Fjodor Dostojewski
Arme Leute
Fjodor Dostojewski

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Den 8. April.

Meine teure Warwara Alexejewna!

Gestern war ich glücklich, über die Maßen glücklich, unglaublich glücklich! Wenigstens einmal im Leben haben Sie auf mich gehört, Sie Eigensinn! Am Abend so um acht Uhr wachte ich auf (Sie wissen, liebes Kind, daß ich nach dem Dienste gern ein oder zwei Stündchen schlafe), stellte die Kerze auf den Tisch, legte meine Papiere zurecht, machte die Feder rein, hob auf einmal zufällig die Augen in die Höhe – wahrhaftig, das Herz fing mir ordentlich an zu hüpfen! Also haben Sie doch verstanden, was ich wünschte, was mein Herz begehrte! Ich sah ein Eckchen des Rouleaus an Ihrem Fenster zurückgeschlagen und an den Balsaminentopf gehängt, genauso wie ich es Ihnen damals andeutete; und zugleich schien es mir, daß auch Ihr Gesichtchen einen Augenblick am Fenster sichtbar würde, daß auch Sie aus Ihrem Zimmer nach mir hinblickten, daß Sie an mich dächten. Und wie bekümmert war ich darüber, mein Täubchen, daß ich Ihr hübsches Gesichtchen nicht ordentlich unterscheiden konnte! Es hat eine Zeit gegeben, wo auch ich gut sehen konnte, liebes Kind! Das Alter ist keine Freude, meine Teure! Jetzt flimmert es mir immer vor den Augen; wenn ich am Abend ein bißchen gearbeitet und etwas geschrieben habe, so sind mir am andern Morgen gleich die Augen gerötet, und die Tränen fließen mir, so daß ich mich vor Fremden geradezu geniere. Aber vor meinem geistigen Blicke leuchtete Ihr Lächeln auf, mein Engelchen, Ihr gutes, freundliches Lächeln, und in meinem Herzen hatte ich ein ganz ebensolches Gefühl wie damals, als ich Sie küßte, liebe Warwara, – erinnern Sie sich wohl, mein Engelchen? Wissen Sie, mein Täubchen, es schien mir gestern sogar, als drohten Sie mir mit dem Finger. Stimmt das, Sie Schelmin? Schreiben Sie mir das alles jedenfalls recht ausführlich in Ihrer Antwort! 12

Nun, und wie denken Sie über unsere Erfindung mit Ihrem Rouleau, liebe Warwara? Allerliebst, nicht wahr? Sitze ich bei der Arbeit, oder lege ich mich schlafen, oder wache ich auf, immer weiß ich, daß auch Sie an mich denken, sich meiner erinnern und selbst gesund und heiter sind. Lassen Sie das Rouleau herunter, so bedeutet das: »Gute Nacht, Makar Alexejewitsch; es ist Zeit, schlafen zu gehen!« Ziehen Sie es in die Höhe, so bedeutet das: »Guten Morgen, Makar Alexejewitsch, wie haben Sie geschlafen? Wie ist Ihr Befinden, Makar Alexejewitsch? Was mich betrifft, so bin ich, Gott sei Dank, gesund und munter!« Sehen Sie, mein Herzchen, wie geschickt das ausgedacht ist; da brauchen wir uns gar keine Briefe zu schreiben! Schlau, nicht wahr? Und das ist meine Erfindung! Was meinen Sie, verstehe ich mich auf diese Dinge nicht meisterhaft, Warwara Alexejewna?

Ich vermelde Ihnen, liebe Warwara Alexejewna, daß ich diese Nacht recht gut geschlafen habe, womit ich sehr zufrieden bin. Es war das ganz gegen mein Erwarten, da man ja in neuen Wohnungen nach dem Umzug meist nicht besonders schläft: Es ist einem alles nicht so, wie man's haben möchte! Als ich heute aufstand, fühlte ich mich frisch und munter wie ein Falke und war seelenvergnügt. Was ist das heute für ein schöner Morgen, liebes Kind! Bei mir steht das Fenster offen; die liebe Sonne scheint; die Vögelchen zwitschern; die Luft ist von Frühlingsduft erfüllt und die ganze Natur wie neu belebt – na, und auch alles übrige war hier dementsprechend, alles in Ordnung, frühlingsmäßig. Ich habe mich heute sogar recht angenehmen Träumereien überlassen, und diese meine Träumereien bezogen sich alle auf Sie, liebe Warwara. Ich verglich Sie mit einem Vögelchen unter dem Himmel, das zur Freude der Menschen und zur Verschönerung der Natur geschaffen ist. Und dann dachte ich noch, liebe Warwara, daß wir Menschen, die wir in Sorge und Unruhe leben, eigentlich die Vögel unter dem Himmel um ihr sorgloses, unschuldiges, glückliches Dasein beneiden müßten, – na, und dann dachte ich noch manches von derselben Art, dem Ähnliches; das heißt, ich stellte lauter 13 solche kühnen Vergleiche an. Ich habe da ein Büchelchen, liebe Warwara, in dem ist ganz dasselbe, genau dasselbe sehr ausführlich geschildert. Ich schreibe dies deswegen, weil es ja verschiedene Arten von träumerischen Gedanken gibt, liebes Kind. Jetzt ist nun Frühling; da sind auch die Gedanken alle so angenehm und klar und erfinderisch, und es kommen einem zärtliche Phantasien, und man sieht alles in rosigem Lichte. Deswegen habe ich dies alles niedergeschrieben; übrigens habe ich es alles aus dem Büchelchen entnommen. Dort äußert der Verfasser einen ebensolchen Wunsch in Versen und schreibt:

»Oh, wär ich doch ein Vogel, ein Falke oder Aar!«

Na und so weiter. Da stehen auch sonst noch allerlei Gedanken, die ich weglasse! Aber was ich sagen wollte: Wohin gingen Sie denn heute morgen, Warwara Alexejewna? Ich hatte mich noch nicht fertiggemacht, um zum Dienst zu gehen, als Sie schon, wirklich so fröhlich wie ein Vögelchen im Frühling, aus dem Zimmer und über den Hof gingen. Wie freute ich mich, als ich Sie so sah! Ach, liebe Warwara, liebe Warwara! – Grämen Sie sich nur nicht zu sehr; Tränen, sagt das Sprichwort, helfen nicht gegen das Leid; das weiß ich, liebes Kind, das weiß ich aus Erfahrung. Jetzt haben Sie ja schöne Ruhe, und auch Ihre Gesundheit hat sich ein bißchen gebessert. – Na, was macht Ihre Fedora? Ach, was ist das für eine gute Person! Schreiben Sie mir doch, liebe Warwara, wie Sie mit ihr dort jetzt hausen, und ob Sie mit allem zufrieden sind. Fedora ist ein bißchen brummig; aber stoßen Sie sich daran nicht, liebe Warwara! Das muß man ihr nicht übelnehmen. Sie hat ein so gutes Herz.

Ich habe Ihnen schon von unserer Teresa hier geschrieben; das ist auch ein gutes, treues Wesen. Ich beunruhigte mich so wegen unserer Briefe, wie wir die einander zukommen lassen könnten; und nun hat uns Gott zu unserem Glücke diese Teresa gesandt. Sie ist eine gutherzige, sanfte, schweigsame Person. Aber unsere Wirtin ist geradezu erbarmungslos; sie überlastet sie mit Arbeit wie einen Packesel.

