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Erstes Kapitel.
Der neuen Heimat entgegen

Heimat! Das Wort gehört der Vergangenheit an. In einem Zeitalter, wo die Verkehrsgesellschaften zu Wasser und zu Lande – die Luft nicht zu vergessen – dafür gesorgt haben, daß jeder, der es sich leisten kann, in einem halben Dutzend Länder sich genau so zu Hause fühlt, wie in dem Orte, wo er geboren ist, hat das Wort seine Bedeutung verloren. Es gibt keine Fremde mehr und daher auch keine Heimat.

Man wandert auch heute nicht mehr aus. Man reist nach Amerika, nach Canada und nach Brasilien in der Hoffnung, dort bessere Existenzbedingungen zu finden, aber man tut es nicht mehr mit dem Gefühl, eine Heimat aufzugeben und sich dort eine andere zu suchen. Es ist nicht viel anders, als wenn man nach einem fremden Orte in Deutschland zöge, nur daß die Entfernung etwas größer ist.

Das ist schade. Es war etwas so Schönes um die Heimat. Das wußten am besten alle diejenigen, die hinausgegangen waren in die Welt, und die die Erinnerung an die Heimat nie mehr verließ, auch wenn ihnen die Ferne alles gab, was sie erhofft hatten. Die neue Zeit gleicht alles einander an. Sie hat den Chinesen die Zöpfe abgeschnitten und den türkischen Frauen den Schleier genommen; der Rundfunk versorgt uns täglich und stündlich mit Nachrichten aus der ganzen Welt, und der Film führt uns die entlegensten Gegenden im belebten Bilde vor. Wir haben aufgehört, Heimatbürger zu sein und sind Weltbürger.

Schade! – – –

 

Der Dampfer »Köln«, Kapitän W. Kord-Lütgert, vom Norddeutschen Lloyd durchpflügte die Wellen der Nordsee auf seinem Kurse an der Ostküste von England entlang dem Norden Schottlands zu. Er hatte zwei Tage vorher Bremerhaven mit vierundzwanzig Passagieren zweiter und dreihundert dritter Klasse – eine erste Klasse war nicht vorhanden – verlassen und befand sich jetzt auf der Reise nach Quebeck und Montreal.

Während den langen Winter hindurch Canada nur durch die Häfen von Halifax und Saint Johns zu erreichen ist, war dies die erste Reise des Schiffes durch den Saint Lawrence-Golf nach den genannten Inlandhäfen.

Es war im Mai, und die Sonne kämpfte sich mühsam durch die grauen Frühnebel. Eine lebhafte Brise strich kalt und fröstelnd über das Wasser, und wer sich an Deck befand, hatte sich in einen warmen Mantel gehüllt.

Die Passagiere standen in Gruppen an der Reling und schauten nach dem nahen Lande aus, das zu beiden Seiten des Schiffes sichtbar war.

»Das ist Scapa Flow,« sagte ein etwa vierzigjähriger Mann in unverkennbar rheinhessischer Mundart zu einigen anderen, indem er nach Norden deutete. »Hier liegen unsre deutschen Schiffe auf dem Meeresboden, die Vizeadmiral von Reuter versenkt hat.«

Der Mann – Karl Presser war sein Name – interessierte sich für alles und liebte es, wie sich am Tage vorher bereits erwiesen hatte, seinen Reisegefährten gegenüber den Informator zu spielen. So hatte er auch an diesem Morgen schon in aller Frühe alle erlangbaren Auskünfte von den Offizieren eingeholt und war glücklich, das, was er erfahren hatte, nunmehr wieder an den Mann zu bringen.

Alle blickten hinüber nach den Orkney-Inseln, vor denen die deutsche Flotte damals gelegen hatte, und eine Weile herrschte Schweigen. Jeder malte sich das Bild der deutschen Schiffe aus, die hier mit wehender Flagge in ihr nasses Grab gesunken waren.

Nachdem die Schiffsangelegenheiten besprochen und auch dem Frühstück einige anerkennende Worte gewidmet worden waren, wandte sich die Unterhaltung mehr den persönlichen Angelegenheiten zu.

»Wollen Sie auch Ihr Glück machen in Canada?« fragte ein junger, schlanker Mann den Rheinhessen.

