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(1853-1925)
Aus der Ansprache beim Empfang der Erb-Denkmünze, gehalten auf der Versammlung deutscher Nervenärzte in Danzig am 14. September 1923
Die Zahl derer, die noch den jungen Erb in seiner ersten Heidelberger und seiner Leipziger Zeit gekannt haben, als sein Name anfing, in der ganzen medizinischen Welt berühmt zu werden, wird immer kleiner. Aber ich denke oft an jene Zeit zurück, wo wir jung und arbeitsfreudig uns dem so aussichtsreich erscheinenden Studium der Nervenkrankheiten zuwandten. Und wenn ich dann die ganze weitere Entwicklung der Neurologie in den letzten 40-50 Jahren vor meiner Erinnerung vorüberziehen lasse, so drängen sich mir dabei stets einige Gedanken auf, die ich gern bei dieser Gelegenheit einmal vor einem größeren Kreise von Fachgenossen kurz aussprechen möchte.
Der erste Gedanke ist, daß die ganze Neurologie, wie sie jetzt als ein stattliches und weitreichendes Wissensgebiet vor uns steht, in ihren Wurzeln und in ihrem Stamm durchaus ein Werk der inneren Medizin ist. Friedreich, Kußmaul, Leyden, F. Schultze – um nur einige Namen der Begründer der neueren deutschen Neurologie zu nennen – waren alle, wie Erb selbst, innere Kliniker. Von den Erfolgen der neurologischen Arbeit dieser Männer angeregt, wandte sich damals der jüngere klinische Nachwuchs hauptsächlich dem Studium der Nervenkrankheiten – es gab damals noch keine Bakteriologie und keine Serologie – zu. Es war die Zeit, wo in der inneren Klinik die zahlreichen merkwürdigen Krankheitsbilder erkannt und erforscht wurden, unter denen die Erkrankungen des Nervensystems auftraten, Krankheitsbilder, die jetzt jedem Medizinstudierenden bekannt sind oder wenigstens sein sollten, während sie damals erst mühsam aus der verwirrenden Fülle der Einzelbeobachtungen herausgearbeitet und abgegrenzt werden mußten. Dieses ihres Ursprungs aus der inneren Medizin sollte sich die Neurologie stets bewußt bleiben. Denn so sehr auch der immer mehr zunehmende Umfang der Neurologie ihre spezialistische Sonderstellung notwendig macht, so kann sie sich doch nur im festen Zusammenhang mit der allgemeinen klinischen Forschungs- und Denkweise weiterhin günstig entwickeln. Sie darf die Mitarbeit an allen großen und wichtigen allgemein-pathologischen Fragen nie aus den Augen verlieren und sich niemals in unwesentlichem spezialistischen Kleinkram verlieren.
Und der zweite Gedanke ist, daß dieselben Kliniker, welche die Klinik der Nervenkrankheiten schufen, größtenteils auch die Begründer der neueren pathologischen Anatomie des Nervensystems waren. Auf keinem anderen Gebiete der ärztlichen Wissenschaft hat sich die Notwendigkeit der Personalunion zwischen Kliniker und pathologischem Anatomen so deutlich herausgestellt wie in der Neurologie. Wenn auf allen anderen Gebieten Kliniker und pathologischer Anatom selbstverständlich auch in enger Fühlung miteinander und nach gleichen Zielen strebend, aber doch getrennt ihre besonderen Aufgaben zu erfüllen suchen, so ist diese Trennung für die Neurologie nur bis zu einem gewissen Grade möglich. Die Mehrzahl der Fachvertreter der pathologischen Anatomie zeigt für die Erkrankungen des Nervensystems ein wesentlich geringeres Interesse, als für die Erkrankungen der anderen inneren Organe. Dieser Ausspruch soll durchaus keinen Vorwurf für die pathologischen Anatomen enthalten. Denn es ist vollkommen begreiflich, daß der Anatom, der nicht von dem lebhaften Bewußtsein der vorhergehenden eigenartigen klinischen Symptome beherrscht wird, mit ganz anderen