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Der Besuch
Die Katastrophe mit Lisa und der Tod Maria Timofejewnas machten auf Schatow einen niederschmetternden Eindruck. Ich erwähnte bereits, daß, als ich ihn am nächsten Morgen nach der schrecklichen Nacht flüchtig gesprochen hatte, er mir recht sonderbar vorgekommen war, so, wie wenn er nicht ganz bei Troste gewesen wäre. Unter anderem erzählte er mir, daß er am Vorabend, um neun Uhr (also etwa drei Stunden vor der Feuersbrunst) Maria Timofejewna besucht hatte. Am Vormittag nach dem Brand ging er auch, sich die Leichen anzusehen, hatte aber, soviel ich weiß, an jenem Morgen nirgends und keinerlei Aussagen gemacht. Indessen aber erhob sich gegen das Ende des Tages in seiner Seele ein wahrer Sturm und ... und ich glaube mit Bestimmtheit sagen zu können, daß es zur Zeit der Abenddämmerung einen Augenblick gegeben hat, da er aufstehen, hingehen und – alles bekanntgeben wollte. Was unter diesem »Alles« zu verstehen war, wußte nur er allein. Natürlich hätte er damit nichts erreicht und würde nur sich selbst verraten haben. Er hatte durchaus keine Beweise, die genügt hätten, die eben begangene Freveltat aufzuklären, und seine Aussagen würden sich nur auf vage Vermutungen gestützt haben, die nur für ihn allein völlig überzeugend waren. Aber er war bereit, sich selbst ins Verderben zu stürzen, um nur »die Schurken zermalmen zu können«, wie er sich selbst ausgedrückt hatte. Piotr Stepanowitsch sah diesen ersten Drang in ihm ganz richtig voraus und wußte genau, daß er vieles riskierte, indem er die Ausführung seines neuen, schrecklichen Planes auf den folgenden Tag verschob. Dieses sein Benehmen zeigte auch hier, daß er, wie gewöhnlich, sehr viel Selbstvertrauen hatte und alle diese »Menschlein« und insbesondere Schatow tief verachtete. Die Geringschätzung, die er im Verkehr mit Schatow stets an den Tag legte, empfand er ihm gegenüber schon seit langem, wegen Schatows »weinerlichem Idiotismus«, wie er sich über ihn schon im Auslande geäußert hatte. Und er hoffte fest, daß es ihm gelingen werde, mit diesem so wenig schlauen Menschen fertig zu werden, das heißt ihn den ganzen Tag über nicht aus den Augen zu lassen und ihm bei der ersten Gefahr den Weg abzuschneiden. Und trotzdem war das, was »die Schurken« noch für eine kurze Zeit rettete, ein ganz zufälliger, unerwarteter und von ihnen keineswegs vorhergesehener Umstand ...
Gegen acht Uhr abends (also gerade, als die »Unsrigen« sich bei Erkel versammelt hatten, auf Piotr Stepanowitsch warteten und sich entrüsteten und aufregten) lag Schatow mit Kopfschmerzen und leichtem Fieberfrost im Dunkeln lang ausgestreckt auf seinem Bette. Er hatte keine Kerze angezündet, quälte sich mit Zweifeln, wurde wütend und wütender, faßte Entschluß nach Entschluß und konnte sich doch nicht endgültig entschließen, da er fluchend im voraus fühlte, daß alles das doch zu nichts führen werde. Allmählich versank er in einen leichten Schlaf, und es träumte ihm etwas, was sehr stark einem Alp glich. Er sah im Traum, daß er mit Stricken an sein Bett geschnürt und am ganzen Leibe festgebunden sei, so daß er sich nicht rühren könne; dabei erschollen im ganzen Hause furchtbare Schläge gegen den Zaun, gegen das Tor, gegen seine Tür und gegen das von Kirillow bewohnte Seitengebäude, so daß das ganze Haus zitterte. Außerdem hörte er eine entfernte, ihm wohlbekannte, aber in ihm quälende Erinnerungen erweckende Stimme, die ihn kläglich anrief. Da erwachte er auf einmal und richtete sich auf seinem Bette hoch. Zu seiner Verwunderung hörten die Schläge gegen das Tor nicht auf. Sie waren allerdings bei weitem nicht so stark, wie es ihm im Traum vorgekommen war, aber immerhin hartnäckig, und folgten sehr schnell aufeinander. Die sonderbare und »quälende« Stimme aber, die allerdings überhaupt nicht kläglich, sondern im Gegenteil ungeduldig und gereizt klang, ließ sich noch immer unten am Tore vernehmen, abwechselnd mit einer anderen, ruhigeren und gewöhnlicheren. Schatow sprang auf, öffnete die Luftscheibe im Fenster und steckte den Kopf hinaus.
»Wer ist da?« rief er und fühlte, daß er vor Schrecken buchstäblich erstarrte.
»Wenn Sie Schatow sind,« wurde ihm von unten schroff und entschlossen geantwortet, »so geruhen Sie bitte, offen und ehrlich zu erklären, ob Sie gewillt sind, mich hineinzulassen oder nicht?«
Er hatte sich nicht geirrt; er hatte diese Stimme gleich erkannt!
»Marie! ... Bist du das?«
»Ja, ich bin es, Maria Schatowa, und ich versichere Ihnen, daß ich keinen Augenblick mehr den Droschkenkutscher aufhalten kann.«
»Sofort ... Ich will nur erst die Kerze ...« rief Schatow mit schwacher Stimme zurück. Dann begann er, hastig nach den Streichhölzern zu suchen. Die waren, wie gewöhnlich in solchen Fällen, nicht aufzufinden. Nun fiel ihm in der Aufregung der Leuchter mit der Kerze aus der Hand auf den Fußboden, und als gleich darauf wieder von unten die ungeduldige Stimme erscholl, da ließ er alles stehen und liegen und stürzte Hals über Kopf seine steile Treppe hinunter, um das Pförtchen zu öffnen.
»Tun Sie mir den Gefallen und halten Sie ein wenig die Reisetasche, bis ich mich mit diesem Dummkopf auseinandergesetzt habe«, rief ihm unten Frau Maria Schatowa als Begrüßung zu und schob ihm eine ziemlich leichte, billige Handtasche aus Segeltuch mit Messingbeschlägen, ein Dresdener Fabrikat, in die Hand. Sie selbst aber fuhr gereizt auf den Kutscher los:
»Ich erlaube mir, Ihnen zu versichern, daß Ihre Forderung übertrieben ist. Wenn Sie mich eine Stunde zuviel unnötigerweise durch die hiesigen schmutzigen Straßen gekarrt haben, so sind Sie selbst schuld daran, denn da haben Sie offenbar nicht gewußt, wo diese dumme Straße und dieses verdrehte Haus liegen. Belieben Sie, Ihre dreißig Kopeken in Empfang zu nehmen, und seien Sie überzeugt, daß Sie nichts mehr bekommen werden.«
»Ach, Madamchen, Sie haben ja selbst auf die Wosnesenskaja gefahren zu werden verlangt, und das hier ist doch die Bogojawlenskaja. Die Wosnesenskaja liegt ja Gott weiß wie weit von hier. Da haben wir nur den Wallach unnötig in Schweiß gebracht.«
»Wosnesenskaja, Bogojawlenskaja, – alle diese dummen Benennungen müssen Ihnen besser bekannt sein, da Sie ein hiesiger Einwohner sind. Und außerdem sind Sie im Unrecht. Ich habe Ihnen gleich von vornherein gesagt, daß ich nach dem Filippowschen Hause wollte, und Sie haben mir ausdrücklich erklärt, daß Sie es kennen. Wenn Sie durchaus wollen, können Sie mich morgen beim Friedensrichter verklagen, jetzt aber bitte ich Sie, mich in Ruhe zu lassen.«
»Da, da sind noch fünf Kopeken«, rief Schatow, indem er hastig ein Fünfkopekenstück aus der Tasche holte und es dem Kutscher reichte.
»Tun Sie mir einen Gefallen, ich bitte Sie dringend, es ihm nicht zu geben!« ereiferte sich Mme. Schatowa, aber der Kutscher hatte schon den »Wallach« in Bewegung gesetzt, und Schatow ergriff sie bei der Hand und zog sie ins Tor hinein.
»Schnell, Marie, schnell ... das sind ja alles nur Kleinigkeiten, und – wie du durchnäßt bist! Nur langsam, hier geht es nach oben, – wie schade, daß ich kein Licht habe, – die Treppe ist steil, halte dich fester, fester! Nun, da ist auch mein Kämmerchen ... Entschuldige, daß ich kein Licht habe ... sofort! ...«
Er hob den Leuchter vom Boden auf, aber die Streichhölzer ließen sich noch längere Zeit nicht finden. Frau Schatowa stand wartend mitten im Zimmer, rührte sich nicht und sagte kein Wort.
»Gott sei Dank! Endlich!« rief er freudig und zündete die Kerze an. Maria Schatowa musterte mit einem schnellen Blick den Wohnraum.
»Es ist mir gesagt worden, daß Sie schlecht wohnten, aber daß es so schlimm ist, habe ich mir doch nicht gedacht«, sagte sie mit Widerwillen und ging zum Bett.
»Ach, wie müde ich bin!« fuhr sie fort und setzte sich mit erschöpfter Miene auf das harte Bett. »Bitte, legen Sie die Reisetasche hin und setzen Sie sich selbst auf einen Stuhl. Übrigens können Sie tun, was Sie wollen. Aber Sie stechen mir so in die Augen, wenn Sie stehen. Ich bin nur für kurze Zeit zu Ihnen gekommen, nur bis ich Arbeit finde, denn ich weiß hier gar nicht Bescheid und habe kein Geld. Wenn ich Sie aber geniere, so bitte ich nochmals: tun Sie mir den Gefallen und erklären Sie mir das sofort, was übrigens sogar Ihre Pflicht ist, wenn Sie ein ehrlicher Mensch sind. Ich kann immerhin morgen etwas verkaufen und in einem Gasthaus bezahlen, aber ins Gasthaus müssen Sie mich schon dann selbst bringen ... Ach, wie müde bin ich doch!«
Schatow zitterte am ganzen Leibe.
»Nicht doch, Marie, du brauchst nicht in ein Gasthaus zu gehen! Wozu denn in ein Gasthaus? Wozu, wozu?«
Und er faltete flehend seine Hände.
»Nun, wenn es ohne Gasthaus geht, so muß dennoch die Sachlage geklärt werden. Sie erinnern sich doch, Schatow, daß ich mit Ihnen zwei Wochen und einige Tage lang in Genf als Ihre Ehefrau gelebt habe und daß es nun schon drei Jahre sind, seitdem wir uns, übrigens ohne besonderen Streit, getrennt haben. Nehmen Sie aber ja nicht an, daß ich zurückgekommen bin, um irgendeine der früheren Dummheiten zu wiederholen. Ich kehrte zurück, um Arbeit zu suchen, und wenn ich auch gerade nach dieser Stadt gekommen bin, so geschah das nur, weil mir der Ort vollkommen gleichgültig war. Ich bin nicht gekommen, um etwas zu bereuen; tun Sie mir den Gefallen und setzen Sie sich nicht auch noch diese Dummheit in den Kopf.«
»Oh, Marie! Das brauchst du gar nicht zu sagen; dazu hast du keine Ursache!« murmelte Schatow undeutlich.
»Nun, wenn dem so ist, wenn Sie soweit fortgeschritten sind, daß Sie auch das begreifen können, dann erlaube ich mir hinzuzufügen, daß, wenn ich mich jetzt direkt an Sie gewandt habe und in Ihre Wohnung gekommen bin, ich das zum Teil auch aus dem Grunde tat, daß ich Sie stets für einen Menschen gehalten habe, der bei weitem kein Schuft ist, und immer wußte, daß Sie vielleicht bedeutend besser sind als alle anderen ... Schurken!«
Ihre Augen begannen zu funkeln. Wahrscheinlich war ihr gar zuviel Schlimmes von irgendwelchen »Schurken« widerfahren.
