Fjodor Dostojewski
Arme Leute
Fjodor Dostojewski

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Den 29. Juli.

Geehrter Herr Makar Alexejewitsch!

Ich habe Ihre beiden Briefe gelesen und dabei immer geseufzt und gestöhnt! Hören Sie, mein Freund, entweder verschweigen Sie mir etwas und haben mir nur einen Teil aller Ihrer Unannehmlichkeiten geschrieben, oder . . . wirklich, Makar Alexejewitsch, Ihren Briefen ist noch eine gewisse Verstörtheit anzumerken . . . Kommen Sie zu mir, ich bitte Sie inständig, kommen Sie heute; und hören Sie, kommen Sie geradezu zum Mittagessen zu uns! Ich weiß noch gar nicht, wie Sie dort leben, und ob Sie sich mit Ihrer Wirtin verständigt haben. Sie schreiben über all das nichts und scheinen absichtlich davon zu schweigen. Also auf Wiedersehen, mein Freund; kommen Sie bestimmt heute zu uns; Sie würden überhaupt am besten tun, wenn Sie immer zu uns zum Mittagessen kämen. Fedora kocht sehr gut, Leben Sie wohl!

Ihre

Warwara Dobrosjolowa.

 

Den 1. August.

Liebste Warwara Alexejewna!

Sie freuen sich, liebes Kind, daß Gott Ihnen eine Gelegenheit gegeben hat, Ihrerseits Gutes mit Gutem zu vergelten und sich mir dankbar zu erweisen. Ich glaube Ihnen das, liebe Warwara; ich glaube an die Güte Ihres engelhaften Herzens und sträube mich nicht dagegen; nur müssen Sie mir keine Vorwürfe machen wie damals, daß ich auf meine alten Tage ein Verschwender geworden sei. Na, es war eben eine Sünde von mir; was ist da zu machen? Wenn Sie nämlich durchaus wollen, daß es eine Sünde war; aber freilich, gerade von Ihnen, liebe Freundin, so etwas zu hören, ist mir besonders schmerzlich. Seien Sie mir aber nicht böse, daß ich das sage; meine ganze Brust ist voll Gram und Leid. Arme Leute sind launisch; das ist nun einmal von der Natur so eingerichtet. Ich habe das auch früher schon gespürt. Er, der Arme, hat an allem etwas 106 auszusetzen; er sieht auch Gottes Welt anders an, wie es andere Menschen tun, und jedem Vorübergehenden wirft er einen schiefen Blick zu und schaut ängstlich und mißtrauisch um sich und horcht auf jedes Wort, ob da nicht etwa über ihn gesprochen wird, zum Beispiel daß er so schlecht gekleidet sei. Und jedermann weiß, liebe Warwara, daß ein armer Mensch wertloser ist als ein alter Lappen und von niemand geachtet wird, mögen die Leute darüber auch schreiben, was sie wollen! Was die Büchermacher auch schreiben mögen, es bleibt mit dem armen Menschen doch immer, wie es war. Und warum bleibt alles beim alten? Weil nach der Ansicht der Leute bei einem armen Menschen alles anders sein muß als bei einem Wohlhabenden; er soll keine edlen Gefühle haben, kein Ehrgefühl besitzen, ja nicht, ja nicht! Da erzählte mir neulich Jemeljan, es sei einmal eine Kollekte für ihn veranstaltet worden, und da hätten die Subskribenten ihn für jedes Zehnkopekenstück gewissermaßen offiziell besichtigt. Sie glaubten, ihm ihre Zehnkopekenstücke einfach zu schenken; aber in Wirklichkeit war es nicht so: vielmehr bezahlten sie dafür, daß man ihnen einen armen Menschen zeigte. Heutzutage, liebes Kind, werden auch die Wohltaten in einer recht wunderlichen Weise erwiesen; aber vielleicht ist es auch immer so gewesen; wer kann's wissen? Entweder verstehen es die Leute jetzt nicht, Wohltaten zu erweisen, oder sie sind bereits große Meister darin – eins von beiden. Sie, liebe Warwara, haben das vielleicht nicht gewußt; nun, so hören Sie es denn! Auf vielen andern Gebieten kann ich nicht mitreden; aber auf diesem bin ich Sachkundiger! Und woher weiß denn ein armer Mensch das alles und denkt sich all so etwas? Woher? Nun, aus Erfahrung! Er weiß zum Beispiel, daß da so ein Herr, der neben ihm geht, gleich in ein Restaurant hineingehen wird und jetzt zu sich selbst sagt: »Was wird dieser Beamte, dieser Hungerleider, heute essen? Ich werde ein sauté en papillotes essen und er vielleicht Grütze ohne Butter.« Aber was geht es ihn an, daß ich Grütze ohne Butter essen werde? Es gibt solche Leute, liebe Warwara, es gibt Leute, die nur an so etwas denken. Und die gehen dann umher, diese 107 nichtswürdigen Pasquillanten, und passen auf, ob einer auf dem Steinpflaster mit dem ganzen Fuße auftritt oder nur mit der Spitze, und ob bei dem und dem Beamten bei der und der Behörde, dem Titularrat Soundso die nackten Zehen aus den Stiefeln herausschauen und ob seine Ellbogen durchgestoßen sind; und dann setzen sie sich hin und beschreiben das alles und lassen solches Zeug drucken. Was geht es denn so einen an, daß meine Ellbogen durchgestoßen sind? Ja, wenn Sie mir einen herben Ausdruck verzeihen wollen, liebe Warwara, so möchte ich Ihnen sagen, daß ein armer Mensch in dieser Hinsicht dieselbe Schamhaftigkeit besitzt wie Sie zum Beispiel Ihre mädchenhafte Schamhaftigkeit. Sie werden sich ja doch nicht vor aller Augen (verzeihen Sie mir den derben Ausdruck!) entkleiden wollen; sehen Sie, ganz ebenso kann es auch ein armer Mensch nicht leiden, daß ihm einer in sein Hundeställchen hineinsieht und seine Privatverhältnisse ausschnüffelt; ja, so ist das. Und was hatte so ein Mensch damals für Anlaß, liebe Warwara, mich im Bunde mit meinen Feinden, die der Ehre und dem guten Rufe eines anständigen Menschen nachstellen, zu beleidigen?

Na, und heute saß ich in der Kanzlei so recht kläglich wie ein gerupfter Sperling da und wollte vor Scham fast vergehen. Ich schämte mich furchtbar, liebe Warwara! Es ist ja auch nur natürlich, daß man sich geniert, wenn die bloßen Ellbogen durch den Rock hindurchleuchten und die Knöpfe nur noch an einem Faden baumeln. Und bei mir mußte auch gerade alles in solcher Unordnung sein! Da wird man unwillkürlich kleinmütig, ja, ja! Selbst Stepan Karlowitsch, der heute etwas Dienstliches zu mir sagte und viel redete und redete, fügte, wie es schien, unwillkürlich hinzu: »Ach ja, mein lieber Makar Alexejewitsch!« Er sprach nicht zu Ende und unterdrückte, was er sonst noch dachte; aber ich erriet selbst alles und errötete dermaßen, daß sogar meine Glatze rot wurde. Der kleine Vorgang ist ja in Wirklichkeit bedeutungslos; aber er beunruhigt einen doch und bringt einen auf peinliche Gedanken. Haben sie nicht am Ende schon etwas erfahren? Das wolle Gott verhüten; o weh, 108 wenn sie etwas erfahren haben sollten! Ich muß gestehen, ich habe einen Verdacht, einen starken Verdacht auf einen bestimmten Menschen. Diesen Bösewichtern kommt es ja darauf gar nicht an! Sie verraten einen! Einem sein ganzes Privatleben verraten sie ohne weiteres; ihnen ist nichts heilig.

Ich weiß jetzt, wer mir diesen Streich gespielt hat: Ratasjajew ist es gewesen. Er wird mit jemand bei unserer Behörde bekannt sein und hat ihm gewiß gesprächsweise alles mit Ausschmückungen mitgeteilt; oder er hat es auch vielleicht bei seiner Behörde erzählt, und die Kunde ist dann von dort heraus- und nach unserer Kanzlei herübergekrochen. Bei uns in der Wohnung aber wissen es alle ohne Ausnahme und zeigen durch das Fenster mit den Fingern nach Ihnen; ich weiß, daß sie das tun. Und als ich gestern zu Ihnen zum Mittagessen ging, da steckten sie alle die Köpfe aus den Fenstern, und die Wirtin sagte: »Da hat der Teufel mit einem Säugling einen Freundschaftsbund geschlossen«, und dann hat sie Sie noch mit einer unanständigen Bezeichnung belegt.

Aber das alles ist noch nichts gegen Ratasjajews schändliche Absicht, Sie und mich in seinen Schriften anzubringen und uns in einer witzigen Satire abzukonterfeien; er hat das selbst gesagt, und brave Leute von unseren Wohnungsgenossen haben es mir wiedergesagt. Ich kann jetzt an gar nichts anderes mehr denken, liebes Kind, und weiß nicht, was ich für einen Entschluß fassen soll. Wir können unsere Sünde nicht verbergen; wir haben Gott den Herrn erzürnt, mein Engelchen!

