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Viertes Kapitel

Der letzte Beschluss

1

An diesem Morgen wurde Piotr Stepanowitsch von vielen Menschen gesehen; diejenigen, die ihm begegnet waren oder ihn gesprochen hatten, wissen zu erzählen, daß er sich in einem außerordentlich aufgeregten Zustande befunden hatte. Um zwei Uhr nachmittags kam er zu Gaganow gelaufen, der erst am Tage zuvor aus seinem Dorf zurückgekehrt war, und in dessen Hause sich gerade eine große Menge von Besuchern zusammengefunden hatte, die viel und eifrig über die soeben stattgefundenen Ereignisse sprachen. Piotr Stepanowitsch redete mehr als alle anderen und zwang sie geradezu, ihm zuzuhören. Er galt bei uns immer für einen »geschwätzigen Studenten mit einem Loch im Kopf«, aber jetzt sprach er über Julia Michajlowna, und bei dem allgemeinen Wirrwarr war das ein spannendes und fesselndes Thema. Als ihr vertrautester Intimus in der letzten Zeit teilte er über sie viele ganz neue und überraschende Einzelheiten mit; ganz ohne jede Absicht (und natürlich nur unvorsichtigerweise) gab er einige ihrer privaten Äußerungen über einige in der Stadt allgemein bekannte Persönlichkeiten wieder, wodurch natürlich mancher sich sofort in seiner Eigenliebe verletzt fühlte. Es kam bei ihm alles recht unklar und verworren heraus, wie bei einem nicht allzu schlauen, aber ehrlichen Menschen, der in die peinliche Notwendigkeit versetzt wurde, mit einemmal einen ganzen Berg von Zweifeln aufzuklären und der in seiner einfältigen Ungeschicklichkeit selbst nicht wußte, womit er anfangen und womit er enden sollte. Ziemlich unvorsichtig entschlüpfte ihm auch die Bemerkung, daß Stawrogins ganzes Geheimnis Julia Michajlowna längst bekannt gewesen sei, und daß sie das ganze Ränkespiel eingefädelt und geleitet habe. So wurde auch er, Piotr Stepanowitsch, von ihr in eine Falle gelockt, da er selbst in diese unglückliche Lisa verliebt gewesen sei, und dabei habe man ihn dermaßen »eingewickelt«, daß er sie beinahe selbst in einem Wagen zu Stawrogin begleitet habe. »Ja, ja, Sie haben gut lachen, meine Herren! Wenn ich nur gewußt hätte, wenn ich nur gewußt hätte, wie die Sache enden wird!« schloß er. Auf verschiedene besorgte Fragen in bezug auf Stawrogin erklärte er unumwunden, daß die Katastrophe mit Lebiadkin seiner Meinung nach ein reiner Zufall sei und den Hauptmann selbst daran die Schuld treffe, weil er Geld gezeigt habe. Das hatte er besonders gut auseinandergesetzt. Einer der Zuhörer erlaubte sich, ihm zu bemerken, daß er sich vergebens so »verstelle«, denn er habe ja bei Julia Michajlowna gegessen und getrunken, ja beinah geschlafen, sei aber jetzt der erste, der sie so anschwärze. Dieses Verhalten, sagte der betreffende Herr, wäre gar nicht so schön, wie er sich das denke. Aber Piotr Stepanowitsch wußte sich sofort zu verteidigen.

»Ich habe dort nicht etwa deshalb gegessen und getrunken, weil ich kein Geld hatte, und kann wahrhaftig nichts dafür, daß man mich immer wieder und wieder einlud. Gestatten Sie, daß ich darüber, das heißt, inwieweit ich dafür dankbar sein muß, meine eigene Meinung habe.«

Der allgemeine Eindruck blieb ein für ihn günstiger. Die Leute dachten: »Mag er auch ein alberner Bursche und gewiß ein Hohlkopf sein; aber was kann er schließlich für Julia Michajlownas Dummheiten? Es stellt sich ja heraus, daß er sie im Gegenteil stets zurückzuhalten gesucht hatte ...«

Gegen zwei Uhr nachmittags verbreitete sich das Gerücht, daß Stawrogin, über den soviel geredet wurde, plötzlich mit dem Mittagszuge nach Petersburg abgereist sei. Das erregte großes Interesse; manche runzelten die Stirn und zogen die Brauen zusammen. Piotr Stepanowitsch war dermaßen überrascht, daß sich sein Gesicht, wie erzählt wird, ganz verzerrte und er den sonderbar anmutenden Ausruf tat: »Aber wer hat ihn denn fortlassen können?« Er lief sogleich von Gaganow fort. Indessen hat man ihn noch in zwei oder drei anderen Häusern gesehen.

Als es zu dämmern begann, fand er die Möglichkeit, auch zu Julia Michajlowna durchzudringen, wenn auch nur mit der größten Mühe, da sie ihn entschieden nicht empfangen wollte. Erst drei Wochen später erfuhr ich von diesem seinem Besuch, und zwar aus ihrem eigenen Mund, kurz bevor sie nach Petersburg abreiste. Sie teilte mir keine Einzelheiten mit, bemerkte aber erschaudernd, daß er sie »über alle Maßen verblüfft« habe. Ich vermute, daß er sie einfach durch die Drohung, sie als Helfershelferin auszugeben, in Angst versetzt hatte, und zwar für den Fall, daß sie auf den Gedanken käme, zu »reden«. Die Notwendigkeit, sie einzuschüchtern, hing eng mit seinen damaligen Absichten zusammen, die ihr selbstverständlich völlig unbekannt waren. Und erst später, erst fünf Tage darauf, erriet sie, warum er so sehr an ihrer Verschwiegenheit gezweifelt und neue Ausbrüche ihrer Entrüstung so sehr befürchtet hatte ...

Gegen acht Uhr abends, als es bereits ganz dunkel geworden war, versammelten sich am Rande der Stadt in der Fominoj-Gasse, in einem kleinen, schief gewordenen Häuschen in der Wohnung des Fähnrichs Erkel die fünf Unsrigen vollzählig. Die Vollsitzung wurde von Piotr Stepanowitsch selbst einberufen. Aber er verspätete sich doch in unverzeihlicher Weise, und die Mitglieder warteten auf ihn bereits seit einer Stunde. Der Fähnrich Erkel war jener von auswärts gekommene junge Offizier, der am Abend bei Wirginskij die ganze Zeit über mit einem Bleistift und einem Notizbuch dagesessen hatte. In der Stadt war er erst vor kurzem aufgetaucht, hatte sich in einer einsamen Sackgasse bei zwei Schwestern, alten Kleinbürgerinnen, eingemietet und mußte bald wieder abreisen. Eine Zusammenkunft bei ihm konnte am wenigsten Aufmerksamkeit erregen. Dieser sonderbare Jüngling zeichnete sich durch ungewöhnliche Schweigsamkeit aus: er konnte zehn Abende hintereinander in lärmender Gesellschaft bei den ungewöhnlichsten Gesprächen dasitzen, ohne selbst auch ein einziges Wort zu sagen. Dagegen verfolgte er außerordentlich aufmerksam mit seinen kindlichen Augen die Redenden und hörte geflissentlich zu. Sein Gesicht war sehr hübsch und sogar gewissermaßen klug. Zu dem Fünferkomitee gehörte er nicht; die Unsrigen nahmen an, daß er von irgendwo bestimmte besondere Aufträge rein exekutiver Art erhalten habe. Jetzt ist es bekannt, daß er gar keine Mission hatte, und es ist kaum anzunehmen, daß er selbst seine Position begriff. Er verehrte nur abgöttisch Piotr Stepanowitsch, den er erst vor kurzem kennengelernt hatte. Wäre er statt dessen mit irgendeinem vorzeitig sittlich verdorbenem Ungeheuer zusammengekommen, und hätte dieses unter irgendeinem sozialromantischen Vorwand angeregt, eine Räuberbande zu bilden und ihm zur Probe anbefohlen, den ersten besten Bauern umzubringen und auszuplündern, so wäre er unfehlbar hingegangen und hätte den Befehl gehorsam ausgeführt. Irgendwo hatte er eine kranke Mutter wohnen, der er die Hälfte seines kärglichen Gehalts schickte, – und wie hatte sie wohl diesen armen Blondkopf geküßt, und wie mochte sie wohl für ihn zittern und für ihn beten! Ich spreche von ihm so ausführlich nur, weil er mir leid tut.

Die Unsrigen waren sehr aufgeregt. Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten sie überrascht, und nun schienen sie in sehr große Angst geraten zu sein. Ein einfacher, wenn auch systematisch organisierter Skandal, an dem sie sich bis dahin so eifrig beteiligt hatten, schloß für sie mit einer ganz unerwarteten Wendung. Der nächtliche Brand, die Ermordung der Lebiadkins, die Gewalttätigkeiten der Menge, der Lisa zum Opfer gefallen war, – das alles waren solche Überraschungen, wie sie sie in ihrem Programm durchaus nicht vorgesehen hatten. Nun beschuldigten sie mit aller Heftigkeit die Hand, die sie bis dahin geleitet hatte, und zwar des Despotismus und der Unaufrichtigkeit. Kurz, während sie auf Piotr Stepanowitsch warteten, hetzten sie sich gegenseitig in eine derartige Stimmung hinein, daß sie abermals beschlossen, von ihm endgültig eine kategorische Erklärung zu fordern. Sollte er aber wieder auszuweichen versuchen, wie er es schon einmal getan hatte, dann wollten sie sogar das Fünferkomitee auflösen, aber nur, um statt seiner eine neue geheime Gesellschaft zur »Propaganda von Ideen« zu gründen, und zwar dann schon auf eigene Faust und auf demokratischer Grundlage der Gleichberechtigung. Liputin, Schigaliow und der Kenner des Volkes unterstützten diesen Gedanken besonders stark; Liamschin verhielt sich schweigend, wenn er auch eine zustimmende Miene machte. Wirginskij schwankte und wünschte zuerst Piotr Stepanowitsch zu hören. Man beschloß, Piotr Stepanowitsch die Gelegenheit zu geben, sich zu äußern, da aber dieser immer noch nicht kam, so wurde durch diese Rücksichtslosigkeit die Erbitterung nur noch gesteigert. Erkel sagte überhaupt nichts dazu und bestellte nur Tee, den er dann von seinen Wirtinnen eigenhändig in Gläsern auf einem Präsentierbrett herbeiholte; den Samowar brachte er nicht herein und ließ auch die Magd nicht ins Zimmer.

