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Ernst von Bergmann

(1836-1907)

I

Ansprache auf dem Kommers, drei Tage vor seinem 70. Geburtstage (16. Dezember 1906)

Der heutige Tag, an dem ich in rastlosem Lebenslaufe einen Augenblick einhalten darf, um eine tiefe Marke in den Baum meines Lebens zu schneiden, der heutige Tag macht mich zum Janus mit einem nach vorwärts und dem andern nach rückwärts gerichteten Gesichte. Vorwärts liegt nur eine kurze Spanne Tage, rückwärts welch lange Bahn! Vorwärts welch trübe Aussicht, rückwärts welch herrlicher, herzerhebender Blick! Vor mir liegen die Kapitel von der Seneszenz aufgeschlagen: die faltige Haut, die längst schon ihre Elastizität verloren hat, und die Knochen werden immer dürrer, dünner und spröder, das Auge ist vom Gerontoxon eingefaßt und ein Nest für den Altersstar, ob grau oder schwarz; ein wahrer Wettlauf der Gelenke um den Preis in der Entwicklung der Arthritis deformans, bis endlich die Hüfte ihn im malum coxae senile davonträgt; die unverkennbare Rindenatrophie im Hirn, der Senkrücken des Greises, der das Haupt hochzutragen verweigert, und die Muskeln, wo sind sie hin? Kaum tragen sie noch, bis endlich ein zitternd Haupt an dem Rande zusammenbricht, der ein unbekanntes Land begrenzt. Gestatten Sie mir alle, in Jugendkraft prangende Kommilitonen, daß ich dieses Janusantlitz zurückschlage und heute allein mich des nach rückwärts gewandten bediene. Das schweift über blühende Landschaften und reiche Städtebilder: Es sieht mich daherziehen den weiten Weg vom Düna- und Embachufer an den Main und die Spree; es ist geblendet vom Sonnenschein, in dem ich wandelte, und wehmütig lächelt es zu, wenn es der Nebel und Stürme auf meinen Lust- und Irrwegen gedenkt.

Wenn ich diesen Christbaum meiner Erinnerungen in dieser Weihnachtszeit anzünden soll, würde heute ein Licht in ihm auch ohne mein Zutun aufflammen: Das, welches Sie, verehrte Kommilitonen, mir vor das Auge führen. Sie entrollen das ganze Bild der alten Burschenherrlichkeit, die Jahre, das Leben, dem einst Hauff im Bremer Ratskeller das fünfte Glas des edelsten Apostelweins widmete: Das hohe, rohe, barbarische und doch so edle und mild erquickende Leben der Burschenjahre. Mit ihm geht es mir noch heute wie dem Dichter: Ich kann es nicht beschreiben, ich kann die Musik nicht hören lassen, die jedem nüchternen Ohre leer und bedeutungslos erscheint. Und doch spielt sie dem Alten wie dem Jungen die gleich unvergeßliche Weise, die dem Geiste den Schwung gibt, so wie sonst noch heute. Und doch ist ein Motiv in all den mannigfachen Noten: Die Begeisterung für die Welt der Ideale. In ihnen ist die Jugend so reich; sie findet sie, wo sie nur anklopft, im Patriotismus, im Volke, in der Ausbildung des Charakters und der Gesinnung, in Lust und Liebe. Und weil die Jugendzeit immer den Idealen gewidmet ist, muß sie unvergeßlich bleiben ...

II

Ansprache beim Festmahl am 70. Geburtstage, 16. Dezember 1906

Der siebzigste Geburtstag ist ein Dankfest und ein Gedenkfest. Wer auf die lange nun durchlaufene Bahn mit so reichen, mächtigen und glücklichen Erinnerungen zurückblicken kann, wie ich heute, dem ist der Dank das lebhafteste, alles beherrschende und köstlichste Gefühl des Tages – er macht, je tiefer und inniger die Seele ihn empfindet, sie wahr und wirklich jubeln. Daß ich ihn heute aussprechen darf, das ist mir ein Herzensbedürfnis und wird mir zum Jubelklang.

An erster Stelle und allem voran bringe ich mein Dankopfer dem Kaiser. Es sterben die aus, welche die Wunder der Entstehung verfolgen durften – die, wie ich, von den Höhen bei Chlum auf das Schlachtfeld von Königgrätz geschaut haben, durch die Bresche am Steintor das wiedergewonnene Straßburg betraten und vom eben erstürmten Mont Avron und zum ersten Male Notre Dame und den Arc de Triomphe erblickten. Die aber heute noch leben, erwärmen sich täglich neu und mit freudiger Bewunderung an der glühenden Vaterlandsliebe des dritten deutschen Kaisers, an seinem liebevollen Sorgen und seinem unerschütterlichem Vertrauen zu deutscher Eigenart auf jedem ernsten Arbeitsgebiete. Ich habe diese innige Teilnahme an meiner chirurgischen Arbeit von der Zeit, da er noch Kronprinz war, bis auf den heutigen Tag reichlich gespürt und erfahren: in dem Handschreiben, das wenige Monate nach seiner Thronbesteigung der Kaiser an mich richtete, und in dem er bekennt, sich glücklich zu schätzen über die Wahrheit deutscher chirurgischer Urteile, bei der Überreichung der Marmorbüste der Kaiserin Augusta, als ich ihm die Vollendung des Langenbeck-Hauses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie melden durfte, in dem huldvollen Geschenk seines erzenen Brustbildes für mich bei der Einweihung des Kaiser-Friedrich-Hauses für das ärztliche Fortbildungswesen – ja noch heute morgen in seinem so herzlichen und schönen Telegramme.