Sie wollten mir ein Buch gegen die Langeweile schicken, liebes Kind. Aber lassen Sie das nur in Gottes Namen bleiben! Was ist denn so ein Buch? Es sind ja doch nur erlogene Geschichten! Auch Romane sind dummes Zeug und nur so aus Unsinn geschrieben, damit müßige Leute etwas zu lesen haben; glauben Sie mir, liebes Kind, glauben Sie meiner langjährigen Erfahrung! Und wenn man Ihnen da von einem gewissen Shakespeare etwas vorredet, daß es in der Literatur auch einen Shakespeare gebe, so 109 ist auch dieser Shakespeare Unsinn, alles der reine Unsinn und alles nur geschrieben, um andere Leute zu verspotten.

Ihr

Makar Dewuschkin.

 

Den 2. August.

Geehrter Herr Makar Alexejewitsch!

Machen Sie sich um mich keine Sorgen; so Gott will, wird alles wieder in Ordnung kommen. Fedora hat sowohl für sich als auch für mich einen ganzen Haufen Arbeit beschafft, und wir haben uns höchst vergnügt ans Werk gemacht; vielleicht gelingt es uns, alles wieder einzurenken. Sie vermutet, daß an all den Unannehmlichkeiten, die ich in der letzten Zeit gehabt habe, Anna Fjodorowna nicht unbeteiligt gewesen ist; aber jetzt ist mir alles gleich. Mir ist heute außerordentlich fröhlich zumute. Sie wollen sich Geld borgen; davor behüte Sie Gott! Wenn Sie nachher das Geld zurückbezahlen sollen, dann ist das Unglück da. Leben Sie lieber mit uns zusammen recht eingeschränkt, kommen Sie recht oft zu uns zum Mittagessen, und kümmern Sie sich nicht um Ihre Wirtin! Was die übrigen anlangt, die Ihnen Ihrer Meinung nach feindlich und mißgünstig gesinnt sind, so bin ich überzeugt, daß Sie sich da mit grundlosem Verdachte quälen, Makar Alexejewitsch. – Ich habe Ihnen das vorige Mal gesagt, daß Sie einen sehr holprigen Stil schreiben; achten Sie doch darauf! – Nun leben Sie wohl, auf Wiedersehen! Ich erwarte Sie heute bestimmt bei uns.

Ihre

W. D.

 

Den 3. August.

Mein Engelchen, liebe Warwara Alexejewna!

Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, meine Teuerste, daß ich wieder eine leise Hoffnung gefaßt habe. Aber erlauben Sie, mein Töchterchen, Sie schreiben, mein Engelchen, ich soll 110 kein Darlehen aufnehmen? Mein Täubchen, ohne das geht es nicht; mit mir selbst ist es schon schlecht bestellt, und wie ist es nun gar mit Ihnen? Ihnen kann doch auf das leichteste etwas Übles zustoßen! Sie sind ja so schwächlich. Darum muß ich Ihnen schreiben, daß eine Anleihe unbedingt nötig ist. Na, also nun fahre ich fort.

Ich bemerke Ihnen, Warwara Alexejewna, daß ich im Bureau neben Jemeljan Iwanowitsch sitze. Das ist nicht der Jemeljan, den Sie schon kennen. Dieser ist ebenso wie ich Titularrat, und er und ich sind in unserer ganzen Kanzlei nahezu die ältesten, die »Säulen des Dienstes«. Er ist ein guter Mensch, ein uneigennütziger Mensch, aber nicht redselig; vielmehr macht er immer ein Gesicht wie ein Bär. Dafür ist er ein tüchtiger Arbeiter; er hat eine rein englische Handschrift, und um die Wahrheit zu sagen, er schreibt nicht schlechter als ich; kurz, er ist ein achtungswerter Mensch! Intim bin ich mit ihm nie gewesen; wir haben einander nur so gewohnheitsmäßig Guten Tag und Adieu gesagt; und wenn ich manchmal ein Federmesser nötig hatte, dann bat ich ihn um seins: »Bitte, borgen Sie mir Ihr Federmesser, Jemeljan Iwanowitsch!« Kurz, wir redeten miteinander nicht mehr, als das Zusammensein erforderte. Aber da sagte er heute zu mir: »Makar Alexejewitsch«, sagte er, »Sie sind ja so nachdenklich?« Ich sah, daß er es gut mit mir meinte, und entdeckte mich ihm: »So und so«, sagte ich, »Jemeljan Iwanowitsch«; das heißt, alles sagte ich nicht; Gott behüte, das werde ich nie tun; dazu habe ich nicht den Mut; aber so einiges entdeckte ich ihm, daß ich in Bedrängnis sei, und dergleichen. »Aber, Verehrtester«, sagte Jemeljan Iwanowitsch, »da sollten Sie sich doch Geld borgen; zum Beispiel von Pjotr Petrowitsch könnten Sie sich welches borgen; der leiht auf Zinsen; ich habe mir auch einmal etwas von ihm geborgt; und die Zinsen, die er nimmt, sind leidlich, nicht zu drückend.« Na, liebe Warwara, das Herz hüpfte mir vor Freuden. Ich dachte lange darüber nach; vielleicht, dachte ich, rührt Gott dem wohltätigen Pjotr Petrowitsch das Herz, und er leiht mir etwas. Ich rechnete mir schon aus, wie ich der Wirtin meine Schuld bezahlen und Ihnen helfen 111 und meine Garderobe gründlich instand setzen würde. Denn so ist es doch eine Schande; man geniert sich ordentlich, so auf seinem Platze zu sitzen, ganz abgesehen davon, daß die Spottvögel bei uns sich über einen lustig machen, Gott verzeihe es ihnen! Und auch Seine Exzellenz gehen manchmal an unserm Tische vorüber; na, wenn nun Dieselben, was Gott verhüten wolle, einen Blick auf mich würfen und bemerkten, daß mein Anzug unanständig aussieht! Bei Seiner Exzellenz aber ist die Hauptsache, daß alles sauber und ordentlich ist. Dieselben würden vielleicht nichts sagen; aber ich würde doch vor Scham vergehen, – ja, das würde ich ganz sicher. So faßte ich mir denn ein Herz, überwand mein Schamgefühl und begab mich zu Pjotr Petrowitsch; ich war voll Hoffnung, aber mehr tot als lebendig vor Aufregung, beides zugleich. Aber der Versuch scheiterte, liebe Warwara! Er war beschäftigt; er sprach gerade mit Fedossej Iwanowitsch. Ich trat von der Seite an ihn heran, zupfte ihn am Ärmel und sagte: »Pjotr Petrowitsch, Pjotr Petrowitsch!« Er sah sich um, und ich fuhr fort: »So und so«, sagte ich, »dreißig Rubel«, und so weiter. Am Anfang verstand er mich nicht recht; aber dann, als ich ihm alles auseinandergesetzt hatte, fing er an zu lachen, sagte aber nichts, sondern schwieg. Ich sagte ihm nochmals dasselbe. Da sagte er zu mir: »Haben Sie ein Pfand?« Dabei bückte er sich über sein Aktenstück und schrieb, ohne mich anzusehen. Ich wurde etwas bestürzt. »Nein, Pjotr Petrowitsch«, sagte ich, »ein Pfand habe ich nicht«, und ich setzte ihm auseinander, sowie ich mein Gehalt bekäme, würde ich ihm das Geld zurückgeben, bestimmt zurückgeben; ich würde das für meine erste Pflicht halten. In diesem Augenblick rief ihn jemand ab; ich wartete; er kam zurück, begann seine Feder zu reinigen und tat, als ob er mich gar nicht bemerkte. Ich fing jedoch noch einmal von der Sache an und sagte: »Läßt es sich denn gar nicht machen, Pjotr Petrowitsch?« Er schwieg und tat, als hörte er nicht; ich stand und stand. Na, dachte ich, ich will es noch ein letztes Mal versuchen, und zupfte ihn am Ärmel. Wenn er auch nur einen Ton gesagt hätte; aber nein, er reinigte seine Feder und fing an zu 112 schreiben; da ging ich denn weg. Sehen Sie, liebes Kind, das sind ja vielleicht alles ganz achtenswerte Leute, aber stolz sind sie, sehr stolz; das ist nichts für mich! Die stehen hoch über uns, liebe Warwara! Darum habe ich Ihnen das alles auch geschrieben. – Jemeljan Iwanowitsch lachte ebenfalls und schüttelte den Kopf; aber er machte mir wieder neue Hoffnung, der gute Mensch. Jemeljan Iwanowitsch hat wirklich einen anständigen Charakter. Er versprach mir, mich jemandem zu empfehlen; dieser Mann, liebe Warwara, wohnt in der Wyborger Vorstadt und verleiht auch Geld auf Zinsen; er gehört zur untersten, zur vierzehnten Rangklasse. Jemeljan Iwanowitsch sagt, der werde mir ganz bestimmt Geld geben; ich werde morgen zu ihm hingehen, mein Engelchen. Wie denken Sie darüber? Um Unheil zu vermeiden, muß ich notwendig borgen. Meine Wirtin macht Miene, mich aus der Wohnung herauszuwerfen, und will mir kein Essen mehr geben. Und auch meine Stiefel sind sehr schlecht, liebes Kind, und an meinen Kleidern fehlen Knöpfe, und auch sonst fehlt mir dies und das! Wenn nun einer meiner Vorgesetzten diesen unwürdigen Zustand bemerkt? Das wäre schrecklich, liebe Warwara, schrecklich, geradezu schrecklich!

Makar Dewuschkin.

 

Den 4. August.

Lieber Makar Alexejewitsch!

