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Zweites Kapitel

Ein trüber Morgen eines trüben Wochentags.

Der Himmel ist mit einem dichten, gleichmäßigen grauen Schleier überzogen und es ist verwunderlich, daß es nicht regnet.

Wer über die Straße geht, streckt die Hand aus und prüft, ob er nicht einen Regentropfen auf der Handfläche spürt.

Nervöse Damen und solche, die in Sorge sind um ihren kostbaren Hut, spannen den Schirm auf.

An solchen Tagen ist das Gebäude des öffentlichen humanistischen Lyzeums noch weit düsterer und abstoßender als bei heiterem Wetter.

Es ist ein langer, schmuckloser roter Backsteinbau mit schwarzem Schieferdache, auf dem die rostigen Stangen des Blitzableiters herausragen. Das ganze Gebäude sieht rußgeschwärzt aus und gleicht einer Fabrik.

In der Tat ist das Lyzeum auch eine Fabrik, denn hier werden die Kinder maschinenmäßig herangebildet, ein Jahr um das andre, einen Tag um den andern, von einem Schulzimmer geht es zum andern, unten beginnend, wo die Kleinsten, die Unwissenden – der rohe Stoff – die erste Bearbeitung erhalten, sie kommen eine Treppe – und eine Stufe! – höher, werden geschliffen und gedrillt, bis sie wieder eine Treppe (und eine Stufe) höher sind, ausgebessert und poliert werden, und nachdem sie auch die letzte oberste Schulklasse hinter sich haben, selbst als kleine Maschinen des bürgerlichen Lebens das Haus verlassen.

Tag für Tag geht sie so weiter, die ermüdende Arbeit, und hat der Arbeiter, der Feiler und Polierer, der Maschinenmeister, des Abends den Fabrikraum – die Schulstube mit ihrer ungesunden Luft – verlassen, so denkt er mit Widerwillen und Verdruß an den morgigen Tag.

Der Doktor der Philosophie Romuald Lieberich, Inhaber einer der unteren etatsmäßigen Lehrstellen des humanistischen Lyzeums, saß auf dem erhöhten Lehrstuhle, der Kathedra, die sich übrigens nur wenig vor den farblosen, abgestoßenen, mit Tinte beschmierten, zerschnittenen und verschnitzelten Pulten und Bänken seiner Schüler auszeichnete, und stellte Betrachtungen an.

Trotzdem es Sommer und die Luft draußen nicht gerade kalt war, waren die hohen kahlen Fenster des Schulzimmers dicht beschlagen wie im Winter, weil viel zu viel Kinder in der mäßig großen Stube zusammengepfercht waren und wegen des Lärms auf der Straße, der das Sprechen unmöglich machte, die Fenster geschlossen werden mußten.

An den weiß getünchten, in der Ecke von Spinnweben überzogenen Wänden hingen große bunte Landkarten von schlechter Ausführung, stellenweise war das Papier durchlöchert und die schwarzen Holzstäbe, auf welchen die Karten aufgerollt wurden, losgerissen.

Sie erweckten weder bei dem Lehrer noch bei den Schülern besonderes Interesse, weil sich das Auge längst an den faden Anblick gewöhnt hatte, ein weiterer Schmuck, der den Blick angezogen hätte, war aber in dem Schulzimmer nicht zu entdecken, denn die altehrwürdige Anstalt war noch nicht zu den verderblichen Neuerungen, die sich jetzt vielfach in Pädagogien breit machen, durchgedrungen, durch Bilder auf die Anschauungen der Kinder einwirken zu wollen.

Sonach blieb dem angehenden Doktor der Philosophie Romuald Lieberich nichts übrig, als seine Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Köpfe der ihm anvertrauten Knaben zu richten, die genau so müde und geplagt und abgemattet aussahen, wie er selbst.

Sie saßen alle über die aufgeschlagene lateinische Anthologie gebeugt und plärrten mit eintöniger Stimme und schülerhaft skandierend ohne Verständnis ihren Hexameter herunter.

» Quidquid agis, prudenter agas, et respice finem!«

Unwillkürlich bewegte Romuald Lieberich selbst auch die Lippen im Versmaße.

