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Noch ist man unweit von der Stadt und schon befindet man sich mitten in einer Wildnis.
Man hat die letzten prunkenden Villen mit staunendem Auge gesehen, ist auf schwankender elender Fähre über den Strom gefahren, ist an einzelnen Pächtershäusern vorübergekommen und an Gärten mit kleinen hölzernen Hütten; über den Weiden des Stromes winkten noch von der Ferne die Spitzen der Kirchtürme. Jetzt gelangt man auf schmalem, brüchigem Stege, besser gesagt mittels einiger auf faulenden Pfosten liegender Bretter über das tief eingeschnittene Bett eines Bächleins, das sich hier in den Strom ergießt, und urplötzlich befindet man sich in einer Wildnis, die selten der Fuß eines Menschen betritt.
Doch halt, noch immer führt ein schmaler Pfad durch die dicht verschlungenen, überhängenden Weidengebüsche, ein reinliches Wegchen aus feinem Flußsande.
Also müssen hier auch Menschen sein.
Vermutlich Fischer, die hin und wieder den Strom nach Beute durchsuchen. –
Von der Stadt ist nun jede Spur verschwunden, kein Haus, kein Turm, kein Lärm, keine Sirene, kein Mensch.
Alles still, bis auf das Rauschen des Wassers und das Krächzen eines Hähers.
Zur Linken gewinnt der tiefliegende Boden – man geht wie über einen schmalen Damm – ein verändertes Aussehen. Unter den hohen Weiden wächst dichter Schilf, eine Wirrnis von Wasserpflanzen.
Und in der Tat, man geht über einen Damm, der sich bald erweitert. Es ist verlorenes Altwasser, hier zur Linken, und über dem Damm ist man, ohne es zu merken, auf eine wilde Insel geraten.
Nunmehr verliert sich auch der kleine sandige Fußweg und übrig bleibt allein eine kaum wahrnehmbare Spur, die Andeutung eines Pfades.
Stärker wird die Wildnis, verschlungener und verwachsener die Weidenbüsche.
Doch im Innern der kleinen Insel wird es wieder lichter. Birken treten auf und Eschen, und plötzlich öffnet sich ein kleines sonniges Fleckchen, inmitten steht eine wundervoll starke und hochgewachsene dunkle Blutbuche, ein Riese unter den Bäumen, der verachtungsvoll über das niedere Zeug um ihn hinwegblickt. So hoch ist der glatte Stamm dieses Riesen, daß sogar die Sonne noch voll zwischen den Gipfeln des niederen Inselwaldes und dem unteren Geäste hereinscheint und eine Fülle von Licht und Wärme spendet.
Wie eine Oase in der Wüste, wie eine fruchtbare Insel im Weltmeere liegt hier dieses lauschige kleine Plätzchen und das Herz geht auf und freut sich über seinen Anblick.
Hier ist vielleicht in Jahren kein Mensch gewesen und wird keiner seinen Fuß hersetzen.
Aber was hängt dort an der alten Weide am Eingang in die Oase? Eine Tafel aus Blech ist angenagelt: Es ist verboten, Hunde frei herumlaufen zu lassen.
Und darunter ein zweiter Anschlag: Beschädigung der Bäume, Abreißen von Zweigen und Blüten wird strengstens bestraft.
Nun löst sich das Rätsel.
Es soll also eine Art Naturpark sein, diese kleine Insel mit ihrer Wildnis. Mit Absicht hat sich keine Menschenhand erhoben gegen die Wucherung und Ausbreitung des Gestrüpps, der Weiden, der Bäume. Dieses Fleckchen Erde soll allein den Kleinen gehören, den Tieren, der Vogelwelt.
Die Sonne steht im Westen. Tiefblau schimmert der Himmel durch das Geäst der Blutbuche. Tausend Insekten schwirren durch die Luft, ihr Summen vereinigt sich zu einem einzigen sanften Tone, der sich mit dem Rauschen des Wassers mischt. Der Häher wiegt sich hoch in den Lüften.
Dann und wann hört man ein lautes Plätschern, wie von einem Ruderschlage. Aber nirgends ist ein Boot, es sind die Fische, die wohlig in dem lauen Wasser spielen und springen. Zuweilen ist es auch kein Spiel, sondern bitterer Ernst. Ein kleiner Gründling schnellt sich in Verzweiflung in die Höhe, verfolgt von dem Hecht, dem grausamen Freibeuter des Stromes.
Selbst hier, in dieser reinen Natur, ist Kampf, Raub und Mord.
Sonst aber ist heiliges Schweigen.
Um die schlanken dunkelgrünen Zweige der Weiden schweben lautlos wundersame Libellen mit lichtblauen, feurigroten, sanftgrünen zitternden Flügeln.
Eine weiche warme Luft liegt über dem Inselwald. Sie flimmert in dem goldenen Strahl der Sonne.