Piotr Stepanowitsch erschien erst um halb neun. Mit raschen Schritten näherte er sich dem runden Tisch vor dem Sofa, an dem die Gesellschaft Platz genommen hatte, behielt seine Mütze in der Hand und lehnte den Tee ab. Seine Miene war ärgerlich, streng und hochmütig. Wahrscheinlich hatte er sofort an den Gesichtern gemerkt, daß die Unsrigen »rebellierten«.

»Ehe ich den Mund auftue, sagen Sie bitte das Ihrige; es scheint, daß Sie etwas vorhaben«, bemerkte er mit einem boshaften Lächeln, indem er seinen Blick über die Gesichter schweifen ließ.

Liputin begann »im Namen aller« und erklärte mit einer vor Gekränktsein zitternden Stimme: »Wenn das so weitergehe, könne man sich die eigene Stirn einrennen.« Oh, sie fürchteten sich ganz und gar nicht davor, sich die Stirn einzurennen und waren sogar bereit dazu, aber einzig und allein für die gemeinsame Sache (allgemeine Bewegung und Zustimmung). Deshalb müsse man auch ihnen gegenüber aufrichtiger sein, damit sie immer im voraus unterrichtet seien, »denn was sollte sonst werden?« (Wieder Bewegung; einige Kehllaute.) Ein solches Verfahren wäre für sie alle erniedrigend und außerdem gefährlich ... »Wir sagen das durchaus nicht, weil wir Furcht haben, aber wenn nur ein einziger handelt und alle übrigen nichts weiter als Steine im Brett sind, dann braucht dieser eine nur etwas zu verpfuschen, und schon fliegen alle anderen auf!« (Zurufe: »Ja, ja!« Allgemeine Zustimmung.)

»Ja, Teufel noch einmal, was wollen Sie denn eigentlich?«

»Und welche Beziehung zur gemeinsamen Sache«, fuhr der vor Wut kochende Liputin fort, »haben zum Beispiel die Intrigen des Herrn Stawrogin? Mag er da auch auf irgendeine geheimnisvolle Weise der Zentrale angehören, wenn diese phantastische Zentrale überhaupt existiert, was wir übrigens gar nicht wissen wollen. Inzwischen ist aber ein Mord geschehen, die Polizei ist in Bewegung gesetzt, und man wird schon dem Faden nachgehend auch das Knäuel finden.«

»Sie werden noch mit Ihrem Stawrogin auffliegen, und dann fallen wir ebenfalls herein«, fügte der Kenner des Volkes hinzu.

»Und ganz ohne Nutzen für die gemeinsame Sache«, schloß Wirginskij betrübt.

»Was ist das für ein Unsinn? Der Mord ist ein Zufall. Fedka ist der Täter. Er wollte rauben.«

»Hm! Es ist jedenfalls ein sonderbares Zusammentreffen«, sagte Liputin und krümmte sich förmlich vor Wut.

»Nun, dann will ich Ihnen sagen, daß eigentlich das Ganze nur durch Ihr Verhalten ermöglicht wurde.«

»Wieso denn? Wieso durch unser Verhalten?«

»Erstens haben Sie, Liputin, selbst an dieser Intrige teilgenommen, und zweitens, und das ist die Hauptsache, war Ihnen befohlen worden, Lebiadkin wegzuschaffen, zu welchem Zwecke Sie auch Geld erhalten haben. Was aber haben Sie statt dessen getan? Hätten Sie ihn weggeschafft, dann wäre nichts passiert.«

»Ja, aber haben Sie mir denn nicht selbst die Idee eingegeben, daß es gut wäre, wenn man ihn das Gedicht vorlesen ließe?«

»Eine Idee ist noch kein Befehl. Der Befehl lautete dahin, daß er weggeschafft werden sollte.«

»Befehl? Ein recht sonderbares Wort ... Aber es stimmt nicht, Sie haben im Gegenteil ausdrücklich angeordnet, die Wegschaffung zu verschieben ...«

»Sie irren sich! Und Sie haben eben töricht und eigenwillig gehandelt. Der Mord aber ist Fedkas Tat, und er hat ihn ganz allein begangen, um rauben zu können. Sie hörten nur, daß geläutet wird, und haben dem Gerede geglaubt. Sie haben es mit der Angst bekommen. Stawrogin ist nicht so dumm, und den Beweis dafür können Sie darin erblicken, daß er um zwölf Uhr mittags weggefahren ist, und zwar nach einem Gespräch mit dem Vizegouverneur; wenn etwas gegen ihn vorgelegen haben würde, dann hätte man ihn nicht am hellichten Tage nach Petersburg abreisen lassen.«

»Nun, wir behaupten ja auch gar nicht, daß Herr Stawrogin den Mord selbst begangen hat,« fiel ihm Liputin giftig und ohne sich zu genieren ins Wort, »es ist sogar möglich, daß er genau so wenig davon gewußt hat wie ich; und Ihnen ist sehr wohl bekannt, daß ich nichts davon gewußt habe, obwohl ich wie ein Hammel ebenfalls in den Kochkessel hineingestiegen bin.«

»Wen beschuldigen Sie denn?« fragte Piotr Stepanowitsch mit einem finsteren Blick.

»Nun, eben diejenigen, die es für nötig gehalten haben, die Stadt anzuzünden.«

»Das Schlimmste ist, daß Sie sich herauszureden versuchen. Übrigens wollen Sie dies hier gefälligst lesen und es den anderen zeigen; das ist nur zur Kenntnisnahme.«

Er zog Lebiadkins anonymen Brief an Lembke aus der Tasche hervor und überreichte ihn Liputin. Dieser las ihn durch, war offenbar erstaunt, und gab ihn nachdenklich seinem Nachbarn. Sehr bald hatten alle Einblick in das Schreiben genommen.

»Ist das wirklich Lebiadkins Handschrift?« fragte Schigaliow.

»Ja, bestimmt«, erklärte Liputin und Tolkatschenko (das heißt der Kenner des Volkes).

»Ich gab Ihnen den Brief nur zur Kenntnisnahme, und weil ich sah, wie sehr nahe Ihnen Lebiadkins Schicksal gegangen ist«, wiederholte Piotr Stepanowitsch, als er das Schreiben wieder in Empfang nahm. »Auf diese Weise, meine Herren, befreite uns irgendein Fedka ganz zufällig von einem gefährlichen Menschen. Da sieht man wieder einmal, was mitunter der Zufall vermag! Das ist doch lehrreich, nicht wahr?«

Die Mitglieder wechselten untereinander rasche Blicke.

»Und jetzt, meine Herren, ist die Reihe zu fragen an mir«, versetzte Piotr Stepanowitsch und nahm eine entsprechende Haltung ein. »Gestatten Sie mir die Frage, wie Sie dazu gekommen sind, die Stadt ohne Erlaubnis in Brand zu stecken?«

»Was ist denn das wieder? Wir? Wir sollen die Stadt in Brand gesteckt haben? Nein, das ist schon wirklich allerhand!« erschollen Ausrufe.

»Ich begreife ja, daß Sie schon gar zu übermütig geworden sind,« fuhr Piotr Stepanowitsch hartnäckig fort, »aber so ein Brand ist doch ganz etwas anderes, als die kleinen Skandälchen, die Sie sich mit Julia Michajlowna erlaubt hatten. Ich habe Sie hier versammelt, meine Herren, um Sie über die Größe der Gefahr aufzuklären, die Sie so dummerweise auf sich heraufbeschworen haben und die auch außer Ihnen nur zu Vieles bedroht.«

»Gestatten Sie aber, wir beabsichtigten jetzt im Gegenteil bei Ihnen zu protestieren, und zwar gegen jenen Grad von Despotismus und Ungleichheit, mit dem über die Köpfe der Mitglieder hinweg eine so ernste und zugleich sonderbare Maßregel ergriffen worden ist«, erklärte fast empört der bis dahin so schweigsame Wirginskij.

»Nun, Sie leugnen es also? Und ich behaupte, daß Sie allein die Stadt angezündet haben, Sie alle und sonst niemand. Meine Herren, versuchen Sie mich nicht hinters Licht zu führen, denn ich habe zuverlässige Nachrichten. Durch Ihre Eigenmächtigkeit haben Sie sogar über die gemeinsame Sache eine Gefahr heraufbeschworen. Sie bilden ja nur einen kleinen Knoten in einem gewaltigen Netze und sind der Zentrale gegenüber zu blindem Gehorsam verpflichtet. Indessen haben drei von Ihnen Schpigulinsche Arbeiter zur Brandstiftung aufgereizt, ohne dazu die geringste Anweisung erhalten zu haben. Und der Brand ist auch zustande gekommen.«

»Welche drei? Welche drei von uns?«

»Vorgestern, gegen vier Uhr nachts, haben Sie, Tolkatschenko, Fomka Sawjalow im ›Vergißmeinnicht‹ zu einem solchen Vorgehen zu verleiten versucht.«

»Aber ich bitte Sie,« rief dieser aufspringend, »ich habe kaum ein Wort zu ihm gesagt, und auch das ohne besondere Absicht, sondern nur so, weil er am Morgen durchgepeitscht worden war. Und ich habe überdies sofort zu sprechen aufgehört, da ich sah, daß der Mann zu sehr betrunken war. Wenn Sie mich jetzt nicht daran erinnert hätten, so würde ich es vollständig vergessen haben. Von einem Worte konnte übrigens kein Brand entstehen.«

»Sie gleichen jetzt jenem Menschen, der sich darüber wunderte, daß von einem einzigen winzigen Fünkchen eine ganze Pulverfabrik in die Luft geflogen war.«

»Ich sprach ja nur flüsternd und ihm ins Ohr; wir saßen in einer Ecke; wie konnten Sie es denn erfahren haben?« fragte auf einmal Tolkatschenko, dem plötzlich das Merkwürdige an der Sache aufgefallen war.