Na, aber in was für eine Räuberhöhle bin ich hier 14 hereingeraten, Warwara Alexejewna! Ist das eine Wohnung! Ich wohnte früher, wie Sie wissen, in vollständiger Abgeschiedenheit, ganz still und friedlich; wenn in meinem Zimmer eine Fliege flog, so konnte man es hören. Hier dagegen ist viel Lärm, Geschrei und Spektakel! Aber Sie wissen ja noch gar nicht, wie das hier alles eingerichtet ist. Stellen Sie sich also einen langen Korridor vor, ganz dunkel und unsauber. Auf seiner rechten Seite ist eine Wand ohne Fenster und Türen, links aber sind lauter Türen und Türen; wie in einem Gasthofe ziehen sie sich in langer Reihe hin. Na also, die dahinter liegenden einzelnen Zimmer werden vermietet, und es wohnen in einem jeden zwei, auch drei Personen. Ob hier Ordnung herrscht, danach fragen Sie nur lieber gar nicht: Es ist die reine Arche Noä! Es scheinen jedoch gute Menschen zu sein; sie sind alle so gebildet, ja gelehrt. Da ist ein Beamter (er ist irgendwo auf literarischem Gebiete tätig), ein sehr belesener Mann; er redet von allem möglichen: von Homer, von Brambäus und von allerlei anderen Schriftstellern; ein kluger Mensch! Auch zwei Offiziere wohnen hier; sie spielen fortwährend Karten. Ferner ein Schiffsfähnrich und ein Lehrer des Englischen. Warten Sie nur, ich werde Ihnen ein Amüsement bereiten, liebes Kind; ich werde sie Ihnen in einem späteren Briefe schildern, das heißt, wie jeder von ihnen beschaffen ist, mit allen Einzelheiten. Unsere Wirtin ist eine sehr kleine, unreinliche alte Frau, die den ganzen Tag über in Pantoffeln und im Negligé umhergeht und den ganzen Tag über auf Teresa schilt. Ich wohne in der Küche, oder es wird weit richtiger sein, wenn ich mich folgendermaßen ausdrücke: Neben der Küche ist ein Zimmer (unsere Küche aber ist, wie ich Ihnen bemerken muß, rein, hell und sehr hübsch), ein kleines Zimmerchen, so ein bescheidenes Winkelchen . . . oder noch besser gesagt: die Küche ist groß und dreifenstrig, und da ist nun parallel mit der Seitenwand eine Halbwand gezogen, so daß gewissermaßen noch ein Extrazimmer herauskommt; es ist ganz geräumig und bequem und hat ein Fenster und alles; mit einem Worte: recht behaglich. Na, das ist also mein Winkelchen. Aber glauben Sie nicht, liebes Kind, daß die 15 Sache doch noch so einen geheimen Haken hätte, weil es die Küche ist. Ich wohne ja allerdings eigentlich in der Küche, nur hinter einer Halbwand; aber das macht nichts; ich bin von allen abgesondert und wohne ganz still und ruhig für mich. Ich habe mir in meinem Zimmer ein Bett, einen Tisch, eine Kommode und zwei Stühle aufgestellt und ein Heiligenbild aufgehängt. Es gibt freilich auch bessere Wohnungen, vielleicht sogar viel bessere; aber die Bequemlichkeit bleibt doch die Hauptsache, und ich bin ja um der Bequemlichkeit willen hierher gezogen; glauben Sie nicht, daß ich einen andern Grund gehabt hätte. Ihr Fensterchen liegt mir gegenüber, auf der andern Seite des Hofes, und der Hof ist nur schmal; da kann ich Sie denn mitunter flüchtig sehen, und das ist eine Aufheiterung für mich trübseligen Gesellen. Außerdem ist es auch billiger. Das geringste Zimmer kostet hier bei uns mit Beköstigung fünfunddreißig Rubel Papier. Das ist nichts für meinen Beutel! Mein Logis aber kostet mir sieben Rubel Papier und die Beköstigung siebzehn und einen halben Rubel, das macht vierundzwanzig und einen halben Rubel, und früher bezahlte ich dreißig Rubel und mußte mir dabei vieles versagen; Tee trank ich nicht immer, während mir jetzt für Tee und Zucker genug Geld übrigbleibt. Wissen Sie, meine Teure, keinen Tee zu trinken ist einem gewissermaßen peinlich; hier sind alle Mieter ziemlich bemittelt, und da geniert man sich. Ich trinke ihn eigentlich um der andern Leute willen, liebe Warwara, um des anständigen Aussehens, um des guten Tones willen; sonst wäre es mir ganz gleich; ich bin kein Genußmensch. Und rechnen Sie dann noch etwas für Taschengeld (denn dies und das braucht man ja doch, na z. B. ein Paar Stiefel oder ein Kleidungsstück), dann bleibt auch nicht viel übrig. So geht mein ganzes Gehalt darauf. Aber ich murre nicht und bin zufrieden. Mein Gehalt reicht aus. Es hat schon mehrere Jahre ausgereicht; manchmal bekommt man ja auch eine Gratifikation.

Na, nun leben Sie wohl, mein Engelchen. Ich habe ein paar Töpfe mit Balsaminen und Geranium gekauft – sie sind nicht teuer. Aber vielleicht haben Sie auch Reseda gern? 16 Reseda ist auch zu haben; schreiben Sie mir nur; und wissen Sie, schreiben Sie mir nur möglichst ausführlich! Machen Sie sich übrigens nur keine Gedanken über mich, liebes Kind, daß ich ein solches Zimmer gemietet habe. Nein, es ist die Bequemlichkeit gewesen, die mich dazu veranlaßt hat; nur die Bequemlichkeit hat mich dazu verführt. Ich spare mir ja Geld, liebes Kind; ich lege etwas auf die hohe Kante; ich habe schon ein kleines Sümmchen. Achten Sie nicht darauf, daß ich ein so stiller Mensch bin, daß es scheint, eine Fliege könnte mich mit ihrem Flügel umwerfen. Nein, liebes Kind, ich bin nicht schwächlich und besitze durchaus einen Charakter, wie er sich für einen Menschen von ruhiger, fester Sinnesart geziemt. Leben Sie wohl, mein Engelchen! Da habe ich Ihnen nun beinah zwei Briefbogen vollgeschrieben, und es ist die höchste Zeit, daß ich in meinen Dienst gehe. Ich küsse Ihre Fingerchen, liebes Kind, und verbleibe

Ihr ergebenster Diener und treuester Freund

Makar Dewuschkin.

P. S. Eine Bitte: Antworten Sie mir möglichst ausführlich, mein Engelchen! Ich schicke Ihnen anbei ein Pfündchen Konfekt, liebe Warwara; verspeisen Sie es mit Gesundheit, und machen Sie sich um Gottes willen keine Sorgen um mich, und seien Sie mir nicht böse! Nun, also leben Sie wohl, liebes Kind!

 

Den 8. April.

Geehrter Herr Makar Alexejewitsch!

Wissen Sie wohl, daß ich mich zuletzt doch noch mit Ihnen ernstlich werde überwerfen müssen? Ich versichere Ihnen, bester Makar Alexejewitsch, daß es mir sehr peinlich ist, Ihre Geschenke anzunehmen. Ich weiß, wie vieles, was Sie selbst notwendig brauchen, Sie sich deswegen versagen und entbehren müssen. Wie oft habe ich Ihnen nicht gesagt, daß mir nichts mangelt, absolut nichts, und daß ich auch außerstande bin, Ihnen die Wohltaten zu vergelten, mit denen Sie mich bisher überschüttet haben. Und wozu 17 schenken Sie mir diese Blumentöpfe? Nun, die Balsaminen, das mag noch angehen; aber wozu auch noch Geranium? Man braucht nur ein unvorsichtiges Wörtchen fallenzulassen, wie zum Beispiel von diesem Geranium, da gehen Sie gleich hin und kaufen welches; das ist doch gewiß teuer? Aber was hat es für prachtvolle Blüten! Dunkelrot und von so schöner Form! Wo haben Sie dieses allerliebste Geranium nur herbekommen? Ich habe es mitten aufs Fensterbrett gestellt, an den sichtbarsten Platz, auf den Fußboden aber werde ich ein Bänkchen stellen und auf das Bänkchen noch mehr Blumen; lassen Sie mich nur erst selbst reich werden! Fedora kann sich gar nicht genug freuen; unser Zimmer ist jetzt das reine Paradies, alles so sauber und hübsch! Nun, und das Konfekt, wozu das noch? Wahrhaftig, als ich Ihren Brief las, habe ich gleich gemerkt, daß da bei Ihnen etwas nicht richtig war: Frühling und Wohlgerüche kommen darin vor, und die Vögelchen zwitschern. Ei, ei, dachte ich, ob da nicht doch noch Verse kommen? Wahrhaftig, es fehlen nur noch Verse in Ihrem Briefe, Makar Alexejewitsch! Zärtliche Empfindungen und rosafarbene Schwärmereien – alles ist da! An das Rouleau habe ich überhaupt nicht gedacht; es ist gewiß von selbst hängengeblieben, als ich die Blumentöpfe umstellte; sehen Sie wohl!