»Und seien Sie bitte überzeugt, daß ich mich durchaus nicht über Sie lustig machte, als ich sagte, daß Sie ein guter Mensch sind. Ich sprach offen und ohne schönklingende Worte, die ich überhaupt nicht leiden mag. Indessen ist alles Unsinn. Ich habe immer gehofft, daß Sie verständig genug sind, um nicht lästig zu werden ... Ach, genug, ich bin so müde!«
Und sie sah ihn mit einem langen, gequälten, müden Blick an. Schatow stand fünf Schritte von ihr entfernt an der anderen Seite des Zimmers und hörte ihr mit schüchterner Miene zu, aber irgendwie neubelebt und mit einem bei ihm noch nie dagewesenen Leuchten auf dem Gesichte. Dieser starke, rauhe Mensch, der sich stets widerhaarig gegeben hatte, war nun mit einemmal ganz weich geworden und strahlte geradezu. In seiner Seele begann etwas Ungewöhnliches, etwas ganz Unerwartetes zu beben. Die drei Jahre der Trennung, die drei Jahre der aufgelösten Ehe hatten aus seinem Herzen nichts zu verdrängen vermocht. Und vielleicht hatte er in diesen drei Jahren täglich an sie, an das teure Wesen gedacht, das ihm einmal: »ich liebe dich« gesagt hatte. Da ich Schatow gut kannte, darf ich mit Bestimmtheit behaupten, daß er es nie auch nur für denkbar gehalten hatte, daß eine Frau zu ihm diese drei Worte sagen könnte. Er war keusch und schamhaft bis zur Wunderlichkeit, hielt sich für schrecklich mißgestaltet, haßte sein Gesicht und seinen Charakter und stellte sich auf eine Stufe mit jenen ungeheuerlichen Scheusalen, die auf Jahrmärkte gebracht und für Geld gezeigt werden können. Infolgedessen schätzte er die Ehrlichkeit am allerhöchsten, ergab sich seinen Überzeugungen mit einem wahren Fanatismus und war finster, stolz, jähzornig und wortkarg. Aber nun war dieses einzige Wesen, das ihn zwei Wochen lang geliebt hatte (daran hatte er immer, immer geglaubt!), – dieses Wesen, das er stets unermeßlich hoch über sich stellte, obwohl er über die Verirrungen, denen es zum Opfer gefallen war, äußerst nüchtern urteilte, dieses Wesen, dem er wirklich alles, alles verzeihen konnte (was ja übrigens überhaupt nicht in Frage kam, denn seiner Ansicht nach lag das Gegenteil vor, und er glaubte, seiner Frau gegenüber in allen Stücken im Unrecht zu sein), dieses Weib, diese Maria Schatowa war plötzlich wieder in seinem Hause und saß da wieder vor ihm ... Das konnte er kaum fassen! Seine Überraschung war so groß, und es lag in diesem Ereignis für ihn so viel unfaßbar Furchtbares und zugleich so viel Glück, daß er gar nicht zur Besinnung kommen konnte und es vielleicht gar nicht wollte! Ja, er fürchtete geradezu, daß der Taumel zu Ende gehen würde. Das war ein Traum. Als sie ihn aber mit ihrem gequälten Blick anschaute, begriff er auf einmal, daß dieses so sehr geliebte Wesen litt, und zwar vielleicht unter einer schweren Kränkung. Sein Herz zog sich krampfhaft zusammen. Mit einem schmerzlichen Gefühl betrachtete er ihre Züge: schon längst war von diesem müden Gesicht der Glanz der ersten Jugend verschwunden. Allerdings sah sie noch immer ganz hübsch aus und war in seinen Augen nach wie vor eine Schönheit. (In Wirklichkeit war sie eine Frau von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, ziemlich kräftig gebaut, von mehr als Mittelgröße und höher als Schatow, hatte reiches, dunkelblondes Haar, ein blasses, ovales Gesicht und große, dunkle Augen, die jetzt in fieberhaftem Glanze funkelten.) Aber die leichtsinnige, naive und harmlose Energie, die er an ihr so gut gekannt hatte, schien jetzt einer mürrischen Gereiztheit, einem Enttäuschtsein Platz gemacht zu haben und einer Art von Zynismus, an den sie sich selbst noch nicht gewöhnt hatte und der ihr peinlich war. Vor allen Dingen aber war sie krank; das erkannte er sofort ganz klar. Trotz all seiner Furcht vor ihr trat er plötzlich an sie heran und ergriff sie an beiden Händen:
»Marie ... weißt du ... du bist vielleicht sehr müde, sei mir um Gottes willen nicht böse ... Wenn du dich überreden ließest, beispielsweise wenigstens Tee zu trinken, wie? Tee ist gut zur Stärkung, was meinst du? Wenn du damit nur einverstanden wärest! ...«
»Womit soll ich da noch einverstanden sein, natürlich bin ich einverstanden! Sie sind noch immer dasselbe Kind, wie früher. Wenn Sie in der Lage sind, dann geben Sie mir Tee! Wie eng es bei Ihnen hier ist! Wie kalt!«
»Oh, ich will gleich Holz, Holz ... Holz habe ich!« erwiderte Schatow, der nun in lebhafte Bewegung geriet. »Holz ... Das heißt, aber ... übrigens werde ich auch gleich Tee besorgen ...« rief er dann, schwenkte, wie wenn er sich zu einem schweren Entschluß durchgerungen hätte, den Arm und griff nach seiner Mütze.
»Wo wollen Sie denn hin? Also haben Sie wohl keinen Tee im Hause?«
»Gleich, gleich, gleich wird alles dasein ... ich ...« und er nahm den Revolver vom Regal herunter. »Ich werde gleich diesen Revolver verkaufen ... oder versetzen ...«
»Was für Dummheiten, und wie lange würde das dauern! Hier, nehmen Sie mein Geld, wenn Sie nichts haben; es sind achtzig Kopeken, glaube ich; alles. Bei Ihnen ist es wie in einem Irrenhause.«
»Ich brauche es nicht, ich brauche es nicht, ich brauche dein Geld nicht, das mache ich gleich, in einem Augenblick ... Auch ohne Revolver ...«
Und er lief geradeswegs zu Kirillow. Das geschah wahrscheinlich etwa zwei Stunden vor der Ankunft Piotr Stepanowitschs und Liputins. Obwohl Schatow und Kirillow dicht nebeneinander wohnten, sahen sie einander doch fast gar nicht, und wenn sie zufälligerweise einander begegneten, dann grüßten sie sich nicht und wechselten nie ein Wort. Sie hatten in Amerika zu lange »zusammengelegen«.
»Kirillow, Sie haben doch immer Tee. Haben Sie Tee und einen Samowar?«
Kirillow, der seiner Gewohnheit gemäß von einer Ecke des Zimmers nach der anderen ging, was er übrigens die ganze Nacht zu tun pflegte, blieb plötzlich stehen und blickte den hineingelaufenen Schatow unverwandt, aber ohne besondere Verwunderung an.
»Tee ist da, und Zucker ist da, und ein Samowar ist auch da. Aber ein Samowar ist nicht erforderlich, denn der Tee ist heiß. Setzen Sie sich einfach hin und trinken Sie.«
»Kirillow, wir haben in Amerika zusammengelegen ... Zu mir ist meine Frau gekommen ... Ich ... Geben Sie Tee ... ich brauche einen Samowar.«
»Nun, wenn die Frau da ist, dann brauchen Sie einen Samowar. Aber den gebe ich Ihnen erst später. Ich habe zwei. Jetzt aber nehmen Sie vom Tisch die Teekanne. Der Tee ist heiß, ganz heiß. Nehmen Sie alles; nehmen Sie den Zucker, den ganzen. Auch Brot. Ich habe viel Brot da; nehmen Sie alles. Auch Kalbfleisch habe ich. Und einen Rubel bar.«
»Gib her, Freund, ich werde es dir morgen zurückgeben! Ach, Kirillow!«
»Ist das dieselbe Frau, die in der Schweiz war? Das ist gut. Und daß Sie so zu mir gelaufen kamen, ist auch gut.«
»Kirillow!« rief Schatow, indem er die Teekanne unter den Arm schob und den Zucker und das Brot in beide Hände nahm. »Kirillow! Wenn Sie ... Wenn Sie sich nur von Ihren schrecklichen Phantasien losmachen wollten und Ihren atheistischen Wahnwitz lassen könnten ... Oh, was wären Sie dann für ein Mensch, Kirillow!«
»Man sieht, daß Sie Ihre Frau nach der Schweiz sehr lieben. Das ist gut, wenn es nach der Schweiz ist. Wenn Sie noch Tee brauchen, so kommen Sie nur wieder. Kommen Sie die ganze Nacht, ich schlafe gar nicht. Den Samowar besorge ich. Nehmen Sie den Rubel. Hier! Gehen Sie zu Ihrer Frau; ich aber werde hierbleiben und an Sie und an Ihre Frau denken.«
Maria Schatowa war offenbar sehr erfreut darüber, daß alles so schnell gegangen war und griff beinah gierig nach dem Tee. Aber den Samowar brauchte Schatow nicht mehr zu holen, denn sie hatte nur eine halbe Tasse getrunken und nur ein ganz winziges Stückchen Brot gegessen. Das Kalbfleisch wies sie gereizt und mit Widerwillen zurück.
»Du bist krank, Marie, das alles ist bei dir so krankhaft ...« bemerkte Schatow schüchtern, indem er sie beinah ängstlich bediente.
»Natürlich bin ich krank. Bitte, setzen Sie sich hin. Wo haben Sie denn den Tee hergenommen? Sie hatten doch gar keinen.«
Schatow erzählte ihr kurz und oberflächlich von Kirillow. Sie hatte schon einiges über ihn gehört.
»Ich weiß, daß er ein Verrückter ist; bitte, hören Sie davon auf; es gibt genug allerlei Narren. Sie sind also in Amerika gewesen? Ich habe davon gehört; Sie haben von dort aus geschrieben.«
»Ja, ich ... ich habe nach Paris geschrieben.«
»Genug, und reden wir bitte von etwas anderem. Sie sind der Überzeugung nach ein Slawophile?«
»Ich ... nicht eigentlich, daß ich ... da es mir unmöglich ist, Russe zu sein, bin ich Slawophile geworden«, versetzte er gezwungen und mit dem schiefen Lächeln eines Menschen, der zur unrechten Zeit und nur mit Mühe einen Witz gemacht hat.
»Sind Sie denn kein Russe?«
»Nun, das sind alles Dummheiten. Setzen Sie sich doch endlich bitte. Warum gehen Sie nur immer hin und her. Sie denken wohl, daß ich im Fieber rede? Vielleicht kommt es noch. Sie sagen, Sie sind nur zu zweien im Hause?«
»Ja, nur zu zweien ... unten ...«
»Und seid ihr beide so kluge Menschen? Was ist unten? Sie haben soeben ›unten‹ gesagt.«
»Nein, nichts.«
»Was nichts? Ich will es wissen.«
»Ich wollte nur sagen, daß jetzt nur wir beide auf dem Grundstück wohnen, während früher unten die Lebiadkins eine Wohnung innehatten ...«
»Das ist die, die man heute Nacht ermordet hat?« fuhr sie plötzlich auf. »Ich habe es gehört. Es wurde mir gleich nach meiner Ankunft erzählt. Ihr habt hier ein Feuer in der Stadt gehabt?«
»Ja, Marie, ja, und ich begehe in diesem Augenblick vielleicht eine schreckliche Gemeinheit, indem ich den Schuften verzeihe ...« rief er, stand plötzlich auf und begann von neuem im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei er wie in einem Anfall von Raserei die Arme in die Höhe hob.
Aber Marie hatte ihn nicht ganz verstanden. Sie hatte nur zerstreut zugehört; sie fragte, hörte aber nicht zu.
»Schöne Dinge kommen hier bei euch vor. Ach, wie ist das alles gemein! Was sind doch die Menschen für Lumpe! So setzen Sie sich doch endlich hin, ich bitte Sie! Oh, wie Sie mich nervös machen!«
Und sie ließ ihren Kopf kraftlos auf das Kissen sinken.
»Marie, ich will nicht wieder ... wäre es nicht besser, wenn du dich hinlegtest, Marie?«
Sie gab keine Antwort und schloß erschöpft die Augen. Ihr blasses Gesicht war wie das einer Toten. Sie schlief fast augenblicklich ein. Schatow sah sich noch einmal im Zimmer um, brachte die Kerze in Ordnung, blickte noch einmal unruhig nach der Schlafenden, preßte die Hände fest an seiner Brust zusammen und ging auf Zehenspitzen auf den Flur hinaus. Oben an der Treppe drückte er sich mit dem Gesicht in eine Ecke und stand so wohl zehn Minuten lang stumm und regungslos da. Er wäre wohl noch länger in dieser Stellung geblieben, aber auf einmal ließen sich unten leise, vorsichtige Schritte vernehmen ... Irgend jemand stieg die Treppe hinauf. Schatow erinnerte sich daran, daß er vergessen hatte, das Pförtchen zuzuschließen.
»Wer ist da?« fragte er flüsternd.
Der unbekannte Besucher stieg weiter hinauf, ohne sich zu beeilen und ohne zu antworten. Als er oben angelangt war, blieb er stehen. Es war in der Dunkelheit ganz unmöglich, ihn zu erkennen. Plötzlich erscholl seine vorsichtige Frage:
»Iwan Schatow?«
Schatow nannte sich, streckte aber sofort den Arm aus, um den Ankömmling zurückzuhalten. Indessen hatte dieser selbst nach seinen Händen gegriffen und – Schatow zuckte zusammen, wie wenn er auf einmal ein abscheuliches Reptil berührt hätte.