»Ich habe dort unter dem Tisch gesessen. Seien Sie unbesorgt, meine Herren, ich kenne alle Ihre Schritte. Sie lächeln spöttisch, Herr Liputin? Ich weiß aber zum Beispiel, daß Sie vorvorgestern um Mitternacht in Ihrem Schlafzimmer, als sie schlafen gingen, Ihre Frau arg gekniffen haben.«

Liputin sperrte den Mund auf und erblaßte.

(Später erfuhr ich, daß er von dieser Heldentat Liputins durch dessen Dienstmädchen Agafja Kenntnis erhalten hatte, da er ihr gleich vom Anfang an Geld für Spionendienste zahlte. Aber das hat sich erst in der Folge aufgeklärt.)

»Darf ich eine Tatsache feststellen?« fragte plötzlich Schigaliow und erhob sich von seinem Platz.

»Bitte.«

Schigaliow setzte sich wieder und nahm sich zusammen.

»Soviel ich verstanden habe, und es war ja auch gar nicht mißzuverstehen, haben Sie selbst, erstens schon gleich am Anfang und dann noch einmal sehr beredt, wenn auch etwas zu theoretisch, ein Bild von Rußland entworfen, das mit einem unermeßlichen Netze von Knoten wie der unserige bedeckt sei. Ihrerseits habe jede der tätigen Gruppen die Aufgabe, indem sie Proselyten macht und auf der Basis seitlicher Verzweigungen eine stets wachsende Ausdehnung gewinnt, durch eine systematische, aufklärende Propaganda ununterbrochen das Ansehen der örtlichen Behörden zu erschüttern. Dann ist jede Gruppe verpflichtet, in den Ortschaften Verwunderung zu erregen, den Keim des Zynismus auszustreuen, Skandale zu machen und in der Bevölkerung um jeden Preis völliges Mißtrauen gegen das Bestehende und Begierde nach etwas Besserem hervorzurufen. Und schließlich hat jede Gruppe die Aufgabe, durch das Operieren mit Brandstiftungen als einem der hauptsächlichsten Volksmittel im gegebenen Moment das Land nötigenfalls sogar in Verzweiflung zu stürzen. Diese Worte, die ich mich bemüht habe, buchstäblich im Gedächtnis zu behalten, stammen sie von Ihnen oder nicht? Ist das Ihr Aktionsprogramm, das Sie uns mitgeteilt haben, und zwar in Ihrer Eigenschaft als Bevollmächtigter des zentralen, uns jedoch bisher völlig unbekannten und für uns beinah phantastischen Komitees? Oder ist es nicht Ihr Programm?«

»Es stimmt schon, aber Sie ziehen die Sache zu sehr in die Breite.«

»Ein jeder hat das Recht, so zu sprechen, wie er gerade kann. Indem Sie uns erraten ließen, daß von einzelnen Gruppen des allgemeinen Netzes, das schon ganz Rußland bedecke, zur Zeit einige Hundert beständen, und indem Sie die Vermutung äußerten, daß, wenn jeder seine Sache erfolgreich ausführe, ganz Rußland im gegebenen Augenblick auf ein Signal hin ...«

»Ach, hol's der Teufel, ich habe auch ohne Sie genug zu tun!« rief Piotr Stepanowitsch, indem er sich auf seinem Stuhle ungeduldig hin und her drehte.

»Bitte schön, dann will ich mich kurz fassen und schließe mit einer Frage: wir haben hier bereits Skandale erlebt, sahen auch die Unzufriedenheit der Einwohnerschaft; wir sind bei dem Zusammenbruch der hiesigen Verwaltungsbehörde zugegen gewesen und haben an ihrer Erledigung teilgenommen, und schließlich haben wir auch mit eigenen Augen die Feuersbrunst gesehen. Womit sind Sie denn unzufrieden? Ist das nicht Ihr Programm? Welchen Vergehens wollen Sie uns denn beschuldigen?«

»Der Eigenmächtigkeit!« schrie Piotr Stepanowitsch wütend. »Solange ich hier bin, durften Sie nicht ohne meine Erlaubnis handeln. Genug. Eine Denunziation ist bereits fertiggestellt, und vielleicht werden Sie morgen oder sogar heute Nacht schon alle festgenommen. Nun wissen Sie es! Die Nachricht ist ganz zuverlässig.«

Hier sperrten alle den Mund auf.

»Man wird Sie nicht nur als Aufhetzer zur Brandstiftung, sondern auch als Mitglieder des Fünferkomitees verhaften. Dem Denunzianten ist das ganze Geheimnis des Netzes bekannt. Nun sehen Sie selbst, was Sie mit Ihren Eigenmächtigkeiten angerichtet haben.«

»Sicherlich ist es Stawrogin!« rief Liputin.

»Wie ... Warum denn Stawrogin?« erwiderte Piotr Stepanowitsch, der gleichsam stockte. »Ach, Teufel auch!« fuhr er, sich sogleich besinnend wieder fort. »Unsinn! Es ist Schatow! Es ist Ihnen doch jetzt wohl allen bekannt, daß Schatow seinerzeit dem Bunde angehört hatte. Ich muß Ihnen die Enthüllung machen, daß ich ihn durch Personen, gegen die er gar keinen Verdacht hat, beobachten ließ und zu meinem Erstaunen erfahren habe, daß für ihn auch die Einrichtung des Netzes, und ... überhaupt alles kein Geheimnis mehr ist. Und um sich von der Anklage wegen früherer Beteiligung freizumachen, wird er alle denunzieren. Bisher hat er immer noch geschwankt, und ich habe ihn geschont. Jetzt haben Sie ihn durch diese Feuersbrunst entfesselt, er ist erschüttert und schwankt nicht mehr. Schon morgen werden wir alle verhaftet werden, und zwar als Brandstifter und politische Verbrecher.«

»Ist es auch wahr? Woher weiß es Schatow?«

Es entstand eine unbeschreibliche Aufregung.

»Alles, was ich sage, ist vollkommen richtig. Ich habe nicht das Recht, Ihnen zu eröffnen, welche Wege ich beschritten und wie ich das alles entdeckt habe. Aber eins kann ich für Sie vorläufig noch tun: ich kann durch eine bestimmte Person auf Schatow so einwirken, daß er, ohne etwas zu ahnen, die Denunziation noch einmal aufschiebt, aber nicht länger als für vierundzwanzig Stunden. Mehr vermag ich auch nicht zu erreichen. Somit können Sie sich bis übermorgen noch als sicher betrachten.«

Alle schwiegen.

»Da müßte man ihn doch schließlich zum Teufel schicken!« rief Tolkatschenko als erster.

»Das hätte man schon längst tun müssen!« fiel Liamschin wütend ein und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Aber wie soll man denn das machen?« murmelte Liputin.

Piotr Stepanowitsch griff diese Frage sofort auf und legte seinen Plan dar. Dieser bestand darin, Schatow zwecks Übergabe der in seinen Händen befindlichen heimlichen Druckerei morgen bei Einbruch der Nacht an den einsamen Ort zu locken, wo er sie vergraben hatte und »dort dann nach Maßgabe zu verfügen«. Er ging auf viele notwendige Einzelheiten ein, die wir jetzt weglassen, und erläuterte umständlich die gegenwärtigen zweideutigen Beziehungen Schatows zum Zentralkomitee, die dem Leser bereits bekannt sind.

»Das stimmt schon alles,« bemerkte Liputin unsicher, »da aber auf diese Weise wieder ... eine neue Begebenheit von derselben Art stattfindet ... so wird es die Leute gar zu stutzig machen.«

»Zweifelsohne«, stimmte ihm Piotr Stepanowitsch bei. »Aber auch das ist vorgesehen. Es gibt ein Mittel, den Verdacht völlig von uns abzulenken.«

Und er erzählte mit derselben Genauigkeit von Kirillow, von seiner Absicht, sich zu erschießen und davon, daß er versprochen habe, auf das Signal zu warten und vor seinem Tode ein Schriftstück bereitzustellen, einen letzten Brief, in dem er alles auf sich nehmen wollte, was man ihm diktieren würde. (Kurz, Dinge, die dem Leser bereits bekannt sind.)