Ach, Makar Alexejewitsch, was Sie auch immer reden mögen, und wie Sie mir auch immer ihre Ausgaben vorrechnen mögen, um mich zu täuschen und mir zu beweisen, daß Sie alles nur für sich ausgeben, mir können Sie doch nichts verheimlichen und verbergen. Ich sehe klar, daß Sie sich um meinetwillen des Notwendigen berauben. Was ist Ihnen denn nur zum Beispiel eingefallen, daß Sie sich ein solches Logis gemietet haben? Da werden Sie ja doch gestört und belästigt, und Sie haben es eng und unbequem. Sie lieben die Einsamkeit; aber was haben Sie hier für ein Getreibe um sich? Und Sie könnten doch bei Ihrem Gehalte weit besser wohnen. Fedora sagt, Sie hätten früher unvergleichlich besser gewohnt als jetzt. Haben Sie denn wirklich ihr ganzes Leben so verbracht, in solcher Abgeschiedenheit, unter Entbehrungen, freudlos, ohne ein freundschaftliches, 18 herzliches Wort, in einem gemieteten Zimmerchen bei fremden Leuten? Ach, mein bester Freund, wie leid tun Sie mir! Schonen Sie wenigstens Ihre Gesundheit, Makar Alexejewitsch! Sie sagen, daß Sie schwache Augen haben; so schreiben Sie doch nicht bei Kerzenlicht! Wozu tun Sie denn das? Ihr Diensteifer wird Ihren Vorgesetzten gewiß auch ohne das bekannt sein.

Noch einmal bitte ich Sie inständig, nicht so viel Geld für mich auszugeben. Ich weiß, daß Sie mich lieben; aber Sie sind selbst nicht reich . . . Heute bin ich ebenfalls vergnügt aufgestanden. Es war mir so froh zumute. Fedora arbeitete schon lange und hatte auch mir eine Arbeit verschafft. Ich freute mich so darüber; ich ging nur aus, um Seide zu kaufen, und setzte mich dann an die Arbeit. Den ganzen Vormittag war mir so leicht ums Herz; ich war so heiter! Aber jetzt sind wieder lauter schwarze, traurige Gedanken da, und das Herz tut mir weh.

Ach, was wird noch aus mir werden, welches wird mein Schicksal sein? Es ist eine gar zu drückende Empfindung, daß ich in solcher Ungewißheit lebe, daß ich gar keine gesicherte Zukunft habe, daß ich nicht einmal ahnen kann, was mir bevorsteht. Und der Rückblick auf die Vergangenheit ist schrecklich. Da liegt so viel Leid, daß mir bei der bloßen Erinnerung das Herz bricht. Mein Leben lang werde ich unter Tränen mich über die bösen Menschen beklagen, die mich zugrunde gerichtet haben!

Es wird dunkel. Ich muß mich wieder an die Arbeit machen. Ich hätte Ihnen gern noch über vieles geschrieben; aber ich habe keine Zeit; die Arbeit muß zu einem bestimmten Termine fertig sein. Ich muß mich beeilen. Briefe sind ja gewiß etwas sehr Hübsches; es ist einem dann gleich nicht so öde und langweilig zumute. Aber warum kommen Sie niemals selbst zu uns? Warum tun Sie das nicht, Makar Alexejewitsch? Sie haben es ja doch jetzt nah, und etwas freie Zeit werden Sie doch auch manchmal erübrigen können. Bitte, kommen Sie! Ich habe Ihre Teresa gesehen. Sie scheint recht krank zu sein; sie tat mir leid, und ich gab ihr zwanzig Kopeken. Ja! Beinah hätte ich es vergessen: 19 Schreiben Sie mir doch möglichst ausführlich alles, wie es Ihnen geht, und wie Sie leben. Was für Leute haben Sie da um sich, und leben Sie mit ihnen in gutem Einvernehmen? Ich möchte das gern alles wissen. Denken Sie daran, und schreiben Sie es mir jedenfalls! Heute werde ich absichtlich eine Ecke des Rouleaus zurückschlagen. Legen Sie sich nur recht früh schlafen; gestern habe ich noch bis Mitternacht bei Ihnen Licht gesehen. Nun leben Sie wohl! Heute herrschen bei mir Melancholie und Kummer und Traurigkeit. Das ist nun einmal die Signatur dieses Tages. Leben Sie wohl!

Ihre

Warwara Dobrosjolowa.

 

Den 8. April

Geehrtes Fräulein Warwara Alexejewna!

Ja, liebes Kind, ja, meine Teure, es ist mir armem Menschen wieder einmal ein unerfreulicher Tag beschieden gewesen! Ja, Sie haben mich alten Mann zum besten gehabt, Warwara Alexejewna! Aber ich bin selbst daran schuld, ganz allein daran schuld! Ich hätte mich auf meine alten Tage mit meinen paar Haaren auf dem Kopfe nicht auf bedenkliche Liebschaften einlassen sollen . . . Und ich will noch das sagen, liebes Kind: Der Mensch ist manchmal wunderlich, sehr wunderlich. Und, all ihr lieben Heiligen! wovon fängt er dann nicht mitunter an zu reden! Aber was kommt dabei heraus, was ist das Resultat? Ein Resultat hat es gar nicht, und herauskommen tut dabei ein solcher Unsinn, daß uns Gott behüten möge! Ich errege mich deswegen nicht übermäßig, liebes Kind; es ist mir nur verdrießlich, an all das zurückzudenken, und ich ärgere mich, daß ich Ihnen einen so blumenreichen, dummen Brief geschrieben habe. Auch zum Dienste ging ich heute mit einem geckenhaften Gefühl des Stolzes; ein solcher heller Glanz erfüllte mein Herz. Meine Seele war ohne allen Grund ganz feiertäglich gestimmt; es war mir so froh zumute! Ich machte mich mit Eifer an die Akten – und was wurde dann aus dieser ganzen 20 Stimmung? Sowie ich um mich blickte, war alles wie früher, trüb und grau. Da waren dieselben Tintenflecke, dieselben Tische und Akten, und auch ich selbst war ganz derselbe; ich war vollständig derselbe geblieben, der ich gewesen war, – also was hatte ich für einen Grund gehabt, auf dem Pegasus herumzureiten? Und woher war das alles gekommen? Daher, daß sich die Sonne zeigte und der Himmel sich blau gefärbt hatte! Nur daher! Und wie kann man da von Wohlgerüchen des Frühlings reden, wenn auf unserm Hofe unter unsern Fenstern alles mögliche herumliegt! Also war mir das alles nur dummerweise so vorgekommen. Aber es passiert dem Menschen ja manchmal, daß er sich in seinen eigenen Gefühlen irrt und Unsinn zusammenschwatzt. Der Grund dafür ist kein anderer als eine übermäßige dumme Glut des Herzens. Nach Hause ging ich nicht sowohl, sondern schleppte mich vielmehr nur so; ich hatte ohne eigentlichen Grund Kopfschmerzen bekommen; es kam also eben immer eins zum andern. Ich hatte wohl Zug in den Rücken bekommen. Ich Dummkopf hatte mich über den Frühling gefreut und war im leichten Mantel ausgegangen. Aber hinsichtlich meiner Gefühle haben Sie sich geirrt, meine Beste! Den Ausdruck derselben haben Sie völlig falsch aufgefaßt. Was mich erfüllt, ist ein väterliches Wohlwollen, nur ein rein väterliches Wohlwollen, Warwara Alexejewna; denn infolge Ihrer traurigen Verwaistheit nehme ich bei Ihnen die Stelle eines leiblichen Vaters ein; das sage ich aus tiefster Seele, aus reinem Herzen, unter Berufung auf unsere Verwandtschaft. Wie es auch damit stehen mag, bin ich doch ein entfernter Verwandter von Ihnen; und mag auch unsere Verwandtschaft noch so weitläufig sein, so bin ich doch immerhin Ihr Verwandter und jetzt Ihr nächster Verwandter und Beschützer; denn dort, wo Sie das nächste Recht hatten, Schutz und Beistand zu finden, haben Sie nur Verrat und Kränkung gefunden. Was aber die Verse betrifft, so muß ich Ihnen sagen, liebes Kind, daß es sich für mich auf meine alten Tage nicht schickt, mich noch mit dem Versemachen abzugeben. Verse sind dummes Zeug! Für Versemachen bekommen heutzutage in den Schulen die 21 Kinder sogar Schläge . . . sehen Sie, so steht das, meine Teuerste.