»Bleiben Sie hier stehen!« flüsterte er hastig. »Treten Sie nicht ein; ich kann Sie jetzt nicht empfangen. Zu mir ist meine Frau zurückgekehrt. Ich werde die Kerze herausholen.«
Als er mit der Kerze zurückkam, erblickte er vor sich einen ganz jungen Offizier, dessen Namen er nicht kannte. Er erinnerte sich aber, ihn irgendwo einmal bereits gesehen zu haben.
»Erkel«, stellte sich dieser vor. »Wir haben uns schon einmal bei Wirginskij getroffen.«
»Ich entsinne mich. Sie saßen da und schrieben. Hören Sie«, brauste Schatow auf einmal auf, aber immer noch im Flüsterton sprechend, indem er wie rasend auf ihn zutrat. »Sie haben mir soeben, als Sie meine Hände ergriffen haben, ein Zeichen mit der Hand gegeben. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich auf alle Ihre Zeichen pfeife! Ich erkenne keine Verpflichtung an. Ich will nicht ... Ich kann Sie sofort die Treppe hinunterschmeißen, wissen Sie das wohl?«
»Nein, das weiß ich nicht und kann mir überhaupt nicht erklären, weshalb Sie auf einmal so aufgebracht sind«, antwortete der Besucher sanft und fast einfältig. »Ich habe Ihnen nur etwas mitzuteilen und bin nur deshalb hierhergekommen, weil ich vor allen Dingen keine Zeit verlieren wollte. In Ihren Händen befindet sich eine Druckpresse, die nicht Ihnen gehört und über die Sie, wie Sie wohl selbst wissen, Rechenschaft zu geben verpflichtet sind. Es ist mir befohlen worden, diese von Ihnen zu fordern. Und zwar haben Sie alles morgen Punkt sieben Uhr abends an Liputin abzugeben. Außerdem bin ich beauftragt worden, Ihnen mitzuteilen, daß sonst nie wieder etwas von Ihnen verlangt werden wird.«
»Nichts?«
»Gar nichts. Ihrem Gesuch wird stattgegeben, und Sie werden für immer freigelassen. Ich habe den Auftrag, Ihnen das ausdrücklich zu erklären.«
»Wer hat Ihnen das befohlen?«
»Diejenigen, die mir das Zeichen mitgeteilt haben.«
»Kommen Sie aus dem Auslande?«
»Das ... das kann Ihnen doch, glaube ich, gleichgültig sein.«
»Ach, der Teufel auch! Und weshalb sind Sie denn nicht schon früher gekommen, wenn Sie diesen Auftrag erhalten haben?«
»Ich befolgte gewisse Instruktionen und war nicht allein.«
»Ich verstehe, ich verstehe, daß Sie nicht allein waren. Ach ... der Teufel! Und warum ist denn Liputin nicht selbst hergekommen?«
»Ich werde Sie also morgen pünktlich um sechs Uhr abends abholen, und wir können uns dann dorthin zu Fuß begeben. Außer uns dreien wird kein Mensch da sein.«
»Kommt Werchowenskij nicht?«
»Nein, er kommt nicht. Er reist morgen vormittag um elf Uhr von hier weg.«
»Das habe ich mir doch gleich gedacht!« flüsterte Schatow in rasender Wut und schlug sich mit der Faust gegen die Hüfte. »Die Kanaille hat sich aus dem Staube gemacht!«
Er war sehr aufgeregt und schien etwas zu überlegen. Erkel sah ihn aufmerksam an, schwieg und wartete.
»Wie wollen Sie denn die Druckpresse wegschaffen? Die kann man doch nicht so ohne weiteres in die Hände nehmen und wegtragen.«
»Das wird auch gar nicht nötig sein. Sie sollen uns nur die Stelle zeigen, und wir wollen uns vergewissern, daß alles tatsächlich dort vergraben ist. Wir wissen ja nur, in welcher Gegend sich die Stelle befindet, sie selbst aber ist uns unbekannt. Oder haben Sie diese Stelle sonst jemandem gezeigt?«
Schatow sah ihn an.
»Auch Sie, auch Sie, ein solches Bürschchen, – ein so dummes Bürschchen, – auch Sie sind wie ein Hammel mit dem Kopf hineingeraten? Ach, solche frische Säfte brauchen ja diese Leute gerade! Na, gehen Sie schon! Ach, ach! Dieser Schuft hat Sie alle betrogen und ist jetzt geflohen.«
Erkel sah ihn offen und ruhig an, schien aber nicht zu verstehen.
»Werchowenskij ist geflohen, Werchowenskij hat sich aus dem Staube gemacht!« knirschte Schatow wütend mit den Zähnen.
»Aber er ist ja noch hier, er ist ja noch gar nicht abgereist. Er wird ja erst morgen wegfahren«, bemerkte Erkel sanft und überzeugend. »Ich habe ihn besonders eingeladen, als Zeuge zugegen zu sein; an ihn mußte ich mich ja auch meiner ganzen Instruktion zufolge wenden« (wurde er auf einmal als junger unerfahrener Mensch offenherzig). »Aber zu meinem Bedauern konnte er sein Kommen nicht versprechen und führte seine Abreise als Grund an; er scheint es auch wirklich sehr eilig zu haben.«
Schatow sah den einfältigen jungen Menschen noch einmal bedauernd an, machte aber plötzlich eine wegwerfende Handbewegung, wie wenn er dächte: »Er verdient gar kein Mitleid.«
»Gut, ich werde kommen«, brach er plötzlich ab. »Jetzt aber scheren Sie sich von dannen, marsch!«
»Ich werde mich also pünktlich um sechs Uhr einstellen«, erwiderte Erkel, verbeugte sich höflich zum Abschied und stieg ohne Eile die Treppe herunter.
»Dummköpfchen!« schrie ihm Schatow vom oberen Ende der Treppe nach, da er sich des Ausrufs nicht zu enthalten vermochte.
»Wie, bitte?« fragte Erkel von unten.
»Nichts, gehen Sie nur.«
»Ich dachte, Sie hätten etwas gesagt.«
Erkel war ein solches »Dummköpfchen«, dem es nur an dem eigentlichen Hauptverstand, an persönlicher Initiative fehlte; aber der geringeren, untergeordneten, ausführenden Verstandeskräfte besaß er zur Genüge. Selbst an Schlauheit fehlte es ihm nicht. Fanatisch und gerade kindlich der »gemeinsamen Sache« und in Wirklichkeit der Person Piotr Werchowenskijs ergeben, handelte er jetzt nur nach den Anordnungen, die er von ihm bekommen hatte, als bei der geschilderten Sitzung der »Unsrigen« eine Einigung erzielt und die Rollen für den folgenden Tag verteilt und festgesetzt wurden. Als Erkel von Piotr Stepanowitsch die Aufgabe des Abgesandten zugewiesen bekam, fand er noch Zeit, mit ihm zehn Minuten lang unter vier Augen zu sprechen. Die ausführende Tätigkeit war geradezu ein Bedürfnis dieser klein angelegten, wenig überlegenden Natur, die stets danach verlangte, sich einem fremden Willen unterzuordnen, – natürlich nur um der »gemeinsamen« und »großen« Sache willen. Aber auch diese Klausel war völlig bedeutungslos, da die kleinen Fanatiker, wie Erkel, das Dienen der Idee nicht anders begreifen können, als durch ihre Verbindung mit der Person selbst, in der, ihrer Ansicht nach, diese Idee zum Ausdruck kommt. Der sonst gefühlvolle, freundliche und gutherzige Erkel war vielleicht der herzloseste unter den Mördern, die über Schatow herfallen wollten, und war imstande, ohne allen persönlichen Haß und ohne mit der Wimper zu zucken, seiner Ermordung beizuwohnen. Werchowenskij hatte ihm zum Beispiel befohlen, bei der Ausführung seines Auftrages unter anderem auch Schatows gesamte Verhältnisse möglichst genau auszukundschaften. Als aber Schatow ihn oben an der Treppe empfing und in der Erregung, wahrscheinlich ohne es selbst zu bemerken, damit herausplatzte, daß seine Frau zu ihm zurückgekehrt sei, – da hatte Erkels instinktive Schlauheit sehr wohl ausgereicht, um ihn von jeder weiteren Neugiersbekundung abzuhalten, und zwar trotz des in seinem Hirn aufgeblitzten Gedankens, daß die Tatsache der Rückkehr von Schatows Frau für das Gelingen des ganzen Unternehmens die größte Bedeutung habe ...
Und so verhielt sich die Sache auch in der Tat: einzig und allein diese Tatsache rettete die »Schurken« vor Schatows Anzeige, und sie half ihnen gleichzeitig, ihn »loszuwerden« ... Erstens war Schatow jetzt durch die Rückkehr seiner Frau in Unruhe versetzt, aus dem Geleise geworfen und seiner sonstigen Achtsamkeit und Vorsicht beraubt worden. Irgendein Gedanke an seine persönliche Sicherheit konnte jetzt in seinem mit ganz anderen Dingen ausgefüllten Kopfe am allerwenigsten Platz finden. Vielmehr glaubte er unumwunden, daß sich Piotr Werchowenskij am anderen Tage davonmachen würde, denn das stimmte so ganz und gar mit seinen eigenen Mutmaßungen überein! Als er ins Zimmer zurückkehrte, setzte er sich wieder in eine Ecke, stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen. Es waren gar bittere Gedanken, die ihn jetzt quälten ...
Und dann hob er wieder den Kopf, stand auf und näherte sich auf den Zehen dem Bett, um seine Frau zu betrachten. »Mein Gott! Bei ihr wird morgen bestimmt ein heftiges Fieber zum Ausbruch kommen, gleich in der Frühe schon und vielleicht hat es jetzt bereits begonnen! Sie hat sich natürlich erkältet. Sie ist an dieses schreckliche Klima nicht gewöhnt, und dann war noch die Fahrt im Eisenbahnwagen dritter Klasse ... Ringsum Sturm und Regen ... Und sie hat nur so einen dünnen Burnus, gar keine ordentlichen Überkleider ... Da soll ich sie jetzt verlassen, mich, ohne ihr zu helfen, von ihr abwenden? Was für eine winzige, leichte, zusammengeschrumpfte Reisetasche sie hat ... Die wiegt ja kaum mehr als zehn Pfund! Die Arme, wie erschöpft sie ist! Sie muß wohl vieles durchgemacht haben. Sie ist stolz! Daher klagt sie auch nicht. Aber sie ist aufgeregt und sehr reizbar! Das macht die Krankheit: selbst ein Engel wird reizbar, wenn er krank ist. Wie trocken und wie heiß ist wahrscheinlich ihre Stirn, was für dunkle Augenschatten sie hat ... und wie schön ist doch dieses Oval des Gesichts und dieses üppige Haar; wie ...«
Und er wandte die Augen schnell wieder ab, ging hastig zur Seite, als erschräke er schon beim bloßen Gedanken, in ihr etwas anderes zu sehen, als ein unglückliches, zermartertes Wesen, dem er helfen müsse. – »Da darf doch von irgendwelchen Hoffnungen überhaupt nicht die Rede sein! Oh wie niedrig und gemein ist der Mensch!« Und er ging wieder in seine Ecke, setzte sich von neuem hin, verbarg sein Gesicht wie früher in den Händen und ergab sich wieder seinen Träumereien und Erinnerungen ... und abermals begannen vor seinen geistigen Augen Hoffnungen zu flimmern.
»Ach, wie müde ich bin, ach, wie müde ich bin!« hatte sie vorhin gesagt. Nun dachte er an diese Ausrufe zurück und an ihre schwache, versagende Stimme. »Mein Gott! Wie kann ich sie jetzt im Stich lassen!? Sie hat ja nur achtzig Kopeken, sie hat mir ja ihr altes, winziges Geldbeutelchen hingehalten! Sie ist gekommen, um eine Stellung zu suchen, aber was versteht sie denn von Stellungen, was verstehen diese Leute überhaupt von Rußland? Sie sind doch alle wie eigensinnige Kinder, alles ist bei ihnen nichts weiter, als das Ergebnis ihrer eigenen Phantasie! Und dann ärgert sie sich, die Arme, daß Rußland diesen ausländischen Träumereien nicht ähnlich ist! O die schuldlosen, unglücklichen Menschen! ... Aber es ist hier wirklich kalt ...«
Er erinnerte sich daran, daß sie über die Kälte geklagt und er ihr versprochen hatte, den Ofen zu heizen. »Holz habe ich hier, ich könnte es holen. Wenn ich sie dabei nur nicht wecke. Übrigens wird das schon gehen. Und wie soll es mit dem Kalbfleisch werden? Wenn sie aufsteht, wird sie vielleicht Hunger haben ... Nun, das wird sich schon herausstellen; Kirillow schläft ja die ganze Nacht nicht. Womit könnte ich sie zudecken? Sie schläft zwar fest, aber es ist ihr gewiß kalt, ach ja!«
Und er näherte sich noch einmal dem Bett, um sie anzusehen. Ihr Kleid hatte sich ein wenig zurückgeschlagen und nun war das rechte Bein bis zum Knie entblößt. Er wandte sich plötzlich, beinah erschrocken, ab, zog seinen warmen Überzieher aus, so daß er selbst nur im dünnen, alten Röckchen blieb, und bedeckte die entblößte Stelle, wobei er sich Mühe gab, sie nicht anzusehen.