Er war ein Sachse aus Leipzig; sein Name war Gerhard Mühlberg. Unter den Passagieren nahm er als einer, der schon vor und während des Krieges in Canada gewesen war und bei dem man eine gründliche Kenntnis aller canadischen Verhältnisse voraussetzte, eine besondere Stellung ein. Er war Canadier geworden und sechs Monate vorher mit einem canadischen Paß und einer Aufenthaltsbewilligung für sechs Monate besuchsweise nach Deutschland gekommen und hatte dabei im stillen die Hoffnung gehegt, daß es ihm möglich sein würde, dort irgendein Handwerk zu erlernen, was in Canada, wo jeder ein halbes Dutzend Handwerke versteht, ohne auch nur eins davon gründlich zu kennen, auf Schwierigkeiten stößt.

Diese Hoffnung hatte sich aber nicht erfüllt. Er hatte wohl eingesehen, daß er dazu Jahre benötigen würde, die er in seinem Alter nicht mehr gut darauf verwenden konnte. Auch fand er Deutschland nicht mehr so wieder, wie er es verlassen hatte.

Deshalb hatte er seine Wiedereinbürgerung in Deutschland nicht erst betrieben, und da man ihm zu verstehen gab, daß seine Aufenthaltsbewilligung auf keinen Fall verlängert werden würde, und auch seine Mittel zu Ende gingen, hatte er sich kurzerhand entschlossen, nach Canada zurückzukehren.

»Hören Sie mal, Herr Mühlberg,« antwortete Presser jetzt, »ich bin vierzig Jahre alt und da glaubt man nicht mehr an das Glück. Ich gehe ohne Illusionen nach Canada, bin aber sicher, daß ich das, was ich in Deutschland verlassen habe, auf jeden Fall dort wiederfinden werde. Ich war im Kriege, vom Anfang bis zum Ende. Dann ging ich in das Automobilgeschäft. Das verstehe ich nun gründlich, besonders vom technischen Standpunkt aus. Aber trotz aller Mühe und Unverdrossenheit und trotz aller Sparsamkeit gab es doch kein Vorwärtskommen. Jetzt will ich es in Canada versuchen. Ich habe noch vierhundert Dollar, denn ich bin nicht so dumm, ohne Geld in ein fremdes Land zu gehen. Das gab es früher einmal, aber heute sind die Zeiten anders. – Was denken Sie über meine Aussichten?«

»Sprechen Sie englisch?«

»Ich fange an, es zu lernen,« entgegnete Presser ein wenig kleinlaut.

»Die richtige Zeit dazu,« lachte Mühlberg. »Ich habe noch keinen einzigen getroffen, der sich die Mühe genommen hätte, Englisch vorher zu lernen. – Aber beruhigen Sie sich, ich konnte es auch nicht, als ich das erstemal nach Canada kam. Freilich, ich ging zuerst ›unter die Deutschen‹. Im Westen, auf der Farm. Da kommt dann eins nach dem andern. Sie können das nicht tun. Sie müssen versuchen, in Ihrem Geschäft Arbeit zu finden. Und da bleiben Sie natürlich am besten im Osten, in Montreal, Toronto oder Hamilton. Für einen Mann, der sein Fach versteht, gibt es da immer Arbeit, und Sie finden auch in jedem Betriebe einen oder mehrere Deutsche, die Ihnen weiterhelfen. Sie haben viel bessere Aussichten als diese beiden Herren aus Pforzheim hier.«

Die Gruppe um die beiden herum war inzwischen größer geworden. Man hatte sich um Presser und Mühlberg gesammelt, um sich nichts von dem Gespräche entgehen zu lassen, aus dem man vielleicht noch einiges über canadische Verhältnisse erfahren konnte.

Die »beiden Herren aus Pforzheim«, denen Mühlberg vertraulich zunickte, waren zwei gutgekleidete junge Männer, die die Zwanzig kaum überschritten haben konnten. Sie entstammten anscheinend besseren Verhältnissen, denn der eine brachte eine goldene Uhr zum Vorschein, um die Zeit zu vergleichen, als die Schiffsglocke drei Glasen schlug.

»Es sind nämlich Kaufleute,« fügte Mühlberg hinzu.

»Wäre es für Sie nicht besser gewesen, wenn Sie in Deutschland geblieben wären?« fragte Presser.