Interessen an die Sektion eines Nervenkranken herangeht, als der Kliniker, der die vorhergehende Krankheit selbst genau beobachtet hat. Der Anatom interessiert sich wohl für den histologischen Bau einer Geschwulst oder für eine besondere Form der Entzündung oder Degeneration, er interessiert sich auch für die Ursache einer Blutung oder einer Erweichung. Ob aber die Geschwulst oder die Erweichung im Stirnhirn oder im Schläfenlappen, ob die Degeneration in den Hinter- oder den Seitensträngen des Rückenmarks oder in beiden zugleich sitzt, ist ihm an sich ziemlich gleichgültig. Diese Fragen der Lokalisation sind aber gerade dem Kliniker, der in jedem Krankheitsfall ein lehrreiches vivisektorisches Experiment sieht, das die Natur am Menschen angestellt hat, von der allergrößten Wichtigkeit. Ihre genaue Beantwortung erfordert jedoch oft so viel Mühe und Arbeit, daß man diese dem mit vielen anderen Dingen beschäftigten Anatomen gar nicht zumuten kann. Und Ähnliches gilt von der feineren pathologischen Histologie des Zentralnervensystems. Auch sie erfordert eine so schwierige und zeitraubende Technik, daß ein allgemeiner pathologischer Anatom sich gewiß nur ausnahmsweise derartigen Arbeiten widmen kann. Daher macht die notwendige Zusammenarbeit der Klinik und der pathologischen Anatomie gerade auf neurologischem Gebiet es unbedingt erforderlich, daß die klinische und die anatomische Bearbeitung wenigstens aller wichtigen Einzelbeobachtungen in einer Hand vereinigt bleiben. Die Neurologie muß sich durchaus die völlig freie Verfügung auch über ihr anatomisches Arbeitsmaterial bewahren. Wo diese nicht gewährleistet ist, wird die volle wissenschaftliche Verwertung der zu Gebote stehenden Einzelfälle nur selten möglich sein. Bei der jetzt vielfach üblichen Arbeitsteilung kommt es nur zu häufig vor, daß die wichtigsten Präparate zwar zur »späteren genauen Untersuchung« in die Gefäße mit Müllerscher Flüssigkeit oder Formollösung versenkt werden, dann aber hierin – auf Nimmerwiedersehen verschwinden! Ich weiß wohl, daß der Realisierung meines oben ausgesprochenen Wunsches manche praktischen Schwierigkeiten entgegenstehen. Bei gutem Willen auf beiden Seiten können und müssen sie aber überwunden werden.
Ich komme nun zu einem dritten Punkt, den ich kurz besprechen will. Er betrifft das Verhältnis der Neurologie zur Physiologie und zur physiologischen Anatomie. Das Zentralnervensystem nimmt allen anderen inneren Organen gegenüber eine ganz gesonderte Stellung ein. Es hat sich phylogenetisch beim Menschen in einer Weise fortentwickelt, die es nach Form und Leistungen weit über das Zentralnervensystem auch der höchststehenden Tierformen erhebt. Da die experimentierende und beobachtende Physiologie – abgesehen von der Physiologie der Sinnesorgane – größtenteils auf die Versuche am Tierkörper angewiesen ist, steht sie der Erforschung der besonderen Leistungen des menschlichen Gehirns und Rückenmarks ziemlich hilflos gegenüber. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen an der Leber, der Niere oder dem Herzen der Säugetiere kann sie größtenteils ohne weiteres auf den Menschen übertragen. Beim Zentralnervensystem liegen die Verhältnisse aber ganz anders. Hier treten beim Menschen vielfach neue Leistungen und demgemäß ganz andere wissenschaftliche Fragen auf, zu deren Bearbeitung der Physiologie die Mittel nur in recht beschränktem Maße zu Gebote stehen. Hier hat nun die Pathologie hilfreich eingegriffen, und mit berechtigtem Stolz darf die Neurologie auf die Fülle der Tatsachen hinweisen, welche sie mit Hilfe