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Der Schluss des Festes
Er wollte mich nicht empfangen. Er hatte sich eingeschlossen und schrieb. Auf mein wiederholtes Klopfen und Rufen antwortete er mir durch die Tür:
»Mein Freund, ich habe mit allem abgeschlossen und wer kann noch mehr von mir fordern?«
»Sie haben mit garnichts abgeschlossen, sondern nur dazu beigetragen, daß alles durchgefallen ist. Machen Sie um Gottes willen keine Redensarten, Stepan Trofimowitsch, und lassen Sie mich hinein. Wir müssen Maßregeln ergreifen, denn am Ende können die Leute sogar noch hierher kommen und Sie beleidigen ...«
Ich hielt mich für berechtigt, besonders streng und sogar anspruchsvoll zu sein. Ich befürchtete, daß er noch etwas Sinnloseres unternehmen würde. Aber zu meiner Verwunderung stieß ich bei ihm auf eine ungewöhnliche Festigkeit:
»So beleidigen Sie mich denn wenigstens nicht als erster! Ich danke Ihnen für alles Frühere, wiederhole aber: ich habe mit den Menschen Schluß gemacht, sowohl mit den guten, als auch mit den bösen. Ich schreibe einen Brief an Darja Pawlowna, die ich bisher in so unverantwortlicher Weise vergessen habe. Bringen Sie ihn ihr morgen, wenn Sie wollen, aber jetzt ›merci‹!«
»Stepan Trofimowitsch, ich versichere Ihnen, daß die Sache viel ernster ist, als Sie denken. Glauben Sie, dort jemand zermalmt zu haben? Sie haben keinen Menschen zermalmt, sondern sind selbst in die Brüche gegangen, wie ein leeres Fläschchen!« (Oh, ich war grob und unhöflich und ich erinnere mich daran mit tiefer Betrübnis!) »An Darja Pawlowna brauchen Sie gar nicht zu schreiben ... Und was wollen Sie jetzt ohne mich anfangen? Was verstehen Sie vom praktischen Leben? Sie scheinen noch etwas Besonderes zu planen? Sie werden nur noch einmal hereinfallen, wenn Sie wieder so etwas im Sinne haben ...«
Er stand auf und trat dicht an die Tür heran.
»Sie waren nicht lange mit jenen Menschen zusammen, sind aber bereits von ihrer Sprache und ihrem Ton angesteckt worden. Dieu vous pardonne, mon ami, et Dieu vous garde! Aber ich habe an Ihnen immer die Keime hoher Anständigkeit wahrgenommen und hoffe, daß Sie sich vielleicht noch einmal eines besseren besinnen werden, – après le temps natürlich, wie wir Russen alle. Was Ihre Bemerkung in bezug auf mein unpraktisches Wesen anbetrifft, so erinnere ich Sie an einen Gedanken, den ich schon längst einmal ausgesprochen habe: bei uns in Rußland ist eine ganze Unmenge Menschen nur damit beschäftigt, mit besonderem Ingrimm und einer unbeschreiblichen Aufdringlichkeit, wie etwa Fliegen im Sommer, über das unpraktische Wesen anderer Leute herzufallen und alle und jeden dieses Fehlers zu beschuldigen, sich selbst natürlich stets ausgenommen. Cher, bedenken Sie, daß ich sehr aufgeregt bin und quälen Sie mich nicht. Noch einmal sage ich Ihnen merci für alles, und dann lassen Sie uns voneinander scheiden, wie Karmasinow vom Publikum, das heißt vergessen wir einander möglichst edelmütig. Bei Karmasinow war sie allerdings nur ein schlaues Manöver, diese Bitte an seine Leser, ihn zu vergessen; quant à moi, so bin ich nicht so selbstsüchtig und hoffe vor allen Dingen auf die Jugend Ihres unverdorbenen Herzens: wie sollten Sie auch allzulange an einen alten nutzlosen Mann denken? ›Leben Sie so lange es nur möglich ist‹, mein Freund, wie mir das an meinem letzten Namenstag Nastasia gewünscht hat (ces pauvre gens ont quelquefois de mots charmants et pleins de philosophie). Ich wünsche Ihnen nicht viel Glück, denn das wird Ihnen auf die Dauer schließlich langweilig werden. Aber auch Unglück wünsche ich Ihnen nicht, sondern wiederhole einfach im Sinne der Volksphilosophie ›leben Sie mehr‹ und seien Sie darauf bedacht, sich so wenig wie möglich zu langweilen. Diesen eitlen Wunsch füge ich schon von mir hinzu. Nun, leben Sie wohl! Adieu, in allem Ernst, adieu! Und bleiben Sie nicht an meiner Tür stehen, denn ich werde doch nicht aufschließen.«
Er entfernte sich, und ich vermochte nichts weiter zu erreichen. Trotz seiner angeblichen Aufregung hatte er fließend, ohne Hast und gewichtig gesprochen, offenbar von dem Wunsch beseelt, Eindruck zu machen. Natürlich hatte er sich ein bißchen über mich geärgert und rächte sich jetzt indirekt an mir, vielleicht sogar für die gestrigen »Bauernwagen« und »auseinandergleitenden Dielen«. Seine heute früh in aller Öffentlichkeit vergossenen Tränen aber hatten ihn, und das wußte er, trotz eines gewissen Sieges in eine etwas komische Situation gebracht, und es gab keinen zweiten Menschen, der um die Innehaltung der schönen und strengen Formen im Umgang mit den Freunden so sehr besorgt gewesen wäre wie Stepan Trofimowitsch. Oh, ich werfe ihm keine Schuld vor und klage ihn nicht an. Aber gerade diese Pedanterie und Spottlust, die sich in ihm trotz aller Erschütterungen erhalten hatten, beruhigten mich damals: ein Mensch, der sich anscheinend so wenig verändert hatte, konnte meiner Meinung nach in diesem Augenblick durchaus keine Neigung zu etwas Tragischem oder Außerordentlichem verspüren. So habe ich damals geurteilt und habe mich geirrt. O Gott, wie sehr habe ich mich geirrt! Ich hatte zu vieles außer acht gelassen ...
Den Ereignissen vorgreifend will ich hier die ersten Zeilen aus dem Briefe anführen, den er an Darja Pawlowna geschrieben hatte, und den sie wirklich schon am nächsten Tage erhielt.
»Mon enfant, meine Hand zittert, aber ich habe unter alles einen Strich gezogen. Sie waren bei meinem letzten Zusammenstoß mit den Menschen nicht anwesend; Sie waren nicht zu dieser ›Vorlesung‹ gekommen und haben gut daran getan. Aber man wird Ihnen erzählen, daß in unserem an Charakteren so arm gewordenen Rußland ein kühner Mann aufgestanden war, der trotz der furchtbarsten Drohungen, mit denen man ihn von allen Seiten überhäufte, diesen Dummköpfen die Wahrheit gesagt hatte, nämlich, daß sie kleine, elende Dummköpfe sind. Oh, ce sont de pauvres petits vauriens et rien de plus, de petits ... Närrchen, voilà le mot! Die Würfel sind gefallen; ich gehe aus dieser Stadt für immer und weiß noch nicht, wohin. Alle, die ich geliebt habe, haben sich von mir abgewandt. Aber Sie, Sie reines und naives Wesen, Sie Sanfte, deren Schicksal sich nach dem Willen eines launenhaften, herrschsüchtigen Herzens beinah mit dem meinen vereinigt hätte, Sie, die Sie vielleicht mit Verachtung auf mich herabgeblickt haben, als ich kurz vor unserer nicht zustandegekommenen Ehe kleinmütig Tränen vergoß, Sie, die Sie, wie Sie auch immer sein mögen, mich gar nicht anders als eine komische Person betrachten konnten, oh, – Ihnen, Ihnen gilt der letzte Aufschrei meines Herzens, nur Ihnen gegenüber habe ich meine letzte Pflicht zu erfüllen! Ich kann Sie nicht für immer bei der Ansicht belassen, daß ich ein undankbarer Tor, ein roher und gefühlsloser Egoist sei, wie Ihnen das wahrscheinlich ein undankbares, grausames Herz täglich von mir versichert, ein Herz, das ich leider nicht vergessen kann ...«
Und so weiter und so weiter, im ganzen vier Seiten großen Formats.
Nachdem ich zur Antwort auf sein »Ich werde nicht aufschließen« dreimal mit der Faust gegen die Tür geklopft und ihm nachgerufen hatte, er werde heute noch Nastasia dreimal zu mir schicken, aber ohne Erfolg, da ich doch nicht kommen würde, verließ ich ihn und eilte zu Julia Michajlowna.
Hier wurde ich Zeuge einer empörenden Szene: man belog und betrog die arme Frau ins Gesicht, und ich konnte nichts dagegen machen. Was hätte ich ihr in der Tat sagen können? Ich war schon einigermaßen zur Besinnung gekommen und mußte mir sagen, daß ich nur gewisse Empfindungen und argwöhnische Vermutungen hatte, aber sonst nichts mehr. Ich fand die Gouverneurin in Tränen, einem hysterischen Anfall nahe; sie rieb sich Schläfen und Stirn mit Eau de Cologne ein, und vor ihr stand ein Glas Wasser, aus dem sie ab und zu einen Schluck tat. Bei ihr fand ich Piotr Stepanowitsch, der ohne Unterbrechung redete, und den Fürsten, der so konsequent schwieg, als ob man ihm ein Schloß vor den Mund gehängt hätte. Mit Tränen und beinah schreiend machte Julia Michajlowna Piotr Stepanowitsch heftige Vorwürfe wegen seiner »Abtrünnigkeit«. Es überraschte mich sofort, daß sie den ganzen Mißerfolg, die ganze Schmach dieses Vormittags, kurz, alles Unheil, was ihr widerfahren war, einzig und allein darauf zurückführte, daß Piotr Stepanowitsch nicht bei ihr war.
An ihm selbst bemerkte ich eine wichtige Veränderung: er schien über irgend etwas gar zu sehr besorgt zu sein und war beinah ernst. Gewöhnlich machte er nie den Eindruck eines ernsten Menschen; er lachte immer, sogar wenn er sich ärgerte, was übrigens sehr oft vorkam. Oh, er war auch jetzt ärgerlich, er sprach grob, nachlässig, mürrisch und ungeduldig. Er versicherte, heute früh an Kopfschmerzen und Erbrechen erkrankt zu sein, und zwar in der Wohnung Gaganows, den er zufällig am frühen Morgen besucht hatte. Ach, die arme Frau wollte sich doch so gern weiter betrügen lassen! Die wichtigste Frage, die bei meiner Ankunft zur Verhandlung stand, war die, ob der Ball, das heißt, die ganze zweite Hälfte des Festes stattfinden sollte oder nicht. Julia Michajlowna wollte um keinen Preis »nach den Beleidigungen von vorhin« auf dem Balle erscheinen, sie wünschte also mit anderen Worten, aus aller Kraft dazu gezwungen zu werden, und zwar gerade von ihm, von Piotr Stepanowitsch. Sie sah in ihm etwas wie eine Art von Orakel, und wäre er jetzt sogleich weggegangen, so hätte sie sich ohne Zweifel krank ins Bett gelegt. Aber er dachte gar nicht daran, wegzugehen: er selbst wollte durchaus, daß der Ball heute stattfände und Julia Michajlowna unbedingt auf ihm erscheine ...
»Na, weshalb weinen Sie denn? Müssen Sie denn durchaus eine Szene machen? An jemandem Ihren Ärger auslassen? Nun ja, dann lassen Sie ihn schon an mir aus, aber recht schnell, denn die Zeit vergeht, und wir müssen zu irgendeinem Entschluß kommen. Haben wir das Fest mit den Vorlesungen verdorben, so werden wir es mit dem Ball wieder gutmachen. Da, der Fürst ist auch dieser Meinung. Ja, wenn der Fürst nicht dagewesen wäre, was hätte die Sache erst dann für ein Ende genommen?«
Der Fürst war anfangs gegen den Ball, das heißt eigentlich nur gegen Julia Michajlownas Erscheinen auf dem Balle, denn dieser zweite Teil des Programms mußte auch seiner Ansicht nach unbedingt stattfinden, aber nach zwei oder drei solchen Berufungen auf seine Meinung begann er allmählich zum Zeichen der Zustimmung zu brummen.