Das Anzünden des Feuers, das Gehen auf den Zehenspitzen, das Betrachten der Schläferin, die Träumereien in der Ecke und dann wieder ein Betrachten der Frau hatten viel Zeit in Anspruch genommen. Es vergingen zwei bis drei Stunden. Gerade während dieser Zeit waren Werchowenskij und Liputin bei Kirillow gewesen. Schließlich schlummerte auch Schatow in seiner Ecke ein. Da fing die Frau auf einmal an zu stöhnen; sie war erwacht und rief ihn; er sprang auf, wie ein ertappter Verbrecher.
»Marie, ich war eingeschlafen ... Ach, was bin ich doch für ein gemeiner Kerl, Marie.«
Sie richtete sich auf, sah sich erstaunt um, wie wenn sie nicht begriffe, wo sie sich befinde, und geriet dann auf einmal in zornige Entrüstung.
»Ich habe Ihr Bett eingenommen und bin eingeschlafen, da ich vor Müdigkeit mich selbst nicht mehr fühlte. Wie haben Sie es nur gewagt, mich nicht aufzuwecken? Wie durften Sie denken, daß ich Ihnen zur Last fallen wollte?«
»Wie konnte ich dich denn wecken, Marie?«
»Sie konnten es, Sie mußten es sogar! Sie haben hier kein anderes Bett, und ich hatte das Ihrige belegt. Sie durften mich nicht in eine falsche Lage bringen. Oder glauben Sie etwa, daß ich hierhergekommen bin, um Ihre Wohltaten zu genießen? Belieben Sie sofort, Ihr Bett zu benutzen, und ich werde mich in einer Ecke auf Stühlen hinlegen ...«
»Marie, ich habe ja gar nicht soviel Stühle, und es ist ja auch überhaupt nichts zum Darauflegen da.«
»Nun, dann lege ich mich einfach auf den Fußboden. Sonst müßten Sie es ja selbst tun. Ich will auf dem Fußboden schlafen, sofort, sofort!«
Sie stand auf, wollte einen Schritt machen, aber plötzlich nahm ihr etwas, wie ein sehr starker, krampfhafter Schmerz alle Kraft und alle Entschlossenheit, so daß sie mit lautem Stöhnen wieder auf das Bett zurücksank. Schatow lief zu ihr, aber Marie hatte ihr Gesicht in das Kissen verborgen, ergriff nun seine Hand und begann sie aus aller Kraft in der ihrigen zu drücken und zu drehen. Das dauerte ungefähr eine volle Minute.
»Marie, Beste, wenn es nötig ist, dann habe ich hier einen Doktor Frenzel, mit dem ich sehr gut bekannt bin ... Ich könnte zu ihm hinüberspringen ...«
»Unsinn!«
»Wieso denn Unsinn? Sag' doch, Marie, was tut dir weh? Sonst wären vielleicht auch heiße Umschläge gut ... auf den Leib ... Das kann ich auch ohne Arzt ... Oder ein Senfpflaster ...«
»Was ist denn das?« richtete sie an ihn auf einmal die sonderbare Frage, indem sie den Kopf in die Höhe hob und ihn ängstlich ansah.
»Was denn, Marie?« fragte Schatow verständnislos. »Wonach fragst du? O Gott, ich verliere gänzlich den Kopf. Verzeih, Marie, daß ich nichts verstehe.«
»Ach hören Sie auf, Sie brauchen es gar nicht zu verstehen. Es würde auch sehr komisch sein ...« fügte sie mit einem bitteren Lächeln hinzu. »Erzählen Sie mir irgend etwas. Gehen Sie im Zimmer auf und ab, und reden Sie! Stehen Sie nicht neben mir, und sehen Sie mich nicht an! Ich bitte Sie darum schon zum fünfhundertstenmal!«
Schatow begann im Zimmer auf und ab zu gehen, starrte auf den Fußboden und bemühte sich aus aller Kraft, sie nicht anzusehen.
»Sei mir nicht böse, Marie, ich bitte dich, aber hier ist Kalbfleisch, und auch Tee kann ich hier ganz in der Nähe bekommen ... Du hast vorhin so wenig genossen ...«
Sie winkte ihm zornig und mit Widerwillen ab. Schatow biß sich in seiner Verzweiflung auf die Zunge.
»Hören Sie, ich beabsichtige hier eine Buchbinderei zu eröffnen und zwar auf einer vernünftigen, genossenschaftlichen Grundlage. Sie wohnen ja hier, wie denken Sie darüber: wird mir das gelingen oder nicht?«
»Ach, Marie, bei uns liest man keine Bücher. Es gibt hier auch gar keine. Und wird er sich denn ein Buch binden lassen?«
»Wer?«
»Nun, der hiesige Leser und überhaupt der hiesige Einwohner, Marie.«
»Dann sprechen Sie doch deutlicher! Sie sagen ›er‹, und wer dieser ›er‹ ist, bleibt unverständlich. Sie haben keine Ahnung von der Grammatik.«
»Das entspricht dem Geiste der Sprache, Marie«, murmelte Schatow.
»Ach, gehen Sie mir bloß mit Ihrem Geiste. Das hängt mir schon zum Halse hinaus. Weshalb wird denn der hiesige Einwohner oder Leser nichts binden lassen?«
»Weil das Lesen eines Buches und das Bindenlassen zwei verschiedene, langdauernde Entwicklungsperioden sind. Anfangs lernt der Mensch allmählich, natürlich im Laufe von Jahrhunderten, ein Buch zu lesen, aber er behandelt es schlecht, läßt es umherliegen, weil er es für ein Ding hält, das nicht allzu ernst zu nehmen ist. Der Einband aber ist schon ein Anzeichen eines gewissen Respektes vor dem Buche und besagt, daß der Mensch nicht nur gern liest, sondern das Lesen auch als etwas Wichtiges und Ernstes erkannt hat. Bis zu dieser Periode ist Rußland noch nicht herangewachsen. In Europa läßt man schon längst die Bücher binden.«
»Das ist zwar pedantisch, aber wenigstens nicht dumm ausgedrückt und erinnert mich an die Zeit vor drei Jahren; Sie waren damals mitunter ziemlich geistreich.«
Das hatte sie ebenso geringschätzig ausgesprochen wie alles, was sie bis dahin an launischen Worten von sich gegeben hatte.
»Marie, Marie«, wandte sich Schatow gerührt zu ihr, »o Marie! Wenn du nur wüßtest, was alles in diesen drei Jahren geschehen und vergangen ist! Ich habe nachher gehört, daß du mich verachtet haben sollst, weil ich meine Anschauungen geändert hatte. Aber was habe ich denn abgestreift und von mir geworfen? Ich habe mich ja nur von Feinden des lebendigen Lebens abgewandt, von veralteten liberalen Menschlein, die vor ihrer eigenen Unabhängigkeit einen Schreck bekommen haben, von Lakaien des Denkens, von Feinden der Persönlichkeit und der Freiheit, von altersschwachen Predigern der Fäulnis und der Verwesung! Was ist bei diesen Leuten zu finden: Greisenhaftigkeit, goldene Mittelstraße, spießbürgerlichste, gemeinste Talentlosigkeit, eine dem Neide entspringende Gleichheit, eine Gleichheit ohne eigenes Verdienst, eine Gleichheit, wie sie von einem Lakaien aufgefaßt wird, oder wie sie die Franzosen von 1793 begriffen ... Und vor allen Dingen: überall Schurken, Schurken und Schurken!«
»Ja, es sind viele Schurken dabei«, erwiderte sie kurz, abgebrochen und in einem von Schmerz erfülltem Tone. Sie lag ganz ausgestreckt, regungslos und so, als fürchtete sie sich vor jeder Bewegung. Den Kopf hatte sie auf das Kissen zurücksinken lassen, und zwar ein wenig seitwärts, und ihre müden, aber heißen Blicke waren zur Decke hinauf gerichtet. Ihr Gesicht war blaß, die Lippen brannten und schienen vertrocknet zu sein.
»Du erkennst es an, Marie, du erkennst es an!« rief Schatow.
Sie wollte eine verneinende Kopfbewegung machen, aber plötzlich wiederholte sich bei ihr der frühere Krampfanfall. Von neuem verbarg sie den Kopf in das Kissen und abermals drückte sie eine ganze Minute lang aus aller Kraft Schatow, der herbeieilte und vor Angst wie sinnlos war, die Hand so stark zusammen, daß es ihn schmerzte.
»Marie, Marie! Aber das ist ja vielleicht etwas sehr Ernstes mit dir, Marie.«
»Schweigen Sie ... Ich will nicht, ich will nicht«, rief sie fast rasend und drehte sich wieder mit dem Gesichte nach oben. »Sie sollen mich nicht so mitleidig anblicken. Gehen Sie im Zimmer auf und ab, reden Sie etwas, reden Sie ...«
Schatow begann wie kopflos wieder etwas zu murmeln.
»Womit beschäftigen Sie sich denn hier?« fragte sie, indem sie ihn in geringschätziger Ungeduld unterbrach.
»Ich gehe zu einem Kaufmann ins Kontor. Wenn mir besonders viel daran liegen würde, so könnte ich hier auch viel mehr Geld verdienen.«
»Um so besser für Sie ...«
»Ach, denke bloß nicht etwas dabei, Marie, ich habe das nur gesagt, ohne jede Absicht ...«
»Was tun Sie noch? Was predigen Sie jetzt? Denn vom Predigen können Sie ja gar nicht lassen, das liegt doch nun einmal in Ihrem Charakter!«
»Ich predige Gott, Marie.«
»An den Sie selbst nicht glauben. Diese Idee konnte ich nie begreifen.«
»Lassen wir das jetzt, Marie, wir können ja nachher darüber sprechen.«
»Was war denn das für eine Maria Timofejewna hier?«
»Auch darüber können wir ein andermal sprechen, Marie.«
»Ich verbitte mir solche Bemerkungen! Ist es wahr, daß dieser Tod auch auf das Konto der Verbrechen ... dieser Menschen gestellt werden kann?«
»Ja, unbedingt«, erwiderte Schatow zähneknirschend.
Marie hob plötzlich den Kopf in die Höhe und rief schmerzerfüllt:
»Wagen Sie es ja nicht wieder, zu mir davon zu sprechen, nie, nie!«
Und sie sank abermals, nun schon zum drittenmal, in einem Anfalle desselben krampfhaften Schmerzes auf das Bett zurück, aber jetzt stöhnte sie lauter und schrie schon beinah.
»O Sie unerträglicher Mensch! O Sie unausstehlicher Mensch!« rief sie. Sie konnte sich gar nicht mehr beherrschen und stieß den sich über sie beugenden Schatow zurück.
»Marie, ich werde tun, was du willst ... Ich werde gehen, sprechen ...«
»Ja, sehen Sie denn gar nicht, daß es begonnen hat?«
»Was hat begonnen, Marie?«
»Wie soll ich es denn wissen! Wie wenn ich etwas davon verstände! ... Oh, verflucht! Oh, ich verfluche alles im voraus! ...«
»Marie, wenn du mir doch bloß sagen wolltest, was eigentlich begonnen hat ... Sonst kann ich ja ... wie soll ich es sonst verstehen?«
»Sie sind ein abstrakter und unnützer Schwätzer. Oh, verflucht sei alles in der Welt!«
»Marie, Marie!«
Er dachte in allem Ernst, sie werde irrsinnig.
»Aber sehen Sie denn wirklich nicht, daß ich Geburtswehen habe«, rief sie, indem sie sich aufrichtete und ihn mit einer furchtbaren, krankhaften Wut anblickte, die ihr ganzes Gesicht verzerrte. »Sei es im voraus verflucht, dieses Kind!«
»Marie«, rief Schatow, als er endlich begriff, um was es sich handelte. »Marie ... aber warum hast du das nicht schon früher gesagt?« fügte er hinzu. Dann faßte er seine Gedanken zusammen und griff mit energischer Entschlossenheit nach seiner Mütze.