»Sein fester Entschluß, die Hand an sich zu legen, der ihm philosophisch erscheint und meiner Ansicht nach verrückt ist, ist dort bekanntgeworden«, fuhr Piotr Stepanowitsch mit seiner Auseinandersetzung fort. »Nun wird aber dort auch nicht das Kleinste, auch nicht ein Härchen, auch nicht ein Stäubchen unbenutzt gelassen; alles verwendet man dort zum Nutzen der gemeinsamen Sache. Da man auch hierbei den Vorteil vorhersah und sich überzeugt hatte, daß Kirillows Entschluß durchaus ernst sei, so hat man ihm die Mittel zur Rückreise nach Rußland angeboten (aus irgendeinem Grunde wollte er unbedingt in Rußland sterben) und ihm einen Auftrag erteilt, den er sich auszuführen verpflichtet und auch tatsächlich ausgeführt hat. Überdies aber hat man ihm das Ihnen bereits mitgeteilte Versprechen abgenommen, den Selbstmord erst dann zu begehen, wenn man es ihm sagen würde. Er hat zu allem seine Zusage gegeben. Ich bitte Sie zu beachten, daß er bei unserer gemeinsamen Sache auf besonderer Grundlage mithilft und tatsächlich nützlich zu sein wünscht; mehr darf ich Ihnen darüber nicht sagen. Morgen, nach Schatow, werde ich ihm ein Schriftstück diktieren, aus dem hervorgehen wird, daß er an Schatows Tode schuld ist. Das dürfte sehr glaublich erscheinen: sie waren befreundet und sind seinerzeit zusammen nach Amerika gereist; dort haben sie sich entzweit, und das alles wird in diesem Brief dargelegt werden ... und ... und je nach den Umständen wird es mir vielleicht möglich sein, Kirillow sogar noch mehr zu diktieren, so zum Beispiel von den Flugblättern und womöglich zum Teil auch etwas über die Brandstiftung. Das muß ich mir übrigens noch überlegen. Seien Sie unbesorgt, er ist frei von Vorurteilen und wird alles unterschreiben.«

Nun wurden Zweifel laut. Die Schilderung Piotr Stepanowitschs erschien sehr phantastisch. Über Kirillow hatten übrigens alle bereits mehr oder weniger gehört, und Liputin sogar am meisten.

»Wie aber, wenn er auf einmal anderen Sinnes wird?« fragte Schigaliow. »So oder so, aber er ist doch immerhin ein Verrückter und infolgedessen ist die Hoffnung auf ihn recht unsicher.«

»Seien Sie unbesorgt, meine Herren, er wird schon wollen«, schnitt ihm Piotr Stepanowitsch das Wort ab. »Nach der Verabredung bin ich verpflichtet, ihn schon tags zuvor zu benachrichtigen. Also werde ich es heute noch tun müssen. Ich schlage vor, daß Liputin sofort mit mir zu ihm geht und sich überzeugt. Dann kann er zurückkommen und Ihnen, meine Herren, nötigenfalls heute noch mitteilen, ob ich die Wahrheit gesagt habe oder nicht. Übrigens,« unterbrach er sich auf einmal in überheblich gereiztem Tone, wie wenn er plötzlich auf den Gedanken gekommen wäre, daß er den Leutchen zuviel Ehre antue, indem er sie so sehr zu überzeugen versuchte und sich mit ihnen dermaßen abmühte, »übrigens können Sie tun und lassen, was Ihnen beliebt. Wenn Sie sich nicht dazu entschließen wollen, dann ist der Bund aufgelöst, aber lediglich infolge Ihres Ungehorsams und Ihres Verrats. Dann sind wir von diesem Augenblick an geschiedene Leute. Vergessen Sie aber nicht, daß Sie in diesem Falle außer den Unannehmlichkeiten der Schatowschen Denunziation und ihrer Folgen sich auch noch eine andere kleine Unannehmlichkeit zuziehen werden, von der wir schon bei der Gründung des Bundes klar und deutlich gesprochen haben. Was mich betrifft, so fürchte ich mich nicht allzusehr vor Ihnen, meine Herren ... Glauben Sie ja nicht, daß ich so fest mit Ihnen verbunden bin ... Übrigens ist das schließlich ganz gleichgültig.«

»Nein, wir sind entschlossen«, erklärte Liamschin.

»Einen anderen Ausweg gibt es nicht,« murmelte Tolkatschenko, »und wenn Liputin nur wirklich das von Kirillow bestätigt, dann ...«

»Ich bin dagegen! Aus aller Kraft meiner Seele protestiere ich gegen einen solchen blutigen Beschluß!« rief Wirginskij und erhob sich von seinem Platz.

»Aber?« fragte Piotr Stepanowitsch.

»Was – ›aber‹?«

»Sie haben ›aber‹ gesagt ... Und nun warte ich.«

»Ich habe, scheint es mir, nicht ›aber‹ gesagt ... Ich wollte nur erklären, daß, wenn ein solcher Beschluß gefaßt wird, dann ...«

»Nun, weiter? Was dann?«

Wirginskij verstummte.

»Ich bin der Ansicht, daß man sich über die Sicherheit des eigenen Lebens im allgemeinen wohl hinwegsetzen darf«, sagte Erkel, der auf einmal den Mund auftat. »Wenn aber die gemeinsame Sache dadurch geschädigt werden kann, so darf man, meine ich, nicht wagen, sich über die Sicherheit des eigenen Lebens hinwegzusetzen ...«

Er stockte und errötete. Wie sehr alle auch mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt waren, so sahen sie ihn doch erstaunt an, so sehr unerwartet kam es ihnen, daß auch er mitreden konnte.

»Ich bin für die gemeinsame Sache«, erklärte plötzlich Wirginskij.

Alle erhoben sich von ihren Plätzen. Es wurde beschlossen, morgen um die Mittagszeit, wenn auch nicht wieder zusammenzukommen, so doch noch einmal Nachrichten auszutauschen, und dann eine endgültige Verabredung zu treffen. Es wurde der Ort angegeben, an dem die Druckerei eingegraben war, und man verteilte die Rollen und Pflichten. Liputin und Piotr Stepanowitsch begaben sich unverzüglich zu Kirillow.

2

Daß Schatow denunzieren wollte, glaubten alle Unsrigen felsenfest, aber ebenso unerschütterlich waren sie auch davon überzeugt, daß Piotr Stepanowitsch mit ihnen wie mit Bauern im Schach spielte. Und dennoch wußten alle, daß sie morgen trotz alledem vollzählig am bezeichneten Platz erscheinen würden und daß Schatows Schicksal besiegelt sei. Sie fühlten, daß sie plötzlich wie Fliegen in das Netz einer riesigen Spinne hineingeraten waren; sie ärgerten sich, zitterten aber vor Furcht.

Piotr Stepanowitsch hatte sich ihnen gegenüber unzweifelhaft mit einer Schuld beladen; alles würde einen viel glatteren und leichteren Verlauf genommen haben, wenn er sich nur ein bißchen Mühe gegeben hätte, die Wirklichkeit in ein schöneres Licht zu rücken. Statt ihnen die Tatsache in einer anständigen Weise auszuschmücken und sie so darzustellen, als sei sie das notwendige Ergebnis einer hohen, römisch-staatsbürgerlichen Gesinnung oder etwas Ähnliches, hatte er nur die rohe Furcht und die Bedrohung ihrer eigenen Haut in den Vordergrund gerückt, was natürlich schon einfach unhöflich war. Selbstredend lag in allen Dingen der Kampf ums Dasein, und ein anderes Prinzip gab es in der Welt überhaupt nicht, das war ihnen allen bekannt; immerhin aber ...

Piotr Stepanowitsch hatte jedoch keine Zeit, die Römer in Bewegung zu setzen; er war selbst aus dem Geleise geworfen. Die Flucht Stawrogins hatte ihn überrascht und niedergedrückt. Er hatte gelogen, als er sagte, daß Stawrogin mit dem Vizegouverneur eine Unterredung gehabt habe. Das machte ihn ja gerade stutzig, da Nikolaj Wsewolodowitsch weggefahren war, ohne überhaupt mit jemand, ja ohne sogar mit seiner Mutter geredet zu haben, – und es war in der Tat seltsam, daß man ihn so ganz unbehelligt gelassen hatte. (Später mußte sich unsere Behörde in bezug auf diesen Punkt besonders verantworten.) Piotr Stepanowitsch erkundigte sich nach ihm den ganzen Tag über, hatte aber bis jetzt noch nichts erfahren und war so unruhig, wie noch nie bisher. Und konnte er denn wirklich, konnte er denn so plötzlich auf Stawrogin verzichten? Das ist es, weshalb er auch nicht imstande war, mit den Unsrigen allzu zart zu verfahren. Zudem fühlte er sich durch sie gebunden: er hatte sich schon entschlossen gehabt, unverzüglich Stawrogin nachzueilen; und nun hielt ihn die Sache mit Schatow zurück, und er mußte noch das Fünferkomitee fest und endgültig zusammenschweißen, für alle Fälle. »Ich kann doch die Gruppe nicht so ohne weiteres hinwerfen, am Ende kann sie mir doch noch einmal zunutze kommen.« So, glaube ich, wird er wohl gedacht haben.

Was nun Schatow anbetraf, so war Piotr Stepanowitsch völlig davon überzeugt, daß dieser den Bund denunzieren würde. Was er den Unsrigen über die vorhandene Denunziation gesagt hatte, war allerdings erlogen: nie hatte er etwas Derartiges zu sehen oder zu hören bekommen. Aber er war von dieser Denunziation ebenso fest überzeugt, wie davon, daß zweimal zwei vier ist. Es schien ihm nämlich, daß Schatow die augenblickliche Lage, die durch Lisas Tod und durch die Ermordung Maria Timofejewnas geschaffen war, nicht zu ertragen imstande sein würde und gerade jetzt sich endgültig entschließen könnte, eine Denunziation einzureichen. Wer weiß, vielleicht hatte er auch irgendeinen Anlaß, das zu vermuten. Bekannt ist auch, daß er Schatow persönlich haßte; die beiden waren einmal in einen heftigen Streit geraten, und Piotr Stepanowitsch konnte eine Beleidigung niemals verzeihen. Meine persönliche Meinung geht sogar dahin, daß gerade dies für ihn die Hauptursache war.