In Erstaunen versetzte mich auch die ungewöhnliche Unhöflichkeit des von Piotr Stepanowitsch angeschlagenen Tones. Oh, mit Entrüstung verneine ich das nachher verbreitete gemeine Geklatsch, demzufolge Julia Michajlowna mit Piotr Stepanowitsch irgendein Verhältnis gehabt haben sollte. Es hat nichts Derartiges gegeben und konnte auch gar nicht möglich sein. Er hatte nur dadurch eine große Macht über sie erlangt, daß er ihr von Anfang an nach dem Munde sprach, ihr bei ihren phantastischen Hoffnungen, auf die Gesellschaft und auf das Ministerium Einfluß zu gewinnen, aus aller Kraft zustimmte, auf ihre Pläne eingegangen war, ihr selbst Projekte über Projekte entworfen hatte, mit den gröbsten Schmeicheleien vorging, sie vom Kopf bis zu den Füßen umstrickt hatte und ihr so notwendig geworden war wie die Luft. Als sie mich erblickte, rief sie mit funkelnden Augen:
»Hier, fragen Sie ihn auch, er ist, genau so wie der Fürst, die ganze Zeit über nicht von meiner Seite gewichen. Sagen Sie,« wandte sie sich an mich, »ist es nicht klar, daß das alles eine Verschwörung ist, eine gemeine, listige Verschwörung, um nur mir und Andrej Antonowitsch möglichst viel Böses anzutun? Oh, das alles geschah auf Verabredung! Die Leute hatten einen ganz bestimmten Plan. Das ist eine Partei, eine ganze Partei!«
»Sie gehen schon wieder viel zu weit, wie immer. Stets und ständig haben Sie ganze Dichtungen im Kopf. Ich freue mich übrigens der Ankunft des Herrn ...« (er tat so, als hätte er meinen Namen vergessen), »er wird Ihnen seine Ansicht sagen.«
»Meine Ansicht«, beeilte ich mich zu erwidern, »stimmt in allen Punkten mit der Ansicht Julia Michajlownas überein. Das Vorhandensein einer Verschwörung liegt nur allzu klar zutage. Ich habe Ihnen hier diese Schleife zurückgebracht, Julia Michajlowna. Ob der Ball nun stattfindet oder nicht, ist natürlich nicht meine Sache, da nicht ich darüber zu entscheiden habe; aber meine Rolle als Festordner ist beendet. Verzeihen Sie mir meine Hitzigkeit, es ist mir jedoch unmöglich, gegen die gesunde Vernunft und gegen meine Überzeugung zu handeln.«
»Hören Sie, hören Sie!« rief sie und schlug die Hände zusammen.
»Ja, ich höre,« antwortete er, »und will Ihnen folgendes sagen,« wandte er sich an mich, »ich nehme an, daß Sie alle irgend etwas gegessen haben, wovon Sie wie im Fieber reden. Meiner Ansicht nach hat sich nichts zugetragen, durchaus nichts, was nicht auch früher schon geschehen wäre und was nicht immer in dieser Stadt geschehen könnte. Wo ist hier eine Verschwörung? Es ist häßlich gewesen, beschämend, dumm, aber wo ist da eine Spur von einer Verschwörung zu sehen? Einer Verschwörung gegen Julia Michajlowna, gegen den allgemeinen Liebling, die doch gerade diese Menschen verzogen und ihnen alle ihre leichtfertigen Streiche ohne Unterschied verziehen hat? Julia Michajlowna! Was habe ich Ihnen einen ganzen Monat lang ohne Unterlaß wiederholt? Wovor habe ich Sie gewarnt? Nun sagen Sie mir, sagen Sie mir doch, wozu hatten Sie alle diese Menschen nötig? Mußten Sie sich denn mit diesen gemeinen Leutchen einlassen? Wozu? Zu welchem Zweck? Um eine Einigkeit in der Gesellschaft herzustellen? Ja, werden denn diese Herrschaften sich jemals einigen können, ich bitte Sie!«
»Wann haben Sie mich denn gewarnt? Im Gegenteil, Sie haben es stets gebilligt, Sie haben es sogar gefordert ... Ich muß sagen, ich bin so erstaunt ... Sie selbst haben mir viele seltsame Menschen zugeführt.«
»Nein, Sie irren sich, ich habe mich mit Ihnen gestritten und es keineswegs gebilligt. Was aber Ihren zweiten Vorwurf anbetrifft, so stimmt es wohl, daß ich Ihnen einige dieser Menschen zugeführt habe. Aber das tat ich doch, als sie sich schon von selbst dutzendweise herangedrängt hatten, und auch nur in der letzten Zeit, um die ›Quadrille der Literatur‹ zustandezubringen, denn dabei kann man ohne dieses Pack nicht auskommen. Aber ich möchte darauf wetten, daß diese Kerle heute noch ein Dutzend oder mehr ebensolchen Gesindels ohne Eintrittskarten mitgebracht hatten!«
»Unbedingt«, bestätigte ich.
»Sehen Sie wohl, Sie geben schon zu. Erinnern Sie sich wohl, was hier, das heißt in diesem ganzen Städtchen in der letzten Zeit für ein Ton geherrscht hat? Das alles lief doch nur noch auf Dreistigkeiten und Schamlosigkeit hinaus; das war doch nichts weiter als ein unaufhörlicher Skandal, der dauernd ausposaunt wurde. Und wer ermutigte dieses Treiben? Wer deckte es durch seine Autorität? Wer hat hier alle irre gemacht? Wer hat die kleinen Leute vor den Kopf gestoßen? In Ihrem Album sind ja alle hiesigen Familiengeheimnisse dargestellt. Haben Sie nicht selbst Ihren Dichtern und Zeichnern den Kopf gestreichelt? Haben Sie nicht selbst Liamschin Ihre Hand zum Kuß gereicht? Waren Sie nicht dabei, als der Seminarist den Wirklichen Staatsrat ausschimpfte und seiner Tochter mit Teerstiefeln das Kleid ruinierte? Wie können Sie sich denn noch darüber wundern, wenn das Publikum gegen Sie gestimmt ist?«
»Aber das haben Sie doch alles selbst gewünscht, Sie, Sie selbst! O mein Gott!«
»Nein, gnädige Frau, ich habe Sie gewarnt; wir haben uns gestritten, hören Sie wohl? Wir haben uns deswegen gezankt!«
»Sie lügen mir ja ins Gesicht.«
»Nun ja, Sie können das natürlich leicht sagen, denn es kostet Sie ja nichts. Sie brauchen jetzt ein Opfer, Sie müssen jetzt einen Menschen haben, an dem Sie Ihren Ärger auslassen können; nun ja, benutzen Sie mich dazu, ich habe es schon einmal gesagt. Ich werde mich lieber an Sie wenden, Herr ...« (er konnte sich immer noch nicht auf meinen Namen besinnen). »Lassen Sie es uns an den Fingern abzählen. Ich behaupte nämlich, daß es außer Liputin keinen einzigen Verschwörer weiter gegeben hat, kei–nen ein–zi–gen! Ich werde es beweisen, aber nehmen wir mal erst Liputin genauer in Augenschein. Er trat mit einem Gedicht dieses Narren Lebiadkin hervor. Ist das nun also Ihrer Ansicht nach eine Verschwörung? Ja, wissen Sie wohl, daß Liputin die Verse möglicherweise einfach für geistreich gehalten hat? Im Ernst, sie konnten ihm im Ernst als sehr geistreich erscheinen. Er war einfach aufgetreten, um alle zu erheitern und, in erster Linie allerdings seine Gönnerin Julia Michajlowna zum Lachen zu bringen, und weiter nichts. Sie glauben nicht? Nun, bewegt sich denn das etwa nicht auf derselben Linie und in demselben Ton wie alles, was hier einen ganzen Monat lang geschah? Und wenn Sie wollen, so kann ich Ihnen sogar noch mehr sagen: unter anderen Umständen wäre Liputin damit, weiß Gott, sehr gut durchgekommen! Der Scherz war plump, na ja, starker Tobak, wie man sagt, aber doch immerhin lustig, doch immerhin lustig, nicht wahr?«
»Wie? Sie halten Liputins Benehmen für geistreich?« rief Julia Michajlowna furchtbar entrüstet. »Diese Dummheit, diese Taktlosigkeit, diese Gemeinheit, diese Niederträchtigkeit, diese Hinterlist? Oh, Sie reden absichtlich so! Sie sind wohl selbst mit diesen Menschen verschworen?«
»Unbedingt! Ich habe im Hintergrund gesessen, mich versteckt gehalten und die ganze Maschinerie in Bewegung gesetzt. Aber wenn ich an der Verschwörung beteiligt wäre, dann hätte es doch mit dem Liputinschen Auftritte noch lange kein Ende genommen! Wenn Sie wenigstens das begreifen wollten! Oder habe ich mich Ihrer Meinung nach mit meinem Papachen verabredet, damit er absichtlich einen solchen Skandal hervorrufe? Nun, wer ist nun schuld daran, daß mein Väterchen eine Vorlesung halten durfte? Wer hat Sie noch gestern davon zurückzuhalten versucht, gestern noch, gestern?«
»Oh, hier ... il avait tant d'esprit; ich habe so stark auf ihn gerechnet und außerdem hat er Manieren: ich dachte, er und Karmasinow ... und nun!«
»Jawohl! Und nun! Trotz des ganzen tant d'esprit hat Papachen Ihrem ganzen Fest sozusagen ein Bein gestellt! Wenn ich nun selbst im voraus gewußt hätte, daß er die Sache verderben würde, hätte ich dann als Teilnehmer an einer zweifelsohne gegen Ihr Fest gerichteten Verschwörung Ihnen gestern davon abgeredet, den Bock zum Gärtner zu machen, wie? Und doch habe ich Sie gestern davor gewarnt – gewarnt, weil ich das Ergebnis geahnt habe. Es ist natürlich vollkommen unmöglich, alles vorauszusehen: wahrscheinlich hatte er selbst noch eine Minute vorher nicht gewußt, wie er losschießen werde. Diese nervösen, alten Herren sind doch ganz und gar nicht wie andere Menschen! Aber das Ganze läßt sich immer noch gutmachen: schicken Sie zu ihm gleich morgen zur Genugtuung des Publikums auf administrativem Wege und mit allem schuldigen Respekt zwei Ärzte, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen. Sogar heute könnte man das schon machen und ihn dann gleich zu einer Kaltwasserkur ins Krankenhaus schicken. Dann werden wenigstens alle lachen und einsehen, daß absolut kein Anlaß vorliegt, sich beleidigt zu fühlen. Ich werde heute noch auf dem Ball eine entsprechende Mitteilung machen, und zwar als sein Sohn. Etwas anderes ist es mit Karmasinow; der ist als grüner Esel aufgetreten und hat an seiner Abhandlung eine ganze Stunde lang herumgelesen – er ist also schon ganz unzweifelhaft mit mir verschworen! Sicherlich hat er gesagt: ›Lassen, Sie auch mich das Fest nach Kräften verderben, um Julia Michajlowna zu schaden!‹«
»O Karmasinow, quelle honte! Die Scham verzehrte mich wie Feuersglut, die Scham über unser Publikum!«
»Na, ich wäre nicht vor Scham verbrannt, sondern hätte lieber Herrn Karmasinow selbst ein bißchen gebraten. Das Publikum hatte doch ganz recht! Und wer ist nun wieder an Karmasinow schuld? Habe ich ihn Ihnen aufgedrängt oder nicht? Habe ich mich je an der Vergötterung seiner Person beteiligt? Nun ja, hol' ihn der Teufel, aber der dritte Vortragende, dieser politische Schauspieler, na, mit dem ist es etwas ganz anderes. Hier haben alle einen Bock geschossen, und daran ist nicht etwa meine Verschwörung schuld.«
»Ach, sprechen Sie nicht, reden Sie nicht davon, es ist schrecklich, ganz schrecklich! An dem bin ich, ich allein die einzige Schuldige!«
»Gewiß, aber in diesem Punkte habe ich für Sie eine Entschuldigung. Ach, wem ist es denn überhaupt möglich, hinter das wirkliche Gesicht dieser Aufrichtigen zu kommen? Selbst in Petersburg ist man vor ihnen nicht sicher. Er war Ihnen doch empfohlen und noch dazu wie! Jetzt müssen Sie doch selbst zugeben, daß Sie sogar verpflichtet sind, auf dem Balle zu erscheinen. Denn das ist doch eine ernste Sache, Sie haben ihn doch selbst auf das Katheder gebracht. Jetzt müssen Sie eben in aller Öffentlichkeit erklären, daß der Bursche bereits von der Polizei festgenommen ist, daß Sie mit ihm nicht solidarisch sind, und daß man Sie auf eine unbegreifliche Weise getäuscht hat. Sie müssen entrüstet erklären, daß Sie das Opfer eines Wahnsinnigen geworden sind. Denn er ist ja nichts weiter als ein Verrückter. In diesem Sinne muß über ihn auch die Meldung nach oben gemacht werden. Ich mag diese um sich beißenden Kerle nicht leiden. Ich selbst rede ja vielleicht noch Schlimmeres zusammen, aber doch nicht vom Katheder herab. Und gerade jetzt machen die Leute soviel Gerede von einem Senator.«
»Wer macht ein Gerede? Von welchem Senator?«
»Sehen Sie, ich selbst begreife noch nichts davon. Ist Ihnen denn noch nichts von einem Senator bekannt geworden, Julia Michajlowna?«
»Von einem Senator?«
»Die Leute sind nämlich davon überzeugt, daß aus Petersburg bereits ein Senator hierher bestimmt worden ist, und daß Sie abgelöst werden sollen. Ich habe es von vielen gehört.«
»Auch ich habe so etwas läuten hören«, bestätigte ich.