»Ja, wußte ich es denn etwa selbst, als ich hierher kam? Wäre ich denn sonst zu Ihnen gekommen? Man sagte mir, ich hätte noch zehn Tage Zeit! Wo wollen Sie denn hin, wo wollen Sie denn hin! Nicht doch!«
»Ich will eine Hebamme holen! Ich werde meinen Revolver verkaufen: jetzt brauchen wir vor allen Dingen Geld!«
»Nicht doch, unterstehen Sie sich nicht, eine Hebamme zu rufen! Holen Sie mir eine einfache Frau, ein einfaches altes Weib will ich haben; ich habe im Portemonnaie achtzig Kopeken ... Die Bauernfrauen gebären doch auch ohne Hebammen ... Und wenn ich krepiere, um so besser ...«
»Auch eine alte Frau werde ich dir holen, auch das. Aber wie kann ich dich denn allein lassen, Marie!«
Da er sich aber sagte, daß es doch besser sei, sie bliebe jetzt allein trotz ihrer Raserei, als daß sie nachher ohne Hilfe niederkäme, so lief er, ohne auf ihr Stöhnen und auf ihre zornigen Ausrufe zu hören, im Vertrauen auf die Schnelligkeit seiner Beine Hals über Kopf die Treppe hinab.
Vor allen Dingen eilte er zu Kirillow. Es war schon gegen ein Uhr nachts! Kirillow stand mitten im Zimmer.
»Kirillow, meine Frau kommt nieder!«
»Das heißt, wie meinen Sie das?«
»Sie gebärt, sie kriegt ein Kind!«
»Ja ... irren Sie sich auch nicht?«
»Ach, nein, nein, sie hat Wehen! ... Ich brauche irgendein Weib, irgendeine alte Frau, aber sofort, unbedingt, gleich jetzt ... Läßt sich jetzt eine beschaffen? Sie hatten doch so viele alte Frauen hier.«
»Es ist sehr schade, daß ich nicht gebären kann«, antwortete Kirillow nachdenklich. »Das heißt, nicht, daß ich nicht gebären kann, sondern daß ich es nicht so einzurichten verstehe, daß ich nicht gebären kann ... oder ... Nein, das verstehe ich nicht zu sagen.«
»Sie meinen, Sie können nicht selbst bei einer Entbindung helfen; aber davon rede ich ja gar nicht; ich brauche eine alte Frau, eine alte Frau, irgendein Weib, eine Krankenwärterin, eine Magd!«
»Eine alte Frau werde ich Ihnen besorgen, nur vielleicht nicht gleich jetzt ... wenn Sie wollen, so kann ich an deren Statt ...«
»Oh, das ist ganz unmöglich; jetzt will ich zur Frau Wirginskaja hingehen, zu der Hebamme.«
»Ein abscheuliches Frauenzimmer!«
»O ja, Kirillow, gewiß, aber sie ist die beste hier! O ja, das wird alles ohne Andacht geschehen, ohne Freude, unter Schimpfreden und Gotteslästerungen – bei einem so großen Mysterium, beim Erscheinen eines neuen Wesens! ... Oh, sie verflucht es jetzt schon! ...«
»Wenn es Ihnen recht ist, so will ich ...«
»Nein, nein, aber während ich herumlaufen werde (oh, ich werde die Wirginskaja schon herbeischleppen!), können Sie von Zeit zu Zeit zu meiner Treppe gehen und leise horchen; aber gehen Sie ja nicht hinein; Sie würden sie nur erschrecken! Unter keinen Umständen dürfen Sie hineingehen! Horchen Sie nur zu ... für jeden Fall verstehen Sie ... Nur wenn das Äußerste eintreten sollte, dann dürfen Sie hineingehen.«
»Ich verstehe. An barem Geld habe ich noch einen Rubel. Hier, nehmen Sie ihn. Ich wollte mir morgen ein Huhn leisten, jetzt will ich es nicht mehr. Laufen Sie schnell, laufen Sie aus Leibeskräften! Den Samowar habe ich die ganze Nacht.«
Kirillow wußte nichts von den Absichten der »Unsrigen« gegen Schatow und hatte auch früher nie etwas von dem Grade der ihm drohenden Gefahr gewußt. Es war ihm nur bekannt, daß Schatow irgendwelche alte Angelegenheiten mit »jenen Leuten« zu erledigen hatte. Obwohl er, Kirillow, selbst in diese Sache gewissermaßen verwickelt war, und zwar durch die ihm vom Ausland her erteilten Instruktionen (die übrigens sehr oberflächlich waren, denn näher hat er an keinem Unternehmen teilgenommen), so hatte er doch in der letzten Zeit alles hingeworfen, keinen Auftrag ausgeführt, sich von allen derartigen Dingen und in erster Linie von der »gemeinsamen Sache« zurückgezogen und sich einem beschaulichem Leben ergeben. Piotr Werchowenskij hatte zwar in der Sitzung Liputin aufgefordert, mit ihm zu Kirillow zu gehen, um sich zu vergewissern, daß dieser im gegebenen Augenblick »die Schatowsche Angelegenheit« auf seine Kappe nehmen werde, ließ aber im Gespräche mit Kirillow kein Wort von Schatow fallen und hatte über die wirkliche Sachlage nicht einmal eine Andeutung gemacht. Wahrscheinlich befleißigte er sich dieser Zurückhaltung, weil er ein anderes Vorgehen für undiplomatisch und Kirillow selbst sogar für unzuverlässig hielt. Er beschloß vielmehr, eine aufklärende Mitteilung auf den folgenden Tag zu verschieben, wo dem vor eine vollendete Tatsache gestellten Kirillow alles bereits »ganz gleichgültig« sein dürfte. So hatte wenigstens Piotr Stepanowitsch infolge seiner Ansicht über Kirillow geurteilt und gehandelt. Auch Liputin war es sehr aufgefallen, daß trotz des Versprechens Schatows mit keiner Silbe Erwähnung getan wurde, aber Liputin war zu aufgeregt, um zu protestieren.
Wie der Wind eilte jetzt Schatow nach der Murawjinaja, indem er die Entfernung verwünschte und darüber fluchte, daß der Weg kein Ende nehmen wollte.
Bei Wirginskijs mußte er lange klopfen: alle schliefen schon längst. Aber Schatow begann ohne Umstände und aus voller Kraft gegen einen Fensterladen zu schlagen. Der Kettenhund auf dem Hofe suchte sich zu befreien und brach in ein wütendes Gebell aus. Die Hunde der ganzen Straße fielen ein; es entstand ein unbeschreibliches Hundegeheul.
»Warum klopfen Sie, und was wollen Sie?« erscholl endlich am Fenster Wirginskijs eigene, sanfte und angesichts der »Beleidigung« gar nicht angebrachte milde Stimme. Dann wurde ein Fensterladen geöffnet und auch die Luftscheibe aufgemacht.
»Wer ist da? Was ist das für ein Schuft?« kreischte grimmig und dem beleidigenden, rücksichtslosen Benehmen Schatows vollkommen entsprechend die Stimme der alten Jungfer, der Verwandten Wirginskijs.
»Ich bin Schatow, zu mir ist meine Frau zurückgekehrt, und sie kriegt ein Kind ...«
»Nun, dann mag sie es kriegen! Scheren Sie sich von dannen!«
»Ich bin gekommen, um Arina Prochorowna zu holen und werde ohne Arina Prochorowna nicht weggehen!«
»Sie kann nicht zu jedem kommen. Nachts ist eine besondere Praxis ... Scheren Sie sich zu der Frau Makschejewa und machen Sie hier nicht so einen Lärm!« ratterte die erboste Weiberstimme. Dann hörte man, wie Wirginskij sie zu beschwichtigen suchte. Aber die alte Jungfer stieß ihn zurück und gab nicht nach.
»Ich gehe nicht fort«, schrie Schatow wieder.
»Warten Sie, warten Sie doch«, erhob nun endlich auch Wirginskij die Stimme, da es ihm schließlich doch noch gelungen war, über die alte Jungfer Oberhand zu gewinnen. »Ich bitte Sie, Schatow, noch fünf Minuten zu warten. Ich werde Arina Prochorowna gleich wecken. Und bitte, klopfen Sie nicht und schreien Sie nicht so ... Oh, wie entsetzlich das alles ist!«
Nach fünf endlosen Minuten erschien Arina Prochorowna.
»Zu Ihnen ist Ihre Frau gekommen?« fragte sie durch die Luftscheibe, und zu Schatows Verwunderung klang ihre Stimme gar nicht böse, sondern nur wie gewöhnlich gebieterisch. Aber in einem andern Tone konnte Arina Prochorowna überhaupt nicht reden.
»Ja, meine Frau. Und sie kommt jetzt nieder.«
»Maria Ignatjewna?«
»Ja, Maria Ignatjewna, natürlich Maria Ignatjewna!«
Es folgte ein Schweigen. Schatow wartete. Im Hause wurde getuschelt.
»Ist sie schon lange hier?« fragte Mme. Wirginskaja wieder.
»Seit heute abend um acht Uhr.«
Es wurde wieder geflüstert, man schien sich im Hause von neuem zu beraten.
»Hören Sie, haben Sie sich nicht geirrt? Hat sie selbst nach mir verlangt?«
»Nein, sie schickte mich nicht zu Ihnen, sie will eine Frau, eine einfache Frau haben, um mir keine Ausgaben aufzubürden. Aber seien Sie unbesorgt, ich werde es bezahlen.«
»Gut, ich komme, mögen Sie bezahlen oder nicht. Ich habe Maria Ignatjewnas unabhängige Gefühle stets zu schätzen gewußt, wiewohl sie sich meiner vielleicht nicht mehr erinnert. Haben Sie wenigstens die notwendigsten Sachen da?«
»Nein, ich habe nichts, aber es wird alles beschafft werden, alles, alles ...«
»Es steckt doch auch in diesen Menschen Edelmut!« dachte Schatow, indem er sich zu Liamschin begab. »Die Überzeugungen und der Mensch selbst sind, scheint es, zwei in mancher Hinsicht sehr verschiedene Dinge. Ich habe ihnen vielleicht in vielen Beziehungen unrecht getan! ... Es ist ein jeder von uns mit einer Schuld beladen, kein einziger ist völlig schuldlos ... und ... wenn sich doch alle davon überzeugen wollten!«
Bei Liamschin brauchte er nicht lange zu klopfen. Zu seiner Verwunderung öffnete der Hausherr sofort die Luftscheibe, nachdem er barfuß und im Nachtzeug aus dem Bette gesprungen war, wobei er, der sonst so sehr auf seine Gesundheit bedacht war, dadurch einen Schnupfen zu bekommen riskierte. Aber diese von ihm bewiesene Eiligkeit und Feinfühligkeit beruhte auf ihren ganz besonderen Gründen: Liamschin hatte nach der Sitzung bei den »Unsrigen« vor Aufregung den ganzen Abend gezittert und auch durchaus nicht einschlafen können. Er fürchtete sich immer vor einem Besuch gewisser ungeladener und sogar sehr unerwünschter Gäste. Die Nachricht von der von Schatow beabsichtigten Denunziation quälte ihn am meisten ... Und da mußte jemand nun gerade jetzt so furchtbar laut an sein Fenster klopfen! ...
Als er Schatow erblickte, überfiel ihn eine derart große Angst, daß er die Luftscheibe sofort wieder zuschlug und, so rasch er konnte, zu seinem Bett zurücklief. Aber Schatow begann wie rasend zu klopfen und zu schreien.
»Wie wagen Sie es nur, hier mitten in der Nacht so einen Lärm zu machen?« rief Liamschin drohend, aber halbtot vor Furcht, nachdem er nach Verlauf von mindestens zwei Minuten sich endlich entschlossen hatte, die Luftscheibe wieder zu öffnen und sich endlich überzeugte, daß Schatow allein gekommen war.