Die Bürgersteige in unserer Stadt sind schmal und aus Ziegelsteinen gemacht. Es gibt aber auch solche, die einfach aus Brettern bestehen. Piotr Stepanowitsch ging in der Mitte des Bürgersteigs, so daß er ihn ganz einnahm, und achtete nicht im geringsten auf Liputin, der neben ihm nicht gehen konnte und genötigt war, entweder einen Schritt hinter ihm herzulaufen oder, wenn er des Gespräches wegen neben ihm sein wollte, auf die Straße in den Schmutz hinauszutreten. Piotr Stepanowitsch erinnerte sich plötzlich daran, daß er vor ganz kurzer Zeit genau so durch den Schmutz laufen mußte, um mit Stawrogin Schritt halten zu können, als dieser, genau so wie er jetzt, in der Mitte des Bürgersteigs ging und für ihn keinen Platz ließ. Er dachte an diese ganze Szene zurück, und eine rasende Wut benahm ihm den Atem.

Aber auch Liputin preßte die Wut über die Beleidigung die Kehle zusammen. Mochte Piotr Stepanowitsch mit den anderen Unsrigen umgehen, wie es ihm beliebte, aber mit ihm? Er wußte doch bei weitem mehr als die anderen, stand der gemeinsamen Sache bedeutend näher, war viel intimer eingeweiht und hatte bisher, wenn auch nur indirekt, so doch ununterbrochen an allem teilgenommen. Oh, er wußte, daß Piotr Stepanowitsch ihn selbst jetzt im äußersten Falle zugrunde richten konnte. Aber er haßte Piotr Stepanowitsch schon seit langem, und zwar nicht wegen dieser Gefahr, sondern wegen seines hochmütigen Benehmens. Jetzt, wo es notwendig war, sich zu einer solchen Sache zu entschließen, ärgerte er sich mehr, als alle Unsrigen zusammengenommen. Ach, er wußte, daß er morgen unbedingt »wie ein Sklave« als erster an Ort und Stelle sein und auch noch alle übrigen hinbringen würde. Und wenn er heute noch in der Lage wäre, Piotr Stepanowitsch auf irgendwelche Weise zu töten, ohne sich selbst ins Verderben zu stürzen, so hätte er es selbstverständlich ohne weiteres getan.

In seine Empfindungen vertieft, schwieg er und trippelte hinter seinem Peiniger her. Dieser schien ihn gänzlich vergessen zu haben; nur ab und zu stieß er ihn unachtsam und unhöflich mit dem Ellbogen an. Plötzlich blieb Piotr Stepanowitsch in einer unserer ansehnlichsten Straßen stehen und ging in eine Speisewirtschaft hinein.

»Wo wollen Sie denn hin?« brauste Liputin auf. »Das ist doch ein Restaurant.«

»Ich will ein Beefsteak essen.«

»Aber ich bitte Sie, das Lokal ist ja immer vollgepfropft von Menschen.«

»Was ist denn dabei?«

»Aber ... wir werden zu spät kommen. Es ist schon zehn Uhr.«

»Da kommt man nie zu spät.«

»Aber ich werde mich verspäten! Man wartet doch auf meine Rückkehr!«

»Das macht nichts; nur wäre es wirklich dumm, wenn Sie heute zu den Leuten hingingen. Ich habe infolge der vielen Scherereien, die ich Ihretwegen gehabt hatte, noch gar nicht zu Mittag gegessen. Und was Kirillow anbetrifft, so ist es dort so: je später man zu ihm kommt, um so besser.«

Piotr Stepanowitsch belegte ein besonderes Zimmer. Liputin setzte sich gekränkt und verärgert in einen Sessel in einiger Entfernung von ihm hin und sah zu, wie er aß. Es verging eine halbe Stunde und noch mehr. Piotr Stepanowitsch beeilte sich nicht, er aß mit großem Appetit, klingelte, verlangte anderen Senf, dann Bier und redete die ganze Zeit über kein Wort. Er war in ein tiefes Nachdenken versunken. Er konnte zwei Dinge zugleich tun: mit Behagen essen und sehr angestrengt nachdenken. Liputin begann ihn schließlich so stark zu hassen, daß er nicht imstande war, seine Blicke von ihm loszureißen. Was er durchmachte, war einem nervösen Anfall ähnlich. Er zählte jeden Bissen, den Piotr Stepanowitsch zum Munde führte, er haßte ihn für die Art, wie er den Mund öffnete, wie er kaute, wie er schmatzend und mit besonderem Behagen die saftigeren Stücke aussog, ja, er haßte sogar das Beefsteak selbst. Zuletzt begannen sich die Gegenstände vor seinen Augen gleichsam zu verwirren, der Kopf wurde ihm etwas schwindlig, und heiß und kalt lief es ihm abwechselnd über den Rücken.

»Sie haben nichts zu tun, also lesen Sie das hier einmal durch«, sagte auf einmal Piotr Stepanowitsch und warf ihm ein Blättchen Papier zu. Liputin näherte sich der Kerze. Das Blättchen war mit kleiner, schlechter Schrift bedeckt, und fast in jeder Zeile fanden sich Ausstreichungen und Korrekturen. Als er sich endlich hindurchgearbeitet hatte, da war Piotr Stepanowitschs Zeche bereits bezahlt, und er selbst machte sich gerade zum Fortgehen bereit. Auf dem Bürgersteig gab ihm Liputin das Blättchen wieder zurück.

»Behalten Sie es vorläufig; wir werden später darüber reden. Übrigens, was sagen Sie dazu?«

Liputin fuhr am ganzen Leibe zusammen.

»Meiner Ansicht nach ... ist eine solche Proklamation ... nichts als ein lächerlicher Unsinn.«

Seine Wut kam endlich zum Durchbruch; er fühlte sich wie von irgendeiner Kraft gepackt, aufgehoben und fortgetragen.

»Wenn wir uns entschließen, derartige Flugblätter zu verbreiten,« fuhr er fort, indem er am ganzen Körper zitterte, »dann werden wir durch unsere Dummheit und Unkenntnis der Verhältnisse die Leute geradezu zwingen, uns zu verachten!«

»Hm! Ich denke darüber anders«, erwiderte Piotr Stepanowitsch, der festen Schrittes weiterging.

»Nun, meine Ansicht deckt sich eben mit der Ihren nicht; haben Sie das wirklich selbst verfaßt?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Auch bin ich der Meinung, daß das Gedicht: ›Eine lichte Persönlichkeit‹ aus den kläglichsten Versen besteht, die es überhaupt geben kann, und daß es ganz unmöglich von Herzen herrührt.«

»Sie lügen; das Gedicht ist gut.«

»Ich wundere mich zum Beispiel auch darüber,« fuhr Liputin fort, von einem Gegenstand zum anderen herüberspringend und seinen Geist spielen lassend, »daß man uns zu einer solchen Handlungsweise auffordert, damit alles auffliegt. Der Wunsch, der in Europa rege wird, daß alles zusammenstürzen möge, ist durchaus nicht unnatürlich, weil dort das Proletariat am Werke ist, während wir hier nichts weiter als Liebhaber sind, die nur Staub aufwirbeln.«

»Ich dachte, Sie wären ein Anhänger Fouriers.«

»Bei Fourier steht ganz etwas anderes, etwas grundsätzlich Verschiedenes.«

»Ich weiß, daß da Unsinn steht.«

»Nein, Fourier hat keinen Unsinn geschrieben ... Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich kann es durchaus nicht glauben, daß schon im Mai ein Aufstand stattfinden wird.«

Liputin knöpfte sich sogar den Mantel auf, so heiß war ihm geworden.

»Nun genug davon, und jetzt, um es nicht zu vergessen,« sagte Piotr Stepanowitsch, indem er mit der größten Kaltblütigkeit zu einem anderen Gegenstande hinübersprang, »dieses Blättchen haben Sie demnächst eigenhändig zu setzen und zu drucken. Die Druckerei werden wir ausgraben, und Sie müssen sie gleich morgen übernehmen. Sie haben, so schnell Sie nur können, möglichst viele Exemplare abzuziehen und sie dann den ganzen Winter über zu verbreiten. Mittel und Wege dazu wird man Ihnen schon zeigen. Es sind sehr viele Exemplare erforderlich, da man Ihnen auch aus anderen Orten eine Anzahl abnehmen wird.«

»Nein, da müssen Sie schon entschuldigen; ich kann es nicht auf mich nehmen, eine solche ... Ich weigere mich.«

»Sie werden den Auftrag trotzdem übernehmen. Ich handle nach den Instruktionen des Zentralkomitees, und Sie müssen gehorchen.«

»Und ich bin der Ansicht, daß unsere ausländischen Zentralen die russische Wirklichkeit vollkommen vergessen und jede Fühlung mit ihr verloren haben und deshalb nur wie im Fieber phantasieren ... Ich glaube sogar, daß statt vieler Hunderte von Fünferkomitees in Rußland wir das einzige sind und daß ein Netz überhaupt nicht existiert«, platzte Liputin endlich keuchend heraus.

»Um so verächtlicher sind Sie, da Sie, ohne an die Sache zu glauben, ihr nachgelaufen sind ... und auch mir jetzt nachlaufen wie ein gemeiner, kleiner Köter.«

»Nein, ich laufe Ihnen nicht nach. Wir haben das volle Recht, uns von Ihnen loszusagen und eine neue Gesellschaft zu bilden.«

»Narrrrr!« brüllte Piotr Stepanowitsch plötzlich laut und drohend auf, und seine Augen begannen zu funkeln.

Beide standen sich eine kurze Weile stumm gegenüber. Dann drehte sich Piotr Stepanowitsch um und setzte selbstsicher seinen früheren Weg fort.

Wie ein Blitz schoß es durch Liputins Gehirn: »Ich will jetzt umkehren und zurückgehen: wenn ich jetzt nicht umkehre, werde ich nie zurückgehen.« So dachte er genau zehn Schritte lang; aber beim elften flammte eine neue tollkühne Idee in seinem Kopfe auf, und er kehrte nicht um und ging nicht zurück.