»Wer hat das gesagt?« rief Julia Michajlowna und wurde plötzlich ganz dunkelrot.
»Sie meinen, wer das zuerst gesagt hat? Woher soll ich denn das wissen? Es ist nun eben ein Gerücht. Die Masse spricht davon. Namentlich gestern wurde viel davon geredet. Alle waren dabei irgendwie sehr ernst, obwohl man absolut nicht klug daraus werden kann. Freilich, die Verständigeren und Sachkundigeren reden nicht mit; aber auch von denen hören manche zu.«
»Was für eine Niederträchtigkeit! Und ... was für eine Dummheit!«
»Na, da müssen Sie jetzt eben erscheinen, um diesen Dummköpfen zu zeigen ...«
»Offengestanden habe ich selbst die Empfindung, daß ich dazu sogar verpflichtet bin, aber ... wie, wenn eine andere Schmach und Schande meiner wartet? Wie, wenn die Leute nicht zum Ball kommen? Denn es wird doch kein Mensch kommen, niemand, niemand!«
»Wie fest Sie das behaupten! Diese Leutchen sollten nicht kommen? Und die Kleider, die man sich hat machen lassen, und die Toiletten der jungen Damen? Nein, wenn Sie so reden, muß ich Ihnen doch tatsächlich die Instinkte einer Frau absprechen! Ist das eine Menschenkenntnis!«
»Die Frau Adelsmarschall wird nicht da sein, sie wird bestimmt nicht da sein!«
»Aber was ist denn schließlich überhaupt geschehen! Weswegen sollten die Leute wegbleiben?« rief Piotr Stepanowitsch endlich in wütender Ungeduld.
»Eine Entehrung, eine Schande – das ist es, was geschehen ist! Was eigentlich vorgefallen ist, weiß ich nicht, jedenfalls aber geschah etwas Derartiges, daß ich nunmehr unter keinen Umständen mehr hingehen kann.«
»Aber warum denn? Was können Sie denn schließlich dafür? Warum nehmen Sie die Schuld auf sich? Ist nicht eher das Publikum schuld, Ihre alten Herren, Ihre Familienväter? Diese Leute mußten doch die Taugenichtse und die Herumtreiber im Zaume halten, denn es handelt sich dabei doch nur um Taugenichtse und Herumtreiber und um nichts Ernsteres. Nirgends und in keiner Gesellschaft kann man mit diesen Elementen allein mit Hilfe der Polizei fertig werden. Bei uns verlangt ein jeder, wenn er hereinkommt, daß man ihm einen besonderen Polizisten zu seiner Bewachung mitgibt. Die Leute wollen nicht begreifen, daß die Gesellschaft sich selbst zu schützen hat. Was aber tun bei uns die Familienväter, die Würdenträger, die Frauen und Töchter in solchen Fällen? Sie schweigen und schmollen und fühlen sich gekränkt. Nicht einmal soweit reicht die Initiative der Gesellschaft aus, um solche Schlingel kaltzustellen.«
»Ach, das sind wahre Worte, wahr wie Gold! Die schweigen, fühlen sich gekränkt und ... sehen sich um.«
»Nun, wenn das wahr ist, dann müssen Sie es ihnen gegenüber auch aussprechen, laut, stolz und streng. Nun haben Sie die Pflicht gerade erst recht zu zeigen, daß Sie nicht geschlagen sind. Gerade diesen alten Herren und den Müttern. Oh, das werden Sie schon zu machen verstehen, Sie haben ein Talent dazu, wenn Ihr Kopf klar ist. Sie müssen die Leute um sich gruppieren und dann offen und laut reden. Und dann schicken Sie eine Korrespondenz an die ›Petersburger Stimme‹ und an die ›Börsennachrichten‹. Warten Sie, ich werde das selbst in Angriff nehmen, ich werde Ihnen alles arrangieren. Natürlich müssen wir jetzt bedeutend aufmerksamer sein und auch das Büfett beobachten; wir müssen den Fürsten bitten und hier, den Herrn ... Sie können doch nicht im Ernst daran denken, uns jetzt im Stich zu lassen, monsieur, jetzt, da gerade alles von neuem beginnen soll. Nun und schließlich müssen Sie, Julia Michajlowna, auch untergefaßt mit Andrej Antonowitsch erscheinen. Wie geht es übrigens Andrej Antonowitsch gesundheitlich?«
»Oh, wie ungerecht, wie falsch, wie beleidigend haben Sie immer über diesen engelhaften Menschen geurteilt!« rief Julia Michajlowna in einem plötzlichen Gefühlsausbruch und beinah mit Tränen in den Augen, wobei sie das Taschentuch an die Augen drückte. Piotr Stepanowitsch war im ersten Augenblick so verblüfft, daß er nur noch stottern konnte:
»Aber ... ich bitte Sie, ich ... aber wieso denn ich! ... Ich habe doch immer ...«
»Nein, nie, nie! Nie haben Sie ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen!«
»Aus einer Frau kann man doch nie klug werden!« murmelte Piotr Stepanowitsch mit einem schiefen Lächeln.
»Er ist der redlichste, zartfühlendste, engelhafteste Mensch, der gütigste Mensch auf Erden!«
»Aber ich bitte Sie, was seine Herzensgüte anbelangt ... in diesem Punkt war ich stets gerecht gegen ihn ...«
»Niemals! Aber lassen wir das. Ich habe ihn zu ungeschickt in Schutz genommen. Vorhin hat diese Jesuitin, die Frau Adelsmarschall, auch einige spöttische Bemerkungen über die gestrigen Vorgänge fallen lassen.«
»Oh, jetzt wird sie keine Lust mehr haben zu Bemerkungen über das Gestrige. Sie hat jetzt ihr Heutiges. Und weshalb beunruhigen Sie sich nur darüber, daß sie nicht auf den Ball kommen wird? Natürlich kann sie das nicht recht, nachdem sie in eine solche Skandalgeschichte hineingeraten ist. Vielleicht ist sie auch gar nicht schuld daran, aber ihrem Ruf tut es doch Abbruch, denn ihre Hände hat sie immerhin dabei im Spiel gehabt und besudelt.«
»Was heißt das? Was wollen Sie damit sagen? Ich verstehe nicht: wieso hat sie sich die Hände besudelt?« fragte Julia Michajlowna und sah ihn erstaunt an.
»Das heißt, ich behaupte es ja nicht, aber in der Stadt sagt man, sie habe die beiden zusammengekuppelt.«
»Wie? Was? Wen denn zusammengekuppelt?«
»Ach, wissen Sie denn noch gar nichts davon?« meinte er mit einem vorzüglich gekünstelten Erstaunen. »Nun, Stawrogin und Lisaweta Nikolajewna!«
»Wie? Was?« riefen wir alle.
»Ja, wissen Sie es denn wirklich nicht?« Er pfiff sogar vor Verwunderung. »Da haben sich sogar tragische Romane abgespielt: Lisaweta Nikolajewna geruhte einfach aus dem Wagen der Frau Adelsmarschall gerade in Stawrogins Wagen umzusteigen und ist mit ›diesem letzteren‹ am hellichten Tage nach Skworeschniki gefahren. Es ist ja erst vor einer Stunde geschehen. Es wird vielleicht noch keine ganze Stunde her sein.«
Wir waren starr. Natürlich bestürmten wir ihn mit weiteren Fragen, aber obwohl er selbst »zufällig« Zeuge des Vorganges gewesen war, konnte er zu unserer Verwunderung doch nichts Genaueres davon erzählen. Die ganze Sache hatte sich angeblich folgendermaßen abgespielt: als die Frau Adelsmarschall nach der »Vorlesung« Lisa und Mawrikij Nikolajewitsch in ihrem Wagen nach dem Hause von Lisas Mutter, die immer noch an kranken Füßen litt, gebracht hatte, da wartete etwa fünfundzwanzig Schritte vom Portal entfernt bereits ein anderer Wagen. Sobald Lisa an der Haustür ausgestiegen war, lief sie geradewegs zu diesem Wagen hin; der Schlag wurde geöffnet und dann wieder zugeschlagen; Lisa rief Mawrikij Nikolajewitsch zu: »Verzeihen Sie mir, seien Sie nicht unbarmherzig!« und der Wagen fuhr im schnellen Tempo nach Skworeschniki ab. Auf unsere hastigen Fragen, ob es denn verabredet gewesen sei, und wer im Wagen gesessen habe, antwortete Piotr Stepanowitsch, er wisse das nicht; eine Verabredung habe, seiner Meinung nach, bestimmt vorgelegen, aber Stawrogin selbst habe er im Wagen nicht bemerkt; vielleicht wäre sein Kammerdiener, der alte Alexej Jegorowitsch, darin gewesen. Auf unsere Frage: »Wie kam es denn, daß Sie gerade dabei waren? Und woher wissen Sie so genau, daß sie nach Skworeschniki gefahren ist?« antwortete er, er sei da zufällig vorbeigekommen und, als er Lisa erblickte, sogar an den Wagen herangelaufen. (Und dabei wollte er doch nicht bemerkt haben, wer in dem Wagen saß, er, bei seiner Neugier!) Außerdem erzählte er, daß Mawrikij Nikolajewitsch nicht nur keine Verfolgung unternommen, sondern nicht einmal den Versuch gemacht habe, Lisa zurückzuhalten. Ja, er soll sogar der Frau Adelsmarschall den Mund zugehalten haben, als diese aus voller Kehle schrie: »Sie will zu Stawrogin, sie fährt zu Stawrogin!« Hier verlor ich aber plötzlich die Geduld und rief Piotr Stepanowitsch wütend zu:
»Das hast du alles angestiftet, du Lump du! Darauf hast du den ganzen Vormittag verwendet! Du hast Stawrogin geholfen, du bist in jenem Wagen angekommen, du hast sie einsteigen lassen ... Du, du, du! Julia Michajlowna, dieser Mensch ist Ihr Feind; er wird auch Sie noch zugrunde richten, nehmen Sie sich vor ihm in acht!«
Und ich lief Hals über Kopf aus dem Hause.