»Hier haben Sie Ihren Revolver, nehmen Sie ihn zurück und geben Sie mir fünfzehn Rubel dafür.«
»Was ist das mit Ihnen, sind Sie betrunken? Das ist ja eine Erpressung; ich werde mich nur erkälten. Warten Sie, ich will mir ein Plaid umlegen.«
»Geben Sie sofort fünfzehn Rubel. Wenn Sie es nicht tun, werde ich die ganze Nacht bis zum Morgen klopfen und schreien; ich werde Ihnen das ganze Fenster zertrümmern.«
»Und ich werde Lärm schlagen, die Wache herbeirufen, und man wird Sie ins Loch stecken.«
»Und ich? Bin ich etwa stumm? Werde ich nicht nach der Wache rufen? Wer hat wohl mehr zu befürchten, ich oder Sie?«
»Und Sie können solche gemeine Überzeugungen haben? ... Ich weiß, worauf Sie anspielen ... Halt, halt, klopfen Sie um Gottes willen nicht! Ich bitte Sie, wer hat denn in der Nacht Geld? Nun, wozu brauchen Sie denn Geld, wenn Sie nicht betrunken sind?«
»Meine Frau ist zu mir zurückgekehrt, ich habe Ihnen schon zehn Rubel nachgelassen, obwohl ich aus der Waffe nicht ein einziges Mal geschossen habe; nehmen Sie den Revolver, nehmen Sie ihn sofort.«
Liamschin streckte mechanisch die Hand aus und nahm die Waffe in Empfang. Ein Weilchen stand er regungslos da, dann streckte er auf einmal schnell den Kopf durch die Luftscheibe hinaus und stammelte, wie wenn er ganz aus dem Häuschen wäre:
»Sie lügen, Ihre Frau ist gar nicht zurückgekehrt ... Sie ... Sie wollen einfach irgendwohin fliehen ...« fügte er hinzu und fühlte, daß ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief.
»Narr! Wohin soll ich denn fliehen? Mag sich Ihr Piotr Werchowenskij aus dem Staube machen, aber nicht ich. Ich war soeben bei der Hebamme Wirginskaja, und sie hat sich sofort bereit erklärt, zu mir zu kommen. Erkundigen Sie sich bei ihr. Meine Frau hat Schmerzen, ich brauche Geld; geben Sie mir Geld!«
Ein ganzes Feuerwerk von Ideen blitzte in Liamschins schlauem Kopfe auf. Alles nahm plötzlich eine andere Wendung an, aber die Angst ließ ihn immer noch nicht zu einer ruhigen Überlegung kommen.
»Aber wie ... Sie leben ja gar nicht mit Ihrer Frau?«
»Ich werde Ihnen für solche Fragen den Schädel einschlagen.«
»Ach, mein Gott, verzeihen Sie, ich verstehe; ich war nur so verblüfft ... Aber ich verstehe, ich verstehe schon. Aber ... aber ... wird denn Arina Prochorowna wirklich zu Ihnen kommen? Sie sagten soeben, daß sie zu Ihnen hingegangen ist? Wissen Sie, das ist doch nicht wahr! Sehen Sie, sehen Sie, sehen Sie, wie Sie auf jedem Schritt und Tritt die Unwahrheit sagen!«
»Sie sitzt jetzt bestimmt schon bei meiner Frau. Halten Sie mich nicht auf. Ich kann nichts dafür, daß Sie so dumm sind ...«
»Es ist nicht wahr, ich bin nicht dumm. Entschuldigen Sie, aber ich kann wirklich nicht ...«
Und er machte nun, fassungslos, wie er war, zum drittenmal die Luftscheibe zu. Schatow erhob jedoch ein solches Geschrei, daß er sofort wieder den Kopf herausstreckte.
»Aber es ist ja ein vollständiges Attentat auf meine Person! Was verlangen Sie denn von mir? Was? Was denn? Formulieren Sie es doch. Und vergessen Sie nicht, vergessen Sie nicht, daß jetzt tiefe Nacht ist!«
»Ich verlange fünfzehn Rubel, Sie Schafskopf.«
»Aber vielleicht will ich den Revolver gar nicht zurücknehmen? Sie haben gar kein Recht ... Sie haben einen Gegenstand gekauft, und damit ist die Sache erledigt, und Sie haben gar kein weiteres Recht ... Ich kann Ihnen eine solche Summe bei Nacht absolut nicht beschaffen. Wo soll ich eine solche Summe herbekommen?«
»Du hast immer Geld. Ich habe dir schon zehn Rubel abgelassen, aber du bist ein bekannter Geizhals.«
»Kommen Sie übermorgen, verstehen Sie, übermorgen vormittag, Punkt zwölf Uhr, und dann will ich Ihnen alles geben, die volle Summe. Ist es Ihnen recht so?«
Schatow begann zum drittenmal wütend gegen den Fensterrahmen zu schlagen:
»Gib mir sofort zehn Rubel und morgen bei Tagesanbruch die restlichen fünf.«
»Nein, übermorgen früh fünf, und morgen werde ich, bei Gott, noch kein Geld haben. Kommen Sie lieber gar nicht, es hat gar keinen Zweck.«
»Her mit den zehn! O du Schuft!«
»Warum schimpfen Sie denn so? Warten Sie, ich muß erst Licht machen; sehen Sie, Sie haben mir eine Scheibe eingeschlagen ... Wer schimpft denn so bei Nacht? Hier!« sagte er und reichte ihm durch das Fenster eine Banknote.
Schatow griff nach dem Gelde, – es war ein Fünfrubelschein.
»Bei Gott, mehr kann ich Ihnen nicht geben, und wenn Sie mich totschlagen. Ich kann nicht! Übermorgen werde ich alles können, und jetzt kann ich gar nichts.«
»Ich rühre mich nicht vom Fleck!« brüllte Schatow.
»Na, dann nehmen Sie schon, hier ist noch etwas, sehen Sie, da ist noch etwas, aber mehr gebe ich nicht. Mögen Sie auch schreien, so laut Sie wollen, ich gebe nicht mehr; mag auch geschehen was will, ich gebe nicht mehr; ich gebe nicht mehr, und ich gebe nicht mehr!«
Er schien ganz außer sich, ganz verzweifelt zu sein. Er schwitzte sogar. Die zwei Banknoten, die er noch herausgereicht hatte, waren Rubelscheine. Im ganzen hatte Schatow also sieben Rubel in der Hand.
»Na, hol' dich der Teufel, ich werde morgen wiederkommen. Ich werde dich arg verprügeln, Liamschin, wenn du die acht Rubel nicht bereit hältst.«
»Ich werde ja gar nicht zu Hause sein, du Dummerjan du!« zuckte es durch Liamschins Kopf.
»Halt, halt!« schrie er wie rasend dem bereits davonlaufenden Schatow nach. »Halten Sie ein, kehren Sie noch einmal zurück! Sagen Sie bitte, ist es wirklich wahr, daß Ihre Frau zu Ihnen zurückgekehrt ist?«
»Dummkopf!« erwiderte Schatow, spuckte aus und lief, so schnell er konnte, nach Hause.
Ich will gleich sagen, daß Arina Prochorowna von den gestern in der Sitzung gefaßten Beschlüssen nichts wußte. Als Wirginskij verstört und angegriffen nach Hause zurückgekehrt war, hatte er es nicht gewagt, ihr von dem Plan zu erzählen. Aber er konnte sich doch nicht enthalten und teilte ihr die Hälfte des Besprochenen mit, nämlich alles das, was Werchowenskij ihnen über Schatows feststehende Absicht, eine Denunziation einzureichen, gesagt hatte. Aber er erklärte seiner Frau zugleich, daß er dieser Nachricht nicht viel Glauben schenke. Arina Prochorowna geriet in furchtbare Angst. Aus diesem Grunde hatte sie sich auch, als Schatow angelaufen kam, um sie zu holen, sofort entschlossen, zu ihm zu gehen, obwohl sie eigentlich sehr müde war, da sie sich die ganze vorhergehende Nacht mit einer anderen Gebärenden abgeplagt hatte. Sie war schon immer davon überzeugt, daß »ein solches elendes Individuum wie Schatow zu jeder staatsbürgerlichen Gemeinheit« fähig sei. Aber die Ankunft Maria Ignatjewnas rückte die ganze Angelegenheit in ein vollkommen neues Licht. Schatows Angst, der verzweifelte Ton seiner Bitten und das Flehen um Hilfe bekundeten einen Umschwung in der Gesinnung des Verräters: ein Mensch, der entschlossen war, sogar sich selbst ans Messer zu liefern, um nur auch andere zugrunde zu richten, so ein Mensch mußte ihrer Ansicht nach einen ganz anderen Ton und eine ganz andere Miene haben als die, die sie jetzt bei Schatow in Wirklichkeit wahrgenommen hatte. Kurz, Arina Prochorowna beschloß, alles mit ihren eigenen Augen anzusehen. Ihre Entschlossenheit erregte die volle Zufriedenheit ihres Mannes, – es war ihm, als sei ihm eine Zentnerlast vom Herzen genommen worden! Es regte sich in ihm sogar eine Hoffnung: Schatows Miene schien ihm der Vermutung Werchowenskijs durchaus nicht zu entsprechen.
Schatow hatte sich nicht geirrt: als er zurückkehrte, fand er Arina Prochorowna bereits bei Marie. Sobald sie angekommen war, hatte sie den unten an der Treppe stehenden Kirillow verächtlich fortgejagt und war auch mit Marie, die sie nicht als eine frühere Bekannte anerkennen wollte, sehr schnell bekannt geworden. Sie fand sie in einer »widerwärtigen Verfassung«, das heißt, ärgerlich, aufgeregt, und »in ganz kleinmütiger Verzweiflung«. Es gelang ihr jedoch in kaum fünf Minuten, alle ihre Entgegnungen siegreich aus dem Felde zu schlagen.
»Warum reden Sie nur in einem fort davon, daß Sie keine teure Hebamme haben wollen?« sagte sie gerade in jenem Augenblick, als Schatow eintrat. »Es ist doch ein vollkommener Unsinn! Sie haben infolge der Abnormität ihrer Lage ganz falsche Gedanken. Mit der Hilfe irgendeiner einfachen alten Frau, irgendeiner Geburtshelferin aus dem Volke haben Sie fünfzig Chancen dafür, daß die Sache schließlich schief geht; und dann werden Sie bestimmt mehr Sorgen und Ausgaben haben, als wenn Sie sich eine teure Hebamme holen. Und woher wissen Sie denn überhaupt, daß ich eine teure Hebamme bin? Sie können mich ja nachher bezahlen, später einmal; ich werde Ihnen schon nicht zuviel abnehmen, und für den Erfolg garantiere ich; bei mir werden Sie nicht sterben, ich habe schon schwierigere Fälle unter den Händen gehabt. Auch das Kind kann ich Ihnen gleich morgen schon in irgendein Asyl bringen, und später auch aufs Land zum Großziehen. Und damit ist dann die Sache erledigt. Dann werden Sie sich wieder erholen, eine vernünftige Arbeit in Angriff nehmen und schon in kürzester Zeit in der Lage sein, Schatow für die Unterkunft zu entschädigen und für die Ausgaben, die übrigens gar nicht so bedeutend sein werden ...«
»Ich meine ja ganz etwas anderes ... Ich habe nicht das Recht, ihm zur Last zu fallen ...«
»Das sind vernünftige und einer Staatsbürgerin würdige Anschauungen. Aber Sie können mir glauben, daß Schatow wirklich so gut wie gar keine Ausgaben haben dürfte, wenn er sich nur aus einem phantastischen Herrn in einen vernünftig denkenden Menschen verwandeln wollte. Es genügt schon, daß er keine Dummheiten begeht, nicht die große Trommel rührt und nicht mit ausgestreckter Zunge atemlos durch die ganze Stadt läuft. Wenn man ihn nicht an den Händen festhält, wird er womöglich bis morgen alle hiesigen Ärzte in Bewegung setzen; hat er doch in meiner Straße schon alle Hunde in Aufregung gebracht. Aber Sie brauchen gar keinen Arzt; ich habe schon gesagt, daß ich jede Verantwortung übernehme. Eine alte Frau zur Bedienung könnte man meinetwegen noch annehmen, aber das kostet kaum etwas. Übrigens kann er sich auch selbst nützlich machen, er braucht ja auch nicht bloß Dummheiten auszuhecken. Er hat Hände und Füße, da kann er nach der Apotheke laufen und damit vermeidet er jede Verletzung Ihrer Gefühle durch eine Wohltat. Wie kann hier, zum Teufel noch einmal, überhaupt von einer Wohltat die Rede sein? Ist es etwa nicht er gewesen, der Sie in diese Lage gebracht hat? Hat er Sie nicht mit jener Familie entzweit, wo Sie als Erzieherin tätig waren, und zwar nur mit der egoistischen Absicht, Sie zu heiraten? Wir haben es ja gehört ... Übrigens ist er selbst vorhin wie ein Wahnsinniger zu mir gerannt gekommen und hat ein Geschrei erhoben, daß man es durch die ganze Straße hören mußte. Ich dränge mich keinem Menschen auf und bin nur Ihretwegen, aus Prinzip, hierhergekommen, weil wir, als Gesinnungsgenossinnen, die Pflicht haben, solidarisch zu sein. Ich habe ihm das erklärt, noch ehe ich das Haus verließ. Wenn ich Ihrer Ansicht nach hier überflüssig bin, dann leben Sie wohl. Ich hoffe nur, daß kein Unglück daraus entsteht, das doch so leicht zu verhüten wäre.«
Und sie stand sogar von ihrem Stuhle auf.