»Ich denke nicht,« entgegnete der eine, Fritz Weckerle. »Wir haben uns die Sache reiflich überlegt. Wir waren in Stellung in Pforzheim. Und was hatten wir da für Aussichten? Entweder dort zu bleiben und mit den Jahren kleine Zulagen zu unserm Gehalt zu bekommen, oder die Stellungen zu wechseln, bis wir alt und grau wurden.«

»Sie konnten doch auch einmal selbständig werden,« warf Presser ein, indem er einer Möwe nachsah, die sich eben auf einer Rahe des Vordermastes niedergelassen hatte.

»Das konnten wir natürlich,« entgegnete der andere Herr aus Pforzheim, Konrad Werner, etwas spöttisch. »Irgendein kleines Geschäft anfangen, bei dem man hundertmal bedauert, daß man nicht in seiner Stellung geblieben ist.«

»Und Sie glauben, daß das in Canada anders sein wird?« fragte Mühlberg.

»Wir wissen, daß wir in Canada als Kaufleute und ohne Kenntnis der englischen Sprache keinerlei Aussichten haben, und sind darauf vorbereitet, irgendwelche Arbeit anzunehmen. Wir haben jeder noch gegen hundert Dollar in der Tasche, und wenn die alle sind, haben wir hoffentlich irgendwelchen Verdienst gefunden, wenn nicht anders auf einer Farm bei der Ernte. Was uns veranlaßt hat, nach Canada zu gehen, ist hauptsächlich der Umstand, daß uns jemand, dem wir vertrauen, gesagt hat, die Aussichten, vorwärtszukommen und selbst ein Vermögen zu erwerben, seien dort größer als irgendwo. Stimmt das?«

»Das ist unzweifelhaft richtig,« bestätigte Mühlberg. »Natürlich sind es immer nur einzelne, denen es gelingt, aber ihre Zahl ist sicher größer als woanders. Freilich, wenn Sie der Sache nachgehen, so finden Sie fast immer, daß es dieser oder jener günstige Zufall gewesen ist, der ihnen dazu verholfen hat. Verstand brauchen Sie fast gar nicht dazu. Der Verstand, die Intelligentia, sitzt in den Städten; zu Hunderten. Hat es aber nur selten dahin gebracht, zu wissen, wovon er die nächste Woche leben soll. Überall hören Sie von den Leuten, ›die Schwein gehabt haben‹, und jeder hofft, daß er morgen, oder übermorgen, oder doch wenigstens im nächsten Jahre auch an der Reihe sein wird, wenn auch die unmittelbaren Aussichten so dunkel wie möglich sind.«

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bordwand, stützte sich mit dem rechten Ellbogen auf, und indem er in dieser lässigen Haltung die Umstehenden besser ins Auge faßte, fuhr er fort:

»Es wird gut sein, wenn ich Sie vor dem kolossalen Optimismus in Canada etwas warne. Er wirkt ungemein erfrischend auf den Deutschen, der aus einer Atmosphäre des Mißtrauens und des Pessimismus kommt und dem man bisher immer nur sagen konnte: ›Arbeiten und nicht verzweifeln!‹ Es war der beste Rat, dem man dem deutschen Volke geben konnte. Denn Deutschland hat seit dem Kriege doch schon Großes geleistet, und manches, was zuerst wie ein nicht wieder gutzumachendes Unglück aussah, hat sich anders ausgewirkt, als unsere Feinde erwartet haben. Es kann jetzt schon als eine Preisfrage angesehen werden, wer den Krieg gewonnen hat. Der Pessimismus in Deutschland ist in seinem Ausmaße ebensowenig gerechtfertigt wie der Optimismus in Canada. Dort glaubt jeder an die Zukunft des Landes, jeder spricht von ihr und überzeugt den andern noch mehr davon, bis er die oft recht trübe Gegenwart vergißt und hofft und hofft. Dabei gehen die Geschäfte dort nicht besser als in Deutschland, alles wird auf Abzahlung gekauft und verkauft, niemand hat bares Geld, denn selbst die reichen Leute sind meist nur ›landreich‹, das heißt, sie besitzen Grundeigentum, das sie aber wiederum nur auf Kredit verkaufen können.«

Er unterbrach sich, indem er sich eine Zigarette anzündete und ein paar Züge tat. Dann fuhr er fort:

»Canada braucht natürlich den Optimismus. Es wäre nicht das, was es heute ist, ohne ihn. Niemand zweifelt daran, daß Canada mit seinen reichen Hilfsquellen und ungeheuren Reichtümern an Holz, Kohlen, allen möglichen Metallen, Fischen, Pelztieren und beinah allem, was die Welt braucht, eine große Zukunft hat. Aber Canada ist so groß wie Europa, und die Ziffern, die die Regierung alljährlich veröffentlicht, bedeuten, wenn man sie auf eine so große Landfläche verteilt, für die einzelne Ortschaft sehr wenig. Halten Sie sich immer an das, was heute ist, und spekulieren Sie nicht auf das Morgen. Es kommt unbedingt, aber doch nur sehr langsam, so langsam, daß die meisten es nicht mehr erleben werden. Ich kenne Canada seit zehn Jahren und könnte Ihnen nicht eine einzige Stadt nennen, die sich in dieser Zeit in einer irgendwie bemerkenswerten Weise vergrößert hätte. Das ist aber schließlich Nebensache, denn Sie gehen doch nicht nach Canada wegen seiner Zukunft. Ich wollte Sie auch nur vor einer Überschätzung dieser warnen, was vielleicht nicht ganz unnötig ist, da man überall davon sprechen hört und sich leicht ganz falsche Vorstellungen davon macht. Immerhin hat aber Canada noch eine Zukunft, und es gibt nicht viele Länder, von denen man das gleiche sagen könnte. Ich meine natürlich in wirtschaftlichem Sinne.«

»Sie sind also der Meinung, daß Canada ein gutes Auswanderungsland ist?« fragte Presser.

»Für den Mann mit etwas Kapital, der sich auf dem Lande niederlassen will, unbedingt. Für diesen ist es sogar weit besser als Amerika, denn dort hat eine ungesunde Spekulation die Landpreise so in die Höhe getrieben, daß der Farmer kaum noch etwas herauswirtschaften kann. Es ist auch ein großer Irrtum, zu glauben, daß sich jeder zum Farmer eigne. Landwirtschaft will genau so gelernt sein wie jedes andere Geschäft. Leute, die in Städten aufgewachsen sind und ihr Leben in Büros oder unter ähnlichen Verhältnissen verbracht haben, sollten das Experiment lieber nicht machen. Bei Ihnen ist das etwas anderes,« wandte er sich unmittelbar an die beiden jungen Männer aus Pforzheim. »Sie sind auch in der Stadt groß geworden und Kaufleute, also zum Farmerberuf nicht erzogen. Aber Sie sind noch jung genug, um umzulernen und sich als Farmer die nötigen Kenntnisse anzueignen. Wenn das geschehen ist, werden Sie auch eine Farm finden, die Sie mit geringen Mitteln bewirtschaften können.«

»Wieviel Kapital, glauben Sie wohl, ist für die Übernahme einer Farm erforderlich?« fragte Werner.

»Das hängt von vielen Umständen ab. Von Heimstätten brauchen wir gar nicht zu reden. Die bekommen Sie ja allerdings umsonst, aber nicht mehr in Gegenden, wo sie etwas wert sind, ich meine in der Nähe einer Bahnlinie. Auch sonst ist es aus vielen Gründen gar nicht so vorteilhaft, eine Heimstätte zu haben. Sie müssen da die Prärie brechen und haben erst nach zwei Jahren eine Ernte, müssen also auch Kapital haben, um diese Zeit durchzuhalten. Es gibt ja nun auch freilich Leute, die ohne Kapital auf eine Heimstätte gehen. Sie sind dann aber gezwungen, die meiste Zeit Lohnarbeit zu tun, und für das eigene Land bleibt nicht allzuviel übrig. Denn Sie brauchen doch schließlich auch Geräte, Pferde, Saat und wie viel Dinge mehr. Auf Kredit können Sie nicht alles nehmen, selbst wenn Sie es bekommen können, was aber noch gar nicht sicher ist, denn niemand gibt einem Heimstätter gern Kredit. Wie soll er es denn schließlich bezahlen? Mit der geringen Ernte, die er nach zwei Jahren erzielt, wenn er die meiste Zeit auswärts gearbeitet hat? Trotzdem muß ich sagen, daß die meisten Heimstätten gerade auf diese Weise von mittellosen Leuten aufgenommen werden. Früher, ich meine so vor zwanzig und fünfundzwanzig Jahren, war das sogar die Regel. Die Verhältnisse haben sich aber geändert.«

»Wir kennen aber eine Familie, die auch eine Heimstätte aufgenommen hat und die heute reich ist,« warf Weckerle ein.