Noch bis auf den heutigen Tag verstehe ich nicht und wundere mich darüber, daß ich ihm damals das alles habe zurufen können. Aber ich hatte ganz richtig geraten: fast alles war genau so vor sich gegangen, wie ich ihm das auf den Kopf zugesagt hatte. Das hat sich in der Folge alles herausgestellt. Vor allen Dingen war schon die falsche und unüberlegte Weise, in der er uns diese Nachricht überbrachte, gar zu auffällig gewesen. Er hatte sie uns nicht sofort, nachdem er ins Haus gekommen war, als erste und außerordentliche Neuigkeit erzählt, sondern stellte sich so, als müßten wir das schon ohne ihn wissen – was indessen angesichts der kurzen Zeit seit dem Vorfall schlechterdings unmöglich war. Aber selbst, wenn uns schon alles bekannt gewesen wäre, so hätten wir gar nicht schweigen können, bis er davon anfing zu reden. Auch hatte er gar nicht hören können, was in der Stadt über die Frau Adelsmarschall »geredet und geklatscht« wurde, wiederum der Kürze der Zeit wegen. Außerdem hatte er beim Erzählen ein paarmal in einer ganz gemeinen und leichtfertigen Art gelächelt, wahrscheinlich, weil er uns schon für vollkommen betrogene Dummköpfe hielt. Aber ich hatte an Wichtigeres zu denken als an ihn. Der Hauptsache, dem Kern seiner Mitteilungen glaubte ich aufs bestimmteste und lief ganz außer mir von Julia Michajlowna weg. Die Katastrophe wirkte auf mich wie ein Stich ins Herz. Das Ganze tat mir so leid, daß ich am liebsten geweint hätte, und vielleicht habe ich es auch tatsächlich getan. Ich wußte gar nicht, was ich unternehmen sollte. Ich lief zu Stepan Trofimowitsch, aber der sonderbare Mensch schloß mir seine Tür auch jetzt nicht auf. Nastasia versicherte mir im ehrfurchtsvollen Flüsterton, er hätte sich schlafen gelegt, aber ich glaubte es nicht. In Lisas Hause gelang es mir, die Dienerschaft zu befragen; sie bestätigten die Nachricht von der Flucht, wußten aber selbst keine Einzelheiten. Im Hause herrschte eine furchtbare Unruhe; die kranke gnädige Frau hatte Ohnmachtsanfälle bekommen, und Mawrikij Nikolajewitsch befand sich bei ihr. Ihn selbst herausrufen zu lassen schien mir ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Auf meine Fragen über Piotr Stepanowitsch wurde mir bestätigt, daß er in der letzten Zeit sehr häufig ins Haus gekommen sei, mitunter sogar zweimal am Tage. Die Diener waren betrübt und sprachen von Lisa mit einer gewissen besonderen Hochachtung; man hatte sie sehr gern gehabt. Daß sie verloren war, gänzlich verloren, daran zweifelte ich nicht, aber die psychologische Seite des Vorganges war mir durchaus unverständlich, besonders nach ihrem gestrigen Auftritt mit Stawrogin. Durch die Stadt zu laufen und mich bei den schadenfrohen Bekannten zu erkundigen, zu denen die Nachricht jetzt natürlich auch bereits gedrungen war – das widerstrebte mir und schien mir auch für Lisa entwürdigend zu sein. Seltsamerweise versuchte ich aber, Darja Pawlowna aufzusuchen, habe jedoch nichts erreicht, da ich nicht empfangen wurde, wie denn im Stawroginschen Hause seit dem vorhergehenden Tage niemand Einlaß fand; ich weiß nicht, was ich ihr hätte sagen können, und warum ich zu ihr gelaufen war. Von ihr aus begab ich mich zu ihrem Bruder. Schatow hörte mich schweigend und mürrisch an. Ich muß bemerken, daß ich ihn in einer ungewöhnlich schlechten Stimmung vorfand. Er war furchtbar nachdenklich und hatte mich nur mit größter Mühe angehört. Er erwiderte fast nichts und begann in seinem Kämmerlein auf und ab, von einer Ecke in die andere zu gehen, wobei er nur stärker als gewöhnlich mit den Stiefeln aufstampfte. Als ich aber beim Weggehen schon die Treppe hinunterstieg, rief er mir nach, ich solle zu Liputin herangehen: »Dort werden Sie alles erfahren.« Aber zu Liputin bin ich nicht hingegangen, sondern kehrte, als ich schon ziemlich weit weg war, wieder zu Schatow zurück, öffnete ein wenig die Tür und schlug ihm lakonisch und ohne eine Erklärung abzugeben vor: »Würden Sie heute nicht einmal zu Maria Timofejewna hinübergehen?« Als Antwort darauf bekam ich von Schatow Scheltworte zu hören und ging fort. Ich zeichne das auf, um nicht zu vergessen, daß Schatow sich noch am selben Abend an den Rand der Stadt begeben hatte, und zwar nur, um Maria Timofejewna zu besuchen, die er schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Er fand sie bei recht guter Gesundheit und in heiterer Stimmung, ihren Bruder aber, der sinnlos betrunken war, in tiefem Schlaf auf dem Sofa. Das war genau um neun Uhr gewesen, so berichtete er mir selbst gleich am folgenden Tage, als er mir zufälligerweise auf der Straße begegnete. Ich aber entschloß mich gegen zehn Uhr schließlich doch noch, auf den Ball zu gehen, aber nicht mehr als »junger Festordner«, zumal auch meine Schleife bei Julia Michajlowna geblieben war, sondern lediglich aus unbezähmbarer Neugier, um zu hören (ohne selbst zu fragen), was und wie man bei uns in der Stadt über all diese Ereignisse redete. Auch Julia Michajlowna wollte ich gern sehen, wenn auch nur von weitem. Ich machte mir starke Vorwürfe, vorher so ohne weiteres von ihr weggelaufen zu sein.
Diese ganze Nacht mit ihren fast sinnlosen Ereignissen und mit der furchtbaren »Lösung« am Morgen schwebt mir bis auf den heutigen Tag noch wie ein häßlicher, drückender Alp vor und bildet – für mich wenigstens – den peinlichsten Teil meiner Chronik. Ich hatte allerdings den Anfang des Balles versäumt, kam aber gerade zu seinem Ende zurecht. Ja, so schnell war es ihm beschieden, ein Ende zu nehmen. Es war schon beinah elf Uhr, als ich zum Portale des Hauses der Frau Adelsmarschall gelangte, wo derselbe weiße Saal, in dem vor kurzem die Vorlesungen stattgefunden hatten, trotz der Kürze der Zeit bereits aufgeräumt und zurechtgemacht war, um, wie geplant, als Haupttanzsaal zu dienen, und zwar für die ganze Stadt. Aber wie schwarz ich auch in bezug auf den Ball noch am Vormittage zu sehen geneigt war, so hatte ich doch nicht die volle Wahrheit geahnt. Aus den höheren Kreisen war keine einzige Familie erschienen; selbst die einigermaßen angesehenen Beamten fehlten – und das ist schon ein sehr bemerkenswertes Zeichen. Was die Frauen und jungen Mädchen anbetrifft, so stellte sich heraus, daß die Voraussagungen, die Piotr Stepanowitsch gemacht hatte, und die, wie jetzt klar ersichtlich ist, heimtückisch waren, ebenfalls im höchsten Grade fehlschossen: es waren nur äußerst wenige erschienen, auf vier Herren kam kaum eine Dame und dazu noch was für eine! »Irgendwelche« Frauen der Regimentsoffiziere und der kleinen Beamten der Post und der Verwaltungsämter, drei Doktorfrauen mit ihren Töchtern, zwei oder drei ärmere Gutsbesitzerinnen, die sieben Töchter und die Nichte jenes Sekretärs, den ich irgendwo früher schon erwähnt hatte, Kaufmannsfrauen, – war das etwa das Publikum, das Julia Michajlowna erwarten durfte? Ja, selbst die Kaufleute waren nur zur Hälfte erschienen. Was die Männer anbetrifft, so bildeten sie trotz des vollständigen Fehlens unserer vornehmen Welt dennoch eine ziemlich dichte Masse, die jedoch einen zweideutigen und verdächtigen Eindruck machte. Natürlich waren darunter auch mehrere sehr ruhige, achtbare Offiziere mit ihren Frauen, einige sehr gehorsame Familienväter, wie zum Beispiel immer derselbe Sekretär, der Vater seiner sieben Töchter. Dieses ganze friedliche, nie hoch hinauswollende Völkchen war nur sozusagen »der Unvermeidlichkeit« wegen hergekommen, wie sich einer von diesen Herren ausgedrückt hatte. Andererseits aber schien die Menge der gewandteren Persönlichkeiten, wie auch die Anzahl derer, die nach einem von Piotr Stepanowitsch und mir vorhin geäußerten Verdacht ohne Eintrittskarten hereingekommen waren, ziemlich angewachsen zu sein. Sie alle saßen vorläufig beim Büfett und gingen auch gleich beim Eintreten geradewegs dorthin, wie nach einer im voraus verabredeten Stelle. Jedenfalls habe ich diesen Eindruck gewonnen. Das Büfett befand sich am Ende einer Zimmerflucht in einem geräumigen Saale, wo sich Prochorytsch mit allen Verlockungen der Klubküche und mit einer verführerischen Ausstellung von kalten Speisen und Getränken niedergelassen hatte. Ich bemerkte dort auch mehrere Individuen in beinah zerrissenen Röcken, in höchst zweifelhaften, außerordentlich wenig für einen Ball geeigneten Anzügen, Leute, die offenbar nur mit großer Mühe und für eine kurze Zeit nüchtern gemacht und Gott weiß woher herangeholt waren, wahrscheinlich sogar aus anderen Städten. Mir war natürlich bekannt, daß es Julia Michajlownas Ideen entsprach, dem Ball eine möglichst demokratische Note zu verleihen, »indem man selbst Kleinbürger nicht ausschloß, falls jemand von ihnen auf den Wunsch verfiele, zu kommen und sein Billett bezahlen könne.« Das hatte sie ganz ruhig in ihrem Komitee aussprechen dürfen, da sie vollkommen davon überzeugt sein konnte, daß es keinem der Kleinbürger unserer Stadt, die durchweg arm waren, einfallen würde, eine Eintrittskarte zu kaufen. Aber dennoch zweifelte ich sehr daran, ob man diese schaurigen Subjekte in beinah zerrissenen Röcken trotz aller demokratischen Gesinnung des Komitees hätte hereinlassen dürfen. Wer aber hat ihnen die Türen geöffnet und zu welchem Zweck? Liputin und Liamschin waren schon ihrer Würde als Festordner entkleidet und trugen ihre Schleifen nicht mehr, obwohl sie im Saal anwesend waren, da sie an der »Quadrille der Literatur« teilnehmen sollten. Aber an Stelle Liputins war zu meiner Verwunderung gerade jener Seminarist getreten, der durch seine Angriffe auf Stepan Trofimowitsch die »Matinee« am meisten gestört hatte, und an Liamschins Stelle trat Piotr Stepanowitsch selbst; was konnte man unter solchen Umständen Gutes erwarten? Ich versuchte, die Gespräche mitanzuhören. Manche Äußerungen überraschten mich durch ihre Wunderlichkeit. So wurde zum Beispiel in einer Gruppe behauptet, daß die ganze Geschichte mit Stawrogin und Lisa von Julia Michajlowna zustandegebracht worden sei, und daß diese dafür von Stawrogin sogar Geld erhalten habe. Ja, es wurde sogar die Summe genannt. Man versicherte, daß sie selbst die Feier nur zu diesem Zwecke arrangiert habe und daß eben aus diesem Grunde, eben, nachdem man erfahren hatte, worum es sich handle, die halbe Stadt nicht wieder erschienen sei. Und Lembke selbst, behauptete man, sei darüber so verdutzt gewesen, daß »sein Verstand verstört wurde«, so daß sie jetzt einen verrückten Mann »umherführe«. – Es gab dort auch viel Gelächter, das heiser, roh, selbstgefällig und listig klang. Alle übten am Ball die schärfste Kritik und schimpften ganz ungeniert auf Julia Michajlowna. Im allgemeinen war das Geschwätz unzusammenhängend, trunken und unordentlich, so daß es beinah unmöglich war, daraus klug zu werden und etwas zu entnehmen. Daselbst am Büfett hatte sich auch eine Anzahl von Leuten eingefunden, die einfach lustig und vergnügt waren, darunter auch einige Damen von denen, die man durch nichts mehr in Erstaunen oder in Schrecken versetzen kann, sehr liebenswürdige und außerordentlich lustige Damen, meistenteils Offiziersfrauen mit ihren Männern. Sie hatten gruppenweise an einigen Tischchen Platz genommen und tranken vergnügt ihren Tee. Das Büfett hatte sich allmählich zu einem behaglichen Zufluchtsort für fast die Hälfte des erschienenen Publikums verwandelt. Und doch mußte nach einiger Zeit diese ganze Masse in den Saal hineinfluten; schon der Gedanke daran war grauenhaft.