Was schreiben Sie mir da von Bequemlichkeit, Warwara Alexejewna, und von Ruhe und allerlei solchen Dingen? Liebes Kind, ich bin nicht wählerisch und mäklerisch und habe nie besser gelebt als jetzt; also warum sollte ich jetzt auf meine alten Tage anspruchsvoll werden? Ich esse mich satt und habe Kleider auf dem Leibe und Schuhe an den Füßen, und wozu sollte ich mir irgendwelche besonderen Vergnügungen zuwenden? Ich bin nicht von gräflicher Herkunft! Mein Vater war kein Adliger und hatte mit seiner ganzen Familie eine geringere Einnahme als ich. Ich bin nicht verwöhnt! Übrigens war, die Wahrheit zu sagen, in meiner alten Wohnung alles unvergleichlich viel besser; es war freier, liebes Kind. Allerdings ist auch meine jetzige Wohnung gut, sogar in mancher Beziehung vergnüglicher und, man kann sagen, abwechslungsreicher; ich sage nichts gegen sie; aber doch denke ich mit Bedauern an die alte zurück. Ich bin eben ein alter, das heißt wenigstens schon ein bejahrter Mann! Da gewöhnt man sich an alte Dinge, als ob sie mit einem verwandt wären. Wissen Sie, die Wohnung war ja nur klein; die Wände waren . . . na, was ist da zu sagen! . . . Die Wände waren so, wie alle Wände sind; um die handelt es sich jedoch nicht; aber die Erinnerung an mein ganzes früheres Leben dort stimmt mich wehmütig. Sonderbar: Es war eine schwere Zeit für mich, und doch ist die Erinnerung daran gewissermaßen angenehm. Selbst das, was schlecht war, und worüber ich mich manchmal ärgerte, auch das wird in der Erinnerung sozusagen von dem Schlechten gesäubert und tritt in reizvoller Gestalt vor meine Einbildungskraft. Wir führten ein stilles Leben, liebe Warwara, ich und meine alte Wirtin, die nun tot ist. Auch an diese meine Alte denke ich jetzt mit einem Gefühle der Trauer zurück! Sie war eine brave Frau und nahm mir für die Wohnung nicht viel ab. Sie pflegte immer aus allerlei Stoffresten mit ellenlangen Stricknadeln Bettdecken zu stricken; das war ihre einzige Beschäftigung. Beleuchtung hielt ich mir mit ihr gemeinsam, und daher arbeiteten wir an ein 22 und demselben Tische. Sie hatte eine Enkelin namens Mascha; ich habe sie noch als ein kleines Kind in der Erinnerung; jetzt wird sie ein Mädchen von dreizehn Jahren sein. Sie war ein so mutwilliges, lustiges Ding; immer brachte sie uns zum Lachen; so lebten wir zu dreien zusammen. An langen Winterabenden pflegten wir uns an den runden Tisch zu setzen, Tee zu trinken und uns dann an die Arbeit zu machen. Die alte Frau aber erzählte manchmal Märchen, damit Mascha sich nicht langweilen und Possen treiben möchte. Und was waren das für Märchen! Da konnte nicht nur ein Kind, sondern auch ein vernünftiger, verständiger Mensch mit Interesse zuhören. Und ob! Ich selbst zündete mir manchmal eine Pfeife an und hörte so eifrig zu, daß ich die Arbeit darüber vergaß. Die Kleine aber, unser Wildfang, wurde ganz nachdenklich; sie stützte ihr rosiges Bäckchen auf die Hand, öffnete ihr hübsches Mündchen, und wenn es ein Märchen zum Fürchten war, schmiegte sie sich ganz dicht an die alte Frau an. Uns aber war es eine Freude, sie anzusehen; wir beachteten es gar nicht, wie das Licht herunterbrannte, und hörten es nicht, wie manchmal draußen der Wind heulte und der Schneesturm wütete. Wir führten ein angenehmes Leben, liebe Warwara; und so verlebten wir beinahe zwanzig Jahre zusammen. – Aber da bin ich ins Schwatzen hineingekommen! Ihnen gefällt ein solches Thema vielleicht nicht, und auch für mich hat die Erinnerung etwas Melancholisches, besonders jetzt: es ist Dämmerzeit. Teresa wirtschaftet mit irgend etwas geräuschvoll herum; ich habe Kopfschmerzen, und auch der Rücken tut mir ein bißchen weh; ja, auch meine Gedanken sind von so wunderlicher Art, als ob sie mir ebenfalls weh täten; es ist mir heute traurig zumute, liebe Warwara! – Was schreiben Sie mir da, meine Teure? Wie kann ich denn zu Ihnen kommen? Was würden die Leute sagen, mein Täubchen? Ich müßte doch über den Hof gehen, und unsere Hausgenossen würden es bemerken und Nachforschungen anstellen, – es würde Gerede und Klatscherei geben; sie würden der Sache einen falschen Sinn beilegen. Nein, mein Engelchen, es ist schon besser, wenn ich Sie 23 morgen bei der Abendmesse wiedersehe; das wird vernünftiger und für uns beide unschädlicher sein. Seien Sie mir nur nicht böse, liebes Kind, daß ich Ihnen einen solchen Brief geschrieben habe; ich habe ihn soeben noch einmal durchgelesen und dabei gesehen, daß alles zusammenhanglos ist. Ich bin ein alter Mensch ohne gelehrte Bildung, liebe Warwara; in meiner Jugend habe ich nicht allzuviel gelernt, und jetzt würde in meinen Kopf nichts mehr hineingehen, wenn ich von neuem anfinge zu lernen. Ich bekenne, liebes Kind, daß ich kein Meister in der Schilderung bin, und weiß, ohne daß mich jemand darauf hinweist und verspottet, daß, wenn ich etwas Amüsantes schreiben will, nur Unsinn herauskommt. – Ich sah Sie heute am Fenster; ich sah, wie Sie das Rouleau herunterließen. Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Gott behüte Sie! Leben Sie wohl, Warwara Alexejewna!

Ihr uneigennütziger Freund

Makar Dewuschkin.

P. S. Satiren werde ich jetzt über niemand schreiben, meine Teuerste. Ich bin zu alt geworden, liebe Warwara Alexejewna, um ohne Not die Zähne zu fletschen! Man würde sich auch über mich lustig machen, nach dem russischen Sprichworte: Wer einem andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.

 

Den 9. April.

Geehrter Herr Makar Alexejewitsch!

Aber schämen Sie sich denn nicht, mein Freund und Wohltäter Makar Alexejewitsch, sich Ihren melancholischen Launen in dieser Weise hinzugeben? Haben Sie sich wirklich beleidigt gefühlt? Ach, ich bin oft unvorsichtig; aber ich hätte doch nicht gedacht, daß Sie meine Worte als spöttischen Scherz auffassen würden. Seien Sie überzeugt, daß ich es niemals wagen würde, über Ihre Jahre und Ihren Charakter zu spotten. Das ist alles nur infolge meiner Unbedachtsamkeit geschehen, und besonders weil ich in so 24 melancholischer Stimmung war, und was tut man nicht alles in solcher Stimmung! Ich habe meinerseits gedacht, Sie selbst hätten sich in Ihrem Briefe ein bißchen lustig machen wollen. Ich bin furchtbar traurig geworden, als ich sah, daß Sie mit mir unzufrieden sind. Nein, mein bester Freund und Wohltäter, Sie irren sich, wenn Sie mich im Verdacht der Gefühllosigkeit und Undankbarkeit haben. Ich weiß in meinem Herzen sehr wohl all das zu schätzen, was Sie für mich getan haben, indem Sie mich gegen schlechte Menschen und deren Haß und Verfolgungen schützten. Ich werde lebenslänglich für Sie beten, und wenn mein Gebet zu Gott gelangt und der Himmel es erhört, so werden Sie glücklich sein.

Ich fühle mich heute sehr unwohl. Ich habe abwechselnd Fieberhitze und Schüttelfrost. Fedora ängstigt sich sehr um mich. Sie genieren sich ganz ohne Grund, zu uns zu kommen, Makar Alexejewitsch. Was geht das andere Leute an! Sie sind mit uns bekannt, das genügt! . . . Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch! Mehr zu schreiben habe ich jetzt nicht, und ich könnte es auch nicht: Ich bin sehr unwohl. Ich bitte Sie noch einmal, mir nicht zu zürnen und von der steten Hochachtung und Anhänglichkeit überzeugt zu sein, mit denen ich die Ehre habe zu verbleiben

Ihre ergebenste, gehorsamste

Warwara Dobrosjolowa.

 

Den 12. April.

Geehrtes Fräulein Warwara Alexejewna!