»Ganz recht. Und Sie werden auch noch tausend und vielleicht zehntausend finden, denen es ganz in der gleichen Weise ergangen ist. Haben Sie aber schon einmal darüber nachgedacht, was die Leute dafür bezahlt haben, wie sie die besten zehn, fünfzehn und zwanzig Jahre ihres Lebens dafür hingegeben haben, um sie in einem Elend zu verleben, von dem Sie sich gar keine Vorstellung machen können?

Ich kenne Leute, die mit fünfzig Cents und einem Sack Mehl auf ihre Heimstätte gegangen sind, heute aber wohlhabende Leute sind. Ein besonderer Fall kommt mir da gerade in Erinnerung. Er betrifft einen Deutschen, einen Rheinländer, Finsterbusch ist sein Name, der heute ein reicher Mann ist und in der Nähe von Edson eine Farm und eine Silberfuchsfarm betreibt. Die Fuchsfarm ist allein wenigstens hunderttausend Dollar wert. Er hat die Füchse selbst eingefangen und von ihnen gezüchtet. Ich will ja auch wieder nach Edson, denn dort war ich zuletzt, als ich nach Deutschland ging. Vorläufig reicht mein Geld aber nur bis Winnipeg. Dort muß ich Arbeit suchen, bis ich mir soviel erspart habe, um weiterreisen zu können.

Also Mr. Finsterbusch hatte in der Nähe von Edson eine Heimstätte aufgenommen. Es war noch in der Zeit, bevor die Bahn nach Edmonton gebaut war. Edson selbst war auch noch kaum vorhanden. Er saß nun dort auf seinem Lande, in einer Hütte, die er sich aus Grasschollen erbaut hatte, und wußte zuletzt nicht mehr, wie er sich weiterhelfen sollte. Zu essen war kaum noch vorhanden, das bißchen Ernte erst im nächsten Jahre zu erwarten, Arbeit in der Nähe nicht zu haben. Das einzige war, nach Edmonton zu wandern und sich dort nach Arbeit und Verdienst umzusehen. Das tat er schließlich auch, mit fünfundachtzig Cents in der Tasche und etwas Brot und gekochten Eiern. Die Frau hatte noch einen geringen Vorrat Mehl, konnte sich hin und wieder im nahen Muskeg-Flusse einen Fisch fangen und gelegentlich wohl auch eine Schlinge für ein Kaninchen legen. Der Mann brauchte eine Woche, um nach Edmonton zu gelangen, und das war eine Leistung. In Edmonton fand er dann auch schließlich Arbeit für einen Dollar den Tag.«

»Einen Dollar den Tag?« fragte Presser im Zweifel, ob er recht gehört.

»Das war damals,« erklärte Mühlberg. »Heute sind ja die Löhne viel höher. Und auch damals würde er wohl mehr bekommen haben, hätte er Zeit gehabt zu warten. Er war aber eben ohne Mittel und mußte nehmen, was ihm geboten wurde. Well, er lebte vierzehn Jahre auf seiner Heimstätte unter den größten Entbehrungen, und seine Frau heulte sich fast die Augen aus. Dann erst hatte er soviel Land unter Kultur, daß es ihm mehr brachte, als er zum Leben brauchte. Und wenn Sie erst einmal an diesem Punkte angelangt sind, geht die Ansammlung von Reichtum schnell. Das ist nur ein Beispiel, und jeder Heimstätter könnte Ihnen aus seinem Leben ähnliche berichten, nur daß sie nicht alle mit dem Reichwerden enden. Das sind aber Dinge, die der Vergangenheit angehören. Heute ist es leichter mit den Eisenbahnen, die man inzwischen gebaut hat, und den Autos, ohne die ein Farmer heute kaum noch existieren kann. Aus diesen und hundert anderen Gründen ist es aber heute nicht mehr möglich, ohne Geld auf eine Farm zu gehen. Eine Familie, die ins Land kommt und eine Farm aufnehmen möchte, braucht wenigstens dreitausend Dollar.«

»Schlechte Aussichten für uns,« bemerkte Weckerle mit einem etwas verlegenen Lächeln. »Wie sollen wir uns jemals dreitausend Dollar von unserer Arbeit sparen, mit den Wintern, wo es meist keine Arbeit gibt, und wo man das wieder aufzehrt, was man im Sommer verdient hat?«