Unterdessen waren im Weißen Saal unter Mitwirkung des Fürsten drei unansehnliche Quadrillen zustandegekommen. Die jungen Damen tanzten, und die Eltern freuten sich über sie. Aber schon jetzt begannen einige unter diesen achtungswerten Menschen darüber nachzudenken, wie sie sich, nachdem sie ihren Töchtern die Möglichkeit gegeben hatten, sich hinreichend zu amüsieren, noch rechtzeitig davonmachen könnten, und nicht erst dann, »wenn es losgehe«. Denn davon, daß es unfehlbar losgehen werde, waren ausnahmslos alle fest überzeugt. Es ist mir sehr schwer, Julia Michajlownas damalige Gemütsverfassung zu beschreiben. Ich habe mit ihr kein Wort gewechselt, obgleich ich mich oft in ihrer Nähe befand. Auf meinen Gruß beim Eintritt dankte sie nicht, da sie mich nicht bemerkt hatte. (Sie hatte mich tatsächlich nicht bemerkt.) Ihr Gesicht drückte schmerzvolles Leiden aus, ihr Blick war hochmütig und verächtlich, aber unstet und unruhig. Nur mit Mühe und Not schien sie sich zusammenzunehmen – aber wozu und für wen denn? Sie hätte unbedingt wegfahren und vor allen Dingen ihren Mann wegbringen sollen. Statt dessen aber blieb sie immer noch im Saal! Schon ihr Gesichtsausdruck besagte deutlich, daß ihr die Augen »vollständig aufgegangen« seien, und daß sie nichts Gutes mehr erwarte. Nicht einmal Piotr Stepanowitsch rief sie zu sich heran, und dieser schien ihr auch selbst geflissentlich aus dem Wege zu gehen; ich sah ihn am Büfett und stellte fest, daß er außerordentlich heiter war. Aber sie blieb dennoch auf dem Ball und ließ Andrej Antonowitsch nicht von sich. Oh, sie hätte bis zum letzten Augenblick, sogar vorhin während der Morgenfeier, jede Anspielung auf seinen Gesundheitszustand mit der aufrichtigsten Entrüstung zurückgewiesen. Jetzt aber mußten ihr schließlich auch in dieser Hinsicht die Augen aufgehen. Was mich betrifft, so hatte ich gleich beim ersten Blick auf unseren Gouverneur festgestellt, daß er schlechter aussah als am Vormittag. Er schien sich in einem Zustand von Selbstvergessenheit zu befinden und wußte offenbar gar nicht, wo er sich eigentlich befand. Mitunter blickte er sich mit einer überraschend strengen Miene um und hat zum Beispiel auch mich so angesehen. Einmal versuchte er, über irgend etwas ein Gespräch zu beginnen, fing ziemlich laut an, redete aber nicht zu Ende und versetzte dadurch einen bescheidenen alten Beamten, der gerade in seiner Nähe stand, beinah in Schrecken. Aber selbst die friedliche Hälfte des Publikums, die sich im Weißen Saal befand, ging Julia Michajlowna mit finsterer und ängstlicher Miene aus dem Wege, wobei die Leute indessen gleichzeitig sehr sonderbare Blicke auf ihren Gemahl warfen, Blicke, deren Unverwandtheit und Unverhohlenheit mit der sonstigen Schüchternheit dieser Menschen keineswegs im Einklang stand.
»Gerade das war es, was mich überraschte und auf mich förmlich wie ein Dolchstoß wirkte, so daß ich auf einmal anfing, den wahren Zustand Andrej Antonowitschs zu ahnen«, gestand mir Julia Michajlowna später einmal selbst.
Ja, sie hatte wieder eine neue Schuld auf sich geladen. Wahrscheinlich war sie vorhin, als nach meinem Fortlaufen entschieden wurde, daß der Ball stattfinden und sie auf ihm erscheinen sollte – wahrscheinlich war sie dann wieder in das Arbeitszimmer des schon bei der »Vorlesung« endgültig »erschütterten« Andrej Antonowitsch gegangen, hatte wieder alle ihre Verführungskünste zur Anwendung gebracht und ihn daraufhin mitgeschleppt. Aber welche Qual hatte sie wohl jetzt zu erdulden! Und sie fuhr dennoch nicht weg! Ob sie ihr Stolz peinigte, oder ob sie einfach die Fassung verloren hatte – ich weiß es nicht. Bei allem ihrem Hochmut versuchte sie dennoch, lächelnd und sich erniedrigend mit einigen Damen ein Gespräch anzuknüpfen, aber diese wurden sofort verlegen, fertigten sie mit einsilbigen und mißtrauisch hingeworfenen »Jawohl, gnädige Frau«, oder »Nein, gnädige Frau« ab und mieden sie ganz offensichtlich.
Von denen, die unbestritten zu den Würdenträgern unserer Stadt gehörten, befand sich am Abend im Weißen Saal nur ein einziger, und zwar eben jener sehr angesehene, verabschiedete General, den ich schon einmal beschrieben und der nach dem Duell zwischen Stawrogin und Gaganow »der Ungeduld der ganzen Gesellschaft den Weg gebahnt« hatte. Er ging würdevoll durch die Säle, betrachtete alles, hörte auch hier und da zu und suchte den Eindruck zu erwecken, als wäre er mehr zum Studium der Leute und ihrer Bräuche hergekommen als zu seinem wirklichen Vergnügen. Zuletzt schloß er sich definitiv Julia Michajlowna an, wich keinen Schritt von ihr und war offenbar bemüht, sie zu beruhigen und zu ermutigen. Er war ohne Zweifel ein herzensguter, sehr hochstehender und schon so bejahrter Mann, daß man sich sogar sein Bedauern gefallen lassen konnte. Aber sich selbst gestehen zu müssen, daß dieser alte Schwätzer es wagte, sie zu bedauern und sie in dem Bewußtsein, ihr durch seine Anwesenheit eine Ehre zu erweisen, sogar zu begönnern, muß für Julia Michajlowna außerordentlich peinlich gewesen sein. Der General aber ließ von ihr nicht ab und schwatzte ohne Aufhören:
»Eine Stadt, sagt man, kann nicht ohne sieben Gerechte bestehen ... sieben, glaube ich, ich besinne mich nicht recht auf die festgesetzte Anzahl. Ich weiß nicht, wie viele von diesen sieben ... unzweifelhaften Gerechten unserer Stadt ... die Ehre hatten, Ihren Ball zu besuchen, aber trotz der Anwesenheit dieser Menschen beginne ich mich nicht ganz si–cher zu fühlen. Vous me pardonnerez, charmante dame, n'est-ce pas? Ich spreche nur al–le–go–risch, aber ich war zum Büfett gegangen und bin jetzt froh, mit heiler Haut zurückgekommen zu sein ... Unser unschätzbarer Prochorytsch ist da nicht an seinem Platz, und es sieht so aus, als ob man ihn gegen Morgen ausplündern werde. Im übrigen mache ich ja nur Spaß. Ich warte lediglich, um zu sehen, was das für eine ›Quadrille der Li–te–ra–tur‹ sein wird und gehe dann sofort zu Bett. Verzeihen Sie einem alten Podagriker, ich gehe immer sehr früh schlafen und würde auch Ihnen raten, sich in die ›Baba‹ zu begeben, wie man aux enfants sagt. Und eigentlich bin ich um der schönen jungen Damen willen hergekommen ... die ich nirgends in so reichhaltiger Vollzähligkeit zu sehen bekommen kann, wie hier ... Sie wohnen alle jenseits des Flusses, und da komme ich nicht hin. Die Frau eines Offiziers ... er ist bei den Jägern, glaube ich ... ist sogar sehr niedlich, sehr, und ... und sie weiß es auch selbst. Ich habe mich mit diesem schelmischen Persönchen unterhalten; sie ist sehr keck, und ... auch die Mädchen sind ganz frisch; aber außer der Frische ist an ihnen nichts Besonderes. Übrigens hat es mir doch Vergnügen gemacht. Es gibt Knöspchen darunter; nur die Lippen sind etwas zu dick. Überhaupt hat die Schönheit der russischen Frauengesichter wenig von jener Regelmäßigkeit, und ... sie ähneln etwas einem Pfannkuchen ... vous me pardonnerez, n'est-ce pas ... übrigens neben schönen Augen ... neben schönen, lachenden Äugelchen. Diese Knöspchen sind während zweier Jahre ihrer Jugend ent–züc–kend ... mitunter sind sie es sogar drei Jahre lang ... nun, und dann werden sie unwiderruflich breit und schwammig ... wodurch sie in ihren Männern jenen bedauerlichen In–dif–fe–ren–tis–mus hervorrufen, der soviel zur Entwicklung der Frauenfrage beiträgt ... wenn ich nur diese Frage richtig verstehe ... Hm! Der Saal ist schön; die Räume sind nett ausgeschmückt. Es hätte schlechter sein können. Die Musik hätte viel schlechter sein können ... Ich sage nicht, daß sie es sein müßte. Es macht nur keinen guten Eindruck, daß so wenig Damen da sind. Die Toiletten und den Schmuck er–wäh–ne ich gar nicht. Es ist nicht gut, daß dieser Mann da, in den grauen Hosen, sich so offen erlaubt zu can–ca–nieren. Ich würde es verzeihen, wenn er es aus Freude täte, und weil er der hiesige Apotheker ist ... aber gegen elf Uhr ist es doch noch zu früh, selbst für einen Apotheker ... Im Büfettzimmer hatten sich zwei von den Besuchern geprügelt und sind nicht hinausbefördert worden. In der elften Stunde müßte man die Raufbolde noch hinausschmeißen, mögen auch die Sitten des Publikums sein, wie sie wollen ... Anders kann es nach zwei Uhr morgens zugehen; da wird man schon der öffentlichen Meinung eine gewisse Konzession machen müssen – falls dieser Ball überhaupt bis nach zwei Uhr dauern wird. Warwara Petrowna hat jedoch nicht Wort gehalten und hat keine Blumen hergegeben. Hm! Sie wird jetzt überhaupt kaum an Blumen denken, pauvre mère! Und die arme Lisa, haben Sie schon gehört? Man sagt, es sei eine geheimnisvolle Geschichte ... und wieder ist dieser Stawrogin auf dem Plan ... Hm! Am liebsten wäre ich weggefahren und hätte mich schlafen gelegt ... Ich nicke schon geradezu ein. Wann wird denn eigentlich diese ›Quadrille der Li–te–ra–tur‹ beginnen?«
Endlich fing auch diese »Quadrille der Literatur« an. Sobald in der letzten Zeit irgendwo in der Stadt ein Gespräch über den bevorstehenden Ball zustande kam, da wurde auch gleich von der »Quadrille der Literatur« geredet. Da aber niemand imstande war, sich so recht vorzustellen, was das sein sollte, so hatte sie maßlose Neugier erregt. Für den Erfolg konnte es gar nichts Gefährlicheres geben – und wie groß war nun die Enttäuschung!
Es öffnete sich eine bis dahin verschlossene Seitentür des Weißen Saales, und es erschienen plötzlich einige Masken. Sofort umringte sie das Publikum mit lebhaftem Interesse. Alle, die bis dahin am Büfett gewesen waren, strömten nun auf einmal bis auf den letzten Mann in den Saal hinein. Die Masken stellten sich zum Tanz auf. Es gelang mir, mich nach vorn durchzudrängen, und ich kam gerade hinter Julia Michajlowna, Herrn von Lembke und dem General zu stehen. In diesem Augenblick sprang zu Julia Michajlowna der bis dahin unsichtbar gebliebene Piotr Stepanowitsch heran.
