Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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366 Leopold war wieder abgereist, die Ankunft Josefs verzögerte sich; das Leben im Hause glitt allmählich in die alten Geleise zurück. Der gute Geist, der segenspendend waltete, die Trösterin, die den Betrübten über die erste schwerste Zeit nach ihrem herben Verlust hinweghalf, war Luise. Sie verbrachte bei ihnen den größten Teil ihrer Tage, opferte, als ob sich das von selbst verstände, ihre eigenen Interessen, ihre Freude an der Führung ihrer kleinen Musterwirtschaft. Aber – es wurde lichter in Schloß Velice, wenn sie die Schwelle überschritt. Die Müden richteten sich auf, die Kummervollen lächelten ihr zu. Vetter Felix konnte, seitdem sie seine Werbung abgelehnt hatte, ihr gegenüber wieder unbefangen sein, und sogar bis zu einem gewissen Grade herzlich – herzlich dankbar.

Einmal kam er merkwürdig heiter und aufgeräumt zu Tische. Er trug einen offenen Brief in der Hand und Elika, die mit ihm eingetreten war, einen geschlossenen, den sie an das Glas vor Luisens Teller lehnte.

Die Suppe war vorgelegt, die Diener verließen das Zimmer.

367 »Brief von Josef?« fragte Charlotte.

»Nein,« antwortete Kosel und ließ liebreiche Blicke über die Gesellschaft gleiten. »Nicht von Josef. Aus Australien, ja, aber nicht von Josef.« Er versenkte sich in die Betrachtung des Löffels, den er mechanisch ergriffen hatte.

Der Rest ist vorläufig Schweigen, dachte Charlotte und setzte nach einer Weile den Drücker der Tafelglocke in Bewegung. Die Suppe wurde abgetragen, die Zwischenspeise serviert, und die Tür schloß sich hinter den Dienern.

»Ja,« nahm Kosel wieder das Wort, »es ist unerwartet, aber nicht unangenehm. Nicht wahr, Tante Renate?«

»Was denn, lieber Felix?«

Er geriet von neuem in Geistesabwesenheit und wiederholte: »Unerwartet, aber nicht unangenehm. Was sagen Sie dazu, lieber Heideschmied?«

Heideschmied entschuldigte sich, seine Meinung in dieser Sache stand noch nicht fest.

Kosel war erstaunt: »Wie? nicht fest?«

»Sie wissen ja noch nichts, Papa,« fiel Elika ein. »Darf ich es sagen?«

368 Jawohl, natürlich durfte sie.

Die große Neuigkeit also war, daß Bornholm an den Papa geschrieben und ihm Valahora zum Kauf angetragen hatte: »Den Preis soll der Papa durch seine Beamten bestimmen lassen. Die müssen wissen, wieviel es ihm wert ist; Herrn Bornholm ist es wenig wert. Er stellt nur zwei Bedingungen. Das Zimmer, in dem seine Mutter gestorben ist, soll gleich vermauert werden, und Bartolomäus soll, so lange er noch lebt, Kastellan von Valahora bleiben; man soll das alte Raubnest nicht früher zerstören.«

»Man soll's gar nicht zerstören, man soll's erhalten!« rief Charlotte dazwischen.

»Es ist einmal die Heimat, die Welt des Alten; er wüßte nicht wohin mit sich, wenn er sie nicht hätte, schreibt Herr Bornholm.«

»Sehr schön, ja man dürfte es sogar edel nennen,« bemerkte Heideschmied, »daß er dem Bartolomäus, der dazu beigetragen hat, ihm sein Haus zu verleiden, ein Zuhause sichert.«

Elika nickte ihrem Lehrer freundlich zu: »Dann kommen noch einige geschäftliche 369 Angelegenheiten. Schwierigkeiten werden sich kaum erheben. Herr Bornholm verläßt sich ganz auf Papa und auf Josef, dem er alle möglichen Generalvollmachten mitgeben wird.«

»Eine genügt,« versetzte Heideschmied in rücksichtsvoll unterweisendem Tone.

»Also bald Herr von Valahora,« sagte Renate. »Ich gratuliere.«

»Wir gratulieren alle,« setzte Elika hinzu. Wie sie sich Gewalt antun mußte, um heiter und unbefangen zu scheinen, sah Luise allein.

Dem Kinde war es ja klar, so gut wie ihr, was der Verkauf Valahoras für Bornholm zu bedeuten hatte. Ein Abbrechen seines Zeltes, ein Scheiden für immer.

»Weißt du noch, Tante Renate,« fragte Kosel, »was Emilie immer gesagt hat? . . . Valahora gehört zu Velice wie . . . nun weißt du noch, was sie immer gesagt hat?«

»Wie die Poesie ins Leben.«

»Ja – wie die Poesie ins Leben! . . . Und sie würde sich freuen . . .« Er hielt inne. Ja – jetzt war es wieder nicht gut, daß sie nicht da war.