»Das ist nicht so schlimm,« tröstete Mühlberg. »Man findet schließlich auch im Winter Arbeit. Ich habe stets welche gehabt. Aber zu einer Farm können Sie auch auf andere Weise kommen. Sie können eine pachten. Mit soundsovielen Ackern kultivierten Landes, allen Gerätschaften, Haus und Stall und vielleicht sogar Pferden und Kühen. Das geschieht dann meist auf der Grundlage von Ernteraten. Je nach den Verbesserungen, die Sie übernehmen, geben Sie dem Besitzer ein Viertel, ein Drittel oder auch die Hälfte der Ernte als Pachtsumme ab. Das erfordert verhältnismäßig wenig Kapital, aber immerhin so viel, daß Sie bis zur nächsten Ernte leben können. Denn daß Sie auf Arbeit gehen können, um sich bis dahin etwas zu verdienen, ist nicht gut möglich. Die Farm verlangt alle Ihre Arbeitszeit und Arbeitskraft. Dieses Geld können Sie sich aber in ein paar Jahren verdienen. Sie haben inzwischen auch die Farmarbeit gelernt. Wenn ich hier von Farmarbeit spreche, so meine ich damit auch noch die Kenntnis von einem halben Dutzend Handwerken. In der Stadt, wo Sie nur um die nächste Ecke zu gehen brauchen, um einen Handwerker für eine nötige Reparatur zu finden, lernen Sie die nie. Auf der Farm müssen Sie das alles selbst tun, denn Sie können für eine unbedeutende Reparatur oder Neuanlage nicht erst Handwerker kommen lassen, womöglich aus weiter Entfernung.«

»Es ist uns gesagt worden, daß auch die Canadian National Railway betriebsfertige Farmen verpachtet,« warf Weckerle ein.

»Stimmt,« antwortete Mühlberg. »Die sucht sich aber ihre Leute aus und verpachtet keineswegs an jeden, der sich darum bewirbt. Das ist auch sehr vernünftig, denn sie hat ein Interesse daran, daß die Leute auf der Farm bleiben und ihr gutes Fortkommen finden. Ihre Bedingungen sind äußerst günstig. Sie verkauft Ihnen auch eine solche Farm auf jährliche Abzahlungen, und die sind ganz nach der Ernte berechnet. In schlechten Jahren zahlen Sie weniger und bei einer Fehlernte überhaupt nichts, nicht einmal Zinsen. Alle diese Pläne können für Sie aber erst in Frage kommen, wenn Sie verheiratet sind, denn es ist ausgeschlossen, daß Sie als unverheirateter Mann auf einer Farm vorwärtskommen. Sie brauchen aber eine Frau, die auf eine Farm paßt, vergessen Sie das nicht.«

»Eine Farm zu pachten, daran liegt mir nichts,« versetzte Weckerle. »Wenn ich eine Farm nehme, dann soll sie mein eigen sein.«

»Das begreife ich,« entgegnete Mühlberg. »Das können Sie aber auch bei einer gepachteten Farm haben. In der Regel werden Sie sich ja auch bei der Pachtung das Vorkaufsrecht auf eine Anzahl Jahre zu einem bestimmten Preise sichern. Wenn Sie dann ein paar leidliche Ernten haben und sonst mit dem Lande zufrieden sind, werden Sie die Farm kaufen können.«

»Und wenn nicht?«

»Dann sitzen Sie natürlich fest, und die Farmerei wird Ihnen so verleidet sein, daß Sie wahrscheinlich in eine Kohlenmine gehen, oder bei der Lachsfischerei in Britisch-Kolumbien anzukommen suchen werden. Abgesehen von seiner persönlichen Eignung wird das Schicksal eines Farmers stets durch die ersten drei Ernten entschieden. Sind sie gut, dann ist seine Existenz als Farmer gesichert, und eine vierte und selbst fünfte schlechte Ernte kann daran nicht mehr viel ändern. Sind sie aber schlecht oder auch nur zwei davon schlecht, so kann er sich auf der Farm nicht mehr halten und muß sie verlassen.«

»Und wie sind die Ernten durchschnittlich in Canada?« fragte Werner.

Mühlberg zuckte die Achseln. »Die Farmer sind fast immer von zu viel Trockenheit bedroht. Aber im Durchschnitt kann man wohl sagen, sie sind gut.«

Die Unterhaltung stockte jetzt für eine Weile. Man sah hinüber nach dem Festlande, wo auf felsigen Ufervorsprüngen geheimnisvolle Forts herüberdrohten.


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