»Ich halte mich immer im Büfettzimmer auf und beobachte dort«, flüsterte er ihr mit der Miene eines schuldbewußten Pennälers zu. Diese Miene aber fingierte er absichtlich, um sie noch mehr zu ärgern. Sie wurde dunkelrot vor Zorn.
»Wenn Sie mich wenigstens jetzt nicht mehr betrügen wollten, Sie schamloser Mensch«, entfuhr es ihr fast laut, so daß es auch im Publikum gehört wurde. Piotr Stepanowitsch lief davon, mit sich selbst höchst unzufrieden.
Es ist schwer, sich eine kläglichere, gemeinere, dümmere, geschmacklosere und fadere Allegorie vorzustellen als diese »literarische Quadrille«. Man hätte nichts ersinnen können, was zu unserem Publikum weniger gepaßt hätte; und dabei wurde gesagt, daß diese Quadrille Karmasinow selbst zum Schöpfer hatte. Eingeübt allerdings wurde sie von Liputin zusammen mit jenem lahmen Lehrer, der bei Wirginskij an der abendlichen Zusammenkunft teilgenommen hatte. Diese beiden leiteten jetzt auch die Aufführung. Aber Karmasinow hatte immerhin die Idee dazu geliefert und wollte anfangs sogar, wie man sagte, sich selbst verkleiden und eine besondere, selbständige Rolle übernehmen. Die Quadrille bestand aus sechs Paaren kläglich maskierter Tänzer, die man nicht einmal ganz als Masken bezeichnen konnte, da sie ebensolche Kleider trugen wie alle anderen. So tanzte zum Beispiel einer von ihnen, ein bejahrter Herr von kleinem Wuchs, im Frack, also mit einem Wort, durchaus nicht verkleidet – mit einem ehrwürdigen grauen Bart (der angeheftet war und die ganze Maskierung ausmachte), indem er mit ernstem Gesicht immer auf ein und demselben Fleck mit raschen, kleinen Schritten umhertrippelte und sich fast nicht von der Stelle bewegte. Er stieß mit seiner gesetzten, aber etwas heiseren Baßstimme seltsame Laute aus, und gerade diese Heiserkeit sollte auf eine bekannte Zeitung hindeuten. Der bärtigen Maske gegenüber tanzten zwei Riesen X und Z, und diese Buchstaben waren ihnen an die Fracks angeheftet. Was aber X und Z bedeuteten, blieb unaufgeklärt. Der »ehrliche russische Gedanke« wurde von einem Herrn im mittleren Alter dargestellt, mit Brille, Frack, Handschuhen und (wohlbemerkt) echten Fußfesseln. Unter dem Arm trug dieser »Gedanke« eine Mappe mit irgendwelchen Akten. Aus der Tasche schaute ihm ein aus dem Ausland erhaltener, bereits erbrochener Brief hervor, der für alle Zweifler eine Bescheinigung der Ehrlichkeit des »ehrlichen russischen Gedankens« enthielt. Das wurde natürlich von den Festordnern mündlich auseinandergesetzt, denn den aus der Tasche heraussehenden Brief konnte man selbstverständlich nicht lesen. In der erhobenen rechten Hand hielt der »ehrliche russische Gedanke« ein Trinkglas, wie wenn er einen Trinkspruch ausbringen wollte. Rechts und links neben ihm trippelten zwei geschorene Nihilistinnen, und vis-à-vis tanzte irgendein ebenfalls bejahrter Herr im Frack, aber mit einem schweren Knüppel in der Hand, und stellte angeblich ein zwar nicht in Petersburg erscheinendes, aber gefürchtetes Journal dar, das den Namen: »Wenn ich einmal zuschlage, bleibt nur ein nasser Fleck übrig« trug. Aber trotz seines Knüppels konnte er den unverwandten Blick, den der »ehrliche russische Gedanke« auf ihn durch seine Brille richtete, nicht ertragen und bemühte sich, zur Seite zu sehen. Wenn er aber einen pas de deux machen mußte, so drehte und wandte er sich, und wußte gar nicht, wo er bleiben sollte, so sehr quälte ihn wahrscheinlich sein Gewissen ... Übrigens kann ich mich nicht auf alle diese platten Einfälle besinnen; es war alles in derselben Art, so daß mich schließlich eine peinliche Scham überwältigte. Und gerade diese selbe Empfindung der Beschämtheit prägte sich schließlich auch auf den Gesichtern des ganzen übrigen Publikums aus, sogar auf den düstersten Physiognomien der Subjekte, die aus dem Büfettzimmer gekommen waren. Eine Zeitlang schwiegen alle und sahen verärgert und staunend zu. Wenn sich ein Mensch schämt, wird er gewöhnlich unwillig und neigt dann zum Zynismus. Allmählich begann unser Publikum zu murren.
»Was soll denn das überhaupt?« murmelte in einer Gruppe einer der Büfettliebhaber.
»Eine ungereimte Dummheit.«
»Irgend etwas aus der Literatur. ›Die Stimme‹ wird kritisiert.«
»Was geht denn mich das an?«
In einer anderen Gruppe:
»Esel!«
»Nein, sie sind keine Esel, die Esel sind wir.«
»Weshalb bist du ein Esel?«
»Nein, ich bin kein Esel, ich nicht.«
»Nun, wenn du keiner bist, dann bin ich es schon längst nicht.«
In einer dritten Gruppe:
»Man müßte ihnen allen Prügel verabfolgen und sie zum Tempel hinausjagen.«
»Bring doch den ganzen Saal in Aufruhr!«
Aus der vierten:
»Daß sich bloß die Lembkes nicht schämen, so etwas mit anzusehen?«
»Weshalb sollen sie sich denn schämen? Du schämst dich ja auch nicht?«
»Doch, auch ich schäme mich, aber er ist doch der Gouverneur.«
»Und du bist ein Schwein.«
»In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen solchen gemeinen Ball gesehen«, bemerkte giftig dicht neben Julia Michajlowna eine Dame, die offenbar wünschte, von der Gouverneurin gehört zu werden. Diese Dame war etwa vierzig Jahre alt, ziemlich korpulent und geschminkt; sie trug ein grelles Seidenkleid; in der Stadt kannten sie fast alle, aber niemand verkehrte mit ihr. Sie war die Witwe eines Staatsrates, der ihr ein hölzernes Haus und eine kärgliche Pension hinterlassen hatte, aber sie lebte gut und hielt sich sogar Wagen und Pferde. Vor zwei Monaten hatte sie der neuen Gouverneurin als erste einen Besuch gemacht, wurde aber von Julia Michajlowna nicht empfangen.
»Das konnte man übrigens auch voraussehen«, fügte sie hinzu, indem sie Julia Michajlowna frech ins Gesicht blickte.
»Wenn Sie das voraussehen konnten, weshalb sind Sie denn hierhergekommen?« konnte sich Julia Michajlowna nicht enthalten zu erwidern.
»Aus Harmlosigkeit«, fiel die schlagfertige Dame sofort ein und geriet in Aufregung, da sie anscheinend die größte Lust hatte, mit Julia Michajlowna anzubinden. Aber der General trat zwischen die beiden:
»Chère dame,« sagte er, indem er sich zu Julia Michajlowna neigte, »es wäre wirklich das beste, wir führen von hier weg. Wir genieren hier die Leute nur, und sie werden sich ohne uns vorzüglich amüsieren. Sie haben alles getan, was Sie tun mußten, Sie haben ihnen den Ball eröffnet, nun schön, jetzt wollen wir die Leutchen in Ruhe lassen ... Auch Andrej Antonowitsch fühlt sich, scheint es mir, nicht ganz be– frie–di–gend ... Daß nur kein Malheur passiert!«
Andrej Antonowitsch hatte während der ganzen Quadrille die Tanzenden mit einer Art von zornigem Erstaunen angesehen. Als aber im Publikum die verschiedensten Bemerkungen laut wurden, begann er sich unruhig umzublicken. Hier fielen ihm zum erstenmal einige Individuen aus dem Büfettzimmer in die Augen, und sein Blick drückte die größte Verwunderung aus. Plötzlich erscholl lautes Lachen über einen Ausfall eines der Quadrilletänzer: der Herausgeber des »nicht in Petersburg erscheinenden, aber gefürchteten Journals«, der mit dem Knüppel in der Hand getanzt hatte, fühlte schließlich, daß er die auf ihn gerichteten Brillengläser, des »ehrlichen russischen Gedankens« nicht länger ertragen konnte und da er nicht wußte, wo er sich vor ihnen verstecken sollte, ging er dieser Brille in der letzten Figur plötzlich auf den Händen, mit den Beinen nach oben, entgegen, was übrigens gerade auf die ständigen Verdrehungen und auf das anhaltende Auf-den-Kopf-Stellen des gesunden Menschenverstandes in dem »nicht in Petersburg erscheinenden, aber gefürchteten Journal« hindeuten sollte. Da nur Liamschin allein auf den Händen zu gehen verstand, so hatte er es übernommen, den Herausgeber mit dem Knüppel darzustellen. Julia Michajlowna wußte entschieden nichts davon, daß man da sozusagen kopfstehen würde. »Das hatte man mir verheimlicht, das hatte man mir verheimlicht«, wiederholte sie später verzweifelt und entrüstet, als wir davon sprachen. Das Gelächter der Menge begrüßte natürlich nicht die Allegorie, um die sich kein Mensch kümmerte, sondern einfach das Gehen auf den Händen in einem Frack mit Schößen. Lembke brauste auf und zitterte am ganzen Leibe:
»Lump!« rief er, indem er auf Liamschin zeigte. »Man fasse den Schurken und drehe ihn um ... drehe ihn mit den Beinen um ... mit dem Kopf ... so daß der Kopf oben ist ... oben!«
Liamschin sprang auf die Füße. Das Gelächter schwoll an und verstärkte sich.
»Man jage die Schurken, die da lachen, hinaus!« ordnete Lembke plötzlich an. Die Menge murrte und begann zu lärmen.
»So geht es nicht, Exzellenz.«
»Das Publikum darf man nicht beschimpfen.«
»Bist selbst ein Narr!« erscholl es aus irgendeiner Ecke.
»Die Flibustier!« rief jemand von einem andern Ende her.
Lembke wandte sich auf diesen Ruf schnell um und wurde ganz blaß. Ein stumpfsinniges Lächeln erschien auf seinen Lippen – wie wenn er plötzlich etwas begriffen und sich an etwas erinnert hätte.
»Herrschaften,« wandte sich Julia Michajlowna an die heranrückende Menge; indem sie gleichzeitig ihren Mann hinter ich herzog, »Herrschaften, entschuldigen Sie Andrej Antonowitsch; Andrej Antonowitsch ist unpäßlich ... entschuldigen Sie, verzeihen Sie ihm, meine Herrschaften!«
Ich hörte genau, daß sie »verzeihen Sie« gesagt hatte. Die Szene spielte sich sehr rasch ab. Aber ich besinne mich noch ganz genau, daß ein Teil des Publikums schon in diesem Augenblick zum Ausgang lief und aus dem Saal wie in Angst herauszuströmen versuchte, und gerade nach diesen Worten Julia Michajlownas. Sogar eine Frauenstimme ist mir fest in Erinnerung geblieben, die von Tränen fast erstickt hysterisch schrie:
»Ach, wieder genau so wie am Vormittag!«
Und plötzlich, als schon beinah ein allgemeines Gedränge begonnen hatte, schlug abermals eine Bombe ein, und zwar gerade »wieder wie am Vormittag«:
»Feuer! Die ganze Stadt jenseits des Flusses brennt!«
Ich weiß nur nicht mehr genau, wo dieser schreckliche Ruf zuerst ertönt war: ob in den Sälen oder auf der Treppe und im Vorzimmer, wo jemand offenbar von draußen hergelaufen kam; fest steht nur, daß unmittelbar darauf ein solcher Wirrwarr und eine solche Unruhe entstanden, daß ich es gar nicht unternehme, die Situation zu schildern. Mehr als die Hälfte des auf dem Balle anwesenden Publikums bestand aus Besitzern von Häusern in dem jenseits des Flusses gelegenen Stadtteil oder wohnte dort. Man stürzte zu den Fenstern, riß im Nu die Gardinen auseinander und die Rouleaus herunter. Der Stadtteil, der jenseits des Stromes lag, brannte lichterloh. Allerdings war die Feuersbrunst erst im Entstehen begriffen, aber die Flammen lohten an drei vollkommen verschiedenen Stellen, und gerade das war es, was Schrecken erregte.