Marie war dermaßen hilflos, sie litt so schwer und hatte, um die Wahrheit zu sagen, eine solche Angst vor dem, was ihr bevorstand, daß sie es schlechterdings nicht wagte, die Hebamme wegzuschicken. Aber diese Frau war ihr auf einmal verhaßt geworden: sie sprach ja ganz überflüssige Dinge, und Maries Seele bedrückte ja ganz etwas anderes! Aber die Prophezeiung von einem möglichen Tode unter den Händen einer unerfahrenen Geburtshelferin trug in ihr den Sieg über den Widerwillen davon. Dagegen wurde sie Schatow gegenüber von diesem Augenblick an noch viel anspruchsvoller und behandelte ihn noch schonungsloser. Es ging schließlich soweit mit ihr, daß sie ihm nicht nur verbot, sie anzusehen, sondern sogar, ihr sein Gesicht zu zeigen. Ihre Schmerzen wurden immer heftiger, und sie fluchte und schalt immer rasender und rasender.
»Ei, da können wir ihn doch einfach hinausschicken«, entschied kurz entschlossen Arina Prochorowna. »Ersieht ja ganz entstellt aus! Er erschreckt Sie ja bloß! Er ist ja leichenblaß geworden! Sagen Sie nur, Sie lächerlicher Wunderling, was geht Sie denn die ganze Sache an? Nein, ist das eine Komödie!«
Schatow antwortete nicht. Er hatte beschlossen, überhaupt keine Antworten zu geben.
»Ich habe schon genug dumme Väter gesehen, die in solchen Fällen wie aus dem Häuschen waren. Aber die haben doch wenigstens ...«
»Hören Sie auf, oder gehen Sie fort, und lassen Sie mich krepieren! Daß Sie mir kein Wort mehr sagen! Ich will es nicht, ich will es nicht!« begann Marie auf einmal zu schreien.
»Kein Wort zu reden ist unmöglich, das müssen Sie doch selbst einsehen, wenn Sie noch nicht den Verstand verloren haben. Doch scheint mir das mit Ihnen jetzt tatsächlich der Fall zu sein. Ich muß doch wenigstens das Sachliche besprechen: sagen Sie mir, haben Sie etwas vorbereitet? Antworten Sie, Schatow, ihr ist jetzt nicht danach zumute.«
»Sagen Sie, was eigentlich erforderlich ist!«
»Mit andern Worten, Sie haben also noch nichts da.«
Sie zählte alles unbedingt Notwendige auf, und man muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie beschränkte sich tatsächlich auf das Allernotwendigste, auf das, was in solchen Fällen selbst Bettler nicht entbehren könnten. Dies und jenes fand sich in Schatows Besitz. Marie gab ihm den Schlüssel zu ihrer Reisetasche, damit er auch dort nachsuche. Da seine Hände zitterten, dauerte bei ihm das Öffnen des ihm unbekannten Schlosses etwas ungebührlich lange. Marie geriet außer sich. Als aber Arina Prochorowna hinzusprang, um ihm den Schlüssel wegzunehmen, da erlaubte sie ihr unter keinen Umständen, einen Blick in die Reisetasche zu werfen und bestand mit einem eigensinnigen Geschrei und mit Weinen darauf, daß nur Schatow sie öffnen sollte.
Einiger Sachen wegen mußte Schatow zu Kirillow hinüberlaufen. Kaum aber machte er sich auf den Weg, als Marie ihn sogleich wütend zurückrief. Und sie beruhigte sich erst dann, als der schleunigst zurückgekehrte Schatow ihr erklärte, daß er nur für einen Augenblick weggehe, um das Allernotwendigste zu holen und daß er sofort wiederkommen werde.
»Na, es ist aber wirklich schwer, Sie zufriedenzustellen, Gnädigste«, bemerkte Arina Prochorowna lachend. »Bald muß er mit dem Gesicht nach der Wand zu stehen und darf es nicht wagen, Sie anzusehen, und bald darf er sich nicht für einen Augenblick entfernen, denn sonst fangen Sie an zu weinen. Wenn Sie sich so verhalten, dann muß er doch schließlich auf gewisse eigentümliche Gedanken kommen. Na, na, seien Sie nicht so eigensinnig, seien Sie nicht so borstig, ich spaße ja nur.«
»Er darf sich überhaupt nichts denken.«
»Ta–ta–ta! Wenn er nicht in Sie verliebt wäre wie ein Bock, so würde er nicht außer Atem im Galopp durch die Straßen laufen und hätte nicht alle Hunde der Stadt in Aufruhr gebracht. Er hat ja bei mir einen Fensterrahmen eingeschlagen.«
Als Schatow zu Kirillow kam, spazierte dieser immer noch in seinem Zimmer auf und ab, war aber dermaßen zerstreut, daß er sogar die Ankunft von Schatows Frau vergessen hatte und diesem jetzt zuhörte, ohne ihn eigentlich zu verstehen.
»Ach ja«, besann er sich auf einmal, wie wenn er sich nur mit Mühe und nur für einen Augenblick aus dem Banne eines fesselnden Gedankens losrisse. »Richtig ... eine alte Frau ... Ihre Frau oder eine Alte? Warten Sie mal: sowohl die eine als auch die andere, nicht wahr? Ich erinnere mich; ich bin hingegangen; die Alte wird kommen, aber nicht gleich. Da, nehmen Sie das Kissen. Noch etwas? Ja ... Warten Sie mal, haben Sie schon mal Minuten ewiger Harmonie erlebt, Schatow?«
»Wissen Sie, Kirillow, Sie dürfen nicht länger Nächte hindurch aufbleiben.«
Kirillow kam nun ganz zu sich und – merkwürdig – begann jetzt auf einmal fließender und zusammenhängender als sonst je zuvor zu sprechen. Man konnte deutlich erkennen, daß er diese Gedanken schon längst formuliert und vielleicht sogar aufgeschrieben hatte.
»Es kommen Sekunden, – und es sind ihrer auf einmal stets fünf oder sechs, – und man fühlt plötzlich die Gegenwart der vollständig erreichten, ewigen Harmonie. Das ist nichts Irdisches; ich will damit nicht sagen, daß es etwas Himmlisches sei, sondern möchte nur darauf hindeuten, daß der Mensch in seiner irdischen Gestalt es nicht zu ertragen vermag. Er muß sich entweder physisch umgestalten oder sterben. Das ist ein klares und unbestreitbares Gefühl. Es ist, wie wenn man plötzlich die ganze Natur empfände und sich selbst zurufe: ›Ja, das ist recht.‹ Als Gott die Welt schuf, da sagte er am Ende eines jeden Schöpfungstages: ›Ja, das ist recht, ja, das ist gut.‹ Das ... das ist nicht etwa Rührung, sondern einfach nur Freude. Man verzeiht nichts, weil es nichts mehr zu verzeihen gibt. Und nicht, daß man eigentlich etwas liebt, o nein, – das ist viel höher als Liebe! Das Furchtbarste ist nur, daß alles so unerträglich klar ist und daß es eine solche Freude gibt. Wenn es länger als fünf Sekunden dauern würde, dann könnte es die Seele nicht mehr aushalten und müßte vergehen. In diesen fünf Sekunden durchlebe ich ein ganzes Leben, und ich würde für sie mein ganzes Leben hingeben, weil sie es wert sind. Um zehn Sekunden dieses Gefühls zu ertragen, muß man sich physisch umgestalten. Ich denke, der Mensch muß aufhören, sich zu vermehren. Wozu noch Kinder, wozu noch eine weitere Entwicklung, wenn das Ziel doch erreicht ist? Im Evangelium heißt es, daß die Menschen in der Auferstehung nicht mehr zeugen und gebären werden, sondern sein werden wie die Engel Gottes. Ein Fingerzeig. Ihre Frau gebiert?«
»Kirillow, kommt das oft über Sie?«
»Alle drei Tage einmal, jede Woche einmal.«
»Leiden Sie nicht an Fallkrämpfen?«
»Nein.«
»Dann kommt es noch. Nehmen Sie sich in acht, Kirillow; ich habe gehört, daß diese Krankheit genau in dieser Weise beginnt. Mir hat ein Epileptiker einmal diese einem Anfall vorhergehenden Empfindungen eingehend geschildert, genau so wie Sie. Auch er gab als Zeitdauer fünf Sekunden an und sagte, daß mehr nicht zu ertragen wären. Denken Sie an Mohammeds Krug, aus dem nicht alles ausfließen konnte, während der Prophet auf seinem Rosse das Paradies durchflog. Der Krug, das sind eben diese fünf Sekunden; alles erinnert schon zu sehr an Ihre Harmonie. Und Mohammed war ein Epileptiker. Nehmen Sie sich in acht, Kirillow, Sie werden noch an der Fallsucht erkranken!«
»Dazu werde ich gar keine Zeit mehr haben«, erwiderte Kirillow mit einem stillen Lächeln.
Die Nacht verging. Schatow wurde fortgeschickt, gescholten, wieder zurückgerufen. Maries Angst um ihr Leben erreichte ihren Höhepunkt. Sie schrie, daß sie »unbedingt, unbedingt!« leben wolle und sich vor dem Tode fürchte. »Ich will es nicht, ich will es nicht!« wiederholte sie wieder und wieder. Wäre Arina Prochorowna nicht dagewesen, so hätte die Sache womöglich einen sehr schlechten Verlauf genommen. Nach und nach aber gewann sie vollständig die Herrschaft über ihre Patientin. Diese hörte nun wie ein kleines Kind auf jedes ihrer Worte und jeden ihrer Rufe. Arina Prochorowna wirkte nicht durch Freundlichkeit, sondern durch Strenge, verrichtete aber dafür ihre Obliegenheiten meisterhaft. Es begann zu tagen. Arina Prochorowna bildete sich plötzlich ein, Schatow wäre soeben auf die Treppe hinausgelaufen, um zu beten, und begann darüber zu lachen. Auch Marie lachte in einer boshaften, spöttischen Art, wie wenn ihr dieses Lachen Erleichterung verschaffte. Schließlich jagten die Frauen Schatow überhaupt aus dem Zimmer hinaus. Draußen brach ein kalter, feuchter Morgen an. Schatow drückte sich, mit dem Gesicht gegen die Wand, in eine Ecke, genau so wie am Vorabend, als Erkel gekommen war. Er zitterte wie Espenlaub, er fürchtete sich förmlich davor, an irgend etwas zu denken, aber sein Geist klammerte sich in Gedanken an alles, was sich ihm darbot, genau so, wie es im Traum zu geschehen pflegt. Fortwährend nahmen ihn Zukunftsträume und Phantasien in ihren Bann und rissen dann sofort wieder wie mürbe Fäden. Aus dem Zimmer erscholl endlich kein Stöhnen mehr, sondern ein furchtbares, rein tierisches Schreien, das unmöglich und gar nicht zu ertragen war. Er wollte sich die Ohren zustopfen, aber er konnte es nicht und fiel auf die Knie, indem er nur wie bewußtlos die Worte »Marie, Marie!« wiederholte. Und da ließ sich auf einmal ein Schrei vernehmen, ein neuer Schrei, der Schatow zusammenfahren und aufspringen ließ, der schwache, abgebrochene Schrei eines neugeborenen Kindes. Er bekreuzte sich und lief ins Zimmer. In den Händen Arina Prochorownas schrie und zappelte mit den winzigen Händchen und Füßchen ein kleines, rotes, runzliges Wesen, das geradezu erschreckend hilflos und wie ein Stäubchen vom ersten besten Windhauch abhängig war, aber doch schrie und von sich Kunde gab, wie wenn es ebenfalls irgendein volles Recht auf das Leben hätte ... Marie lag wie bewußtlos da, aber einen Augenblick später schlug sie die Augen auf und sah Schatow mit einem ganz seltsamen, ganz sonderbaren Blick an. Das war ein ganz neuartiger Blick, und was er bedeutete, vermochte er noch nicht zu begreifen; aber er wußte sicher, daß er einen solchen Blick an ihr früher noch nie kennengelernt hatte.
»Ein Knabe, ein Knabe?« fragte sie Arina Prochorowna mit schwacher Stimme.
»Ja, ein Bengel!« gab diese zur Antwort, während sie das Kind wickelte.
Für den Augenblick, als sie das Bett zurechtmachen mußte, um den Kleinen, den sie bereits eingewickelt hatte, dann zwischen zwei Kissen quer herüberzulegen, gab sie ihn Schatow zum Halten. Marie winkte ihm irgendwie verstohlen, als fürchte sie sich vor Arina Prochorowna, mit dem Kopf. Er verstand sie sofort und trug ihr das Kind zu, um es ihr zu zeigen.