Um Gottes willen, Makar Alexejewitsch, borgen Sie sich so schnell wie möglich etwas Geld; ich würde Sie unter den jetzigen Verhältnissen ganz gewiß nicht um Hilfe bitten; aber wenn Sie wüßten, in welcher Lage ich mich befinde! In dieser Wohnung können wir unter keinen Umständen bleiben. Ich habe die schrecklichsten Unannehmlichkeiten gehabt, und wenn Sie wüßten, in welcher Unruhe und Aufregung ich mich jetzt befinde! Stellen Sie sich vor, mein Freund: Heute vormittag erscheint bei uns ein unbekannter Herr, in höherem Lebensalter, fast schon ein Greis, mit Orden geschmückt. Ich war erstaunt und begriff nicht, was 113 er von uns wollte. Fedora war gerade zum Kaufmann gegangen. Er fragte mich zunächst, wie ich lebte, und was ich täte, und erklärte mir, ohne meine Antwort abzuwarten, er sei der Onkel jenes Offiziers; er sei sehr aufgebracht über seinen Neffen wegen seines schlechten Benehmens, und weil er uns im ganzen Hause in üblen Ruf gebracht habe; er sagte, sein Neffe sei ein grüner Junge und ein Windhund; er selbst sei gern bereit, mich unter seinen Schutz zu nehmen; er rate mir, nicht auf die jungen Leute zu hören, und fügte hinzu, er fühle für mich eine herzliche Teilnahme wie ein Vater und hege wahrhaft väterliche Empfindungen gegen mich und sei bereit, mir in jeder Hinsicht zu helfen. Ich wurde ganz rot, wußte nicht, was ich davon denken sollte, beeilte mich aber nicht, ihm zu danken. Er faßte mich trotz meines Widerstrebens bei der Hand, klopfte mir auf die Backe, sagte, ich sei sehr hübsch, und es gefalle ihm besonders, daß ich Grübchen auf den Backen hätte (Gott weiß, was er alles redete!); und zuletzt wollte er mich sogar küssen, indem er sagte, er sei ja schon ein alter Mann (er war sehr widerlich!). In diesem Augenblicke trat Fedora ins Zimmer. Er wurde etwas verlegen und fing wieder davon an, daß er mich wegen meiner Bescheidenheit und Sittsamkeit hochschätze und sich freuen würde, wenn ich Vertrauen zu ihm gewönne. Darauf rief er Fedora beiseite und wollte ihr unter irgendeinem sonderbaren Vorwande Geld geben. Fedora nahm es natürlich nicht an. Endlich schickte er sich wieder an wegzugehen, wiederholte noch einmal alle seine Versicherungen, sagte, er werde wiederkommen und mir ein Paar Ohrringe bringen (er schien selbst sehr verlegen zu sein), riet mir, die Wohnung zu wechseln, und empfahl mir eine sehr schöne Wohnung, die er in Aussicht genommen habe, und die mich gar nichts kosten solle, sagte, er habe mich deswegen liebgewonnen, weil ich ein so ehrenhaftes, verständiges Mädchen sei, riet mir, mich vor der liederlichen Jugend zu hüten, und teilte mir zum Schlusse mit, er kenne Anna Fjodorowna, und diese habe ihn beauftragt, mir zu sagen, daß sie selbst mich bald besuchen werde. Nun begriff ich alles. Ich weiß nicht, wie mir wurde; es war das 114 erste Mal in meinem Leben, daß mir etwas Derartiges begegnete; ich war außer mir und sagte ihm ganz gehörig die Wahrheit. Fedora stand mir bei und warf ihn beinah aus der Wohnung hinaus. Wir waren uns darüber klar, daß Anna Fjodorowna hinter alledem stecke; woher hätte er sonst etwas von uns wissen können?

Jetzt wende ich mich an Sie, Makar Alexejewitsch, und bitte Sie flehentlich um Hilfe. Um Gottes willen, lassen Sie mich in dieser Lage nicht im Stich! Borgen Sie sich Geld, verschaffen Sie uns wenigstens ein bißchen; wir können den Umzug nicht bezahlen, und daß wir länger hierbleiben, ist schlechterdings unmöglich; auch Fedora rät zum Wegziehen. Wir brauchen mindestens fünfundzwanzig Rubel; ich werde Ihnen dieses Geld zurückgeben; ich werde es schon durch Arbeit verdienen; Fedora wird mir in den nächsten Tagen noch Arbeit verschaffen; wenn daher die hohen Zinsen Sie stutzig machen sollten, so sehen Sie, bitte, nicht darauf, und gehen Sie auf alles ein! Ich werde Ihnen alles wiedergeben; versagen Sie mir nur um Gottes willen nicht Ihre Hilfe. Nur mit großer Überwindung habe ich mich dazu entschlossen, Sie mit meiner Bitte jetzt zu beunruhigen, wo Sie sich selbst in einer so mißlichen Lage befinden; aber auf Ihnen beruht meine ganze Hoffnung! Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch, vergessen Sie mich nicht, und Gott lasse es Ihnen gelingen!

W. D.

 

Den 4. August.

Mein Täubchen, liebe Warwara Alexejewna!

Ich bin ganz erschüttert von all diesen unerwarteten Schicksalsschlägen! Solche schrecklichen Nöte schlagen mich völlig zu Boden! Nicht nur, daß dieses Gesindel von frechen Schlemmern und nichtswürdigen Greisen Sie, mein Engelchen, auf das Krankenlager bringen will, auch mir wollen sie den Garaus machen, diese Wüstlinge. Und das werden sie erreichen; ich sehe voraus, daß sie das erreichen werden! Ich würde ja jetzt eher bereit sein zu sterben, als daß ich 115 unterlassen sollte, Ihnen zu helfen! Helfe ich Ihnen nicht, dann ist das mein Tod, liebe Warwara, mein wahrer, wirklicher Tod; und helfe ich Ihnen, dann flattern Sie mir davon wie ein Vögelchen aus dem Nestchen und laufen Gefahr, von diesen Eulen und Raubvögeln totgebissen zu werden. Das ist es, was mich quält, liebes Kind. Aber auch Sie, liebe Warwara, wie grausam sind Sie gegen mich! Wie können Sie nur so sein! Böse Menschen quälen und beleidigen Sie, mein Vögelchen, Sie leiden schwer, und da grämen Sie sich noch darüber, daß Sie mich beunruhigen müssen, und versprechen noch, die Schuld abzuarbeiten; das heißt, um die Wahrheit zu sagen, Sie werden sich mit Ihrer schwachen Gesundheit zu Tode bringen, um mir am Verfalltage herauszuhelfen. Bedenken Sie doch nur, liebe Warwara, was Sie da reden! Wozu brauchen Sie denn zu sticken und zu arbeiten und sich Ihr armes Köpfchen mit Sorgen zu zerquälen und sich Ihre hübschen Äugelchen zu verderben und Ihre Gesundheit zu zerstören? Ach, liebe Warwara, liebe Warwara! Sehen Sie, mein Täubchen, ich bin zu nichts zu gebrauchen und weiß das selbst, daß ich zu nichts zu gebrauchen bin; aber ich werde es doch dahin bringen, daß ich zu etwas zu gebrauchen bin! Ich werde alle Hindernisse überwinden, werde mir selbst Privatarbeit beschaffen, werde für allerlei Schriftsteller allerlei Abschriften machen, werde zu ihnen gehen, selbst zu ihnen gehen und mich zur Arbeit anbieten; denn sie suchen ja gute Abschreiber, liebes Kind; ich weiß, daß sie welche suchen. Aber daß Sie sich zu Tode arbeiten, werde ich nicht zulassen; diese selbstmörderische Absicht werde ich Sie nicht ausführen lassen. Ich werde mir ganz bestimmt Geld borgen, mein Engelchen, und werde lieber sterben, als daß ich das nicht täte. Sie schreiben, mein Täubchen, ich solle vor hohen Zinsen nicht zurückschrecken; das werde ich auch nicht tun, liebes Kind; ich werde nicht davor zurückschrecken; vor nichts werde ich jetzt zurückschrecken. Ich werde um vierzig Rubel bitten; das ist doch nicht viel, liebe Warwara; wie denken Sie darüber? Kann mir jemand vierzig Rubel so ohne weiteres anvertrauen? Ich will sagen, glauben Sie, daß ich imstande 116 bin, jemandem auf den ersten Blick so viel Vertrauen einzuflößen? Kann man sich nach meiner Physiognomie auf den ersten Blick über mich ein günstiges Urteil bilden? Überlegen Sie sich das einmal, mein Engelchen: Vermag ich Vertrauen einzuflößen? Wie urteilen Sie persönlich darüber? Wissen Sie, ich habe doch so ein Angstgefühl, – es ist krankhaft, aufrichtig gesagt krankhaft! Von den vierzig Rubeln werde ich fünfundzwanzig für Sie beiseite legen, liebe Warwara; sieben Rubel werde ich der Wirtin geben, und das übrige bestimme ich für meine eigenen Ausgaben. Sehen Sie, der Wirtin müßte ich eigentlich mehr geben; das wäre sogar durchaus notwendig; aber wenn Sie die ganze Sache überlegen, liebes Kind, und alle meine Bedürfnisse zusammenrechnen, dann werden Sie einsehen, daß ich ihr schlechterdings nicht mehr geben kann; folglich ist darüber nicht weiter zu reden, und wir wollen gar nicht mehr daran denken. Für vier Rubel kaufe ich mir ein Paar Stiefel; ich weiß wirklich nicht, ob ich mit den alten morgen noch werde zum Dienst gehen können. Ein Halstuch wäre ebenfalls notwendig; denn mein jetziges ist schon bald ein Jahr alt; aber da Sie mir versprochen haben, mir aus einer alten Schürze von sich nicht nur ein Halstuch, sondern auch ein Vorhemdchen zu nähen, so will ich auch an ein Halstuch nicht mehr denken. Das wären also die Stiefel und das Halstuch. Nun die Knöpfe, meine liebe Freundin. Sie müssen selbst zugeben, meine Kleine, daß Knöpfe für mich ein Ding der Notwendigkeit sind; aber an meinem Anzuge ist beinahe die Hälfte abgegangen. Ich zittere, wenn ich denke, daß Seine Exzellenz eine solche Unordnung bemerken könnten und sagen würden – ja, was würden Dieselben sagen! Ich würde es nicht mehr hören, liebes Kind, was Seine Exzellenz sagen würden; denn ich würde sterben, sterben, auf dem Fleck sterben, ohne weiteres vor Scham sterben, bei dem bloßen Gedanken! Ach, liebes Kind! – Es bleiben mir also nach all diesen notwendigen Ausgaben noch ungefähr drei Rubel übrig; die sind so zum Leben und zu einem halben Pfundchen Tabak; denn, mein Engelchen, ohne Tabak kann ich nicht leben, und ich habe jetzt schon 117 seit neun Tagen meine Pfeife nicht in den Mund genommen. Offen gestanden, ich könnte mir ja auch welchen kaufen, ohne Ihnen ein Wort davon zu sagen; aber das wäre wider mein Gewissen. Sie sind da in Not und entbehren das Notwendigste, und ich gönne mir hier heimlich allerlei Genüsse? Darum sage ich Ihnen das alles lieber, damit mich mein Gewissen nicht beißt. Ich bekenne Ihnen offenherzig, liebe Warwara, daß ich mich jetzt in einer höchst kümmerlichen Lage befinde, das heißt, daß es mir in meinem ganzen bisherigen Leben noch nie so schlecht gegangen ist. Die Wirtin verachtet mich; niemand behandelt mich respektvoll; dazu der schrecklichste Geldmangel und die Schulden; und im Dienste, wo meine Kollegen mir auch früher nicht grün waren, – na, wie sie sich jetzt benehmen, darüber möchte ich lieber nicht reden, liebes Kind. Ich verheimliche ihnen meine Lage, verheimliche ihnen alles sorgsam und verberge mich selbst, und wenn ich zum Dienst komme, so schleiche ich mich seitwärts herein und halte mich von allen fern. Mein Mut reicht nur noch dazu aus, Ihnen das zu gestehen . . . Aber wenn er mir nun kein Geld gibt? Nein, liebe Warwara, es ist schon besser, daran nicht zu denken und sich nicht im voraus mit solchen Gedanken das Herz schwerzumachen. Ich schreibe es Ihnen auch nur, um Sie zu bitten, daß Sie selbst nicht daran denken und sich nicht mit bösen Gedanken peinigen möchten. Ach, mein Gott, was sollte dann aus Ihnen werden? Freilich würden Sie dann aus dieser Wohnung nicht ausziehen, und ich würde in Ihrer Nähe bleiben, – aber nein, dann komme ich überhaupt nicht mehr nach Hause zurück, sondern gehe einfach irgendwo zugrunde und komme um. Sehen Sie, da schreibe und schreibe ich nun an Sie, und ich hätte mich statt dessen rasieren sollen; das sieht immer anständiger aus, und ein anständiges Aussehen ist einem immer behilflich, seine Absicht zu erreichen. Na, Gott gebe, daß es gelingt! Ich werde beten und mich dann auf den Weg machen!