Ach, liebes Kind, was machen Sie für Geschichten! Sie jagen mir ja jedesmal einen solchen Schrecken ein. Ich schreibe Ihnen in jedem Briefe, Sie möchten sich in acht nehmen, sich warm anziehen, bei schlechtem Wetter nicht ausgehen und in jeder Hinsicht vorsichtig sein; aber Sie hören nicht auf mich, mein Engelchen! Ach, mein Täubchen, Sie sind ja noch das reine Kind! Sie sind ja so schwächlich, so schwächlich wie ein Strohhalm; das weiß ich. Wenn nur ein bißchen Wind weht, dann werden Sie gleich krank. Darum sollten 25 Sie sich in acht nehmen, selbst auf Ihre Gesundheit bedacht sein, die Gefahr vermeiden und nicht Ihren Freunden Kummer und Sorge machen.

Sie drückten den Wunsch aus, liebes Kind, Näheres über meine Lebensweise und über meine ganze Umgebung zu erfahren. Mit Freuden beeile ich mich, Ihren Wunsch zu erfüllen, meine Teuerste. Ich fange vom Anfang an, liebes Kind; dann wird mehr Ordnung in meiner Darstellung sein. Erstens also, in unserm Hause ist die Treppe beim Vordereingang sehr passabel: sie ist rein, hell und breit, alles von Eisen und Mahagoni. Fragen Sie mich dagegen nicht nach der Hintertreppe: das ist eine feuchte, schmutzige Wendeltreppe; die Stufen sind ausgetreten und die Wände so schmierig, daß die Hand daran kleben bleibt, wenn man sie anfaßt. Auf jedem Absatz stehen zerbrochene Kasten, Stühle und Schränke; alte Lappen hängen zum Trocknen da; die Fensterscheiben sind zerschlagen; es stehen Kübel mit allerlei Unreinigkeiten umher: mit Schmutz, Kehricht, Eierschalen und Fischblasen; es herrscht ein übler Geruch . . . kurz, es ist nicht schön.

Die Lage der Zimmer habe ich Ihnen bereits beschrieben; man kann nicht anders sagen, sie ist bequem, das ist die Wahrheit; aber es ist in ihnen eine drückende Luft, das heißt, nicht eigentlich daß es schlecht röche, sondern es ist, wenn man sich so ausdrücken kann, ein etwas fauliger, scharf-süßlicher Geruch. Der erste Eindruck davon ist ein unangenehmer; aber das hat nichts zu besagen; man braucht sich nur ein paar Minuten bei uns aufzuhalten, dann geht dieser Eindruck vorüber, und man spürt nicht einmal, wie er vorübergeht; denn man fängt selbst an so zu riechen, und die Hände riechen so und alles, was man an sich hat, – na, und da gewöhnt man sich daran. Aber Zeisige können bei uns nicht leben, sondern sterben bald. Der Schiffsfähnrich hat schon den fünften gekauft; aber sie vertragen unsere Luft nicht, dagegen ist nichts zu machen. Unsere Küche ist groß, geräumig und hell. Allerdings ist vormittags etwas Fettdunst darin, wenn Fisch oder Rindfleisch gebraten wird, und auch sonst geht es beim 26 Wirtschaften nicht ohne üblen Geruch ab; dafür ist sie am Abend das reine Paradies. In der Küche hängt bei uns immer alte Wäsche auf Leinen; und da mein Zimmer nicht weit davon ist oder eigentlich einen Teil der Küche bildet, so stört mich der Wäschegeruch ein wenig; aber das tut nichts: mit der Zeit werde ich mich schon daran gewöhnen.

Ganz früh am Morgen, liebe Warwara, beginnt bei uns ein unruhiges Treiben; die Mieter stehen auf, gehen umher und poltern. Es stehen nämlich alle auf, die in den Dienst müssen, manche aber auch aus eigenem Antriebe; und alle machen sich daran, ihren Tee zu trinken. Die Samoware, die in der Wohnung vorhanden sind, gehören größtenteils der Wirtin; es sind ihrer nur wenige, und daher müssen wir alle eine bestimmte Reihenfolge einhalten; und wer mit seiner Teekanne aus der Reihe fällt, dem wird gleich der Kopf gewaschen. Das ist denn auch mir das erstemal begegnet . . . aber es hat keinen Zweck, mehr davon zu schreiben! Beim Teetrinken bin ich denn auch mit allen bekannt geworden. Der erste, mit dem ich bekannt wurde, war der Schiffsfähnrich; das ist ein offenherziger Mensch, der mir gleich alles mögliche erzählte: von seinem Vater, von seiner Mutter, von seiner Schwester, daß sie mit einem Kreisassessor in Tula verheiratet ist, und von Kronstadt. Er versprach mir seine Protektion in jeder Hinsicht und lud mich sogleich ein, am Abend mit ihm Tee zu trinken. Ich fand ihn in dem Zimmer, wo bei uns gewöhnlich Karte gespielt wird. Dort wurde mir Tee gereicht, und sie wollten durchaus, ich sollte mit ihnen Hasard spielen. Ob sie sich über mich lustig machten oder nicht, das weiß ich nicht; aber sie selbst spielten bis spät in die Nacht hinein ununterbrochen, und auch als ich eintrat, waren sie im Spiel begriffen. Der Tisch war voll Karten und Kreide, und im ganzen Zimmer war ein solcher Rauch, daß er einem in die Augen biß. Aber ich ließ mich auf das Mitspielen nicht ein, und sie sagten mir sogleich, ich spräche wie ein Philosoph. Darauf redete die ganze Zeit über niemand mehr mit mir, was mir, die Wahrheit zu sagen, ganz lieb war. Jetzt gehe ich nicht mehr zu ihnen hin; sie spielen immer nur Hasard, nichts als 27 Hasard! Aber bei dem Beamten, der auf literarischem Gebiete tätig ist, finden ebenfalls abends Zusammenkünfte statt. Na, bei dem geht es nett, bescheiden, harmlos und taktvoll zu; dort herrscht in allem ein feiner Geschmack.

Beiläufig teile ich Ihnen, liebe Warwara, noch mit, daß unsere Wirtin ein ganz gräßliches Weib ist, die reine Hexe. Sie haben Teresa gesehen; na, in der Tat, was ist sie für ein armseliges Wesen! Mager wie ein gerupftes, schwindsüchtiges Hühnchen! Dienstboten sind in der Wohnung nur zwei vorhanden: Teresa und Faldoni, der Hausdiener der Wirtin. Ich weiß nicht, vielleicht hat er noch einen andern Namen; aber auf diesen hört er, und so rufen ihn denn auch alle. Er ist ein Finne, rothaarig, krumm gewachsen, stülpnasig, ein grober Mensch; er schimpft Teresa fortwährend und prügelt sie beinahe. Im allgemeinen muß ich sagen, daß das Leben hier mir nicht in jeder Beziehung zusagt. Daß abends alle sich gleichzeitig schlafen legten und ruhig würden, das kommt niemals vor. Stets sitzen sie irgendwo noch auf und spielen, und manchmal kommen Dinge vor, die man anständigerweise gar nicht erzählen kann. Jetzt habe ich mich indessen schon daran gewöhnt; aber ich wundere mich, wie verheiratete Leute in einem solchen Sodom und Gomorra leben können. Eine ganze arme Familie hat unserer Wirtin ein Zimmer abgemietet; dieses liegt aber nicht in einer Reihe mit den andern, sondern auf der andern Seite, in der Ecke, abgesondert. Es sind friedliche Leute! Niemand bekommt etwas von ihnen zu hören. Sie hausen in einem einzigen Zimmerchen, das durch eine Halbwand geteilt ist. Er ist ein stellenloser Beamter, der vor ungefähr sechs Jahren aus irgendwelchem Grunde seine Stelle verloren hat. Sein Familienname ist Gorschkow; er ist ein kleiner, grauhaariger Mann; er geht immer in einem so vollgefetteten, abgetragenen Rocke, daß es ein Schmerz ist, ihn anzusehen; er ist viel schlechter gekleidet als ich! So ein kläglicher, schwächlicher Mensch ist er (ich begegne ihm manchmal auf dem Korridor); die Knie zittern ihm und die Hände und der Kopf auch, ob infolge einer Krankheit, mag Gott wissen; er ist schüchtern, fürchtet sich vor allen und schleicht immer so 28 an der Seite hin. Ich bin ja auch manchmal schüchtern, aber er ist es in noch viel höherem Grade. Seine Familie besteht aus seiner Frau und drei Kindern. Das älteste, ein Knabe, artet ganz nach dem Vater und sieht ebenso schwindsüchtig aus. Die Frau muß einmal sehr hübsch gewesen sein, das merkt man auch jetzt noch; die Arme geht immer in ganz jämmerlichen Lumpen. Sie sind, wie ich gehört habe, der Wirtin die Miete schuldig, und diese behandelt sie nicht sehr freundlich. Ich habe auch gehört, daß Gorschkow irgendwelche Unannehmlichkeiten hat, infolge deren er auch seiner Stelle verlustig gegangen ist: Ob es sich nun um einen Prozeß handelt oder um eine gerichtliche Anklage oder um eine Disziplinaruntersuchung, das kann ich Ihnen nicht zuverlässig sagen. Sie sind arm, bitter arm, Herr du mein Gott! In ihrem Zimmer ist es immer ganz still und ruhig, als ob niemand darin wohnte. Selbst die Kinder sind nicht zu hören. Daß sie einmal mutwillig wären oder spielten, kommt gar nicht vor, und das ist ein schlimmes Zeichen. Einmal traf es sich abends, daß ich an ihrer Tür vorbeikam; es war in jenem Augenblicke gerade ungewöhnlich still in der ganzen Wohnung; da hörte ich ein Schluchzen, dann ein Flüstern, dann wieder Schluchzen, als ob da jemand weinte, aber so leise und kläglich, daß mir beinahe das Herz brach und ich dann den Gedanken an diese armen Leute bis in die Nacht hinein nicht los wurde, so daß ich nicht einmal ordentlich einschlafen konnte.