Sie näherten sich bereits dem Filippowschen Hause; aber noch ehe sie es erreicht hatten, schlugen sie ein Seitengäßchen, oder, richtiger gesagt, einen kaum merkbaren Fußpfad an einem Zaun entlang ein, so daß sie sich eine Zeitlang auf der steilen Böschung eines Grabens fortbewegen mußten, wo die Füße keinen Halt fanden, und wo man genötigt war, sich mit den Händen am Zaune festzuhalten. Im dunkelsten Winkel des schiefgewordenen Zaunes nahm Piotr Stepanowitsch ein Brett heraus; es entstand eine Öffnung, durch die er sofort hindurchkroch. Liputin wunderte sich, schlüpfte ihm aber nach. Daraufhin wurde das Brett wieder eingefügt. Das war jener geheime Zugang, durch den Fedka zu Kirillow zu gelangen pflegte.

»Schatow darf nicht wissen, daß wir hier sind«, flüsterte Piotr Stepanowitsch dem erstaunten Liputin in strengem Tone zu.

3

Kirillow saß, wie immer zu dieser Stunde, auf seinem Ledersofa beim Tee. Er erhob sich nicht, um die Eintretenden zu begrüßen, sondern zuckte nur seltsam zusammen und sah sie unruhig an.

»Sie haben sich nicht geirrt«, sagte Piotr Stepanowitsch. »Ich komme gerade deswegen.«

»Heute?«

»Nein, nein, morgen ... um diese Zeit herum.«

Und er setzte sich eilig an den Tisch und betrachtete mit einiger Besorgnis den unruhig gewordenen Kirillow. Dieser beruhigte sich übrigens sofort wieder und sah genau so wie sonst aus.

»Diese da glauben es nicht. Sind Sie mir nicht böse dafür, daß ich Liputin mitgebracht habe?«

»Heute habe ich nichts dagegen, aber morgen will ich allein sein.«

»Aber nicht eher, als ich komme. Und daher in meiner Gegenwart.«

»Ich möchte nicht in Ihrer Gegenwart.«

»Sie erinnern sich doch wohl noch, daß Sie versprochen haben, alles niederzuschreiben und zu unterzeichnen, was ich Ihnen diktieren werde.«

»Es ist mir alles gleichgültig. Werden Sie jetzt lange hierbleiben?«

»Ich muß mich noch mit einem Menschen treffen und habe bis dahin eine halbe Stunde zu warten. Somit werde ich also diese halbe Stunde hierbleiben.«

Kirillow erwiderte nichts darauf. Liputin hatte unterdessen seitwärts unter dem Bildnis des Bischofs Platz genommen. Der tollkühne Gedanke, den er vorhin gefaßt hatte, bemächtigte sich seiner immer mehr und mehr. Kirillow bemerkte ihn kaum. Liputin kannte dessen Theorien noch von früher her und hatte stets über ihn gelacht; jetzt aber schwieg er und blickte finster um sich.

»Ich wäre übrigens auch nicht abgeneigt, Tee zu trinken,« sagte Piotr Stepanowitsch, indem er dem Tische näherrückte, »ich habe soeben ein Beefsteak gegessen und rechnete mit Bestimmtheit darauf, bei Ihnen Tee vorzufinden.«

»Trinken Sie meinetwegen.«

»Früher haben Sie ihn mir selbst angeboten und gereicht«, bemerkte Piotr Stepanowitsch mit einer säuerlichen Miene.

»Das ist ganz egal. Mag auch Liputin trinken.«

»Nein, ich ... ich kann nicht.«

»Kann nicht, oder will nicht?« fragte Piotr Stepanowitsch, indem er sich rasch zu ihm umdrehte.

»Ich werde bei Herrn Kirillow nicht trinken«, erwiderte Liputin mit einer entsprechenden Gebärde und in vielsagendem Tone.

Piotr Stepanowitsch zog die Brauen zusammen.

»Das riecht nach Mystizismus; weiß der Teufel, was ihr alle für Menschen seid!«

Niemand antwortete ihm; das Schweigen dauerte eine ganze Minute.

»Aber eins weiß ich,« fuhr er dann plötzlich schroff fort, »nämlich, daß keine Vorurteile imstande sind, einen von uns von der Erfüllung seiner Pflichten abzuhalten.«

»Stawrogin ist wohl weggereist?« fragte Kirillow.

»Ja.«

»Da hat er gut daran getan.«

Piotr Stepanowitsch wollte ihm schon einen funkelnden Blick zuwerfen, beherrschte sich aber rechtzeitig.

»Es ist mir gleichgültig, wie Sie darüber denken, wenn nur jeder sein Wort hält.«

»Ich werde schon mein Wort halten.«

»Übrigens war ich stets davon überzeugt, daß Sie Ihre Pflicht erfüllen werden, da Sie ein unabhängiger und fortschrittlich denkender Mensch sind.«

»Und Sie sind lächerlich.«

»Das macht nichts, ich freue mich sehr, wenn ich andere erheitern kann. Ich freue mich stets, wenn ich jemandem einen Dienst zu erweisen vermag.«

»Sie wünschen wohl sehr, daß ich mich erschieße, und fürchten, daß ich es plötzlich nicht tun werde?«

»Das heißt, sehen Sie wohl, Sie haben Ihren Plan selbst mit unseren Handlungen in Verbindung gebracht. Nun rechneten wir auf Ihr Vorhaben und haben bereits manches unternommen, so daß Sie eigentlich keineswegs mehr zurücktreten können, da Sie uns sonst nur hineinlegen würden.«

»Sie haben gar kein Recht ...«

»Ich verstehe, ich verstehe schon. Es ist natürlich Ihr vollkommen freier Wille, und wir spielen bei der Ausführung fast gar keine Rolle; aber es wäre wünschenswert, daß dieser Ihr vollkommen freier Wille geschehe.«

»Und ich werde alle Ihre Schändlichkeiten auf meine Kappe nehmen müssen?«

»Hören Sie, Kirillow, haben Sie es etwa mit der Angst bekommen? Wenn Sie zurücktreten wollen, so erklären Sie es gleich jetzt.«

»Ich habe keine Angst.«

»Nun, ich tat diese Äußerung nur, weil Sie mit einemmal soviel fragen.«

»Werden Sie bald fortgehen?«

»Fragen Sie schon wieder?«

Kirillow sah ihn verächtlich an.

»Sehen Sie,« fuhr Piotr Stepanowitsch fort, wobei er sich immer mehr und mehr ärgerte, immer in stärkere und stärkere Unruhe geriet und nicht den richtigen Ton finden konnte, »Sie wollen, daß ich fortgehe, damit Sie in Einsamkeit Ihre Gedanken konzentrieren können. Aber das sind doch lauter gefährliche Anzeichen. Die sind für Sie selbst gefährlich, für Sie selbst in erster Linie. Sie wollen viel denken. Und meiner Ansicht nach wäre es das beste, überhaupt nicht nachzudenken und es einfach so zu tun. Nein, Sie beunruhigen mich tatsächlich.«

»Mir ist nur eins dabei sehr zuwider, nämlich, daß in jenem Augenblick neben mir ein solch widerwärtiges Reptil sein wird, wie Sie.«

»Nun, das ist ja ganz gleichgültig. Meinetwegen kann ich auch im gegebenen Augenblick hinausgehen und vor der Haustür abwarten. Wenn Sie kurz vor dem Tode so wenig gleichgültig sind, dann ... dann ist es doch sehr gefährlich ... Ich kann ja vor die Tür hinausgehen! Und Sie dürfen ruhig annehmen, daß ich überhaupt nichts verstehe und unermeßlich tief unter Ihnen stehe.«

»Nein, nicht unermeßlich, Sie haben Fähigkeiten. Aber sehr vieles verstehen Sie wirklich nicht, weil Sie ein gemeiner Mensch sind.«

»Freut mich sehr, freut mich sehr. Ich sagte Ihnen doch bereits, daß es mir eine Freude macht, ein Amüsement bereiten zu können ... in einem solchen Augenblick.«

»Sie verstehen nichts.«

»Das heißt, ich ... Jedenfalls höre ich mit Hochachtung zu.«

»Sie können rein gar nichts. Nicht einmal Ihren kleinlichen Ärger können Sie jetzt verbergen, obgleich es für Sie auch unvorteilhaft ist, ihn zu zeigen. Sie können mich doch in Wut versetzen, so daß ich dann auf den Gedanken komme, es noch auf ein halbes Jahr zu verschieben.«

Piotr Stepanowitsch sah nach der Uhr.