ihrer eigenen klinischen und anatomischen Methoden der Physiologie und der Anatomie der nervösen Leitungsbahnen und Zentren neu gewonnen hat. Mir scheint, daß die Physiologie sich dieses reichen und immer wachsenden Schatzes der Erkenntnis noch nicht hinlänglich bemächtigt hat. Man denke – um nur ein Beispiel aus der neuesten Zeit zu erwähnen – an den wichtigen, noch kaum in ein physiologisches Lehrbuch übergegangenen Zuwachs, welchen die Physiologie der allgemeinen Muskelstatik durch die Untersuchung der striären Erkrankungen erfahren hat. Aber auch das scheint mir, wie gesagt, bemerkenswert, daß bisher alle großen physiologischen Errungenschaften der Neurologie auf rein klinisch-anatomischem Wege erreicht sind, nicht durch Anwendung speziell physiologischer Methoden. Ich will selbstverständlich den Wert der letzteren auch für die Klinik in keiner Weise schmälern, glaube aber doch, daß bei Anwendung der feinen physiologischen Meßmethoden auf klinischem Gebiete der Untersucher leicht in Gefahr kommt, über den Einzelheiten die größeren allgemeinen Gesichtspunkte zu sehr aus den Augen zu verlieren. Die reiche Quelle physiologischer Erkenntnis, welche uns die Pathologie des Nervensystems bietet, ist noch lange nicht ausgeschöpft. Sie wird uns bei sorgsamer Arbeit noch manchen Schatz liefern.
Und nun komme ich zu dem letzten, mir besonders am Herzen liegenden Punkt, dem Verhältnis der Neurologie zur Psychiatrie und Psychologie. Dies ist ein Punkt, wo ich mit den früheren Anschauungen und Wünschen Erbs nicht ganz übereinstimme. Erb forderte die Selbständigkeit der Neurologie gegenüber der Psychiatrie. Für Erb hörte die Neurologie sozusagen am Mittelhirn auf. Seiner klaren und nüchternen klinischen Denkweise entsprach die Beschäftigung mit den schwierigen Fragen des seelischen Geschehens nur wenig. Die Pathologie des peripherischen Nervensystems und des Rückenmarks bot ihm ungelöste Fragen genug, denen seine scharfe Beobachtung und sorgfältige Untersuchung sich zuwenden konnten. Aber jetzt ist dies anders. Wir kennen den früher ungeahnten Einfluß krankhafter Bewußtseinsvorgänge auf die peripherischen Apparate des Körpers, wir haben angefangen zu lernen, wie sich auch die höchsten Formen geistiger Leistungen allmählich aus den elementaren Erregungen von der Außenwelt her entwickeln. Wo soll die Grenze zwischen Neurologie und Psychiatrie gesteckt werden? Können wir uns einen wissenschaftlichen Neurologen denken, der nichts von Psychiatrie versteht, und einen Psychiater, der nicht auch die neurologischen Untersuchungs- und Beobachtungsmethoden vollkommen beherrscht? Das Verlangen nach einer Trennung der Neurologie von der Psychiatrie kommt mir wie das Verlangen an einen Geigenspieler vor, er dürfe nur auf der G- und D-Saite spielen, weil die A- und E-Saite für einen anderen Spieler bestimmt seien. Daß die Beschränktheit unserer Arbeitsfähigkeit und die äußeren Rücksichten auf die Unterbringung und Behandlung der Geisteskranken bis zu einem gewissen Grade eine formale Trennung zwischen der Neurologie und der Psychiatrie nötig machen, weiß ich sehr wohl. Aber diese formale Trennung ist nicht innerlich bedingt, noch weit weniger, als die ebenfalls rein formale Abtrennung der Neurologie von der allgemeinen klinischen Medizin. Ist die Neurologie so weit aus ihrem Mutterboden, der innern Medizin herangewachsen, daß sie sich zu selbständigem Dasein einrichten will, so soll sie sich doch nicht weiter verstümmeln lassen. Der Einheit des Nervensystems muß auch die Einheit der Wissenschaft von ihm entsprechen.