Nun leben Sie wohl, meine teuerste Freundin, liebe Warwara! Ich habe Ihnen alles beschrieben, so gut ich es verstand. Heute denke ich den ganzen Tag immer nur an Sie. Ich habe mir um Sie das Herz ganz zergrämt, meine Beste. Ich weiß ja doch, mein liebes Seelchen, daß Sie keinen warmen Mantel haben. Und nun dieses Petersburger Frühjahrswetter, dieser Wind, dieser Regen, mit Schnee vermischt, – davon kann man den Tod haben, liebe Warwara! Das ist eine »schöne, gesunde Luft«, vor der Gott einen behüten möge! Nehmen Sie mir mein Geschreibsel nicht übel, mein Seelchen; auf Stil verstehe ich mich nicht, liebe Warwara, absolut nicht. Wenn es doch nur der Fall wäre! 29 Ich schreibe, was mir gerade in den Sinn kommt, bloß um Sie ein bißchen aufzuheitern. Ja, wenn ich ordentlich etwas gelernt hätte, das wäre ein ander Ding; aber was habe ich denn gelernt? Mein Schulunterricht hat kaum ein paar Groschen gekostet.

Stets Ihr treuer Freund

Makar Dewuschkin.

 

Den 25. April.

Geehrter Herr Makar Alexejewitsch!

Heute bin ich meiner Kusine Sascha begegnet! Es ist entsetzlich! Auch sie wird zugrunde gehen, die Arme! Auch habe ich von andrer Seite gehört, daß Anna Fjodorowna mir immer noch nachspürt. Es scheint, daß sie nie aufhören wird, mich zu verfolgen. Sie sagt, sie wolle »mir verzeihen« und alles Vergangene vergessen, und sie werde mich jedenfalls einmal selbst besuchen. Sie sagt, Sie seien gar nicht mit mir verwandt; sie sei meine nächste Verwandte; Sie hätten kein Recht, sich in unsere Familienangelegenheiten hineinzumischen; es schicke sich nicht, daß ich von Ihren Wohltaten lebte und mich von Ihnen unterstützen ließe; ich müßte mich schämen, das zu tun. Sie sagt, ich hätte die Gastfreundschaft vergessen, die ich bei ihr genossen hätte; sie habe mich und meine Mutter vielleicht vor dem Hungertode gerettet; sie habe uns Essen und Trinken gegeben und sich mehr als zweiundeinhalbes Jahr lang für uns Ausgaben gemacht; und zu dem allen habe sie uns noch eine Schuld erlassen. Auch von meiner Mutter hat sie sich nicht entblödet Übles zu reden! Aber wenn meine arme Mutter wüßte, was diese Leute mir angetan haben! Gott hat es gesehen! . . . Anna Fjodorowna sagt, ich hätte es aus Dummheit nicht verstanden, mein Geld festzuhalten; sie selbst habe mir den Weg zu meinem Glücke gezeigt; an allem übrigen trage sie keine Schuld, und ich selbst hätte es nicht verstanden, meine Ehre zu schützen, oder es vielleicht auch nicht gewollt. Aber wer trägt denn die Schuld, großer Gott! Sie sagt, Herr Bykow habe ganz recht, und man könne nicht eine jede 30 heiraten, die . . . aber wozu das schreiben! Es ist schrecklich, solche Unwahrheiten anzuhören, Makar Alexejewitsch! Ich weiß nicht, was heute mit mir ist. Ich zittere und weine und schluchze; zu diesem Briefe an Sie habe ich schon zwei Stunden gebraucht. Ich hatte geglaubt, daß sie wenigstens das Unrecht einsähe, das sie mir angetan hat; und nun benimmt sie sich so! – Um Gottes willen, beunruhigen Sie sich nicht um mein Befinden, mein einziger aufrichtiger Freund! Fedora übertreibt alles: Ich bin nicht krank. Ich habe mich gestern nur ein bißchen erkältet, als ich nach dem Wolkowski-Kirchhof gegangen war, um für meine Mutter eine Seelenmesse halten zu lassen. Warum sind Sie nicht mitgekommen? Ich hatte Sie doch so darum gebeten. Ach, meine arme, arme Mutter, wenn du aus dem Grabe aufständest und sähest, was man mit mir gemacht hat! . . .

W. D.

 

Den 20. Mai

Mein Täubchen, liebe Warwara!

Ich schicke Ihnen ein paar Weintrauben, mein Herzchen; man sagt, sie seien gut für Rekonvaleszenten, und auch der Arzt empfiehlt sie zur Stillung des Durstes; essen Sie sie also lediglich als Mittel gegen den Durst! Sie sagten neulich, Sie möchten gern ein paar Röschen haben, liebes Kind; also schicke ich Ihnen jetzt welche. Haben Sie auch Appetit, mein Herzchen? Das ist die Hauptsache. Gott sei Dank übrigens, daß alles vorüber und zu Ende ist, und daß unser Unglück ebenfalls vollständig ein Ende nimmt. Dafür wollen wir dem Himmel danken! Aber was Bücher anlangt, so kann ich augenblicklich nirgends welche bekommen. Es hat hier einer der Mieter ein Buch, das soll gut sein, in sehr hohem Stil geschrieben; ich selbst habe es nicht gelesen; aber es wird hier sehr gelobt. Ich habe darum gebeten, und der Eigentümer hat mir versprochen, es mir zu überlassen. Aber werden Sie es auch lesen? Sie sind in dieser Hinsicht wählerisch, und es ist schwer, Ihren Geschmack zu treffen; ich kenne Sie ja, mein Täubchen; Sie wollen gewiß lauter 31 Poesie haben, in der von Seufzern und Liebe die Rede ist; na, ich werde Ihnen auch Poesie verschaffen, alles werde ich Ihnen verschaffen; es existiert hier ein Heft mit lauter Abschriften von Gedichten.

Mir für meine Person geht es gut. Bitte, beunruhigen Sie sich um mich nicht, liebes Kind! Was Fedora Ihnen über mich gesagt hat, das ist alles dummes Zeug; sagen Sie ihr nur, sie habe gelogen; sagen Sie ihr das nur ja, der Klatschbase! Es ist ganz und gar nicht wahr, daß ich meinen neuen Dienstanzug verkauft hätte. Und sagen Sie selbst, warum sollte ich das tun? Es heißt, ich würde eine Gratifikation von vierzig Rubeln Silber erhalten; also warum sollte ich da etwas verkaufen? Beunruhigen Sie sich nicht, liebes Kind; sie ist zu argwöhnisch, Ihre Fedora, sie ist zu argwöhnisch. Wir werden noch ein vergnügtes Leben führen, mein Täubchen! Werden Sie nur erst wieder gesund, mein Engelchen; ich bitte Sie inständig, werden Sie wieder gesund, und betrüben Sie mich alten Mann nicht! Wer hat Ihnen das gesagt, daß ich mager geworden wäre? Verleumdung, wieder Verleumdung! Ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser und so dick geworden, daß ich mich ordentlich schäme; ich bin wohlgenährt und mit meinem Befinden völlig zufrieden; wenn Sie nur erst wieder ganz gesund wären! Na, nun leben Sie wohl, mein Engelchen; ich küsse alle Ihre Fingerchen und verbleibe

Ihr lebenslänglich unwandelbarer Freund

Makar Dewuschkin.