M. Dewuschkin. 118

 

Den 5. August.

Liebster Makar Alexejewitsch!

Verzweifeln Sie doch nur nicht gleich! Wir haben so schon Kummer genug. – Ich sende Ihnen dreißig Kopeken Silber; mehr kann ich Ihnen nicht schicken. Kaufen Sie sich dafür, was Sie am nötigsten brauchen, damit Sie wenigstens bis morgen einigermaßen leben können. Wir selbst haben so gut wie nichts mehr übrig, und was morgen werden soll, das weiß ich nicht. Es ist traurig, Makar Alexejewitsch! Aber überlassen Sie sich nun nicht dem Grame: es ist eben nicht gelungen; da ist nun weiter nichts zu machen! Fedora sagt, das sei noch kein großes Unglück; wir könnten einstweilen auch noch in dieser Wohnung bleiben, und wenn wir auch umzögen, so hätten wir davon doch nur wenig Vorteil; denn wenn sie wollten, könnten sie uns überall finden. Angenehm ist es allerdings nicht, jetzt hierzubleiben. Wenn nicht alles so traurig wäre, würde ich Ihnen noch manches schreiben.

Was haben Sie für einen seltsamen Charakter, Makar Alexejewitsch! Sie nehmen sich alles gar zu sehr zu Herzen; infolgedessen werden Sie immer der unglücklichste Mensch sein. Ich lese alle Ihre Briefe mit großer Aufmerksamkeit und sehe, daß Sie sich in jedem Briefe um mich so quälen und sorgen, wie Sie es niemals um Ihre eigene Person getan haben. Allerdings sagen alle Leute, Sie hätten ein gutes Herz; aber ich sage, daß Ihr Herz allzu gut ist. Ich möchte Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben, Makar Alexejewitsch. Ich bin Ihnen dankbar, sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben; ich empfinde das alles sehr tief; urteilen Sie also selbst, wie mir zumute sein muß, wenn ich sehe, daß Sie auch jetzt in all Ihren Nöten, deren unfreiwillige Ursache ich gewesen bin, ganz in meinem Leben aufgehen, in meinen Freuden, in meinem Kummer, in meinen Empfindungen! Wenn man sich alles, was anderen widerfährt, so zu Herzen nimmt und alles so stark mitfühlt, dann bringt man es allerdings fertig, der unglücklichste Mensch zu sein. Als Sie heute nach dem Dienste zu mir ins Zimmer traten, bekam ich bei Ihrem Anblick einen 119 ordentlichen Schreck. Sie sahen so blaß und verstört und verzweifelt aus, Ihr Gesicht war ganz entstellt: und alles nur deswegen, weil Sie sich fürchteten, mir von Ihrem Mißerfolge zu erzählen, sich fürchteten, mich zu erschrecken und zu betrüben; und als Sie sahen, daß ich beinah anfing zu lachen, da fiel Ihnen fast die ganze Last vom Herzen, Makar Alexejewitsch! Grämen Sie sich nicht, verzweifeln Sie nicht, seien Sie vernünftig; ich bitte Sie darum, bitte Sie inständig. Nun, Sie werden sehen, daß noch alles gut werden und alles sich zum Besseren wenden wird; aber wenn Sie sich immer um das Leid anderer Menschen grämen und härmen, dann erschweren Sie sich selbst das Leben. Leben Sie wohl, mein Freund; ich bitte Sie herzlich, sich um mich nicht zu sehr zu beunruhigen.

W. D.

 

Den 5. August.

Mein Täubchen, liebe Warwara!

Nun gut, mein Engelchen, gut! Sie meinen, es sei noch kein Unglück, daß ich das Geld nicht bekommen habe. Nun gut, ich bin beruhigt und glücklich, was Sie betrifft. Ich freue mich sogar, daß Sie mich alten Mann nicht verlassen, sondern in dieser Wohnung bleiben werden. Und wenn ich alles aussprechen soll, so muß ich sagen: Mein ganzes Herz wurde voll Freude, als ich sah, daß Sie in Ihrem Briefe über mich so schön geschrieben und meinen Gefühlen solche Lobsprüche erteilt hatten. Ich sage das nicht aus Stolz, sondern weil ich sehe, daß Sie mich liebhaben müssen, wenn Sie sich über mein Herz so beunruhigen. Na gut; aber wozu sollen wir jetzt noch weiter von meinem Herzen reden! Das Herz ist eine Sache für sich; aber Sie verlangen da, liebes Kind, ich solle nicht kleinmütig sein. Ja, mein Engelchen, mag sein, ich gebe zu, daß er nichts taugt, der Kleinmut; aber trotz alledem, sagen Sie selbst, liebes Kind, in was für Stiefeln werde ich morgen zum Dienst gehen! Da sitzt die Schwierigkeit, liebes Kind; und ein derartiger Gedanke kann einen Menschen allerdings herunterbringen, 120 vollständig herunterbringen. Die Hauptsache aber, meine Beste, ist dies, daß ich nicht um meiner Person willen betrübt bin, nicht persönlich leide; für meine eigene Person ist es mir ganz gleichgültig, ob ich, selbst bei strenger Kälte, ohne Mantel und ohne Stiefel gehe; ich halte das aus, ich ertrage alles, mir macht das nichts; ich bin ein gewöhnlicher, einfacher Mensch. Aber was werden die Leute dazu sagen? Was werden meine Feinde, all diese Schandmäuler dazu sagen, wenn ich ohne Mantel ankomme? Man geht ja doch nur um der Leute willen im Mantel, und auch die Stiefel trägt man eigentlich nur um ihretwillen. Somit, mein liebes Kind, mein Herzchen, bedarf ich der Stiefel zur Aufrechterhaltung meiner Ehre und meines guten Namens; bei zerrissenen Stiefeln geht sowohl jene wie dieser zugrunde; glauben Sie mir das, liebes Kind, glauben Sie das meiner vieljährigen Erfahrung; hören Sie auf mich alten Mann, der ich die Welt und die Menschen kenne, und nicht auf die Tintenkleckser und Büchersudler.