»Ich habe nie das Geringste von Ihrer Theorie verstanden, weiß aber, daß Sie diese nicht um unseretwegen ersonnen haben und folglich auch ohne uns Ihren Plan zur Ausführung bringen werden. Ich weiß auch, daß nicht Sie diese Idee verschlungen haben, sondern im Gegenteil Sie selbst von dieser Idee verschlungen worden sind, und daß Sie es also nicht aufschieben werden.«

»Wie? Die Idee hat mich verschlungen?«

»Ja.«

»Und nicht ich die Idee? Das ist gut gesagt. Sie haben ein bißchen Verstand. Nur stacheln Sie immerzu. Ich aber bin stolz.«

»Ist auch sehr schön, ist auch sehr schön. Das ist ja gerade gut, daß Sie stolz sind.«

»Genug; Sie haben ausgetrunken, gehen Sie jetzt fort.«

»Hol's der Teufel, ich werde wohl müssen«, sagte Piotr Stepanowitsch und stand auf. »Indessen ist es aber noch viel zu früh. Hören Sie, Kirillow, werde ich den Betreffenden, Sie verstehen doch, wen ich meine, bei der Fleischerfrau treffen oder nicht? Oder hat auch sie uns belogen?«

»Sie werden ihn dort nicht treffen. Denn er ist hier und nicht dort.«

»Wieso denn hier, hol's der Teufel? Wo denn?«

»Er sitzt in der Küche und ißt und trinkt.«

»Aber wie hat er es nur wagen können?« rief Piotr Stepanowitsch, der vor Zorn ganz rot wurde. »Er war verpflichtet zu warten ... Unsinn! Er hat doch weder einen Paß noch Geld!«

»Ich weiß nicht. Er ist gekommen, um von mir Abschied zu nehmen; er ist im Reiseanzug und vollkommen fertig. Er geht fort und kommt nicht wieder. Er sagt, daß Sie ein Schurke sind und will nicht auf Ihr Geld warten.«

»Aha! Er fürchtet, daß ich ... nun, ich kann ihn auch jetzt noch, wenn ... Wo ist er? In der Küche?«

Kirillow öffnete die Seitentür zu einem kleinen, winzigen, dunklen Zimmerchen. Aus diesem führten drei Stufen in die Küche hinab, und zwar gerade in jenes, durch einen Verschlag abgetrennte Kämmerchen, in dem gewöhnlich das Bett der Köchin gestanden hatte. Hier in einem Winkel unter den Heiligenbildern saß jetzt Fedka vor einem rohen Brettertisch. Vor ihm befand sich ein halbes Maß Branntwein, ein Teller mit Brot und eine irdene Schüssel mit kaltem Rindfleisch und Kartoffeln. Er aß ohne Hast und schien schon etwas angeheitert zu sein, saß aber im Schafpelz da und war offenbar vollständig reisefertig. Hinter dem Verschlag kam gerade ein Samowar ins Sieden. Aber nicht für sich hatte Fedka die Glut darin angeblasen, nein, er tat das jetzt schon eine Woche oder noch länger jeden Abend, für »Alexej Nilytsch, da der Herr sehr daran gewohnt ist, des Nachts Tee zu trinken«. Ich glaube bestimmt, daß Kirillow das Fleisch und die Kartoffeln für Fedka in Ermangelung einer Köchin schon am Vormittag selbst gebraten hatte.

»Was fällt dir denn eigentlich ein?« schrie Piotr Stepanowitsch, als er in das Kämmerlein hinabsprang. »Warum hast du mich nicht da erwartet, wo ich es dir befohlen habe?«

Und er schlug aus voller Wucht mit der Faust auf den Tisch.

Fedka stellte sich in Positur.

»Warte du doch, Piotr Stepanowitsch, warte doch,« begann er, indem er jedes Wort schneidig herausbrachte, »du mußt hier in erster Linie nicht vergessen, daß du auf einem anständigen Besuch bei Herrn Alexej Nilytsch Kirillow bist, dem du stets und in jeder Lage die Schuhe putzen könntest, weil er dir gegenüber ein gebildeter Kopf ist. Du aber bist nur – pfui!«

Und er spuckte schneidig zur Seite (aber ohne daß Speichel herauskam). In seinem Benehmen fiel Hochmut und Entschlossenheit auf und jenes gewisse, sehr gefährliche, gekünstelte, ruhige Räsonieren, das nur bis zum ersten Ausbruch anhält. Aber Piotr Stepanowitsch hatte schon keine Zeit mehr, der Gefahren zu achten, und außerdem war das auch mit seiner Auffassung der Dinge völlig unvereinbar. Die Ereignisse und Mißerfolge dieses Tages hatten ihn vollkommen wirr gemacht ... Liputin, der oben an den drei Stufen in dem dunklen Zimmerchen stehengeblieben war, blickte jetzt neugierig hinunter.

»Willst du nun einen richtigen Paß und gutes Geld haben, um dahin zu reisen, wohin dir gesagt wurde, oder nicht? Ja oder nein?«

»Siehst du wohl, Piotr Stepanowitsch, du hast mich gleich vom Anfang an zu betrügen begonnen, und somit bist du in meinen Augen ein wahrhaftiger Schurke. Etwas wie eine ekelhafte Menschenlaus, – da hörst du es, wofür ich dich halte. Du hast mir für unschuldiges Blut viel Geld versprochen und hast auch für Herrn Stawrogin einen Schwur abgelegt, trotzdem es herauskommt, daß dahinter nichts weiter als dein unbescheidenes Wesen war. Ich habe wahrhaftig keinen Groschen zu sehen bekommen, geschweige denn fünfzehnhundert Rubel, und Herr Stawrogin hat dich neulich geohrfeigt, was auch uns schon bekannt ist. Jetzt drohst du mir von neuem und versprichst mir wieder Geld, aber wofür ich es haben soll, davon schweigst du. Ich aber habe Zweifel und denke mir in meinem Verstande, daß du mich nach Petersburg schickst, um dich in deiner Bosheit an Herrn Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin ganz gleich wie zu rächen, und dabei auf meine Leichtgläubigkeit hoffst. Und daraus folgt, daß du ein Mörder ersten Ranges bist. Und weißt du wohl auch, was du schon allein dafür verdient hast, daß du in deiner Verdorbenheit aufgehört hast, an Gott selbst, an den wahren Schöpfer zu glauben? Du bist ja gerade wie ein Götzenanbeter und stehst auf einer Stufe mit den Tataren und den Mordwinen. Da Alexej Nilytsch ein Philosoph ist, hat er dir wiederholt den wahren Gott, den Schöpfer und Lebensspender sowohl als auch die Schöpfung der Welt erklärt und dir auch von den zukünftigen Geschicken und der Verwandlung eines jeden Geschöpfes und eines jeden Tieres aus dem Buche der Apokalypse mitgeteilt. Du aber widersetzest dich in deiner Taubheit und Stummheit wie ein unvernünftiger Götze und hast auch den Fähnrich Ertelew dazu verleitet, gerade wie jener Übeltäter und Verführer, dessen Name Atheist lautet ...«

»Ach, du besoffene Fratze! Beraubst selbst Heiligenbilder und willst noch von Gott predigen!«

»Ja, siehst du, Piotr Stepanowitsch, das stimmt schon, daß ich Heiligenbilder beraubt habe; aber ich habe ja nur die Perlen weggenommen; und woher weißt du, ob sich nicht auch meine Träne in dem Schmelzofen des Allerhöchsten in jenem Augenblick zu einer Perle verwandelt hatte für ein gewisses, mir widerfahrenes Leid und da ich tatsächlich und buchstäblich eine Waise bin und nicht einmal mein tägliches Obdach habe. Weißt du wohl aus Büchern, daß einmal, in weit zurückliegenden Zeiten, ein gewisser Kaufmann unter ebensolchen Tränen, Seufzern und Gebeten der allerheiligsten Muttergottes aus dem Heiligenschein eine Perle gestohlen und dann später vor allem Volke und unter Kniebeugungen die ganze Summe an den Sockel des heiligen Bildnisses gelegt hat? Weißt du nicht, daß da die Mutter Fürbitterin ihn vor den Augen aller Versammelten mit dem heiligen Vorhang gesegnet hat, so daß man das sogar als ein Wunder auffaßte und die Obrigkeit es alles in Staatsbüchern ganz haargenau aufzeichnen ließ? Du aber hast eine Maus hineingelassen, also hast du den Finger Gottes selbst verspottet. Und wärest du nicht mein angeborener Herr, den ich als Jüngling schon auf meinen Armen getragen habe, so würde ich dich jetzt weiß Gott abrichten, ohne von diesem Fleck zu treten.«

Piotr Stepanowitsch geriet in einen maßlosen Zorn:

»Sprich, bist du heute mit Stawrogin zusammengekommen?«

»Du darfst dich nie unterstehen, mich hier auszufragen. Herr Stawrogin steht dir wirklich mit Erstaunen gegenüber und hat nicht einmal mit einem Wunsche an der Sache teilgenommen, geschweige denn mit einer Anordnung oder mit Geld. Du hast dich gegen mich erdreistet.«

»Das Geld wirst du bekommen, und die zweitausend Rubel wirst du ebenfalls erhalten, in Petersburg, an Ort und Stelle, alles zusammen. Und ich werde dir sogar noch mehr geben.«

»Du lügst, mein Bester, und es ist mir sogar lächerlich, dich auch nur anzusehen, weil du ein so leichtgläubiger Kopf bist. Herr Stawrogin ist im Vergleich mit dir auf einer hohen Leiter, und du kläffst ihn von unten an wie ein dummer, kleiner Köter, während er dir eine große Ehre zu erweisen glaubt, wenn er auf dich von oben herabspuckt.«

»Weißt du wohl,« schrie Piotr Stepanowitsch, der nun ganz außer sich geriet, »daß ich dich, du Lump du, keinen Schritt von hier weglassen und dich gleich der Polizei übergeben werde.«

Fedka sprang auf die Beine und funkelte wütend mit den Augen. Piotr Stepanowitsch holte hastig seinen Revolver hervor. Und hier spielte sich eine kurze und widerwärtige Szene ab. Bevor Piotr Stepanowitsch überhaupt noch in der Lage war, seine Waffe gegen Fedka zu richten, hatte sich dieser geschwind zur Seite gebogen und schlug ihm nun aus voller Kraft auf die Backe. Gleich darauf erfolgte ein zweiter furchtbarer Schlag, dann ein dritter, ein vierter, immer wieder und wieder auf die Backe. Piotr Stepanowitsch war wie betäubt, riß die Augen weit auf, murmelte etwas, und fiel dann auf einmal der Länge nach zu Boden.