Die Abgrenzung der Psychiatrie als eines besonderen Interessen- und Arbeitsgebietes wird hierdurch natürlich nicht berührt. Ja, man kann die Psychiatrie als die Krone und den Gipfel der Neurologie bezeichnen, beschäftigt sie sich doch mit den höchsten Leistungen, welche das menschliche Gehirn, dieses bisher größte und heiligste Wunderwerk der Natur, hervorbringen kann. Dadurch tritt sie aber naturgemäß in die engsten Beziehungen zur Psychologie, zu der ihr Verhältnis genau dasselbe ist und sein soll, wie das Verhältnis der übrigen Neurologie zur Physiologie des Nervensystems. Die Kenntnis der Tatsachen des normalen Bewußtseins ist selbstverständlich die unabweisbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Erforschung seiner krankhaften Störungen. Aber fast noch mehr Förderung als die Physiologie des Nervensystems von seiner Pathologie sollte, wie mir scheint, die Psychologie von der Erforschung des krankhaften Seelenlebens zu erwarten haben. Steht der Psychologie auch die wunderbare Quelle der bewußten Beobachtung der selbsterlebten seelischen Vorgänge zu Gebote, so hat sie es hierbei doch meist mit fertigen Gesamtleistungen der psychischen Mechanismen zu tun. Es fehlt ihr die Möglichkeit der Auflösung der Gesamtprozesse in ihre einzelnen Faktoren. Und hier tritt nun wiederum – neben der genetischen Psychologie des Kindes und der Naturvölker – die klinische Psychiatrie als Helferin ein. Erst der zerbrochene Apparat läßt seine einzelnen Teile genauer erkennen! In jedem Fall von Aphasie und Apraxie steckt mehr Psychologie drin, als in manchen umfangreichen psychologischen Abhandlungen.
Aber auch die Psychiatrie wird ihre Aufgabe, eine pathologische Psychologie zu schaffen, nur erfüllen können, wenn auch sie den allgemeinen Grundsätzen klinischer Forschung treu bleibt, an der genauen Analyse des Tatsächlichen festhält und sich weder von voreiligen Verallgemeinerungen, noch von phantastischen theoretischen Spekulationen beeinflussen läßt. Täusche ich mich nicht, so drohen der gegenwärtigen klinischen Psychologie vor allem zwei Gefahren, vor denen ich nicht eindringlich genug warnen möchte. Die eine liegt in den Übertreibungen der sogenannten psychoanalytischen Schule, die den an Phantasie reichen, aber an kritischer Besonnenheit armen Geistern einen bequemen Tummelplatz für ein oft recht wirres Gedankenspiel mit selbstgeschaffenen Worten und Begriffen darbietet. Aus den Höhen der psychologischen Phraseologie muß die wissenschaftlich-klinische Psychologie wieder auf den festen Boden der tatsächlichen, aber nicht der erdichteten Psychoanalyse zurückkommen.
Und die zweite Gefahr, deren Entstehung man noch vor wenigen Jahren für kaum glaublich gehalten hätte, liegt darin, daß die verführerischen Nebelwolken des sogenannten Okkultismus anfangen, jetzt sogar in die ernste Wissenschaft einzudringen und das klare Denken zu umhüllen. Einerlei, ob mir dies später einmal zum Ruhme gereichen oder als Zeichen seniler Beschränktheit ausgelegt werden mag, ich will und muß hier aufs entschiedenste betonen, daß ich das Liebäugeln mit »okkultistischen« Anschauungen für ein höchst gefährliches Spiel halte. Dem okkultistischen Unsinn muß das wissenschaftliche Denken ein energisches »Apage« zurufen!
Die schlichte und klare, echt klinische Denkweise des Mannes, dessen ernste Züge diese Denkmünze zieren, möge auch fernerhin der Neurologie als Leitstern dienen. In hoc signo vinces!