Wohl mir, daß ich bekennen darf: Die deutsche Chirurgie hat den Glauben und das Vertrauen des Kaisers zu ihr gerechtfertigt und erhalten.

Das ist allerdings nicht mein Verdienst, wie man den heute an mich gerichteten Reden vielleicht entnehmen könnte. Ich bin kein himmelstürmender Pfadfinder, kein unerschöpflicher Erfinder gewesen – in die Reihen eines Lister und Billroth habe ich mich nicht gestellt. Wenn ich etwas geleistet habe, so lag es in der kritischen Reproduktion und in der Liebe zu meiner Kunst, der eines Chirurgen und Arztes. Diese Kunst habe ich geliebt und verehrt, mit jedem Jahrzehnt meines Lebens mehr. Ich liebe sie desto aufrichtiger und inniger, je weniger ich meine eigne Arbeit und Leistung anschlage. Wenn es wahr ist, daß der Glaube an sich selbst die treibende Kraft ist, die alles Große und Gute schafft, so hätte ich nichts schaffen können, denn mir ist vor dieser Gottähnlichkeit stets bange gewesen. Ich gehörte nicht zu denen, die schieben, wohl aber habe ich gern und dankbaren Herzens mich schieben lassen. So war es schon bei der Wahl meines Studiums ... Und als ich der physiologischen Chemie in diesem Studium besondere Lust und vielleicht auch Erfolge abgewonnen hatte, rief mich aus Amsterdam;, wo ich in dem Laboratorium Kühnes arbeitete, der Krieg zu den Chirurgen. Das geschah doch auch unabhängig von mir. Ich wurde der Chirurgie zugeschoben und habe das nie bereut; denn von da an hat mich die große Zeit der Chirurgie, die größte Zeit ihrer Geschichte, getragen und gehoben. Sie hat geradezu einen Hagel reifer, herrlicher Früchte mir in den Schoß geworfen. Es war ein immer neues, fröhliches, frisches Blütentreiben am Baum der chirurgischen Erkenntnis.

Kaum vermag sich heute einer von Ihnen, verehrte Festgenossen, in die chirurgischen Auffassungen und Anschauungen zu versetzen, die die maßgebenden in meinem Immatrikulationsjahre 1854 waren. In diesem Jahre schrieb Pirogow, der unvergeßliche, große Chirurg, seine noch heute lesenswerte Abhandlung über das »Glück in der Chirurgie«. Das russische Ministerium hatte vom Examen für den Grad eines Doktors der Chirurgie drei vom Kandidaten glücklich vollführte Operationen verlangt. Pirogow widersprach und zeigte, daß die Technik beim Operieren die vorzüglichste sein kann, aber vom Chirurgen vollständig unabhängige Störungen im Wundverlauf auch die besten Ausführungen und ein tadelloses Operieren unglücklich enden ließen. Es war der dreihundertjährige Spruch von Ambroise Paré: L' opération est faite – Dieu vous guérisse, den Pirogow paraphrasierte. Solange weder die Ursache des Auftretens der fünf Geißeln des Chirurgen, noch die Mittel, sie zu verhüten oder zu bekämpfen, bekannt oder auch nur geahnt seien, gleiche der gewandteste und auf das beste geschulte Chirurg doch nur dem Spieler, der bald gute, bald schlechte Karten in die Hand bekommt.