»Da habt ihr ihn, nehmt ihn!« rief Fedka mit der Miene und Gebärde eines Siegers, ergriff im Nu seine Mütze und sein unter der Bank liegendes Bündel und verschwand. Piotr Stepanowitsch war bewußtlos und röchelte. Liputin dachte schon, es hätte ein Totschlag stattgefunden. Kirillow kam Hals über Kopf in die Küche gelaufen.

»Wir müssen ihn mit Wasser begießen!« rief er, schöpfte mit einer Blechkelle Wasser aus dem Eimer und goß es ihm über den Kopf. Piotr Stepanowitsch regte sich, hob den Kopf ein bißchen in die Höhe, richtete sich dann auf, setzte sich aufrecht hin und blickte wie nichts begreifend um sich.

»Nun, wie steht es?« fragte Kirillow.

Piotr Stepanowitsch sah ihn starr an, immer noch ohne etwas zu erkennen. Als er aber den von der Küche aus hereinschauenden Liputin erblickte, verzog sich sein Gesicht zu dem üblichen häßlichen Lächeln und plötzlich sprang er in die Höhe, wobei er auch den Revolver vom Fußboden aufhob.

»Wenn Sie auf den Einfall kommen sollten, morgen davonzulaufen, wie der Lump Stawrogin,« stürzte er sich wie rasend, ganz blaß, nur noch stammelnd, und außerstande, die Worte richtig auszusprechen, auf Kirillow los, »dann werde ich Sie selbst am anderen Ende des Erdballs ... aufhängen, wie eine Fliege zerquetschen ... verstehen Sie!?«

Und er richtete den Revolver gerade gegen die Stirn Kirillows. Aber fast im selben Augenblick kam er wieder ganz zu sich, zog die Hand zurück, steckte die Waffe in die Tasche und lief, ohne ein Wort mehr zu sagen, aus dem Hause. Liputin rannte ihm nach. Sie krochen durch das frühere Schlupfloch hindurch und gingen wieder, sich am Zaune festhaltend, an der Böschung dahin. Dann schritt Piotr Stepanowitsch so hastig durch das Gäßchen, daß ihm Liputin kaum folgen konnte. Bei der ersten Straßenkreuzung blieb er plötzlich stehen.

»Nun?« wandte er sich an Liputin, so daß es wie eine Herausforderung klang.

Liputin dachte an den Revolver und zitterte noch in Erinnerung an die eben miterlebte Szene; aber die Antwort kam ihm plötzlich unwillkürlich und unhemmbar über die Lippen:

»Ich glaube ... ich glaube, daß er ›von Smolensk und bis Taschkent‹ gar nicht so ungeduldig erwartet wird, ›der Student‹ ...«

»Haben Sie auch gesehen, was Fedka in der Küche getrunken hat?«

»Was er getrunken hat? Branntwein.«

»Nun, so mögen Sie wissen, daß er zum letztenmal in seinem Leben Branntwein getrunken hat. Ich empfehle Ihnen, das nicht zu vergessen, und zwar mit Rücksicht auf Ihre weiteren Entschließungen. Und jetzt scheren Sie sich zum Teufel, bis morgen brauche ich Sie nicht mehr ... aber daß mir keine Dummheiten vorkommen!«

Liputin eilte Hals über Kopf nach Hause.

4

Er hatte sich schon längst einen Paß auf einen fremden Namen beschafft. Schon der Gedanke daran ist recht sonderbar, daß dieses akkurate Menschlein, dieser kleinliche Familientyrann, der immerhin ein Beamter (wenn auch ein Anhänger Fouriers) und schließlich und vor allen Dingen ein Kapitalist und ein Wucherer war, schon seit längerer Zeit im stillen den phantastischen Einfall gehabt hatte, sich für jeden Fall diesen Paß zu besorgen, um mit dessen Hilfe nach dem Auslande zu entkommen, wenn ... Er hatte also selbst die Möglichkeit dieses Wenn ins Auge gefaßt, wennwohl er natürlich nicht imstande war, genau zu formulieren, was eigentlich dieses Wenn bedeuten konnte ...

Aber jetzt hatte sich die Bedeutung ganz von selbst und völlig unerwartet ergeben. Jener tollkühne Gedanke, mit dem er zu Kirillow gekommen war, nachdem ihm Piotr Stepanowitsch auf dem Bürgersteig den »Dummkopf« an den Kopf geworfen hatte, bestand eben darin, gleich am folgenden Tage, in aller Frühe, alles im Stich zu lassen und ins Ausland zu flüchten! Wer nicht glaubt, daß solche phantastischen Dinge auch jetzt noch in unserer alltäglichsten Wirklichkeit vorkommen, der möge sich nach dem Lebenslaufe aller russischen Emigranten im Auslande erkundigen. Kein einziger von ihnen ist klüger und mit mehr Sinn für das Reale entflohen. Auf alle diese Leute hat immer nur das unbezwingbare Reich der Gespenster eingewirkt und nichts mehr.

Nachdem er nach Hause gekommen war, begann er damit, daß er sich einschloß, seine Reisetasche herbeiholte und sie hastig zu packen anfing. Seine Hauptsorge bildete natürlich das Geld und die Frage, wie und wieviel er retten könnte. Ja »retten« ist der richtige Ausdruck, denn seiner Ansicht nach durfte er auch nicht eine Stunde mehr zögern und mußte sich bereits bei Tagesanbruch auf der Landstraße befinden. Er wußte noch nicht, von wo ab er mit der Eisenbahn fahren würde; aber ganz verschwommen schwebte vor ihm der Entschluß, auf der zweiten oder dritten größeren Station von der Stadt einzusteigen und den Weg bis dahin zu Fuß zurückzulegen. Auf diese Weise mühte er sich instinktiv und mechanisch, mit einem ganzen Wirbelsturm von Gedanken im Kopf, mit seiner Reisetasche ab und – hielt plötzlich inne, ließ alles stehen und liegen und streckte sich tief aufstöhnend auf dem Sofa aus.

Er empfand deutlich und erkannte plötzlich, daß er wohl wirklich fliehen werde, daß er aber jetzt bereits völlig außerstande sei zu entscheiden, ob er vor oder nach der Erledigung Schatows fliehen sollte? Er fühlte, daß er jetzt nur noch ein plumper, vernunftloser Körper sei, eine träge Masse, daß ihn eine fremde, schreckliche Kraft in Bewegung setze und daß er, trotzdem er bereits einen Auslandspaß besaß und vor der Erledigung Schatows fliehen konnte (denn weshalb hätte er sich denn sonst so beeilt) dennoch nicht vor und nicht von, sondern gerade nach Schatow fliehen werde, und daß das nun einmal beschlossen, unterschrieben und besiegelt sei. In unerträglichem Kummer, alle Augenblicke zitternd, und sich selbst darüber wundernd, abwechselnd stöhnend und vor Angst vergehend, verbrachte er in seinem Zimmer auf dem Sofa liegend mit Mühe und Not die Zeit bis elf Uhr des nächsten Vormittags, und da erfolgte dann plötzlich der unerwartete Anstoß, der seiner Entschlossenheit eine Richtung gab. Als er gegen elf Uhr seine Türe aufgeschlossen hatte und zu den Seinen gegangen war, erfuhr er von ihnen sofort, daß der entlaufene Sträfling Fedka, der die ganze Umgegend in Schrecken versetzt hatte, dieser Kirchenräuber, Mörder und Brandstifter, den unsere Polizei verfolgte und doch nicht fassen konnte, am frühen Morgen, sieben Werst von der Stadt entfernt, ermordet aufgefunden worden sei (dort, wo von der großen Landstraße der Weg nach Sacharjino abgeht), und daß darüber schon die ganze Stadt spreche. Sogleich lief er Hals über Kopf aus dem Hause, um Näheres in Erfahrung zu bringen und stellte erstens fest, daß Fedka mit zertrümmertem Schädel gefunden wurde und daß allem Anschein nach ein Raubmord vorliege. Zweitens erfuhr er, daß die Polizei schon starken Verdacht hegte und sogar einige feste Indizien besaß, aus denen sie schloß, daß der Mörder kein anderer als der Schpigulinsche Arbeiter Fomka war, derselbe, mit dem zusammen Fedka den Mord und die Brandstiftung bei den Lebiadkins begangen hatte. Man vermutete, daß die beiden Verbrecher unterwegs in einen Streit geraten waren, und zwar wahrscheinlich, weil Fomka annahm, daß Fedka bei Lebiadkin eine größere Summe entwendet und sie ihm dann verheimlicht hatte ... Liputin lief auch zu dem Hause, in dem Piotr Stepanowitsch wohnte, und erfuhr dort heimlich an der Hintertreppe, daß der junge Werchowenskij zwar erst gegen ein Uhr nach Hause gekommen war, dann aber die ganze Nacht über bis acht Uhr morgens in aller Ruhe geschlafen habe. Natürlich konnte kein Zweifel daran bestehen, daß an dem Tode des Räubers Fedka durchaus nichts Ungewöhnliches war, denn derartige Existenzen nehmen am allerhäufigsten ein solches Ende; aber das merkwürdige Zusammentreffen der verhängnisvollen Worte, denen zufolge »Fedka an jenem Abend zum letztenmal Branntwein getrunken habe«, mit der unverzüglichen Erfüllung dieser Prophezeiung war doch so bezeichnend, daß Liputin plötzlich aufhörte zu schwanken. Der Anstoß war gegeben; es schien Liputin, als sei ein großer Stein auf ihn herabgefallen, der ihn für immer zu Boden drückte. Als er nach Hause zurückkehrte, stieß er seine Reisetasche schweigend mit dem Fuß unter das Bett. Abends aber war er zu der festgesetzten Stunde als erster an dem für das Zusammentreffen mit Schatow bestimmten Orte erschienen, allerdings immer noch mit seinem Passe in der Tasche ...


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