Aber ich habe Ihnen noch nicht ausführlich erzählt, liebes Kind, wie sich das alles in Wirklichkeit heute zugetragen hat. Ich habe an diesem einen Morgen so viel ausgestanden und so viel seelischen Schmerz erlitten, wie manch einer das ganze Jahr hindurch nicht zu erleiden hat. Das begab sich folgendermaßen. Ich machte mich ganz früh auf den Weg, um ihn sicher anzutreffen und dann noch rechtzeitig zum Dienste zu kommen. Es regnete heute stark, und es war ein schauderhafter Schmutz! Ich wickelte mich in den Mantel, mein Sternchen, und ging und ging und dachte immer dabei: »Lieber Gott, vergib mir meine Sünden und laß meine Wünsche in Erfüllung gehen!« Als ich bei der ***skaja-Kirche vorbeikam, bekreuzte ich mich und bereute alle meine Sünden; aber ich besann mich, daß es sich für mich nicht gezieme, so mit dem lieben Gott zu verhandeln. Ich vertiefte mich in meine Gedanken und mochte nach nichts hinsehen; so ging ich immer weiter, ohne mich um den Weg zu kümmern. Die Straßen waren leer, und die Leute, die mir begegneten, sahen alle so beschäftigt und sorgenvoll aus; und das war ja auch nicht zu verwundern; denn wer geht 121 denn so früh und bei solchem Wetter spazieren? Ein Trupp beschmutzter Arbeiter kam mir entgegen, und die rohen Menschen versetzten mir viele Püffe. Da überkam mich die Zaghaftigkeit; es wurde mir ängstlich zumute; an das Geld mochte ich, die Wahrheit zu sagen, gar nicht denken; handelt man auf gut Glück, dann auch ohne Überlegung vorwärts! Dicht bei der Woskressenski-Brücke ging mir die eine Stiefelsohle ab, so daß ich selbst nicht weiß, worauf ich weiterging. Und da begegnete mir unser Schreiber Jermolajew, blieb stehen, machte vor mir Front und folgte mir mit den Augen, als wollte er um ein Trinkgeld bitten. »Ach, Bruder«, dachte ich, »ein Trinkgeld; wie kann ich dir ein Trinkgeld geben!« Ich war furchtbar müde, blieb ein Weilchen stehen, erholte mich ein bißchen und schleppte mich dann weiter. Ich blickte absichtlich um mich herum, woran ich wohl meine Gedanken klammern könnte, um mich zu zerstreuen und zu ermutigen; aber ich vermochte meine Gedanken an nichts anzuheften, und obendrein war ich so schmutzig geworden, daß ich mich vor mir selbst schämte. Endlich erblickte ich in der Ferne ein gelbes Holzhaus mit einem Halbgeschoß nach Art eines Belvederes; »na«, dachte ich, »das ist es; so hat es mir auch Jemeljan Iwanowitsch beschrieben, das Haus Markows.« (Dieser Markow, liebes Kind, das ist der Mann, der Geld auf Zinsen verleiht.) Da verlor ich ordentlich die Besinnung; ich wußte, daß es Markows Haus war, fragte aber doch einen Polizisten: »Sage mir, Brüderchen«, sagte ich, »wem gehört das Haus da?« Der Polizist war ein Grobian und gab mir widerwillig und brummig, als ob er auf jemand ärgerlich sei, zur Antwort, das sei das Markowsche Haus. Diese Polizisten sind alle so gefühllos; indes, was brauchte ich mich um einen Polizisten zu kümmern? Aber all das rief doch bei mir eine üble, unangenehme Empfindung hervor; kurz, es kam immer eins zum andern; in allem findet man eine Beziehung zur eigenen Lage, das ist immer so. Vor dem Hause ging ich dreimal auf der Straße auf und ab, und je länger ich ging, um so schlimmer wurde mir zumute. »Nein«, dachte ich, »er wird mir nichts geben; er wird mir bestimmt nichts geben! 122 Er kennt mich ja gar nicht, und meine Verhältnisse sind mißlich, und mein Äußeres macht auch keinen einnehmenden Eindruck. Na«, dachte ich, »wie es das Schicksal will; damit ich mir nachher keinen Vorwurf zu machen habe; er wird mich ja für den Versuch nicht gleich auffressen!« und ich öffnete leise das Pförtchen am Tore. Aber da kam auch gleich ein anderes Malheur: Ein gräßlicher, dummer Hofhund machte sich an mich heran und bellte, als ob er aus der Haut fahren wollte! Sehen Sie, liebes Kind, solche gemeinen, unbedeutenden Begebenheiten bringen einen Menschen immer aus der Fassung und machen ihn ängstlich und vernichten alle Entschlossenheit, die man sich vorher zurechtgemacht hat. So trat ich denn mehr tot als lebendig ins Haus hinein, und sowie ich hineintrat, passierte wieder ein neues Unglück: Ich bemerkte nicht, was da im Dunkeln unten an der Schwelle war, trat zu und stolperte über ein Weib, das da kauerte und aus einem Melkgefäß Milch in Kannen goß; die ganze Milch wurde verschüttet. Das dumme Weib kreischte auf und zeterte los: »Wo rennst du denn hin? Was willst du hier?« und nun schimpfte sie mich gehörig aus. Ich bemerke dazu noch, liebes Kind, daß mir so etwas in solchen Fällen bisher immer begegnet ist; das ist mir wohl so vom Schicksal bestimmt; jedesmal stoße ich an irgend etwas Fremdes an. Auf den Lärm streckte die Wirtin, eine alte Hexe, eine Finnländerin, den Kopf durch die Tür und trat auf den Flur heraus; ich wandte mich direkt an sie: »Wohnt hier Herr Markow?« fragte ich. »Nein«, antwortete sie; dann blieb sie ein Weilchen stehen und musterte mich genau. »Was wollen Sie denn von ihm?« Ich setzte ihr die Sache auseinander: »Soundso, Jemeljan Iwanowitsch . . .« na und so weiter; »ich habe eine kleine geschäftliche Angelegenheit.« Die Alte rief ihre Tochter; auch die Tochter kam heraus, ein nicht mehr junges Mädchen, barfuß. »Ruf den Vater; er ist oben bei den Mietern. Bitte, treten Sie ein!« Ich trat ins Zimmer. An dem Zimmer war nichts besonders Bemerkenswertes: An den Wänden hingen Bilder, lauter Porträts irgendwelcher Generäle; es standen ein Sofa da und ein runder Tisch, auch Blumentöpfe mit Reseda und 123 Balsaminen. Ich überlegte: »Soll ich mich nicht lieber wieder davonmachen, solange ich es mit heiler Haut kann? Soll ich weggehen oder nicht?« Denn wahrhaftig, liebes Kind, ich hatte die größte Lust davonzulaufen! »Ich will lieber morgen wiederkommen«, dachte ich; »dann wird besseres Wetter sein, und ich werde es günstiger treffen; heute aber habe ich die Milch umgestoßen, und die Generäle sehen mich so grimmig an.« Ich wandte mich schon zur Tür; da trat er herein. Sein Äußeres war nicht weiter auffallend: ein Mann mit schon ergrautem Haar und schlauen, kleinen Augen, in einem schmutzigen Schlafrock, der mit einem Strick umgürtet war. Er fragte nach meinem Begehren, und ich sagte ihm: »Soundso, Jemeljan Iwanowitsch, vierzig Rubel, die Sache ist die . . .« aber ich sprach nicht zu Ende. Ich sah es ihm an den Augen an, daß ich mein Spiel verloren hatte. »Nein«, sagte er, »das ist eine schlimme Sache; ich habe kein Geld; aber haben Sie ein Pfand?« Ich setzte ihm auseinander, daß ich kein Pfand hätte, daß aber Jemeljan Iwanowitsch – kurz, ich trug ihm alles Notwendige vor. Er hörte alles an und sagte dann: »Nein, was soll hier Jemeljan Iwanowitsch! Ich habe kein Geld.« »Na«, dachte ich, »richtig, ganz richtig; das habe ich doch gewußt; das habe ich vorausgeahnt.« Na, wahrhaftig, liebe Warwara, es wäre mir schon am liebsten gewesen, wenn sich die Erde unter mir aufgetan hätte; so kalt wurde mir, und die Beine erstarrten mir, und ein Kribbeln lief mir den Rücken entlang. Ich sah ihn an, und er sah mich an, und seine Miene sagte ordentlich: »Scher dich weg, Freundchen; du hast hier nichts mehr zu suchen«, so daß ich, wenn mir das unter anderen Verhältnissen passiert wäre, mich geschämt hätte, noch einen Augenblick länger zu bleiben. »Wozu brauchen Sie denn das Geld?« fragte er dann (danach hat er wirklich gefragt, liebes Kind!) Ich öffnete schon den Mund, um nicht so schweigend dazustehen; aber er hörte nicht weiter nach mir hin; »nein«, sagte er, »ich habe kein Geld; sonst würde ich mit Vergnügen . . .« Ich stellte ihm die Sache noch einmal und noch einmal vor, sagte ihm, daß ich ja nicht viel nötig hätte, und daß ich es ihm wiedergeben würde, pünktlich zum Termin 124 wiedergeben würde, ja noch vor dem Termin, und daß er Zinsen nehmen könne, so viel er wolle, und daß ich es ihm gewiß und wahrhaftig wiedergeben würde. Ich dachte in diesem Augenblicke an Sie, liebes Kind, an all Ihr Unglück und an all Ihre Nöte und an Ihr halbes Rubelchen. Aber er erwiderte: »Nein, um die Zinsen handelt es sich nicht; ja, wenn Sie ein Pfand hätten! Aber ich habe kein Geld; bei Gott, ich habe nichts; sonst würde ich mit Vergnügen . . .« Er rief noch den Namen Gottes an, der Gauner!