Der Frühlingsnachmittag war sonnig und 370 warm, man ließ den Kaffee im Garten im offenen Pavillon unter den großen Nußbäumen servieren. Elika nahm den Arm Luisens; sie ließen die anderen vorangehen und folgten ihnen langsam.

»Es ist noch etwas in dem Briefe Bornholms, das wir dir bei Tische nicht sagen konnten, Papa und ich, weil es niemand angeht als dich,« sprach Elika. »Er möchte die Antwort auf seinen Vorschlag telegraphisch erhalten, innerhalb der nächsten Woche. In Sidney wartet er darauf und schickt die Adresse, an die das Telegramm zu richten ist. Dieses Telegramm soll aber, weißt du, Liebste, nicht nur die eine Antwort enthalten . . . du verstehst? Eine zweite noch . . . Er schifft sich sogleich ein, wenn sie günstig lautet – die Antwort auf den Brief da.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf das Couvert, das Luise noch immer nicht eröffnet hatte, das sie vor sich hinhielt und sinnend betrachtete.

»Die Schrift, nicht wahr, Luise? Hast du schon eine so ungleiche gesehen? und eine so unbeholfene . . . einmal laufen die Buchstaben einer vor dem anderen davon, dann treten sie einander auf die Fersen . . . einige sind steif wie Holz, 371 andere ordentlich schwungvoll . . . Lächerliche Schrift – der ganze Bornholm . . . aber lies doch, lies! du brennst ja drauf!« rief sie mit plötzlichem Ungestüm.

»Sieh, wie ich brenne,« erwiderte Luise und steckte den Brief in ihre Tasche.

Kosel hatte den Direktor kommen lassen, der ihn versicherte, daß es nichts Überflüssigeres gebe als das Einberufen einer Kommission zur Schätzung Valahoras. Er kannte jeden Baum, jedes Feld, jede Wiese des benachbarten Gutes genau und getraute sich, seinen Wert an und für sich auf Heller und Pfennig, »auf die Prise Tabak« zu bestimmen. Der Wert, den es als Arrondierung Velices hatte, war natürlich, gering gerechnet, der doppelte.

Das war also eine ausgemachte Sache, alles, was der Direktor da gesprochen, hatte er Bornholm schriftlich mitzuteilen; wie leicht ein Geschäft mit ihm sich abschließen ließ, hatte man beim Verkaufe Hansls erfahren.

»Und – ja – was die telegraphische Antwort betrifft,« sagte Kosel und richtete einen Verständnis suchenden Blick auf seine Tochter.

372 »Die hat Zeit, Papa. Fast acht Tage Zeit. Vielleicht ist Herr Bornholm noch gar nicht in Sidney.«

Luise wechselte die Farbe, lehnte sich in ihren Sessel zurück und griff mit einer unwillkürlichen Bewegung nach dem Brief in ihrer Tasche. Er war den alten Tanten aufgefallen mit seinen überseeischen Stempeln; das Schweigen Luisens beunruhigte sie, und sie vermißten schwer die erquickende Heiterkeit ihrer »Trostspenderin«, ihrer »Lichtbringerin«.

Beim Abschied zog Renate ihre Nichte an sich und fragte leise und kummervoll: »Was will er noch von dir, der unselige Mensch?«

Zu Hause angelangt, hatte Luise sich an den Tisch gesetzt, an dem Bornholm so oft ihr gegenüber gesessen, und seinen Brief entfaltet. Der flackernde Schein der Kerze fiel auf das mit großen Lettern eng und dicht beschriebene Blatt. Wenn sie emporsah, glaubte sie Levin vor sich zu sehen, wenn sie las, glaubte sie ihn sprechen zu hören. Jeder Satz redete zu ihr mit dem Klang seiner Stimme:

»Vor einem Jahre habe ich Ihnen gesagt, 373 daß ich nicht weiß, was liebhaben heißt, und vielleicht haben sich diese Worte, schon während ich sie sagte, in eine Lüge verwandelt. Ich weiß jetzt, was liebhaben, unaussprechlich liebhaben, heißt. Ein ungeahnter Reichtum ist in mein Leben gekommen, durch Sie, Fräulein von Kosel.«

Er fragte sie, ob sie seine Frau, die Frau eines Ausgewanderten werden wolle, ob sie ihm alles opfern wolle, woran ihr Herz hing, Heimat, Verwandte, und gleich darauf verspottete er sich, daß er der Narr und Frechling sei, eine solche Frage an sie zu stellen:

»Warum sollten Sie es tun, Sie haben ja gar keinen Grund. Ehrlich gestanden, wenn ich Ihr Bruder wäre, und ein zweiter Bornholm käme, um Sie zu werben, würde ich Ihnen raten: Laß dich nicht vom feigen Mitleid hinreißen, von der weiblichen Leidenschaft am Wohltun, weise ihn ab, den Friedlosen. – O, Fräulein von Kosel! davon bin ich überzeugt wie von meiner Existenz. Das aber wäre ein karges Schicksal, das mir nur so wenig Gutes gönnen würde als ich verdiene. Ich bin vermessen, ich hoffe auf die Großmut des Schicksals und auf die Ihre.«

374 Eines mußte er ihr noch sagen und fand dafür gute, warme Worte: Nicht nur innigst lieben hatte er gelernt, auch Ehrfurcht empfinden.

