Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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»Gott, im Himmel, wie sieht das Kind heute wieder aus!« jammerte Apollonia am nächsten Morgen. »Schneeweißes Gesicht und rote Augen. Hat gewiß nicht geschlafen, hat gewiß Kopfschmerzen!«

Elika warf einen Blick in den Spiegel und erschrak. Sie konnte unwillkürlich zur Verräterin 178 an Josef werden. Es stand auf ihrer Stirn geschrieben: Ich habe etwas Schreckliches erlebt, ich habe einen großen Schmerz. Bald wird Josef vermißt werden, man wird ihn suchen und nicht finden und dann gewiß fragen: Warum war Elika so verweint: und gewiß erraten: Sie hat um seine Flucht gewußt. Was sie dann tun und sagen werde, ahnte sie nicht, ihr war nur, als stände sie vor einer furchtbaren Gefahr, und sie betete zu Gott um Errettung aus ihrer Seelenpein, aus der entsetzlichen Klemme zwischen Verrat und Lüge.

Im Hause herrschte Bestürzung, als alle Nachforschungen nach Josef fruchtlos blieben und Luise und Heideschmied sich seines seltsam aufgeregten Benehmens erinnerten, das sich sehr wohl als ein Abschied von ihnen erklären ließ. Kosel und die Tanten glaubten nun bemerkt zu haben, daß er ihnen am letzten Abend vor dem Schlafengehen mit besonderer Innigkeit die Hand 179 geküßt hatte, und voll Rührung erzählten seine Brüder, wie gut er noch gewesen und daß er zu ihnen gekommen war, als sie schon im Bette lagen, und ihnen »so lieb« gesagt hatte: »Gott befohlen, Murmeltiere!« Und Frau Heideschmied, die ihn die Marseillaise gelehrt, sprach von dem hinreißenden Ausdruck, mit dem er am Tage vor seiner Flucht den Vers: Le jour de gloire est arrivé! gesungen hatte. Überhaupt war in letzter Zeit jedem Hausgenossen etwas Ungewöhnliches im Wesen Josefs aufgefallen. Jeder wollte von ihm außerordentlich berücksichtigt worden sein, jeder wußte täglich Neues von ihm zu sagen. Nur Elika wußte und sagte nichts. Sie war zu merkwürdig! sie verheimlichte ihr Leid, sie sprach den Namen Josefs nicht aus.

»Und doch,« jammerte Apollonia, »frißt ihr die Sorge um ihn das Herz ab. Tag und Nacht sehnt sie sich nach ihm, hat keinen andern Gedanken. Ich seh's ja, ich kenn sie ja. Sie ist wie der Papa, der weint auch nicht und spricht auch nicht und vergißt auch nicht.«

Große Beruhigung brachte allen Bewohnern von Schloß Velice ein Telegramm aus Hamburg: 180 »Bin gesund, morgen aus See, Brief folgt, Grüße. Josef Kosel, Schiffsjunge.«

Auf See! Schiffsjunge! die Brüder erfaßte ein Taumel. Josef ist auf See, auf hoher See, ist ein Schiffsjunge auf einem großen, ungeheuren Schiff. O, der sucht sich kein kleines aus!

Franz rannte in die Werkstätte zu Hanusch, der sein Freund geworden war seit der letzten Schlacht, und brachte ihm triumphierend die berauschende Kunde und fragte: »Möchtest du nicht auch ein Schiffsjunge sein? Möchtest du nicht auch auf hohe See?«

Hanusch blieb kühl. Von einer See, die in die Höhe steigt, konnte er sich keinen rechten Begriff machen und zweifelte eigentlich an ihr.

Charlotte lief dem Herrn Pfarrer entgegen, als er sich zur Abendunterhaltung einstellte: »Herr Pfarrer! Herr Pfarrer! Telegramm von Josef! Schiffsjunge ist er, in Hamburg hat er sich anwerben lassen!«

»Gott behüte ihn,« erwiderte der hochwürdige Herr. »Soll keine besonders erbauliche Gesellschaft sein, die der Schiffsjungen. Aber er hat 181 gute Grundsätze. Wir wollen auf seine guten Grundsätze hoffen.«

Vater Kosel konnte sich eines Gefühls des Stolzes auf seinen kühnen und unternehmungsfreudigen Sohn nicht erwehren. Er hatte vor kurzem in einer Zeitung einen Aufsatz über Vererbungstheorie gelesen, der ihm viel Stoff zum Nachdenken gab und Josef völlig entschuldigte. Die Familiengeschichte wies viele Kosel nach, die tapfere Soldaten gewesen waren, und einen, der ein großer Reisender war. Wer solches Blut in den Adern hat, ist schwer an häusliches Leben zu gewöhnen. Man kann ihn nicht am Lehrtisch festhalten und über Büchern seinen Tatendrang vergessen machen.

