrochene, stolze, unheilbare Herzen sind, und zuweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzu gewisses Wissen.« Seine letzten Schriften, aus denen, man mag sagen, was man will, der beginnende Wahnsinn spricht, kann man nur mit Schaudern lesen. Nietzsche gehört zu den Menschen, die man bemitleiden, genießen, bewundern, lieben kann, die aber niemals Erzieher werden können, denen wir keinen Einfluß auf uns einräumen dürfen. Es geht ein Bruch durch sie, und an eine zerbrochene Mauer kann man sich nicht lehnen. Auf ihn möchten wir das kleine Gedicht aus dem »Westöstlichen Divan« anwenden:
Der Mufti las des Misri Gedichte,
Eins nach dem andern, alle zusammen,
Und wohlbedächtig warf sie in die Flammen.
Das schöngeschriebne Buch, es ging zunichte.
»Verbrannt sei jeder.« sprach der hohe Richter,
»Wer spricht und glaubt wie Misri – er allein
Sei ausgenommen von des Feuers Pein:
Denn Allah gab die Gabe jedem Dichter;
Mißbraucht er sie im Wandel seiner Sünden,
So seh' er zu, mit Gott sich abzufinden.«
Es bleibt immer dabei, auf den Höhen der Menschheit ist es kalt und einsam. Vergeblich suchte auch Emerson die Welt liebend zu sich emporzuziehen; sie blieb ihm, er ihr, selbst seinen nächsten Freunden, seiner eigenen Familie fremd. Er schreibt darüber: »Niemand kennt so gut wie ich die düstere Ungastlichkeit des Menschen – wie wenig er sich mit denen zu vereinigen vermag, die er am meisten liebt.« Und wieder: »Wer das Große leisten will, darf keine Gefährten, keine Mitarbeiter erwarten. Nur der namenlose Gedanke, nur die namenlose Macht, das überpersönliche Herz werden mit ihm sein!«
In diesem letzten Satz spricht sich bereits wieder Emersons unendliche Hoffnungsfülle, sein sieghaftes Vertrauen aus. Es ist seine unzerstörbare Ansicht; »Die Welt gehört dem, der in ihr mit Heiterkeit und nach hohen Zielen wandelt.« Und wir alle, selbst diejenigen, welche die Zerrissenheit und skeptische Ohnmacht der Zeit am tiefsten empfinden, leben doch nur in den frohen kräftigen Momenten, in denen wir uns selbst voll empfinden. Und kein Schriftsteller übt solch eine belebende inspiratorische Wirkung aus wie Emerson. Keiner ist von einem ernsteren Optimismus, der uns allen so fehlt, durchdrungen. Wem unsere Zeit weh thut, der möge ihn lesen, den Hermann Grimm den modernsten aller Schriftsteller nennt und von dem ein gelehrter Hindu sagte, er hätte vor Jahrtausenden am Ufer des Ganges das Licht des Tages erblicken müssen.