P. S. Ach, mein Herzchen, was haben Sie da nur wieder geschrieben! Was ist das für ein toller Einfall! Wie kann ich denn so oft zu Ihnen kommen, liebes Kind? Wie ist das nur möglich, frage ich Sie. Soll ich etwa die Dunkelheit der Nacht benutzen? Aber es gibt ja jetzt in dieser Jahreszeit kaum Nächte. Ich habe Sie ja so schon während Ihrer ganzen Krankheit und Bewußtlosigkeit fast gar nicht verlassen, mein liebes Kind, mein Engelchen; ich weiß selbst nicht mehr, wie ich das fertigbekommen habe. Aber dann habe ich aufgehört zu Ihnen zu kommen; denn die Leute wurden 32 neugierig und fingen an, sich zu erkundigen. Es war hier sowieso schon ein Gerede entstanden. Auf Teresa kann ich mich verlassen; die ist nicht schwatzhaft; aber sagen Sie selbst, liebes Kind, was soll daraus werden, wenn sie alles über uns erfahren? Was werden sie dann denken und sagen? Also nehmen Sie sich einmal zusammen, liebes Kind, und warten Sie bis zu Ihrer völligen Wiederherstellung; dann wollen wir uns irgendwie außerhalb des Hauses ein Rendezvous geben.

 

Den 1. Juni.

Liebster Makar Alexejewitsch!

Ich möchte Ihnen so gern etwas Angenehmes erweisen, Ihnen eine Freude machen, zum Danke für alle Ihre Mühe und Sorge um mich und für alle Ihre Liebe zu mir, daß ich mich schließlich entschlossen habe, zur Vertreibung der Langenweile in meiner Kommode herumzuwühlen und mein Heft hervorzusuchen, das ich Ihnen denn hierbei schicke. Ich begann es noch in der glücklichen Zeit meines Lebens niederzuschreiben. Sie haben oft mit teilnahmsvollem Interesse nach meinem früheren Leben gefragt, nach meiner Mutter, nach Pokrowski, nach meinem Aufenthalte bei Anna Fjodorowna und endlich nach dem Unglück, das mich unlängst betroffen hat, und haben so lebhaft dieses Heft zu lesen gewünscht, in dem ich infolge eines wunderlichen Einfalls einige Momente aus meinem Leben aufgezeichnet habe, daß ich Ihnen durch die Zusendung desselben ein großes Vergnügen zu machen hoffe. Mich dagegen hat es ganz traurig gestimmt, als ich es jetzt wieder durchlas. Mir scheint, daß ich seit der Zeit, wo ich in diesem Hefte die letzte Zeile niederschrieb, noch einmal so alt geworden bin. Alles dies ist zu verschiedenen Zeiten geschrieben. Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch! Ich langweile mich jetzt schrecklich und leide oft an Schlaflosigkeit. Eine sehr langweilige Rekonvaleszenz!

W. D. 33

 

I

Ich war erst vierzehn Jahre alt, als mein Vater starb. Meine Kindheit war die glücklichste Zeit meines Lebens. Sie begann nicht hier, sondern weit von hier, in der Provinz, in ländlicher Stille. Mein Vater war der Verwalter des gewaltigen Besitztums des Fürsten P. im Gouvernement T. Wir wohnten auf einem der Güter des Fürsten und lebten still, ruhig und glücklich. Ich war ein richtiger kleiner Wildfang; manchmal tat ich den ganzen Tag über nichts anderes als auf den Feldern, im Walde und im Garten umherlaufen; kein Mensch kümmerte sich um mich. Mein Vater hatte ununterbrochen mit seinen Geschäften zu tun, und meine Mutter wurde durch die Wirtschaft in Anspruch genommen. Unterricht erhielt ich keinen und war darüber sehr froh. Manchmal lief ich schon am frühen Morgen an den Teich oder in den Wald oder zum Heumähen oder zu den Schnittern, und es machte mir keine Sorgen, daß die Sonne brannte, daß ich selbst nicht wußte, wo ich beim Umherlaufen vom Dorfe hingeraten war, daß die Sträucher mich zerkratzten und mir das Kleid zerrissen. Ich wurde zwar nachher zu Hause gescholten; aber das machte mir nichts aus.

Ich glaube, ich wäre glücklich gewesen, wenn ich hätte lebenslänglich auf dem Lande bleiben und immer an einem Fleck wohnen können. Aber ich mußte schon als Kind meine Heimat verlassen. Ich war erst zwölf Jahre alt, als wir nach Petersburg übersiedelten. Ach, in wie schmerzlicher Erinnerung habe ich unsern traurigen Aufbruch! Wie weinte ich, als ich von allem, was mir so lieb war, Abschied nahm! Ich erinnere mich, daß ich mich meinem Vater um den Hals warf und ihn mit Tränen bat, doch wenigstens noch ein Weilchen auf dem Lande zu bleiben. Der Vater fuhr mich an, die Mutter weinte; sie sagte, daß es notwendig sei, daß die Geschäfte es verlangten. Der alte Fürst P. war gestorben, und die Erben entließen meinen Vater aus seiner Stellung. Mein Vater hatte einiges Geld bei Petersburger Geschäftsleuten angelegt. In der Hoffnung, seine Vermögensverhältnisse zu verbessern, hielt er seine persönliche 34 Anwesenheit hier für notwendig. Alles dies erfuhr ich von meiner Mutter. Wir ließen uns hier in der Peterburgskaja nieder und behielten diese Wohnung bis zu meines Vaters Tode.

Wie schwer wurde es mir, mich an das neue Leben zu gewöhnen! Wir kamen im Herbst nach Petersburg. Als wir das Gut verließen, war ein so heller, warmer, heiterer Tag gewesen; die ländlichen Arbeiten waren beendet; auf den Tennen türmten sich schon gewaltige Getreidehaufen auf, um die sich Scharen von Vögeln mit lautem Geschrei drängten; alles war so klar und fröhlich. Aber hier fanden wir, als wir in die Stadt einfuhren, Regen, modrige Herbstkälte, häßliches Wetter, Schlackerschmutz und eine Menge neuer, unbekannter Gesichter, unzufriedener, ärgerlicher Gesichter, die für uns kein freundliches Willkommen hatten! Wir richteten uns notdürftig ein. Ich weiß noch, daß alle bei uns viel Mühe und Arbeit hatten, um die neue Wirtschaft in Gang zu bringen. Mein Vater war nie zu Hause, und meine Mutter hatte keinen ruhigen Augenblick; ich war vollständig vergessen. Es war ein trauriges Aufstehen für mich am Morgen nach der ersten Nacht in unserer neuen Wohnung. Unsere Fenster gingen auf einen gelben Zaun hinaus. Auf der Straße war ein beständiger Schmutz. Passanten gab es nur wenige, und alle hatten sich dicht eingemummt, alle froren.

Bei uns zu Hause war es ganze Tage lang schrecklich melancholisch und langweilig. Verwandte und nahe Bekannte hatten wir fast gar nicht. Mit Anna Fjodorowna hatte mein Vater sich entzweit. (Er war ihr etwas Geld schuldig.) Ziemlich häufig kamen Leute in Geschäftsangelegenheiten zu uns. Gewöhnlich gab es dann Streit, Lärm und Geschrei. Nach jedem derartigen Besuche war mein Vater sehr mißvergnügt und ärgerlich. Er ging dann manchmal stundenlang mit finsterer Miene von einer Ecke des Zimmers nach der andern und sprach mit niemandem ein Wort. Die Mutter wagte es zu solchen Zeiten nicht, ihn anzureden, und schwieg. Ich setzte mich still und leise mit einem Buche in eine Ecke und wagte nicht, mich zu rühren. 35