Herr von Kosel sagte das in Gegenwart von Leopold und Franz. Heideschmied hätte hinspringen und beiden zugleich die Ohren zuhalten mögen.

Renate schüttelte den Kopf zu solchen Gesprächen. »Lieber Felix,« erwiderte sie, als er das Blut der Ahnen zum etwa dreißigsten Male von neuem anzapfte, »ich glaube nicht, daß unsere Religion – die übrigens lauter Duldung 182 und Vergebung lehrt – uns gestattet, Verstorbene für das Unrecht Lebendiger verantwortlich zu machen.«

»Oh non, Monsieur! pas de ça, pas de ça!« versetzte Frau Heideschmied in zierlicher Bescheidenheit. Ihr Mann warf ihr einen zustimmenden Blick zu und sprach: »Nicht nur Tatendrang und Löwenmut haben unsern Josef zur Flucht getrieben. Auch Furcht . . .«

»Furcht? Kann ich nicht zugeben.«

»– Vor der Prüfung, gnädiger Herr. Ich glaube, es wäre nützlich, seinen Brüdern die Sache auch von diesem Standpunkt aus zu beleuchten. Seit seiner Entweichung brennen ihnen die Köpfe, sie sind überhaupt nur noch für Geographie zu interessieren und auch da nur für überseeische. Sie stellen oft Fragen – mir wird angst und bang . . .«

Er liebte seine Zöglinge von ganzem Herzen, aber er liebte auch seine Stellung sehr, und die würde unhaltbar geworden sein vom Augenblick, in dem die beiden jüngeren Kosel gleichfalls das Weite gesucht hätten. Ein Erzieher ohne 183 Erziehungsmaterial wäre gleichsam ein Demosthenes, der nicht zu Worte kommt.

So hielt er denn seine Studenten in guter Hut und empfahl den Hausleuten, und besonders dem Kaspar, die äußerste und zugleich diskreteste Wachsamkeit. Die jungen Herren sollten zwar nicht aus den Augen gelassen werden, sich aber nicht gehemmt, beeinträchtigt fühlen in ihrer persönlichen Freiheit. Die Aufgabe war schwierig und mißlang. Leopold und Franz gerieten in Aufruhr, Heideschmied geriet in Mutlosigkeit und war nahe daran, allen seinen Überzeugungen zum Trotze die Dazwischenkunft der Familienautoritäten anzurufen. Da kam Hilfe – die Hilflose bot sie ihm dar.

Eines Morgens klopfte ein kleiner Finger an seiner Tür; Elika verlangte Einlaß. Sie erschien als Parlamentär und überbrachte das Versprechen ihrer Brüder, daß sie jeden Gedanken an Flucht aufgeben wollten, wenn ihnen ihre frühere Ungebundenheit wiedergeschenkt würde.

»Keine Aufsicht, lieber Herr Heideschmied,« sagte Elika, »das mögen sie nicht, sie sind das nicht gewöhnt. Sie lassen Sie bitten um 184 Vertrauen, sie werden ihm Ehre machen, sagt Leopold, und Franz sagt: Das Mißtrauen ärgert uns.«

Sie stand vor ihm und sah zu ihm hinauf mit feuchten, leuchtenden Augen. Ihr ganzes, kleines Wesen strömte Rührung und Ergriffenheit aus, und Heideschmied hatte einen schweren Kampf mit sich zu bestehen, um sie nicht in seine Arme zu nehmen, ans Herz zu schließen und auszurufen: Was du willst, Seelchen. Wie du willst, befiehl über deinen gehorsamsten Knecht! Aber er beherrschte sich, er behauptete seine Würde, belobte die gute Absicht, mit der sie sich zur Friedensbotin machte, und versprach, die Sache mit dem Vertrauen in Erwägung zu ziehen.

Er tat es und faßte wunderbar schnell einen Entschluß, der den Wünschen der beiden Jünglinge völlig entsprach. Die »Polizeispitzelei«, wie sie sich ausdrückten, hörte von einem Augenblick zum andern auf. Das hatte die arme Kleine ganz allein durchgesetzt. War es nicht wunderschön, und konnte man ihr dankbar genug sein? Sie selbst mußte trotz aller Bescheidenheit zugeben, daß es nicht leicht möglich sei.

185 »Seid mir also dankbar, wenn ihr schon wollt,« sagte sie, schwer mit den Tränen kämpfend, »und bleibt immer und immer bei mir! Bis ich tot bin, müßt ihr bei mir bleiben; wenn ihr fort gingt, und ich wäre eine Schwester ohne Brüder, stürbe ich gleich.«

Und sie baten Elika, das Sterben nur noch aufzuschieben so lang als möglich, und wenn noch so lang, wollten sie doch bei ihr bleiben.

*


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