»Brandstiftung! Die Schpigulinschen!« brüllte man in der Menge.
Einige sehr charakteristische Ausrufe sind mir fest in Erinnerung geblieben:
»Das hat mein Herz geahnt, daß sie Feuer anstiften werden, die ganzen Tage hindurch habe ich es geahnt!«
»Die Schpigulinschen, die Schpigulinschen! Sonst hat es keiner getan.«
»Man hat uns ja überhaupt nur deshalb hier versammelt, um dort Feuer anzulegen!«
Dieser letzte merkwürdigste, unwillkürliche Ausruf war der unbeabsichtigte Schrei einer echten Gogolschen Korobotschka, die abbrannte. Alles stürzte zum Ausgang. Das Gedränge im Vorzimmer beim Suchen nach den Pelzen, Tüchern und Mänteln, das Kreischen erschrockener Frauen, das Weinen der jungen Mädchen will ich gar nicht erst beschreiben. Es sind wohl kaum Diebstähle vorgekommen, aber es ist durchaus kein Wunder, wenn bei solcher Unordnung manche Menschen ohne ihre warmen Überkleider weggefahren sind, worüber nachher in der Stadt noch längere Zeit mit legendären Ausschmückungen gesprochen wurde. Lembke und Julia Michajlowna wurden von der Menge in der Tür beinah erdrückt.
»Alle zurückhalten! Keinen Menschen hinauslassen!« brüllte Lembke, indem er den Andrängenden drohend die Hand entgegenhielt. »Alle sollen sofort einer strengsten Durchsuchung unterzogen werden!«
Aus dem Saal hagelte es von kräftigen Schimpfworten.
»Andrej Antonowitsch! Andrej Antonowitsch!« rief Julia Michajlowna vollkommen verzweifelt.
»Verhaftet sie als erste!« schrie er und wies mit dem Finger drohend auf seine Frau ... »Durchsucht sie als erste! Der Ball ist nur zum Zwecke der Brandstiftung veranstaltet worden ...«
Sie schrie auf und fiel in Ohnmacht. Oh, diesmal natürlich in eine wirkliche Ohnmacht. Ich, der Fürst und der General eilten herbei, um ihr zu helfen. Es gab auch noch andere, die uns in diesem schweren Augenblick beistanden, sogar einige Damen. Wir trugen die Unglückliche aus dieser Hölle hinaus und setzten sie in ihren Wagen, aber sie kam erst zu sich, als wir schon bei ihrem Hause vorfuhren, und ihr erster Schrei galt wieder Andrej Antonowitsch. Nach dem Zusammenbruch aller ihrer Phantasien blieb ihr nur noch die Gestalt Andrej Antonowitschs übrig. Ein Bote wurde ausgeschickt, um einen Arzt zu holen. Ich wartete bei ihr eine ganze Stunde lang, der Fürst auch; der General wollte in einem Anfall von Hochherzigkeit, obwohl er selbst einen großen Schreck bekommen hatte, die ganze Nacht nicht »von dem Bette der Unglücklichen« weggehen, war aber schon nach zehn Minuten, noch ehe der Arzt erschien, im Saale in einem Lehnsessel eingeschlafen, so daß wir ihn da ließen.
Dem Polizeimeister, der sofort vom Ball zum Feuer eilte, gelang es, hinter uns her auch Andrej Antonowitsch hinauszuführen. Er versuchte, ihn zu veranlassen, zu Julia Michajlowna in den Wagen zu steigen, indem er aus aller Kraft Seiner Exzellenz zuredete, sich zu beruhigen. Aber ich begreife nicht, warum er darauf nicht bestanden hatte. Allerdings wollte Andrej Antonowitsch nichts von Ruhe wissen und verlangte stürmisch, zur Brandstätte gebracht zu werden, aber das hätte für den Polizeimeister kein Grund sein sollen. Schließlich nahm er ihn in seiner eigenen Kutsche mit. Später erzählte er, Lembke hätte während der ganzen Fahrt gestikuliert und »Ideen hinausgeschrien, die ihrer Absonderlichkeit wegen ganz unausführbar waren«. In der Folge wurde in diesem Sinne auch nach oben gemeldet, daß Seine Exzellenz zu jener Zeit bereits infolge »der Plötzlichkeit des Erschreckens« ein Nervenfieber gehabt habe.
Es lohnt gar nicht, zu erzählen, wie der Ball endete. Ein paar Dutzend Liederjahne und mit ihnen sogar einige Damen, waren in den Sälen zurückgeblieben. Von der Polizei war keine Spur mehr zu sehen. Die Musik ließ man nicht weg, und die Musiker, die dennoch fortgingen, wurden verprügelt. Gegen morgen hatte man den Prochorytsch »ausgeplündert«, bis zur Bewußtlosigkeit getrunken, den Bauerntanz Kamarinskij ohne jede Zurückhaltung und Zensur getanzt und die ganzen Zimmer besudelt. Erst bei Tagesgrauen eilte ein Teil dieser Bande völlig betrunken zur verglimmenden Brandstätte, um dort von neuem Unfug zu treiben ... Die andere Hälfte aber übernachtete einfach in den Sälen, in sinnlos betrunkenem Zustande, mit allen seinen Folgen, auf den Samtsofas und auf dem Fußboden. Am Morgen, sobald sich die erste Gelegenheit bot, zog man die Kerle an den Beinen auf die Straße hinaus. So endete die Feier zum Besten der Erzieherinnen unseres Gouvernements.
Die Feuersbrunst hatte unserem jenseits des Flusses wohnenden Publikum hauptsächlich deshalb einen solchen Schrecken eingejagt, weil die Brandstiftung gar zu offenkundig zutage lag. Merkwürdig war, daß gleich beim ersten Schrei »es brennt« sofort auch »die Schpigulinschen legen Feuer an!« gerufen wurde. Jetzt ist es bereits nur zu gut bekannt, daß in der Tat drei Schpigulinsche Arbeiter an der Brandstiftung beteiligt waren, aber auch nicht mehr; alle übrigen Fabrikarbeiter sind sowohl von der öffentlichen Meinung als auch offiziell vollkommen freigesprochen worden. Außer diesen drei Lumpen, von denen einer ergriffen wurde und gestand, und zwei noch bis auf den heutigen Tag flüchtig sind, hat an dem Verbrechen bestimmt auch Fedka der Sträfling teilgenommen. Das ist alles, was vorläufig über die Entstehung der Feuersbrunst mit Bestimmtheit bekannt ist; anders verhält es sich mit den Mutmaßungen. Wodurch haben sich diese drei Lumpen leiten lassen? Sind sie von jemand dazu überredet worden oder nicht? Es ist selbst jetzt noch sehr schwer, auf diese Fragen eine Antwort zu geben.
Infolge des starken Windes, und weil jenseits des Flusses fast ausschließlich hölzerne Bauten standen und schließlich noch, weil die Brandstiftung an drei verschiedenen Stellen zugleich erfolgt war, breitete sich das Feuer schnell aus und ergriff mit unglaublicher Gewalt einen ganzen Stadtteil. Übrigens muß man die Brandstiftung eigentlich nur als an zwei Stellen geschehen rechnen, denn eine dritte wurde noch rechtzeitig bemerkt und gelöscht; hierauf komme ich noch später zurück. Aber in den hauptstädtischen Zeitungen hat man das Unglück, das uns betroffen hatte, dennoch übertrieben: abgebrannt ist nämlich nicht mehr als ein Viertel des ganzen, jenseits des Flusses gelegenen Stadtteils, und vielleicht sogar noch weniger. Unsere Feuerwehr, die allerdings im Verhältnis zu der Ausdehnung und der Einwohnerzahl unserer Stadt nur schwach ist, arbeitete doch sehr geschickt und selbstaufopfernd. Dennoch hätte sie nicht viel ausrichten können, selbst trotz der einmütigen Mithilfe der Einwohner nicht, wenn sich gegen Morgen nicht plötzlich der Wind gedreht und sich kurz vor Tagesanbruch ganz gelegt hätte. Als ich kaum eine Stunde nach meiner Flucht vom Balle über den Fluß kam, war das Feuer bereits im vollen Wüten. Die ganze Straße, die mit dem Strome parallel lief, brannte lichterloh. Es war so hell wie am Tage. Das Bild, das sich meinen Augen bot, will ich nicht erst eingehend schildern: wer in Rußland weiß nicht, wie so eine Feuersbrunst aussieht? In den der brennenden Straße am nächsten liegenden Gäßchen war ein maßloses Gedränge und Gehaste. Hier wurde das Übergreifen des Feuers mit Bestimmtheit erwartet. Die Einwohner schleppten ihre Habe heraus, verließen aber immer noch nicht ihre Wohnungen, sondern warteten und saßen auf den herausgeschleppten Kasten und Federbetten, jeder vor seinen Fenstern. Ein Teil der männlichen Bevölkerung arbeitete schwer, schlug schonungslos Zäune nieder und trug sogar ganze Hütten ab, die dem Feuer am nächsten waren und unter Wind lagen. Es weinten nur die soeben aus dem Schlaf gerissenen Kinder, und es heulten und jammerten die Weiber, denen es bereits gelungen war, ihren Kram herauszuschleppen. Diejenigen, die damit noch nicht fertig waren, arbeiteten schweigend und energisch daran. Funken und brennende Holzstücke flogen weit umher; sie wurden nach Möglichkeit gelöscht. An der Brandstätte selbst drängten sich Zuschauer, die von allen Enden der Stadt zusammengelaufen waren. Einige halfen beim Löschen, andere sahen nur als Liebhaber zu. Ein großes, nächtliches Feuer macht immer einen nervenreizenden und erheiternden Eindruck; dieser Tatsache verdanken auch die Feuerwerke ihr Entstehen; aber da wird das Feuer in schöne, regelmäßige Formen gedrängt und bringt bei seiner völligen Gefahrlosigkeit eine muntere, lustige Stimmung hervor, wie etwa ein Glas Champagner. Anders verhält es sich bei einer wirklichen Feuersbrunst: hier rufen der Schrecken und eine Art von Gefühl, auch persönlich gefährdet zu sein, bei dem Zuschauer (natürlich nicht in dem abbrennenden Bewohner selbst) neben dem einigermaßen vergnüglichen Eindruck des nächtlichen Feuers eine gewisse Erschütterung des Gehirns hervor und wirken wie eine Aufforderung an seinen eigenen Zerstörungstrieb. Dieser aber liegt leider in einer jeden Seele verborgen, selbst in der Seele des friedlichsten und mit Familie gesegneten Titularrates ... Diese düstere Empfindung hat stets etwas Berauschendes. »Ich weiß wirklich nicht, ob man eine Feuersbrunst ohne ein gewisses Vergnügen mitansehen kann?« Das hatte Wort für Wort einmal Stepan Trofimowitsch zu mir gesagt, als er von einer nächtlichen Feuersbrunst zurückkehrte, zu der er zufällig gekommen war, und zwar, als er noch unter dem ersten Eindruck dieses Schauspieles stand. Natürlich kann sich derselbe Liebhaber eines nächtlichen Brandes selbst ins Feuer stürzen, um ein Kind oder eine Frau zu retten; aber das ist schon wieder eine ganz andere Sache.