»Entscheiden Sie,« schloß er, »und das Mitleid bestimme Sie nicht! Wenn Sie Ja sagen, wird ein Mensch Ihnen seine Wiedergeburt zu danken haben, wenn Sie Nein sagen, immer noch sehr viel. Er wird von der Welt eine bessere Meinung haben, als er bisher gehabt hat, denn in dieser Welt ist er Ihnen begegnet.«

Ehe Luise den Brief Bornholms eröffnet hatte, war es ihr festgestanden: Wenn er um mich wirbt, nehme ich seine Werbung an. Einem Menschen, den man herzlich liebt, alles sein können – ist alles. Herzliche Liebe, das war ihr Gefühl für ihn, von gewaltiger Leidenschaft wußte sie nichts, sie hielt sich ihrer sogar für unfähig. Aber treu verbunden in Freud und Leid mit dem teuersten Menschen durchs Leben zu gehen, dachte sie sich schön . . .

Freilich die Trennung, die schwere Trennung vorher! Ihr war, als hätte sie gar nicht gewußt, wie sehr sie an den Menschen drüben in Velice hing. An allen, besonders aber an den zwei 375 Tanten, den edlen alten Jungfrauen mit ihren mütterlichen Herzen. Und Elika, die ihren ersten Liebestraum geträumt und ihren ersten großen Schmerz erfahren hatte . . . diese kleine Elika! Bitter ist das Scheiden von allen und von allem. Auch von dem engen Daheim, von dem stillen Hause. – Statt des belebten Friedens, der in ihm herrschte und jedem, der es betrat, wohltuend entgegen wehte, zieht bald starre Ruhe in seine Mauern ein.

In dieser Nacht suchte Luise den Schlaf nicht. Sie löschte die Kerze, rückte einen Sessel ans Fenster, öffnete es und blieb dort bis zum Morgen. Die Sterne standen am Himmel in ihrer hehren, unaussprechliche Sehnsucht weckenden Pracht. Luise sah sie funkeln, sah sie verblassen und dachte: Auch von euch, die ihr mir geleuchtet, so lang meine Augen offen stehen, heißt es scheiden.

Sie kam am nächsten Tag in den Sibyllenturm, nicht um sich Rat zu holen, sondern um zu sagen: Er ruft mich, und ich will mit ihm gehen.

Jetzt kniete sie vor Renate und hatte das Gesicht in die flachen Hände der alten Tante gelegt, die sich zitternd an ihre Wangen schmiegten.

376 »Kind! Kind!« flüsterte sie, und:

»Luise, bestes Kind,« sprach Charlotte, die neben sie getreten war und ihr die Rechte zärtlich aufs Haupt legte. »Wir begreifen ja. Folge du der Stimme deines eigenen Herzens; es führt dich gut. Du bist eine der wenigen, zu denen man sagen darf: Wo deine Liebe ist, da ist deine Pflicht.«

»Eines, nur eines –« Renate bemühte sich, Luise emporzuheben – »die Religion.«

»Ich werde in der meinen leben und sterben, gute Tante Renate,« sprach Luise, richtete sich auf den Knieen auf und schlang beide Arme um die schmächtige Gestalt der Greisin. »Ich bin kein starker Geist, der des Glaubens entraten kann, aber nicht so schwach, daß irgend ein Einfluß, und würde er durch den mir teuersten Menschen ausgeübt, mich in meiner Überzeugung wankend machen kann.«

Für einen im Schlosse war die Kunde, daß Luise die Heimat verlassen und weit in einen andern Weltteil reisen würde, eine Freudenbotschaft – für Hanusch. Der Himmel hatte sich seiner erbarmt und ihm einen Weg zur Rettung 377 gewiesen. Er kam zu Fräulein Luise und bat sie, daß sie ihn mitnehmen möge, als Kutscher, als Diener, als was sie wolle. In Velice hielte er es nicht mehr aus. Wer ihn ansah, was ihn ansah, und wenn die Menschen auch nicht sprachen und das andere nicht sprechen konnte, er hörte es doch . . . . Die Menschen, die Pferde, die Hunde, der Wald schrieen ihm zu: Du bist am Tode deines Herrn schuld. Er mußte fort, und wenn Fräulein Luise ihm nicht erlauben will, mit ihr zu gehen, so geht er allein. Herr Josef ist auch allein gegangen.

In diese traurige Notwendigkeit wurde er aber nicht versetzt, denn Luise sagte: »Was sind das für Geschichten, Hanusch? Ich nehme dich gerne mit. Mir wird sein, als wenn ich ein Stück Heimat mitgenommen hätte.«

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