Na, meine Beste, ich habe keine Erinnerung dafür, wie ich dann aus dem Hause kam, und wie ich durch die Wyborger Vorstadt ging, und wie ich auf die Woskressenski-Brücke gelangte. Ich war furchtbar müde, fröstelte wie im Fieber und kam erst um zehn Uhr zum Dienste. Ich wollte mich ein bißchen vom Schmutze reinigen; aber der Hauswart Snegirjow sagte, das ginge nicht; damit würde die Bürste ruiniert, und die Bürste sei fiskalisches Eigentum. So benehmen sich jetzt diese Leute gegen mich, liebes Kind; in ihren Augen bin ich fast noch geringer als ein alter Lappen, an dem man sich die Füße abwischt. Sehen Sie wohl, liebe Warwara, was mich so niederdrückt? Nicht der Geldmangel, sondern all diese täglichen Aufregungen, all dieses Geflüster, dieses Lächeln, diese Scherzreden. Selbst Seine Exzellenz können gelegentlich eine Äußerung über mich fallenlassen, – ach, liebes Kind, meine goldenen Zeiten sind vergangen! Heute habe ich alle Ihre Briefe noch einmal durchgelesen; es ist traurig, liebes Kind! Leben Sie wohl, meine Beste; Gott schütze sie!

M. Dewuschkin.

P. S. Ich wollte Ihnen meine Leidensgeschichte in halb scherzhaftem Tone erzählen, liebe Warwara; aber er gelingt mir offenbar nicht, der scherzhafte Ton. Ich wollte Ihnen damit etwas Angenehmes erweisen. Ich werde zu Ihnen kommen, liebes Kind, werde bestimmt kommen. 125

 

Den 11. August.

Warwara Alexejewna! Mein Täubchen, liebes Kind! Ich bin verloren; wir sind beide verloren; beide zusammen sind wir unrettbar verloren. Mein Ruf, mein guter Name, alles ist dahin! Ich bin zugrunde gerichtet, und Sie sind zugrunde gerichtet, liebes Kind; auch Sie sind mit mir zusammen unwiederbringlich zugrunde gerichtet! Und ich, ich bin es, der Sie ins Verderben gestürzt hat! Man feindet mich an, liebes Kind, man behandelt mich geringschätzig, man macht mich zum Gespött, und die Wirtin hat schon angefangen, einfach auf mich zu schimpfen; heute vollführte sie ein endloses Geschrei und machte mich in einer unerhörten Weise herunter, als ob ich ein tief unter ihr stehendes Wesen wäre.

Am Abend aber las einer von ihnen bei Ratasjajew laut das Konzept eines Briefes vor, den ich an Sie geschrieben habe; es muß mir zufällig aus der Tasche gefallen sein. Mein liebes Kind, was schlugen die Menschen für ein Gelächter auf! Sie legten uns allerlei spöttische Titel bei und lachten ohne Aufhören, die Verräter! Ich ging zu ihnen hinein und beschuldigte Ratasjajew des Treubruchs und sagte ihm, er sei ein Verräter! Aber Ratasjajew antwortete mir, ich sei selbst ein Verräter und ginge darauf aus, Eroberungen zu machen; »Sie haben Heimlichkeiten vor uns gehabt«, sagte er; »Sie sind ein Lovelace!« Und jetzt nennen sie mich alle Lovelace; einen anderen Namen habe ich gar nicht mehr! Hören Sie, mein Engelchen, hören Sie, sie wissen jetzt alles; sie sind von allem unterrichtet; sie wissen von Ihnen, meine Beste, und von allem, was bei Ihnen ist, von allem wissen sie! Und noch mehr: Auch Faldoni stößt mit ihnen in dasselbe Horn und ist mit ihnen im Bunde; ich wollte ihn heute nach dem Wurstladen schicken, um mir etwas zu holen; aber er ging einfach nicht und sagte: »Ich habe zu tun.« »Aber du bist dazu verpflichtet«, sagte ich. »Nein«, erwiderte er, »dazu bin ich nicht verpflichtet; Sie bezahlen meiner Herrin kein Geld; also habe ich Ihnen gegenüber auch keine Pflichten.« Ich konnte mir von ihm, diesem ungebildeten Knechte, eine solche 126 Beleidigung nicht gefallen lassen und nannte ihn »Dummkopf«; aber er erwiderte mir: »Selbst einer.« Ich glaubte, er wäre betrunken, daß er sich eine solche Grobheit gegen mich erlaubte, und sagte zu ihm: »Du bist wohl betrunken, du Kerl!« Aber er antwortete mir: »Haben Sie mich etwa traktiert? Sie betteln doch selbst bei einer Gewissen um ein Zwanzigkopekenstück«, und dann fügte er noch hinzu: »Und so einer will noch ein Herr sein!« Sehen Sie, liebes Kind, sehen Sie, wie weit es gekommen ist! Man schämt sich zu leben, liebe Warwara! Ich bin in den Augen der Menschen ein ganz heruntergekommenes Subjekt, schlechter als ein Landstreicher. So ein schreckliches Unglück! Ich bin zugrunde gerichtet, einfach zugrunde gerichtet! Unrettbar zugrunde gerichtet!

M. D.

 

Den 13. August.

Liebster Makar Alexejewitsch! Über uns kommt jetzt ein Unglück nach dem andern, und ich weiß selbst nicht mehr, was wir anfangen sollen! Was wird jetzt aus Ihnen werden? Denn auf mich ist auch wenig Hoffnung zu setzen: Ich habe mir heute mit dem Bügeleisen die linke Hand verbrannt; es fiel mir aus Versehen hin, und ich zerschlug mich und verbrannte mich, alles zusammen. Zu arbeiten ist mir unmöglich, und auch Fedora ist seit vorgestern krank. Ich befinde mich in einer qualvollen Unruhe. Ich schicke Ihnen dreißig Kopeken Silber; das ist beinah unser Letztes. Gott weiß, wie gern ich Ihnen jetzt in Ihrer Not helfen möchte. Es ist zum Weinen! Leben Sie wohl, mein Freund! Sie würden mich sehr trösten, wenn Sie heute zu uns kämen.

W. D.

 

Den 14. August.

Makar Alexejewitsch! Was ist das nur mit Ihnen! Wirklich, Sie fürchten Gott nicht mehr! Sie bringen mich geradezu um meinen Verstand. Schämen Sie sich denn gar nicht? Sie 127 richten sich zugrunde; denken Sie doch nur an Ihren Ruf! Sie sind ein ehrenhafter, anständiger Mensch, der auf sich hält; wenn nun alle Leute erfahren, wie Sie sich jetzt aufführen! Da werden Sie sich doch geradezu totschämen! Oder tut es Ihnen denn nicht leid um Ihre grauen Haare? Sie sollten doch Gott fürchten! Fedora sagt, sie werde Ihnen jetzt nicht mehr helfen, und ich werde Ihnen ebenfalls kein Geld mehr geben. Wohin haben Sie mich gebracht, Makar Alexejewitsch! Sie meinen wohl, es sei mir gleichgültig, daß Sie sich so schlecht aufführen; Sie wissen noch nicht, was ich Ihretwegen auszustehen habe! Ich kann nicht einmal mehr über unsere Treppe gehen: Alle sehen sie nach mir hin und weisen mit Fingern auf mich und reden so schreckliche Dinge; sie sagen geradezu, ich hätte ein Verhältnis mit einem Trunkenbolde. Es ist entsetzlich, so etwas anzuhören! Wenn Sie angebracht werden, so weisen alle Mieter verächtlich auf Sie hin: »Da bringen Sie den Beamten«, sagen sie. Und ich schäme mich für Sie zu Tode. Ich schwöre Ihnen, ich ziehe von hier fort. Ich werde irgendwo Stubenmädchen oder Wäscherin; aber hier bleibe ich nicht. Ich schrieb Ihnen, Sie möchten zu mir kommen, aber Sie sind nicht gekommen. Sie machen sich also nichts aus meinen Tränen und Bitten, Makar Alexejewitsch! Und wo haben Sie nur das Geld herbekommen? Um Gottes willen, nehmen Sie sich in acht! Sie gehen ja zugrunde, gehen unbedingt zugrunde! Welche eine Schmach und Schande! Gestern hat die Wirtin Sie nicht einmal hereinlassen wollen, und da haben Sie die Nacht auf dem Treppenflur zugebracht: Ich weiß alles. Wenn Sie wüßten, wie schrecklich mir zumute war, als ich das alles erfuhr! Kommen Sie zu mir; es wird Ihnen bei uns leichter ums Herz werden; wir wollen etwas zusammen lesen und uns an die alten Zeiten erinnern. Fedora wird uns von ihren Pilgerfahrten erzählen. Tun Sie mir die Liebe, mein Täubchen, und richten Sie nicht sich und damit zugleich auch mich zugrunde! Ich lebe ja doch nur für Sie allein und bleibe um Ihretwillen bei Ihnen. Und jetzt treiben Sie es so! Seien Sie doch ein anständiger Mensch, und beweisen Sie Festigkeit im Unglück; denken Sie daran, daß Armut keine Schande 128 ist! Und zum Verzweifeln ist doch auch kein Grund: das geht ja alles vorüber! So Gott will, wird alles wieder in Ordnung kommen; nehmen Sie sich nur jetzt zusammen! Ich sende Ihnen zwanzig Kopeken; kaufen Sie sich dafür Tabak oder alles, was Sie sonst mögen; aber geben Sie das Geld ja nicht für Schlechtes aus! Kommen Sie zu uns, kommen Sie unter allen Umständen! Sie werden sich vielleicht wieder genieren wie früher; aber tun Sie das nicht; es wäre doch nur eine unwahre Scham. Wenn Sie nur aufrichtige Reue empfänden! Vertrauen Sie auf Gott! Er wird alles zum Besten wenden.