Wozu lernen sie diese Weisheit auswendig, dachte er. Wenn unter den vierunddreißig Burschen nur drei oder vier wären, die wirklich Verständnis hätten, so daß ich mich mit ihnen beschäftigen könnte.

Oder auch nur einer!

Aber jetzt verstehen sie nicht, was sie da herunterleiern, und wenn sie reifer geworden sind und die Weisheit dieses Spruches erkennen können, werden sie nicht danach handeln. Somit ist es ganz zwecklos, was ich hier lehre.

Das sind schlechte Gedanken für einen Lehrer und stellen seiner Pflichttreue kein gutes Zeugnis aus. Allein was kann er dafür, wenn er mißgestimmt ist, da er doch noch ein junger Mensch ist, mit allen Fehlern eines solchen, welcher der Tätigkeit, die ihm hier des Erwerbs wegen obliegt, keinen Geschmack abgewinnen kann, der Tätigkeit, die darin besteht, faulen und stumpfsinnigen Knaben unverständliche und unverstandene Weisheit einzutrichtern.

Da ist es auch kein Wunder, wenn man seine Gedanken nicht mehr losbringt von dem, was einen quält ...

Und was quält ihn denn? Quält ihn denn überhaupt etwas?

Doktor Romuald Lieberich zieht die Schublade seines Pultes auf und wirft einen scheuen Blick in die Blätter, die dort aufgeschlagen liegen, während er horcht, ob sich draußen im Gange nicht Schritte dem Schulzimmer nähern. Es ist alles nicht wahr, nicht diese Wände, nicht die Schulbänke, nicht die Knaben sind es, die ihn peinigen; sonst ist er ein eifriger, pflichtgetreuer Lehrer, der seinen Beruf liebt und ihm vorbildlich für andre nachgekommen ist; es ist etwas ganz andres.

Plötzlich hört er Schritte und hastig, man könnte meinen, daß seine Hände zittern, schiebt er die Schublade des Pultes zu.

Die Schritte gingen vorüber. Nun ließ er die Schublade geschlossen und wandte sich wieder seinen Schülern zu.

» Sperne voluptates, nocet empta dolore voluptas,« plärrten die Kleinen mit eintöniger singender Stimme herunter.

Doktor Romuald Lieberich sah unter den vielen Knaben einen in der hintersten Bank, der besonders fleißig und emsig skandierte und mit übertrieben eifrigem Kopfnicken den Verstakt begleitete.

Das war Eduard Lemberger, der Sohn des Polizeirats Lemberger.

Es war ganz klar, daß der Bursche aus Unart und Nichtsnutzigkeit sich so gebärdete, um die andern zum Lachen zu bringen, denn er war einer der faulsten und schlechtesten Schüler.

Nun sah er herüber zu dem Pulte des Lehrers, und obwohl er gewahrte, daß des Herrn Doktors Blick auf ihn gerichtet war, mäßigte er seine ausgelassenen Bewegungen in keiner Weise.

Romuald Lieberich empfand den lebhaftesten Ärger.

Wie gerne hätte er den frechen Burschen gezüchtigt, wenn er nicht – ja wenn er nicht ...

Wenn er nicht der Sohn eines Polizeirats gewesen wäre, vielleicht?

O nein, das hätte ihn wenig bekümmert, dem Buben die wohlverdiente Tracht Prügel zu verabreichen. – Wenn er nicht gerade der Sohn des Polizeirats Lemberger gewesen wäre!

Gewiß war sich der Bösewicht seiner Macht bewußt und genoß mit Bewußtsein seine Narrenfreiheit. Nun ging er weiter und versetzte seinem Nebensitzer, einem sonst stillen und ruhigen Knaben, Püffe in die Lenden.

Dieser setzte sich endlich zur Wehr und gab die Stöße zurück.

Romuald Lieberich vermochte sich nicht mehr zu halten, er sprang auf, ergriff das Meerrohr, war mit einigen schnellen Schritten an der hinteren Schulbank und züchtigte den andern, den sonst stillen und ruhigen Jungen!

Ei der Tausend!

Der Geschlagene stieß ein entsetzliches Jammergeschrei aus.

Die Tür ging auf und der Rektor des humanistischen Lyzeums betrat das Zimmer.

Oberstudienrat Doktor Bartenstein ist ein Theoretiker.

Er leitet seine Schule nach einer von ihm als richtig erkannten Methode und hat starke Prinzipien.