»Wie ... hübsch er ist ...« flüsterte sie mit matter Stimme und lächelte.
»Nein, wie der Mann aussieht!« rief hier die triumphierende Arina Prochorowna, als sie Schatow ins Gesicht blickte, und begann fröhlich zu lachen. »Was macht er nur für ein Gesicht!«
»Freuen Sie sich, Arina Prochorowna ... Das ist eine gewaltige Freude!« ... stammelte mit einer idiotisch glückseligen Miene Schatow, der nach den paar Worten, die Marie über das Kind gesagt hatte, einfach strahlte.
»Wie meinen Sie das denn, mit der gewaltigen Freude?« fragte Arina Prochorowna belustigt, während sie hastig herumhantierte, sich zurechtmachte und wie ein Pferd arbeitete.
»Das Geheimnis des Erscheinens eines neuen Wesens ist ein gewaltiges, unerklärliches Mysterium, Arina Prochorowna, und wie schade ist es, daß Sie dafür kein Verständnis haben!«
Schatow murmelte unzusammenhängend, ganz benommen und begeistert. Es war, wie wenn etwas in seinem Kopfe ins Wogen gekommen wäre und seiner Seele unwillkürlich von selbst entströmte.
»Es waren zwei da und auf einmal ist ein dritter Mensch entstanden, ein ganz neuer, vollendeter, ganzer Geist, wie ihn Menschenhände nicht schaffen können; eine neue Denkkraft und eine neue Liebe ... Man erschrickt geradezu ... Und es gibt nichts Höheres auf der Welt!«
»Hör' bloß einer an, was er da zusammengeschwatzt hat! Es ist einfach die Weiterentwicklung eines Organismus und mehr ist durchaus nicht dabei, gar kein Geheimnis«, sagte Arina Prochorowna mit herzlichem und fröhlichem Lachen. »Auf diese Art wäre ja jede Fliege ein Geheimnis! Aber eins sollte man dabei nicht vergessen: überflüssige Menschen müßten nicht geboren werden. Gestaltet zunächst alles in der Welt so um, damit keiner überflüssig ist, und dann können auch die geboren werden! So wie die Dinge aber stehen, wird man den da zum Beispiel übermorgen schon ins Kinderasyl bringen müssen ... Übrigens ist das auch ganz recht so.«
»Nie soll er von mir ins Kinderasyl kommen!« sagte hier der zu Boden blickende Schatow in festem Ton.
»Sie adoptieren ihn?«
»Er ist ja auch so mein Sohn.«
»Natürlich ist er ein Schatow, dem Gesetz nach ist er ein Schatow, und Sie brauchen sich gar nicht als Wohltäter der Menschheit aufzuspielen. Bei Leuten wie Sie geht es eben nicht ohne Redensarten. Na ja, na ja, schon gut, aber eins will ich Ihnen sagen, meine Herrschaften,« fügte sie nun hinzu, da sie mit ihren Aufräumarbeiten fertig war, »ich muß jetzt gehen. Ich werde im Laufe des Vormittags noch einmal herankommen und abends auch, wenn es nötig sein sollte. Jetzt aber, da alles so glücklich abgelaufen ist, muß ich auch zu anderen gehen. Die warten schon längst. Da sitzt bei Ihnen bereits irgendwo eine alte Frau, Schatow; nun, das ist ja ganz gut, aber Sie sollten auch hier bleiben, lieber Mann; setzen Sie sich neben sie, vielleicht können Sie ihr noch von Nutzen sein. Maria Ignatjewna wird Sie ja wohl nicht wegjagen ... na, na, ich mache ja bloß Spaß ...«
Am Tore, wohin sie Schatow begleitete, fügte sie noch für ihn allein hinzu:
»Sie haben mich so erheitert, daß ich fürs ganze Leben daran genug haben werde. Geld will ich von Ihnen nicht. Selbst im Traum werde ich noch über Sie lachen. Etwas Komischeres als Sie in dieser Nacht habe ich noch nie gesehen.«
Sie ging vollkommen mit sich selbst und mit der Welt zufrieden davon. Aus Schatows Miene und aus seinen Gesprächen entnahm sie klar, daß »dieser Mensch den Vater spielen will und ein Waschlappen ersten Ranges ist«. Um diese Mitteilung sobald wie möglich ihrem Manne zu machen, begab sie sich absichtlich erst nach Hause, obwohl sie zu einer anderen Patientin, die sie besuchen mußte, auf direktem Wege hätte viel eher kommen können.
»Marie, sie hat angeordnet, du möchtest mit dem Schlafen noch eine Weile warten, obwohl es dir, wie ich sehe, furchtbar schwer fällt ...« begann Schatow schüchtern. »Ich werde mich hier ans Fenster setzen und auf dich acht geben, ist dir das recht?«
Und er setzte sich ans Fenster hinter das Sofa, so daß sie ihn nicht sehen konnte. Aber es verging kaum eine Minute, als sie ihn zu sich rief und ihn mürrisch bat, ihr das Kopfkissen zurechtzulegen. Er tat es. Sie blickte ärgerlich nach der Wand.
»Nicht so, ach, nicht so ... Was für Hände Sie haben!«
Schatow legte es noch einmal zurecht.
»Beugen Sie sich zu mir ein wenig herunter«, sagte sie plötzlich mit ganz seltsamer Stimme, indem sie sich nach Möglichkeit bemühte, ihn nicht anzusehen.
Er fuhr zusammen, neigte sich aber zu ihr.
»Noch ... nicht so ... mehr«, und auf einmal schlang sich ihr linker Arm ungestüm um seinen Hals, und er fühlte auf seiner Stirn ihren festen, feuchten Kuß.
»Marie!«
Ihre Lippen bebten, sie suchte sich zu fassen, aber plötzlich richtete sie sich auf und rief mit funkelnden Augen:
»Nikolaj Stawrogin ist ein Schuft!«
Und kraftlos, wie niedergemäht, fiel sie mit dem Gesicht auf das Kissen, begann krampfhaft zu schluchzen und drückte Schatows Hand fest in der ihren.
Von diesem Augenblick an ließ sie ihn nicht mehr von sich. Sie verlangte, daß er neben ihr am Kopfende sitzen sollte. Sprechen konnte sie nur wenig. Aber sie sah ihn immerfort an und lächelte selig. Es war, als wenn sie sich plötzlich in ein kleines, dummes Mädelchen verwandelt hätte. Überhaupt schien alles vollkommen anders geworden zu sein. Schatow weinte bald wie ein kleiner Knabe und redete bald wieder etwas in einer wunderlichen, nebelhaften und begeisterten Art; er küßte ihr die Hände; sie hörte ihm entzückt zu, vielleicht ohne ihn zu verstehen, aber sie spielte mit ihrer matten Hand zärtlich in seinem Haar, streichelte es und betrachtete es mit Wohlbehagen. Er sprach zu ihr von Kirillow und davon, daß sie jetzt »von neuem und für immer« ein neues Leben beginnen würden, und von der Existenz Gottes, und davon, daß alle Menschen gut seien ... In ihrem Entzücken nahmen sie wieder das Kindchen heraus, um es zu betrachten.
»Marie,« rief er, während er das Knäblein auf den Händen hielt, »nun hat für uns der alte Fieberwahn, die Schmach und alles Morsche ein Ende? Laß uns arbeiten und zu dreien einen neuen Weg betreten, ja, ja? ... Ach ja: wie wollen wir ihn denn nennen, Marie?«
»Ihn? Wie wir ihn nennen wollen?« wiederholte sie erstaunt, und plötzlich malte sich auf ihrem Gesicht ein furchtbarer Kummer.
Sie schlug die Hände zusammen, blickte Schatow vorwurfsvoll an, und warf sich dann mit dem Gesicht auf das Kissen.
»Marie, Marie, was ist dir « rief er betrübt und erschrocken.
»Und Sie konnten, Sie konnten ... oh, Undankbarer!«
»Marie, verzeih mir, Marie ... Ich fragte nur, wie wir ihn nennen wollen. Ich weiß nicht ...«
»Iwan soll er heißen, Iwan!« erwiderte sie, indem sie ihr glühendes und mit Tränen benetztes Gesicht in die Höhe hob. »Konnten Sie wirklich denken, daß wir ihm irgendeinen anderen schrecklichen Namen geben würden?«
»Marie, beruhige dich, oh, wie bist du nervös!«
»Daß Sie es meinen Nerven zuschreiben, ist schon wieder eine Grobheit. Ich wette, daß, wenn ich gesagt hätte, wir sollen ihm ... jenen schrecklichen Namen geben, Sie sofort einverstanden gewesen wären und es nicht einmal beachtet hätten! Oh, wie wenig edel, wie gemein ihr alle seid, alle, alle!«
Nach einer Minute hatten sie sich natürlich wieder versöhnt. Schatow drang auf sie ein, sie möchte doch ein wenig schlafen. Sie schlief auch wirklich ein, ließ aber seine Hand immer noch nicht aus der ihrigen, wachte häufig auf, sah ihn an, als fürchte sie, daß er weggehen würde und schlief dann wieder ein.
Kirillow schickte die versprochene alte Frau, »um zu gratulieren« und außerdem noch heißen Tee, frisch gebratene Koteletts und Bouillon mit Weißbrot »für Maria Ignatjewna«. Die Kranke trank gierig die Bouillon. Die Alte legte das Kind trocken. Auf Maries Verlangen aß auch Schatow ein Kotelett.
Die Zeit verging. Schatow schlief erschöpft auf seinem Stuhle ein. Sein Kopf lag auf Maries Kissen. Arina Prochorowna, die Wort hielt und gekommen war, fand die beiden in dieser Lage. Sie weckte sie belustigt auf, besprach mit Marie das Nötige, besah das Kind und befahl Schatow wieder, ja bei der Kranken zu bleiben. Dann machte sie über die »Eheleute« etwas geringschätzig und hochmütig ein paar Witze und ging ebenso zufrieden davon wie bei Tagesanbruch.
Als Schatow zum zweitenmal erwachte, war es schon wieder ganz dunkel. Er zündete schnell die Kerze an und lief aus der Wohnung, um die Alte zu holen. Aber kaum war er auf die Treppe getreten, als er verwundert die leisen, langsamen Schritte eines heraufsteigenden Menschen vernahm. Es war Erkel.
»Ich kann Sie nicht hereinlassen!« flüsterte Schatow, ergriff ihn hastig bei der Hand und zog ihn nach dem Tore zurück. »Warten Sie hier, ich werde gleich herauskommen. Ich habe Sie ganz vergessen. Oh, wie Sie sich wieder in Erinnerung bringen!«
Er beeilte sich so sehr, daß er nicht einmal zu Kirillow heranlief, sondern nur die alte Frau hinausrief. Marie geriet in Verzweiflung und entrüstete sich darüber, daß er »auch nur daran denken konnte, sie jetzt allein zu lassen«.
»Aber«, rief er mit Begeisterung, »das ist dann auch der letzte Schritt, den ich für diese Leute mache! Und dann beginnt ein neuer Weg, und nie, nie werden wir an den alten Schrecken zurückdenken!«
Mit Mühe und Not beruhigte er sie und versprach ihr, Punkt neun wieder zurück zu sein. Dann küßte er sie herzlich, küßte auch das Kind und lief schnell zu Erkel hinunter.
Sie begaben sich nach dem Stawroginschen Park hin in Skworeschniki, wo Schatow vor anderthalb Jahren an einem einsamen Ort, ganz am Rande des Parks, da, wo bereits der Fichtenwald anfing, die ihm anvertraute Druckerei vergraben hatte. Die Gegend war wild und abgelegen. Die Stelle war ganz unbemerkbar und von dem Gutsgebäude ziemlich weit entfernt. Von dem Filippowschen Hause hatten sie etwa drei und eine halbe, vielleicht auch vier Werst zu gehen.
»Wollen wir denn wirklich den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen? Ich werde eine Droschke nehmen.«
»Ich bitte Sie dringend, das zu unterlassen«, erwiderte Erkel. »Die Unsrigen haben das ausdrücklich verlangt. Der Droschkenkutscher würde auch ein Zeuge sein.«
»Na ... der Teufel auch! Es ist ja ganz gleich! Die Hauptsache ist, daß es ein Ende nimmt, daß alles ein Ende nimmt!«
Sie gingen sehr schnell.
»Erkel, Sie lieber Junge!« rief Schatow. »Sind Sie einmal glücklich gewesen?«
»Sie scheinen jetzt sehr glücklich zu sein«, bemerkte Erkel mit lebhaftem Interesse.