W. D.

 

Den 19. August

Liebe Warwara Alexejewna!

Ich schäme mich, Warwara Alexejewna, mein Sternchen; ich schäme mich in Grund und Boden. Aber ich muß doch sagen, liebes Kind: Was ist denn dabei so Besonderes? Warum soll man seinem Herzen nicht eine kleine Freude machen? Ich denke dann nicht an meine Stiefelsohlen; denn eine Stiefelsohle ist dummes Zeug und bleibt immer eine gewöhnliche, gemeine, schmutzige Stiefelsohle. Und Stiefel sind ebenfalls dummes Zeug! Die griechischen Weisen sind ohne Stiefel gegangen; also wozu soll sich unsereiner mit so unwürdigen Gegenständen abplagen? Wie darf mich jemand deswegen beleidigen oder verachten? Ach, liebes Kind, liebes Kind, was haben Sie mir da alles geschrieben! Und Ihrer Fedora sagen Sie nur, sie sei ein zänkisches, unruhiges, händelsüchtiges Frauenzimmer, und obendrein dumm, unsagbar dumm! Was meine grauen Haare anlangt, so befinden Sie sich auch darin im Irrtum, meine Beste; denn ich bin noch keineswegs ein so alter Mann, wie Sie glauben. Jemeljan läßt sich Ihnen empfehlen. Sie schreiben mir, Sie hätten sich gegrämt und geweint; ich aber schreibe Ihnen, daß ich mich ebenfalls gegrämt und geweint habe. Zum Schlusse wünsche ich Ihnen Gesundheit und alles Wohlergehen; was mich betrifft, so bin ich ebenfalls 129 gesund, und es geht mir wohl, und ich verbleibe, mein Engelchen, Ihr Freund

Makar Dewuschkin.

 

Den 21. August.

Geehrtes Fräulein, liebe Freundin Warwara Alexejewna!

Ich fühle, daß ich schuldig bin; ich fühle, daß ich mich gegen Sie vergangen habe; aber meiner Ansicht nach bringt es weiter keinen Nutzen, daß ich das alles fühle, da mögen Sie sagen, was Sie wollen. Auch vor meinem Vergehen habe ich das alles gefühlt; aber ich bin dann doch schwach geworden und bin in vollem Bewußtsein meiner Schuld gefallen. Liebes Kind, ich bin nicht schlecht und nicht hartherzig; und um Ihr Herzchen zu zerfleischen, mein Täubchen, müßte man geradezu ein blutdürstiger Tiger sein; na, aber ich habe ein Lämmerherz und besitze, wie Ihnen bekannt ist, gar keine Anlage zu Blutdurst; folglich, mein Engelchen, trage ich auch nicht die volle Schuld an meinem Vergehen, wie denn auch weder mein Herz noch meine Gedanken daran schuld sind; sondern das ist nun einmal so, und ich wüßte wirklich nicht zu sagen, was eigentlich schuld daran ist. Das ist so eine dunkle Geschichte, liebes Kind! Dreißig Kopeken Silber haben Sie mir geschickt und dann noch zwanzig Kopeken; das Herz blutete mir beim Anblicke dieses Geldes einer armen Waise. Sie selbst haben sich die Hand verbrannt und werden bald hungern müssen, und dabei schreiben Sie, ich möchte mir Tabak kaufen. Nun, wie sollte ich mich in dieser Lage verhalten? Sollte ich so ohne alle Gewissensbisse wie ein Räuber Sie armes Waisenkind ausplündern? Da wurde ich ganz schwach und kleinmütig; das heißt, zuerst, als ich mir unwillkürlich sagte, daß ich zu nichts brauchbar und nicht viel besser als meine Stiefelsohle sei, da hielt ich es für unziemlich, mich für etwas von irgendwelcher Bedeutung zu erachten, sondern meinte vielmehr selbst etwas Unwürdiges und gewissermaßen etwas Unanständiges zu sein. Na, aber als ich dann die Selbstachtung verloren hatte und mich um meine guten 130 Eigenschaften und um meine Würde nicht mehr kümmerte, da war nun auch alles verloren, und es erfolgte der Fall, der unvermeidliche Fall! Das war nun schon so vom Schicksal vorherbestimmt, und ich trage keine Schuld daran. Ich war eigentlich nur ausgegangen, um mich in der frischen Luft ein bißchen zu erholen. Aber da kam gleich eines zum andern: die Natur war so weinerlich, kaltes Wetter und Regen; na, und dann war zufällig auch Jemeljan da. Er hatte schon alles versetzt, liebe Warwara, was er besaß; all seine Habe war an ihren Bestimmungsort gelangt, und als ich ihn traf, hatte er bereits seit zwei Tagen keinen Tropfen von so etwas im Munde gehabt, so daß er schon Sachen versetzen wollte, die man gar nicht versetzen kann, weil sie nicht als Pfänder angenommen werden. Na, und da, liebe Warwara, gab ich ihm nach, mehr aus Mitleid mit der Menschheit als aus eigenem Triebe. So ging es zu, daß diese Sünde zustande kam, liebes Kind! Wie haben wir beide, er und ich, zusammen geweint! Wir sprachen auch von Ihnen. Er ist ein sehr guter, ganz vortrefflicher Mensch und sehr gefühlvoll. Ich, liebes Kind, fühle das alles selbst, und daher begegnet mir denn auch all so etwas, weil ich das alles so tief fühle. Ich weiß, wieviel ich Ihnen, mein Täubchen, zu verdanken habe! Nachdem ich Sie kennengelernt hatte, fing ich an auch mich selbst besser zu kennen und begann Sie zu lieben; vorher, mein Engelchen, war ich einsam gewesen und hatte sozusagen geschlafen, statt richtig auf der Welt zu leben. Die schlechten Menschen, mit denen ich zusammenkam, hatten mir immer gesagt, daß sogar mein Äußeres unanständig sei, und hatten mich verachtet; na, und da hatte ich auch selbst angefangen mich zu verachten; sie hatten gesagt, ich sei stumpfsinnig, und da hatte ich wirklich gedacht, daß ich stumpfsinnig sei. Aber als Sie mir erschienen, da erleuchteten Sie mein ganzes dunkles Leben, so daß auch mein Herz und meine Seele hell wurden und ich seelische Ruhe gewann und einsah, daß ich nicht schlechter bin als andere, daß ich zwar nur so etwas Mäßiges bin, keine glänzenden Eigenschaften besitze, keine Politur habe und mich nicht auf guten Ton verstehe, aber dabei doch ein Mensch bin, an 131 Herz und Denkungsart ein Mensch. Na, aber jetzt, wo ich fühlte, daß ich vom Schicksal verfolgt und gedemütigt werde, da habe ich meine eigene Würde vergessen und bin, durch meine Nöte niedergedrückt, schwach geworden. Und da Sie nun alles wissen, liebes Kind, so bitte ich Sie unter Tränen, mich über diese Sache nicht weiter zu befragen; denn mein Herz ist zerrissen, und es ist mir bitter und traurig zumute.

Ich drücke Ihnen, liebes Kind, meine Hochachtung aus und verbleibe Ihr treuer

Makar Dewuschkin.

 

Den 3. September.

Ich habe meinen vorigen Brief nicht zu Ende geschrieben, Makar Alexejewitsch, weil mir das Schreiben gar zu schwer wurde. Es kommen manchmal bei mir Augenblicke vor, wo ich mich freue allein zu sein, allein zu trauern, mich allein zu härmen, ohne einen andern daran teilnehmen zu lassen, und solche Augenblicke stellen sich jetzt bei mir immer häufiger ein. Es liegt in meinen Erinnerungen ein mir unerklärliches Element, das mich unwiderstehlich in seinen Bann schlägt, mit einer solchen Gewalt, daß ich stundenlang gegen meine ganze Umgebung unempfindlich bin und alles, die ganze Wirklichkeit, vergesse. Und es gibt in meinem jetzigen Leben keine, sei es angenehme oder bedrückende und traurige Empfindung, die mich nicht an etwas Ähnliches in meiner Vergangenheit erinnerte und am allerhäufigsten an meine Kindheit, an meine goldene Kindheit! Aber nach solchen Augenblicken fühle ich mich immer sehr bedrückt. Ich werde ordentlich schwach; meine Träumereien erschöpfen meine Kraft; mein Gesundheitszustand aber wird sowieso schon immer schlechter und schlechter.