Einer seiner Leitsätze ist, obwohl er in dieser Hinsicht kein Gebot erlassen kann, da er nicht zuständig ist, daß die Erziehung der Jugend weit mehr durch ernste Mahnung, väterliche Vorstellungen und das Packen an der Ehre gefördert wird, als beispielsweise durch körperliche Züchtigung.

Ein Lehrer, der den Stock nicht entbehren kann, ist kein guter Pädagoge.

Das ist seine Anschauung, die er des öfteren schon im Kollegium preisgegeben hat. Er wendet diese Grundsätze in der eigenen Familie an – seine Buben sind als die größten Schlingel stadtbekannt – und hat stets gute Erfolge beobachtet.

Da die ganze Klasse, bestehend aus vierunddreißig Schuljungen abzüglich eines, der gerade geprügelt wurde, mit einem plötzlichen Ruck und einem Gepolter sich erhob, das sogar das Geschrei des Geprügelten übertönte und mit taktmäßigem silbendehnendem Geplärr dem Schulmonarchen ihren Gruß entbot, ließ Doktor Lieberich von seiner beweglichen Tätigkeit ab, wandte sich, weil er dem Eintretenden den Rücken zugekehrt hatte, um und machte, mit dem Rohrstock in der Hand, eine höfliche Verbeugung, während der Geschlagene sich die wunde Stelle rieb und sein Geheul sogleich mäßigte.

»Nun,« sagte der Vorstand, »haben wir wieder einmal den Korporalstock benötigt, Herr Kollega?« Dabei lächelte er, aber mit einem schmerzlichen Lächeln, als ob er selbst Schläge bekommen hätte.

Doktor Lieberich mußte sich entschuldigen. »Der Bursche war unartig, sehr unartig. Er hat seinen Nebensitzer unter meinen Augen gestoßen.«

»Wirklich? ... Das darf natürlich nicht geduldet werden. Obgleich die körperliche Züchtigung ... Sie wissen, Herr Kollege, was ich darüber denke. Gewöhnlich ist ein Geschrei dabei ... Ich gehe vorbei und höre ... Mein Gott, denke ich, ist da ein Unglück passiert? Das ist nicht mehr natürlich, da muß ich nachsehen ... Sehen Sie, das ist die körperliche Züchtigung ... Wenn Sie gestatten, Herr Kollege, ich hätte die Sache anders angefangen. Ich hätte ihm sein Unrecht vorgehalten und ihm vor Augen geführt, daß ein anständiger Junge dergleichen nicht macht. Mein Sohn, würde ich ihm gesagt haben« – hierbei wendete sich der Herr Studienrat an den Knaben, der ihn dumm und furchtsam anstarrte und in gebückter Haltung, weil er das Sitzen fürchtete, in seiner Schulbank stand – »es war ein großes Unrecht von dir, deinen Nebensitzer zu stoßen. Warum hast du ihn gestoßen?«

»Er hat es zuerst getan. Er hat mich viermal gestoßen und ich ihn bloß einmal,« schluchzte der Kleine.

Doktor Lieberich wurde glühend rot. Wie doch diese kleine Sünde sogleich Folgen zeitigte. Es war Unrecht, den einen zu schlagen und den andern nicht, weil er, nun ja, weil der andre der Sohn des Polizeirats Lemberger war.

»Ich sah es nicht,« sagte er und sah nebenhinaus, weil er den Blick seines Vorgesetzten scheute.

Es wurde sofort bemerkt. »Mein lieber Herr Kollege,« sagte der Oberstudienrat mit starker Mißbilligung, »ich nehme gewiß nicht an, es liegt ferne von mir, und ich weise den Gedanken weit von mir, daß Sie etwa in bewußter Parteilichkeit« – Doktor Lieberich wurde noch röter, soweit dies möglich war – »gehandelt hätten, aber die Falschheit der Methode, die Sie anwendeten, liegt klar zutage. Hätten Sie dem Knaben Zeit gelassen, sich zu verteidigen – aber ich finde, Herr Kollege, Sie sind in neuester Zeit ein wenig sehr rasch ... promptus ad iram ... eine gewisse nervöse Überreizung, die mir nicht recht erklärlich ist ...« Der alte Herr legte die Hand auf den Rücken und verließ mit vieler Würde das Schulzimmer.