Kein Mensch, weit und breit, alles stille, nur das eintönige Rauschen des Wassers und das Summen der Fliegen. Auch der Häher hat sich verzogen und kreist nun langsam auf der andern Seite des Stromes.
So einsam und stille liegt die Insel, so sehr gleicht sie dem Urwald ferner Erdteile, daß nicht zu verwundern wäre, träte jetzt vorsichtig aus dem Gebüsch ein federngeschmückter bemalter Indianer auf dem Kriegspfade oder ein nackter wollköpfiger Neger, der sich mit dem Steinbeil in der Hand Bahn bricht durch das verschlungene Dickicht.
Und wirklich, dort unter der hochstämmigen Weide, schimmert durch das Gebüsch etwas Weißes, sieht man etwas mit langsamer Vorsicht sich bewegen.
Dort ist ein Mensch.
Er kauert fast verborgen in dem hohen Schilfgras und dichten Laube.
Aber keine Angst, er ist ungefährlich. Es ist ein einsamer Fischer mit seiner Angel und seine heimliche, vorsichtige Bewegung gilt lediglich den Fischen, denen er nachstellt.
Er hat Rock und Weste abgelegt, denn es ist außer ihm kein Mensch in der Nähe und es stört ihn nichts in seiner Beschäftigung.
Mit starrer Aufmerksamkeit ist sein Blick auf das Wasser gerichtet und behutsam läßt er den Köder seiner Angel nach einer bestimmten Stelle gleiten. Er hat den starken Hecht entdeckt, der seinerseits dem Gründling nachstellte. Es gilt zu zeigen, wer der schlauere ist, der Fisch oder der Mensch.
Schon zum zweitenmal hat der Fischer mit schnellem Ruck die Angelrute in die Höhe gezogen, aber vergebens, denn auch der Hecht ist ein listiger Kamerad, der nicht blindlings auf den Köder beißt, wie die törichte Forelle. Wie ein Blitz ist er verschwunden, als er beim Aufziehen der Angel die Gefahr erkannt hat, aber er kommt wieder, da ihn der Köder reizt.
Diesmal werde ich ihn haben, denkt der Fischer.
Doch gerade als er daran ist, sich die lockende Beute aus dem Wasser zu holen, läßt er erschrocken die Angel niederfallen und sieht um sich.
Was ist das? sagt er halblaut.
Aus dem Innern der Insel sind Laute zu ihm gedrungen, ein halberstickter Fluch eines Mannes, dem sogleich der unterdrückte Schrei einer weiblichen Stimme folgte. Dann ein Rascheln und Rauschen, ein Stampfen in den Büschen, ein Brechen der Zweige. Es klingt fast wie ein Ringen, ein Kämpfen.
Was geht hier vor? sagt der Fischer. Es sind Menschen auf der Insel.
Schon oft ist er hier an dieser Stelle des Stromes gewesen, aber nie ist er einem Menschen begegnet.
Es muß etwas Außerordentliches sein.
Hastig wickelt er die Schnur um die lange Angelrute und legt diese zwischen die Weiden am Uferrande. Er klettert, nicht ohne Mühe, die Böschung des Ufers hinauf und bricht durch das Gestrüpp in der Richtung, in der er das seltsame Geräusch vernommen hat.
Bis zur Lichtung, in der die Blutbuche steht, arbeitet er sich durch.
Doch er ist zu spät gekommen. Die Lichtung ist leer. Aber in der Ferne hört er noch das Rascheln und Krachen der Zweige, wie wenn sich jemand flüchtet.
Und nun sieht er, es ist nur eine Sekunde, weit vor sich in den Büschen die Gestalt eines Mannes.
Soviel sieht er, daß er ein junger Mensch ist, groß und schlank, gut gekleidet, daß er einen modischen Strohhut trägt, der vom Laufen oder von den Zweigen etwas verschoben ist, daß er eine bunte, rot leuchtende Halsbinde um den hohen weißen Leinenkragen geschlungen hat. Dann ist er verschwunden.
Mit keuchender Brust, denn der Lauf hat ihn angestrengt, bleibt der Fischer stehen, horcht und überlegt.
Es hat keinen Sinn, ihn weiter zu verfolgen, denn er weiß, dort drunten, am andern Ende der Insel, führt eine Brücke über das Altwasser in das zweite Ufergehölz und von dort geht die Landstraße weiter, auf der es Menschen genug hat, und bis er kommt, ist der Mann untergetaucht und wird er ihn nicht mehr finden. –
Aber ist denn der kleine Inselwald verhext? Ist er lebendig geworden? Auch dort, in der entgegengesetzten Richtung bricht etwas durch das Gestrüpp und entfernt sich schnell.
Doch diesmal sieht er schärfer. Es ist ein Knabe, er mag zwölf Jahre alt sein. Ein Schüler ist's, er trägt eine verschossene bunte Mütze.
»Halt!« schreit der Fischer. »Willst du stehen! ... Halt, sag' ich dir!«
Aber er schreit vergebens. Wie ein Wiesel schlüpft der kleine Kerl durch die Büsche.