Aber heute hat der frische, leuchtende Morgen, wie wir sie hier im Herbste nur so selten haben, mich belebt, und ich habe ihn freudig begrüßt. Also haben wir schon Herbst! Wie liebte ich den Herbst auf dem Lande! Ich war noch ein Kind, hatte aber schon damals viel Gefühl. Den 132 Herbstabend liebte ich mehr als den Herbstmorgen. Wenige Schritte von unserem Hause entfernt lag am Fuße eines Berges ein See. Dieser See (es ist mir, als ob ich ihn jetzt mit meinen Augen sähe), dieser See war so groß und so eben und so hell und so rein wie Kristall! Wenn es ein stiller Abend war, lag der See ruhig da; an den Bäumen, die am Ufer standen, regte sich kein Blättchen; das Wasser war unbeweglich wie ein Spiegel. Frisch! Kalt! Der Tau senkt sich auf das Gras herab; in den Hütten am Ufer leuchten Lichtchen auf; die Herden werden eingetrieben, – da schleiche ich mich leise aus dem Hause, um meinen See zu betrachten, und kann mich oft an ihm gar nicht satt sehen. Ein Reisigbündel brennt bei den Fischern dicht am Ufer, und der Schein ergießt sich weithin über das Wasser. Der Himmel ist so kalt und hellblau, und der Horizont ist ganz mit feuerroten Streifen überzogen, und diese Streifen werden immer blasser und blasser; der Mond geht auf; die Luft trägt den Schall so gut: Wenn ein erschrecktes Vögelchen aufflattert, oder das Schilf bei einem leisen Windhauche raschelt, oder ein Fisch im Wasser plätschert, so ist alles zu hören. Über dem bläulichen Wasser erhebt sich ein dünner, durchschimmernder, weißer Nebel. Die Ferne ist schon dunkel; alles versinkt dort im Nebel; aber in der Nähe ist alles so scharf wie mit einem Grabstichel umrissen: ein Kahn, das Ufer, die Inseln; dicht am Ufer schaukelt eine weggeworfene, vergessene Tonne ganz sachte auf dem Wasser; ein Weidenzweig mit gelb gewordenen Blättern hängt in das Schilf hinein; eine verspätete Möwe fliegt umher: Bald stößt sie in das kalte Wasser, bald schwingt sie sich wieder auf und taucht in den Nebel, – und ich konnte mich nicht satt sehen und satt hören, – so wundervoll schön war mir zumute! Aber ich war noch ein Kind, ein Kind! . . .

Ich liebte den Herbst so, den Spätherbst, wenn das Getreide schon eingebracht ist und alle Feldarbeiten beendet sind und schon in den Bauernhäusern die abendlichen Versammlungen zu gemeinsamer Arbeit beginnen und alle schon den Winter erwarten. Dann wird alles immer düsterer; der Himmel bedeckt sich mit finsteren Wolken; die 133 gelben Blätter liegen in tiefer Schicht auf dem Boden des kahl gewordenen Waldes; der Wald aber nimmt eine bläuliche, schwärzliche Farbe an, besonders abends, wenn sich ein feuchter Nebel herabsenkt, und die Bäume schimmern aus dem Nebel wie Riesen, wie unförmige, schreckliche Gespenster hervor. Wenn man sich manchmal auf dem Spaziergange verspätet und hinter den anderen zurückbleibt und allein geht, dann eilt man ihnen nach und ängstigt sich! Man zittert wie Espenlaub; »sieh nur«, denkt man, »da schaut ein furchtbares Wesen aus der Baumhöhlung heraus!« Und da fährt der Wind durch den Wald und braust und lärmt und heult so kläglich und reißt eine Wolke von Blättern von den mageren Zweigen und wirbelt sie in der Luft umher. Und auf einmal zieht in langem, breitem, lärmendem Schwarme mit wildem, durchdringendem Geschrei eine Schar von Zugvögeln vorüber, so daß der Himmel schwarz wird und alles von ihnen bedeckt ist. Man fürchtet sich, und es ist einem, als hörte man eine Stimme, und als flüstere jemand: »Lauf, lauf, Kind, verspäte dich nicht; hier wird es gleich schrecklich sein; lauf, Kind!« Entsetzen packt das Herz, und man läuft und läuft, so daß einem die Luft ausgeht. Außer Atem kommt man nach Hause; dort geht es geräuschvoll und munter zu; uns Kindern allen werden Arbeiten zugeteilt: Erbsen oder Mohn auszuhülsen. Das feuchte Holz knistert im Ofen; die Mutter beaufsichtigt fröhlich unsere lustige Arbeit; die alte Kinderfrau Uljana erzählt von alten Zeiten oder auch schreckliche Märchen von Zauberern und Leichen. Wir Kinder schmiegen uns aneinander; aber doch liegt auf den Lippen aller ein Lächeln. Da auf einmal verstummt alles . . . horch, ein Geräusch! Als ob jemand klopfte! Es ist nichts gewesen; es summt nur das Spinnrad der alten Frolowna; was gibt das nun für ein Gelächter! Nachher aber in der Nacht kann man lange Zeit nicht schlafen vor Furcht und hat so schreckliche Träume. Wenn man aufwacht, wagt man manchmal nicht sich zu rühren und liegt bis zum Tagwerden zitternd unter seiner Bettdecke. Am Morgen steht man frisch wie ein Blümchen auf. Man sieht durchs Fenster: Das 134 ganze Feld ist mit Reif bedeckt; auch an den kahlen Zweigen hängt feiner Herbstreif; der See hat sich mit einer Eisschicht, dünn wie ein Blatt Papier, überzogen; ein weißer Dampf steigt von ihm auf; die munteren Vögel zwitschern. Ringsumher leuchtet die Sonne mit hellen Strahlen, und diese Strahlen zerbrechen das dünne Eis wie Glas. Alles ist so hell und klar und fröhlich! Im Ofen prasselt wieder das Feuer; wir setzen uns alle zum Samowar, und durch das Fenster blickt unser schwarzer Hund Polkan, der in der Nacht tüchtig gefroren hat, herein und wedelt freundlich mit dem Schwanze. Ein Bäuerlein fährt mit einem guten Pferdchen am Fenster vorbei nach dem Walde, um Holz zu holen. Alle sind so zufrieden, so fröhlich! . . . Auf den Tennen sind ganze Berge von Garben aufgehäuft; die mit Stroh bedeckten großmächtigen Heuschober glänzen goldig in der Sonne; es ist eine Lust, das alles zu sehen! Und alle sind ruhig, alle sind froh: Allen hat Gott mit der Ernte eine Wohltat erwiesen; alle wissen, daß es ihnen im Winter nicht an Brot mangeln wird; der Bauer weiß, daß seine Frau und seine Kinder satt zu essen haben werden. Und so hört man denn abends ununterbrochen die hellen Lieder der Mädchen und die Reigen, und alle beten am Feiertage im Gotteshause mit dankbaren Tränen! . . . Ach, was für eine goldene, goldene Kindheit habe ich gehabt! . . .

Und jetzt habe ich, von meinen Erinnerungen überwältigt, geweint wie ein Kind. Ich habe mich so lebhaft, so lebhaft an alles erinnert; die ganze Vergangenheit erstand in so hellem Lichte vor meinen Blicke; aber die Gegenwart ist so trüb und dunkel! . . . Wie wird das enden? Wie wird das alles noch enden? Wissen Sie, ich habe eine Art von Überzeugung, eine Art von Gewißheit, daß ich in diesem Herbst sterben werde. Ich bin krank, sehr krank. Ich denke oft daran, daß ich sterben werde; aber ich möchte doch nicht gerne so sterben, ich meine, nicht an diesem Orte in der Erde liegen. Vielleicht werde ich wieder bettlägerig wie damals im Frühjahr; ich habe mich seitdem noch nicht erholt gehabt. Und so ist mir denn jetzt sehr traurig zumute. Fedora ist heute auf den ganzen Tag weggegangen, und ich 135 sitze allein. Seit einiger Zeit fürchte ich mich, wenn ich allein bin; es scheint mir immer, als ob noch ein andrer mit mir im Zimmer wäre und mit mir redete; besonders ist das der Fall, wenn ich in Gedanken versunken gewesen bin und plötzlich aus der Versunkenheit auffahre, so daß ich einen Schreck bekomme. Das ist auch der Grund, weshalb ich Ihnen einen so langen Brief geschrieben habe; wenn ich schreibe, geht dieses Gefühl vorüber. Leben Sie wohl; ich schließe den Brief, weil ich kein Papier und keine Zeit mehr habe. Von dem Gelde, das ich für meine Kleider und für meinen Hut eingenommen habe, habe ich nur noch einen Rubel Silber übrig. Sie haben der Wirtin zwei Rubel Silber gegeben; das ist sehr gut; sie wird nun eine Weile still sein. Lassen Sie doch Ihren Anzug ein wenig ausbessern! Leben Sie wohl; ich bin so müde. Ich verstehe nicht, wovon ich immer so schwach werde; die geringste Beschäftigung greift mich an. Wenn ich Arbeit bekommen sollte, so weiß ich nicht, wie ich arbeiten soll. Das ist's, was mich niederdrückt.

W. D.

 


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