Doktor Lieberich versuchte die unglückliche Situation wieder herzustellen. »Eduard Lemberger, du bist ein ganz verdorbener Bursche. Das nächste Mal werde ich dich bestrafen und nicht mehr schonen.«

Der Angeredete sah ihm mit einer naiven Frechheit in das Gesicht, als wollte er sagen, daß er es doch nicht glaube.

»Ich werde dich bestrafen, daß du daran denken sollst.«

Der Bursche schien es immer noch für unmöglich zu halten.

»Du scheinst es nicht glauben zu wollen?«

Der Bursche grinste, es war kein Zweifel, mit einem höhnischen verstockten Zug um den Mund.

Lieberich sah es ganz gut. Er hatte noch den Rohrstock in der Hand und es juckte ihn im Arme. Aber es regte sich wieder dieser bekannte Zwiespalt in ihm: Wenn der Bursche nicht Eduard Lemberger hieße! Und er wendete sich ab.

Als er schon im Begriffe war, zu seinem Lehrpulte zurückzugehen, sah er noch flüchtig, daß der kleine Schurke eine Grimasse schnitt. Gewiß und wahrhaftig, er hob die ausgestreckten fünf Finger und drehte ihm eine Nase!

Darauf kehrte sich Romuald Lieberich schnell wieder um, zog den Bengel aus seiner Bank, legte ihn, so dick und stark er war, über das Knie und bearbeitete ihn so lange, bis ihm der Arm müde wurde, trotz Zwiespalt, Rektor und Polizeirat.

»So, mein Liebling,« sagte er, »nun hast du deinen Teil, und wenn du wieder brauchst, kannst du aufs neue haben. Auch wenn du Eduard Lemberger heißt.«

Letzteres sagte er nicht, aber er dachte es.

Dann schlug die Schulglocke mit langsamen hellen Schlägen die elfte Stunde und der Unterricht in der lateinischen Anthologie war zu Ende.

Der Geographielehrer kam und löste Romuald Lieberich ab.

Er erschien pünktlich wie immer, mit dem letzten Glockenschlage öffnete er die Tür. Er pflegte im Flur zu warten, bis seine Schulstunde begann, um mit dem Glockenschlage eintreten zu können.

Lieberich konnte den dürren langaufgeschossenen Menschen nicht leiden, seine Pedanterie ging ihm auf die Nerven. Auch trug er einen Kneifer an einer Schnur, die er sich beständig hinter das Ohr legte. Lieberich hielt ihn außerdem für unaufrichtig und mißgünstig.

Die beiden Lehrer machten sich eine kühle Verbeugung.

»Gehen Sie in den Gesellschaftsgarten heute abend?« fragte der Geograph.

»Möglich,« erwiderte Lieberich, »wenn es nicht zum Regnen kommt.«

Als Lieberich schon unter der Tür war, rief ihn der andre zurück.

Nach seiner Gewohnheit hatte er die Schublade des Lehrerpultes aufgezogen, weil es immer sein Erstes war, nach dem Schultagebuch und seinen Einträgen zu sehen.

»Sie haben etwas vergessen, Lieberich.«

Er nahm ein rotgebundenes Büchlein aus dem Pulte und überreichte es mit einer affektiert graziösen Handbewegung.

Lieberich nahm das Buch und schob es hastig in die Tasche. Er war dunkelrot geworden bis an die Stirne und murmelte etwas, was wie Dank klang.

»Was Sie für Studien treiben,« sagte der Geograph und verzog die dünnen Lippen zu einem satirischen Lächeln.

Was es für ein Buch war? Man könnte lange raten.

Es war ein Liebesbriefsteller, werden die jungen Damen sagen.

Nein, es war Ovidii Nasonis ars amandi, würden die Gelehrten sagen, falls sie überhaupt diese Zeilen lesen würden.

Wenn es nicht ein sozial-revolutionäres Buch war, sagen die Bedenklichen.

Wir wetten, es war sein Tagebuch, meinen die ganz Klugen. Irgend eine Heimlichkeit, die man nicht gerne in andrer Leute Hände sieht.

Mit nichten, es war ganz einfach eine Textausgabe des deutschen Reichsstrafgesetzbuches.


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