Da ist jede Aussicht verloren, ihn einzuholen. Mit zwölf Jahren kommt man leichter durch als mit fünfzig.
Und da! Schon wieder! In der dritten Richtung, ein Krachen des brechenden Reises, Rauschen des Efeus, der Farne, über der Lichtung drüben.
Der Fischer sieht hinüber und erblickt durch das dichte Gestrüpp ein wildes, trotziges, sonnverbranntes Gesicht mit einem Paare frecher, tückischer Augen. Ein alter zerfetzter Hut beschattet das Gesicht, ein schmieriges Halstuch ist um den sehnigen, schmutzigen Hals des Vagabunden geschlungen, der sich hastig entfernt.
Der Mensch ist sicher nicht ungefährlich. Hilfe ist aber in dieser Wildnis nicht zu erwarten.
Soll er ihm folgen?
Einen Augenblick noch überlegte der Fischer. Aber er ist selbst auch ein kräftiger Mann und es ist seine Pflicht nachzuforschen. Denn hier ist etwas vorgegangen. Und diesen Menschen wird er erreichen, der Fischer weiß ganz genau, daß in der Richtung, welche der Vagabund einschlägt, kein Ausweg ist. Noch ein- bis zweihundert Meter, und der Kerl steht am Ufer des breiten Altwassers und kann nicht mehr weiter, außer er muß nach rechts oder links dem Ufer entlang laufen. Damit verliert er aber den kurzen Vorsprung, den er noch hat.
Also ihm nach! »Halt, halt!« ruft er wieder.
Der Vagabund aber tut, als wäre er taub.
Doch der Fischer kommt ihm näher, schon wird das Gehölz lichter und sie stehen am Wasser.
»Sie da,« sagt der Fischer, »wer sind Sie?«
Der Kerl kehrt sich nach ihm um, er hat die Hände in den Taschen seiner zerlumpten Hose. Frech sieht er seinen Verfolger an. »Was geht das Sie an?«
»Ich frage Sie, wer Sie sind?«
»Habe Sie auch noch nicht gefragt!«
Nun stehen sie einander auf wenige Schritte gegenüber und sehen sich stumm und herausfordernd an.
»Ich rate Ihnen, mir Ihren Namen anzugeben!«
»Und ich rate Ihnen, mich nicht weiter zu belästigen!«
»Kommen Sie mit mir!«
»Fällt mir gar nicht ein.«
Der Fischer überlegt. Er ist allein und ohne Waffen, nicht einmal einen Stock hat er. Und der andre, der Landstreicher, ist auch ein starker Mann und er sieht aus, als sei es nicht ratsam, mit ihm anzubinden.
»Ich bin der Waldhüter,« sagt der Fischer aufs Geratewohl.
Er lügt es, aber er denkt, dies wird vielleicht Eindruck auf den andern machen.
»Wenn Sie mir nicht folgen, werde ich Ihnen folgen. Wir werden wieder unter Menschen kommen.«
Der Stromer zeigt höhnisch die Zähne. »Das steht Ihnen frei, Mann,« sagt er und geht ruhig seines Wegs weiter, dem Ufer entlang. »Aber wenn Sie ein Waldhüter sind, so wäre es gescheiter, Sie gingen dem andern nach, dem mit dem Strohhut, dem feinen Herrn. Der hat etwas gemacht, dort drüben« – er zeigt in der Richtung der Blutbuche – »was Sie vielleicht interessiert, wenn Sie ein Grünrock sind.«
Und damit geht er fort und verschwindet in der Richtung der Brücke.
Noch zögert der Fischer, noch ist er unschlüssig, was er tun soll. Aber in den Worten des Vagabunden liegt etwas, das wie Wahrheit aussieht, und auf einmal wird es dem Fischer sehr unbehaglich.
Wer weiß, auf was er dort drüben stößt? Welcher Anblick sich ihm bieten mag? Was geht es ihn, den Fischer an? Er ist kein Polizeibeamter.
Und spornstreichs läuft er, indem er einen weiten Bogen um die Gegend der Blutbuche macht, zurück nach dem stillen, schönen, friedlichen Plätzchen, wo er sein Arbeitsgerät, seine Angel zurückließ, schraubt sie auseinander und legt sie zu einem Bündel zusammen. Er zieht seine Jacke aus Lodenstoff an und wirft den Rucksack, in dem sich außer seinem unberührten Vesperbrote nur eine armselige Barbe befindet, über den Rücken – alles in größter Hast – und macht sich auf den Heimweg, über den schmalen Damm, dorthin, wo über der grünen Mauer der Weiden die Kirchtürme der Stadt emporsteigen, wo der Ton der Glocken, der Ruf der Dampfpfeife einer Fabrik, das Bellen eines Hundes, das Rasseln des Bahnzugs, der Knall einer vom Fuhrmann geschwungenen Peitsche ihm die Gegenwart von Menschen anzeigt.