Indem ich mich hinter der neugierigen Menge herdrängte, gelangte ich, ohne Fragen stellen zu müssen, zu dem wichtigsten und gefährdetsten Punkte, wo ich endlich auch Lembke erblickte, den ich in Julia Michajlownas eigenem Auftrage suchte. Er befand sich in einer wunderlichen und ungewöhnlichen Lage. Er stand auf den Trümmern eines Zaunes; links von ihm, in einer Entfernung von etwa dreißig Schritten, ragte das schwarze Skelett eines schon fast ganz verbrannten zweistöckigen Holzhauses empor, mit Löchern statt der Fenster in beiden Stockwerken, mit dem eingestürzten Dache und mit kleinen Feuerzungen, die immer noch hier und da an den verkohlten Balken herumzüngelten. In der Tiefe des Hofes, ungefähr zwanzig Schritt von dem verbrannten Hause entfernt, begann ein ebenfalls zweistöckiges Flügelgebäude zu brennen, und um dieses bemühte sich aus allen Kräften die Feuerwehr. Rechts verteidigten Feuerwehrleute und Einwohner ein ziemlich großes, hölzernes Gebäude, das noch nicht brannte, aber schon mehrmals Feuer gefangen hatte und dem es unbedingt beschieden zu sein schien, den Flammen zum Opfer zu fallen. Lembke schrie und gestikulierte, stand mit dem Gesicht zum Nebengebäude gewendet und gab Befehle, die niemand ausführte. Mein Eindruck war, daß man ihn einfach im Stich gelassen hatte und sich gar nicht mehr um ihn kümmerte. Jedenfalls hörte ihm jetzt die dichte und sehr buntscheckige Menge, die ihn umgab und in der sich mit allerlei Volk zusammen auch bessere Herren befanden (so zum Beispiel sogar der Dompfarrer), neugierig und verwundert zu, aber kein Mensch sprach mit ihm, und niemand versuchte, ihn fortzuführen. Lembke war blaß und redete mit funkelnden Augen das wunderlichste Zeug zusammen; obendrein aber hatte er keinen Hut auf, da dieser ihm schon längst verloren gegangen war.
»Das alles ist Brandstiftung! Das ist Nihilismus! Wenn etwas brennt, so ist es der Nihilismus!« hörte ich ihn ausrufen und bekam einen Schreck. Und obwohl eigentlich gar kein Grund mehr vorlag, sich über ihn zu wundern, so staunte ich doch, denn die nackte Wirklichkeit hat stets immer etwas Erschütterndes.
»Exzellenz,« sagte ein Quartalaufseher, der in seine Nähe trat, »wenn Sie doch belieben wollten, es mit der häuslichen Ruhe zu versuchen ... Denn hierzustehen ist für Eure Exzellenz sogar gefährlich.«
Dieser Quartalaufseher war, wie ich später erfuhr, von dem Polizeimeister absichtlich bei Andrej Antonowitsch gelassen worden, um ihn zu beobachten und mit allen Mitteln zu versuchen, ihn nach Hause zu bringen, im Falle von Gefahr sogar unter Anwendung von Gewalt – ein Auftrag, der offenbar die Kräfte des mit der Ausführung Betrauten überstieg.
»Die Tränen der Abgebrannten werden sie trocknen, die Stadt aber durch Feuer vernichten. Das sind alles vier Schurken, vierundeinhalb Lumpen. Man verhafte den Schuft! Er drängt sich in die Ehre der Familien ein! Zum Anstecken der Häuser haben sich die Halunken der Erzieherinnen und der Wohltätigkeit bedient. Das ist gemein, gemein. Au, was macht er da!« rief er, da er auf dem Dache des brennenden Nebengebäudes einen Feuerwehrmann bemerkte, unter dem das Dach bereits so gut wie vernichtet war, und um den herum die Flammen aufloderten. »Man ziehe ihn herunter, man ziehe ihn herunter, er wird einstürzen, er wird verbrennen, löscht ihn ... Was macht er da oben?«
»Er löscht, Exzellenz.«
»Unwahrscheinlich. Die Feuersbrunst ist in den Hirnen und nicht auf den Dächern der Häuser. Man ziehe ihn herunter und lasse alles stehen und liegen. Das beste ist, man läßt die Finger davon. Das ist das beste! Mag es von selbst irgendwie zu Ende gehen! Ei, wer weint da? Eine alte Frau! Da schreit eine alte Frau, warum hat man die Alte vergessen?«
In der Tat schrie in dem unteren Stockwerk des brennenden Nebengebäudes eine Greisin, eine achtzigjährige Verwandte des Kaufmanns, dem das brennende Haus gehörte. Aber man hatte sie nicht vergessen, sie war selbst in das brennende Gebäude zurückgekehrt, in der wahnwitzigen Absicht, aus der noch unversehrten Hinterkammer ihr Federbett herauszuholen. Sie erstickte schier im Rauch und schrie von der Hitze, denn auch die Kammer hatte Feuer gefangen. Trotzdem aber versuchte sie aus aller Kraft mit ihren schwachen Armen ihr Federbett durch eine im Fensterrahmen herausgeschlagene Scheibe hindurchzuschieben. Lembke stürzte zu ihr hin, um ihr zu helfen. Alle sahen, wie er zum Fenster hinlief, einen Zipfel des Bettes ergriff und es aus aller Kraft herauszuziehen suchte. Unglücklicherweise fiel gerade in diesem Augenblick vom Dache ein losgebrochenes Brett herunter und traf den Ärmsten; es tötete ihn nicht, da es im Falle nur mit einem Ende seinen Hals streifte, aber die Laufbahn Andrej Antonowitschs war zu Ende, wenigstens bei uns. Der Schlag warf ihn zu Boden, und er fiel besinnungslos hin.
Endlich brach der trübe und düstere Morgen an. Die Feuersbrunst war nicht mehr so groß; nach dem Wind trat jetzt plötzlich eine Stille ein, und dann begann es langsam, wie durch ein Sieb, zu regnen. Ich war schon in einer anderen Gegend des hinter dem Flusse liegenden Stadtteils, weit von der Stelle entfernt, wo Lembke niedergefallen war. Und hier hörte ich in der Volksmenge sehr seltsame Gespräche. Es hatte sich jetzt eine ganz sonderbare Tatsache herausgestellt: ganz am Rande des Stadtviertels stand auf einem freien Platze hinter den Gemüsegärten, nicht weniger als fünfzig Schritt von den anderen Bauten entfernt, ein soeben erst errichtetes Holzhaus, und gerade dieses einsame Gebäude war fast früher als alle anderen in Brand geraten, gleich zu Anfang der Feuersbrunst. Wenn es auch abgebrannt wäre, so hätte bei dem Abstände das Feuer doch auf kein anderes Bauwerk der Stadt überspringen können. Und umgekehrt: wenn auch der ganze jenseits des Flusses gelegene Stadtteil verbrannt wäre, so hätte doch dieses Haus, mochte der Wind noch so stark sein und ganz gleich aus welcher Richtung kommen, unversehrt bleiben können. Daraus folgte, daß es für sich und selbständig angesteckt worden war, und daß natürlich die Brandstifter dabei eine besondere Absicht verfolgt hatten. Die Hauptsache aber lag darin, daß die Flammen das Haus nicht zu vernichten vermochten und daß um die Morgendämmerung in den Zimmern erstaunliche Dinge entdeckt worden waren. Der Besitzer dieses Hauses, ein Kleinbürger, der in der nächsten Vorstadt wohnte, war, kaum daß er Feuer in seinem neuen Bau erblickt hatte, in aller Eile dahin gelaufen, und es gelang ihm noch, sein Eigentum mit Erfolg zu schützen, indem er mit Hilfe der Nachbarn das brennende, an einer Seitenwand aufgeschichtete Holz auseinanderwarf. Aber in dem Hause wohnten Mieter: ein in der Stadt bekannter Hauptmann mit seiner Schwester und mit ihnen eine ältere Magd. Diese Mieter aber, der Hauptmann, seine Schwester und die Magd waren alle drei in der Brandnacht ermordet und offenbar beraubt worden. (Gerade zu diesem Haus hatte sich auch der Polizeimeister zu jener Zeit begeben, als Lembke das Federbett zu retten versuchte.) Gegen Morgen hatte sich diese Nachricht verbreitet, und eine gewaltige Menge von Menschen aller Art, sogar viele von denen, die in der Nacht abgebrannt waren, strömten nach dem freien Platze zu dem neuen Haue hin. Das Gedränge war so groß, daß man kaum hindurchkommen konnte. Es wurde mir sofort erzählt, daß man den Hauptmann auf einer Bank liegend, angekleidet und mit durchschnittenem Halse gefunden hatte, und daß er wahrscheinlich im sinnlos betrunkenen Zustande ermordet worden wäre, so daß er wohl nichts gemerkt habe. Und es sei soviel Blut aus ihm herausgeflossen, »wie aus einem Ochsen«. Seine Schwester Maria Timofejewna sei von einem Messer ganz »durchlöchert« aufgefunden worden, und zwar auf dem Fußboden an der Tür, so daß man mit Sicherheit annehmen dürfe, daß sie sich gewehrt und mit dem Mörder gerungen habe. Der Magd aber, die wahrscheinlich ebenfalls aufgewacht war, hatte der Verbrecher vollständig den Schädel zerschmettert. Aus den Erzählungen des Hauswirts ging hervor, daß der Hauptmann ihn noch am gestrigen Vormittag in angeheitertem Zustande aufgesucht, geprahlt und ihm viel Geld gezeigt hatte, gegen zweihundert Rubel. Die alte, abgetragene, grüne Brieftasche des Hauptmanns war leer auf dem Fußboden gefunden worden, aber Maria Timofejewnas Kasten war unangetastet geblieben, genau so wie die silbernen Gewänder des Heiligenbildes. Auch die Kleidungsstücke des Hauptmanns hatte der Dieb unberührt gelassen. Es war klar, daß er es eilig gehabt und die Verhältnisse des Hauptmanns genau gekannt hatte, daß er nur des Geldes wegen gekommen war und genau wußte, wo es lag. Wenn der Hauswirt nicht so rasch herbeigekommen wäre, dann hätte das Feuer das Haus vernichtet und an den »verbrannten Leichen wäre es schwer gewesen, die Wahrheit festzustellen«.
So wurde die Sache geschildert. Man fügte noch hinzu, daß Herr Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin, der Sohn der Generalin Stawrogina, diese Wohnung für die Lebiadkins selbst gemietet hatte und daß er zu diesem Zwecke persönlich zu dem Wirte gekommen sei und ihm erst habe sehr viel zureden müssen, da dieser das Gebäude eigentlich zu einer Schenke gebrauchen wollte. Aber Nikolaj Wsewolodowitsch scheute keine Ausgaben und hatte die Miete für ein halbes Jahr im voraus bezahlt.
»Hinter dieser Brandstiftung steckt eine besondere Absicht«, hörte ich in der Menge sagen.
Aber die Mehrzahl der Menschen schwieg. Die Gesichter waren finster, aber eine größere, sichtbare Aufregung konnte ich dennoch nicht wahrnehmen. Ringsumher fuhr man jedoch fort, sich Geschichten von Nikolaj Wsewolodowitsch zu erzählen und davon, daß die Ermordete seine Frau gewesen sei, und daß er gestern aus einem der ersten Häuser der Stadt, bei der Generalin Drosdowa, ein junges Mädchen, ihre Tochter, »auf unehrliche Art und Weise« zu sich entführt habe, daß man sich über ihn in Petersburg beklagen werde, daß der Mord an seiner Frau offenbar nur deshalb geschehen wäre, um ihm die Möglichkeit zu geben, die Drosdowa zu heiraten. Skworeschniki war nicht weiter als zweiundeinhalb Werst entfernt, und ich erinnere mich, auf den Gedanken gekommen zu sein, eine Nachricht dorthin zu senden. Übrigens habe ich nicht feststellen können, daß jemand die Menge besonders aufgehetzt hätte, obwohl vor meinen Augen die Fratzen zweier oder dreier jener »Büfettfreunde« vorübergehuscht waren, die sich erst gegen Morgen an der Brandstätte eingefunden hatten, und die ich sofort wiedererkannte. Aber besonders lebhaft ist mir ein hagerer, langer Bursche aus dem Kleinbürgerstande in Erinnerung, der ausgemergelt und wie mit Ruß beschmiert aussah, krauses Haar hatte und, wie ich später erfuhr, von Beruf Schlosser war. Er war nicht betrunken, befand sich aber im Gegensatz zu der düster dastehenden Menge in einem außerordentlich aufgeregten Zustande. Fortwährend wandte er sich an das Volk, aber an seine Worte kann ich mich nicht erinnern. Alles, was er Zusammenhängendes gesagt hatte, war nicht länger als etwa: »Brüder, was soll denn das? Soll denn das wirklich so weitergehen?« Und dabei fuchtelte er mit den Händen umher.