Das war das Bekenntnis des bedeutendsten Chirurgen zu der Zeit, da ich zu lernen begann. Aber Jahr für Jahr folgten Schlag auf Schlag die wunderbaren Entdeckungen eines Lister, eines Koch, die das Alte stürzen und ein reiches Leben aus seinen Ruinen sich entwickeln ließen. Die Heilung der Wunde war eine Notwendigkeit und vollzog sich wie ein Naturgesetz immer und vollkommen, wenn sie nicht durch Dinge, die unabhängig vom Wundprozeß von außen in die Wunde gerieten, gestört wurde. Für die fünf Geißeln, die Pirogow so fürchtete, weil er ihnen machtlos gegenüberstand – für den Rotlauf, die fortschreitende Phlegmone, den Hospitalbrand, den Wundstarrkrampf und die Pyämie oder Eitervergiftung – sind jetzt die Ursachen in ganz bestimmten, jeder dieser Furien eignen giftigen Mikroorganismen gefunden worden – es gilt, sie nicht an die Wunde zu lassen, dann heilt jede Wunde ohne weiteres. Aber auch wie sie von der Wunde fernzuhalten und wie der Chirurg seinen Operierten vor ihnen zu schützen hätte, wurde fest- und sichergestellt. Nicht mehr ein glücklicher oder unglücklicher Spieler, ein für den Wundverlauf verantwortlicher Künstler ist der Chirurg, der mit seiner Hand und seinem Können den Erfolg bestimmt und das Schicksal der Verwundeten regiert. Sind das nicht gewaltige, fast märchenhafte Umwälzungen und Fortschritte?

Nur ein Beispiel. Als ich mich zu meiner ersten Vorlesung über Frakturen und Luxationen vorbereitete, war ich überzeugt, daß die Ausdehnung und Größe der Splitterung an der Bruchstelle des Knochens die Ursache des schwereren oder leichteren Ablaufs der Verletzung seien, und als ich die neuen Lehren mir zu eigen gemacht hatte, kümmerte ich mich um die Größe der Zersplitterung oder Zertrümmerung, die z. B. eine Kugel im Knochen verursacht hatte, nicht mehr, sondern nur um den Schutz der Wunde in den Weichteilen vor der Wundinfektion. Ich habe dadurch mehr Schußwunden des Kniegelenks, mit Zertrümmerung des es zusammensetzenden Knochens geheilt, als je vorher auch nur erhofft werden durfte.

So führte mich die Zeit, in der ich lebte dazu, zu lernen, und ich lernte, um zu leben. Ihr gebührt mein voller, ganzer Dank. Die Zeit aber wirkt durch die Zeitgenossen. Wieviel schulde ich darin meinen Vorgesetzten – den Ministern, unter denen ich arbeitete. Was hat allein der Minister, der mich nach Berlin berief, Gustav v. Goßler, für mich, meine Klinik und meine Arbeit unermüdlich getan – zu einer Zeit, in der unendlich viel gerade für die chirurgische Lehre gefordert werden mußte! Ich habe mich seiner Freundschaft erfreut bis zu seinem letzten Augenblick, als ich an seinem Totenbette stand. Und meines Freundes Nachfolger haben, so oft ich kam, mir treulich geholfen. Wie fruchtbringend ist für mich mein Zusammenstehen mit den Generalstabsärzten der preußischen Armee geworden; mit Lauer, Coler, Leuthold und dem gegenwärtigen Leiter des Kriegssanitätswesens Schjerning, der heute sich an die Spitze der mich Feiernden gestellt hat. Ich weiß und fühle es eben auf das lebhafteste, wieviel ich meinen deutschen Kollegen in der Chirurgie zu danken habe, den längst leider schon dahingegangenen Wagner, Simon, Volkmann, Langenbeck, Billroth und denen, die heute es sich nicht haben nehmen lassen, mir persönlich ihren Glückwunsch zu bringen.

Vor allen Dingen aber feiere ich meine Assistenten, die von fern und nah herbeigeeilt sind, um noch einmal mich zu umstehen. Mit jedem einzelnen habe ich zusammen arbeiten, Mißerfolge und Erfolge teilen und in ein bleibendes, warmes, persönliches Verhältnis treten können. Ich habe von ihnen mehr genommen, als ich ihnen gegeben hatte. Es war eine schöne Zeit gegenseitiger Förderung, einer Förderung, die fortwirkt bis heute. Mit Stolz darf ich bekennen, daß an den drei größten Universitäten Deutschlands meine ehemaligen Assistenten den Lehrstuhl der Chirurgie einnehmen und in mehr als zehn der großen, neuen, so schön als praktisch erbauten städtischen Krankenhäuser meine Assistenten die ärztliche Leitung haben. Wie ihre Hospitäler in Bau und Einrichtung die Entwicklungsstätte in der Ziegelstraße übertroffen haben, so mögen sie selbst immer bedeutender und größer als ihr einstiger Lehrer werden – das wäre ihm die größte Freude. Ich danke der Berliner Ärzteschaft für ihre reiche Vertretung an meinem Ehrentage. Ich danke auch meinen Verwandten und meiner Familie; meiner Frau, die in unerschöpflicher Nachsicht Arbeit und Launen ihres Mannes getragen und meinen Kindern, die mir stets Freude gemacht und noch gestern im Verein mit meinen Assistenten so poesievoll als liebevoll mir Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart meines Lebens vorführten.

Ich lasse meinen Dank in die Worte ausklingen: Ein Glas, ein Hoch all denen, welchen ich freudig bewegten Herzens danken konnte. Rufen Sie, liebe Festgenossen, mit mir: Sie alle leben hoch!


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