Drei Monate nach unserer Ankunft in Petersburg wurde ich in eine Pension getan. Das war anfangs für mich ein trauriges Leben unter den fremden Menschen! Alles war so trocken und unfreundlich; die Gouvernanten schalten und zankten, die Pensionärinnen waren so spottlustig und ich so scheu und ängstlich. Es ging so streng und pedantisch zu! Die für alles festbestimmten Stunden, die gemeinsamen Mahlzeiten, die langweiligen Lehrer – alles das war mir anfangs eine wahre Qual und Pein. Ich konnte dort nicht einmal schlafen. Ich weinte manchmal die ganze lange, öde, kalte Nacht hindurch. Abends, wenn alle ihre Aufgaben lernten oder repetierten, saß ich manchmal für mich bei meinem Vokabelheft oder bei meinem Konversationsbuche und wagte nicht, mich zu rühren; dabei aber dachte ich immer an unser Stübchen zu Hause, an den Vater, an die Mutter, an meine alte Kinderfrau und an ihre Märchen . . . ach, wie traurig wurde mir da zumute! Man erinnert sich dann an die unbedeutendsten Gegenstände zu Hause, und sogar an diese mit Vergnügen. Man denkt und denkt: Ach, wie schön wäre es jetzt zu Hause! Ich würde in unserm kleinen Zimmerchen mit den Meinen zusammen beim Samowar sitzen, und es würde so warm und behaglich und traulich sein. Ach, denkt man, wie herzlich und innig würde ich jetzt mein Mütterchen umarmen! Und so denkt und denkt man und fängt still zu weinen an vor Heimweh und sucht die Tränen in der Brust zu unterdrücken, und man bekommt die Vokabeln nicht in den Kopf hinein, die man zum nächsten Tage zu lernen hat. Die ganze Nacht träumt man von dem Lehrer und von Madame und von den andern Mädchen; die ganze Nacht lernt man im Traum seine Aufgabe; aber am andern Tage kann man sie nicht. Man muß zur Strafe knien und bekommt mittags nur ein Gericht. Ich war so traurig und niedergeschlagen. In der ersten Zeit verspotteten und hänselten mich die andern Mädchen alle; sie machten mich konfus, wenn ich meine Aufgaben aufsagte, kniffen mich, wenn wir in einer Reihe zum Mittagessen oder zum Tee gingen, und beklagten sich ohne jeden Grund über mich bei der Gouvernante. Aber dafür: Welche Wonne, 36 wenn manchmal am Sonnabendabend die Kinderfrau kam, um mich abzuholen! Ganz unsinnig vor Freude umarmte ich meine gute Alte. Sie kleidete mich an und hüllte mich warm ein und konnte unterwegs mit mir gar nicht Schritt halten; ich aber redete und redete zu ihr ununterbrochen und erzählte ihr alles mögliche. Heiter und vergnügt kam ich nach Hause und umarmte die Meinigen so herzlich, wie wenn wir zehn Jahre lang getrennt gewesen wären. Und nun begannen die Gespräche und Erzählungen; alle, die zum Haushalt gehörten, begrüßte ich und lachte und lief umher und sprang vor Freuden. Mein Vater fing ein ernstes Gespräch an: über die Unterrichtsgegenstände, über unsere Lehrer, über das Französische, über die L'Homondsche Grammatik – und wir waren alle so vergnügt und so zufrieden. Die Erinnerung an diese Stunden bereitet mir auch jetzt noch Vergnügen. Ich gab mir die größte Mühe, zu lernen und meinen Vater zufriedenzustellen. Ich sah, daß er das Letzte für mich hingab und selbst sich aufs kümmerlichste durchhalf. Mit jedem Tage wurde er finsterer, unzufriedener, ärgerlicher; sein Charakter veränderte sich vollständig zum Schlechteren; seine geschäftlichen Unternehmungen mißlangen; er geriet tief in Schulden. Die Mutter fürchtete sich oft, zu weinen oder ein Wort zu sagen, um den Vater nicht aufzubringen; sie wurde ganz krank, magerte immer mehr ab und begann bedenklich zu husten. Wenn ich aus der Pension kam, fand ich so traurige Gesichter; die Mutter weinte im stillen, der Vater war ärgerlich. Er fing an, mir Vorwürfe zu machen und mich zu beschuldigen. Er sagte, er erlebe an mir keine Freude, und ich brächte ihm keinen Trost; sie gäben das Letzte für mich hin, und ich könne immer noch nicht Französisch sprechen; kurz, alle Mißerfolge, alle Unglücksfalle, alles, alles wurde mir und der Mutter zur Last gelegt. Und wie konnte er nur so grausam sein, die arme Mutter so zu martern! Wenn man sie ansah, brach einem ja beinah das Herz: ihre Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen, ihr Gesicht hatte so eine schwindsüchtige Färbung angenommen. Ich wurde am allermeisten gescholten. Solche Scheltreden 37 nahmen immer mit Kleinigkeiten ihren Anfang und gerieten dann wer weiß wohin; oft verstand ich nicht einmal, wovon die Rede war. Was kam darin nicht alles vor! Daß meine Fortschritte im Französischen so gering seien, und daß ich gar keinen Verstand besäße, und daß die Vorsteherin unserer Pension ein nachlässiges, dummes Frauenzimmer sei und nicht für unsere geistige Ausbildung sorge, und daß der Vater noch immer keine Anstellung im Staatsdienst finden könne, und daß die L'Homondsche Grammatik nichts tauge und die Sapolskische viel besser sei, und daß sie für mich viel Geld nutzlos weggeworfen hätten, und daß ich offenbar ein gefühlloses, steinernes Herz hätte – kurz, ich Arme, die ich mich aus allen Kräften mit dem Erlernen französischer Gespräche und Vokabeln abquälte, war doch an allem schuld und wurde für alles verantwortlich gemacht! Und das kam keineswegs daher, daß der Vater mich nicht liebgehabt hätte; nein, er liebte mich und die Mutter von ganzem Herzen. Aber er war nun einmal so; das war so sein Charakter.

Die Sorgen, Kränkungen und Mißerfolge peinigten meinen armen Vater aufs äußerste: er wurde mißtrauisch und verbittert; oft war er der Verzweiflung nahe; er fing an, seine Gesundheit zu vernachlässigen, erkältete sich, wurde krank und starb nach kurzem Leiden so plötzlich und unerwartet, daß wir alle mehrere Tage lang von diesem Schicksalsschlage ganz betäubt waren. Mama befand sich in einem Zustande der Erstarrung; ich fürchtete sogar für ihren Verstand. Kaum war der Vater tot, so erschienen bei uns, wie aus der Erde hervorgewachsen, die Gläubiger; in ganzen Scharen kamen sie herbeigeströmt. Alles, was wir besaßen, mußten wir hingeben. Unser Häuschen in der Peterburgskaja, das der Vater ein halbes Jahr nach unserer Übersiedlung nach Petersburg gekauft hatte, wurde ebenfalls verkauft. Ich weiß nicht, wie die Sache im übrigen geregelt wurde; aber wir hatten nun kein Dach über dem Kopfe mehr, keinen Zufluchtsort und keine Nahrung. Meine Mutter litt an einer auszehrenden Krankheit; wir konnten uns nicht ernähren, wußten nicht, wovon wir leben sollten, und sahen den 38 Untergang vor uns. Ich war damals eben erst vierzehn Jahre alt. Da besuchte uns Anna Fjodorowna. Sie sagt immer, sie sei eine Gutsbesitzerin und mit uns verwandt. Meine Mutter sagte ebenfalls, daß sie mit uns verwandt sei, wiewohl nur sehr entfernt. Solange mein Vater noch lebte, war sie nie zu uns gekommen. Sie erschien mit Tränen in den Augen und sagte, sie nehme an unserm Ergehen den größten Anteil; sie drückte ihr Mitgefühl aus über den Verlust, der uns betroffen habe, und über die ärmliche Lage, in der wir uns befänden, und fügte hinzu, der Vater sei selbst schuld daran: er habe über seine Mittel gelebt, zu hoch hinaus gewollt und zu sehr auf seine Kraft vertraut. Sie äußerte den Wunsch, uns näherzutreten, und machte den Vorschlag, wir wollten beiderseits die vorgekommenen Mißhelligkeiten vergessen; und als meine Mutter erklärte, sie habe nie eine feindliche Gesinnung gegen sie gehegt, da vergoß sie Tränen, führte meine Mutter in die Kirche und bestellte eine Seelenmesse für den lieben, guten Verstorbenen (so drückte sie sich in bezug auf den Vater aus). Hierauf versöhnte sie sich mit meiner Mutter feierlich.

Nach langen Einleitungen und Vorreden, in denen Anna Fjodorowna in grellen Farben unsere kümmerliche, hoffnungslose Lage, unsere Vereinsamung und Hilflosigkeit geschildert hatte, lud sie uns ein, wie sie sich selbst ausdrückte, ihr Haus als Asyl zu benutzen. Meine Mutter dankte ihr, konnte sich aber lange Zeit nicht entschließen; da jedoch nichts anderes zu machen war und wir uns nicht anders zu helfen wußten, so erklärte sie ihr schließlich, daß wir ihren Vorschlag mit Dank annähmen. Als wenn es heute wäre, erinnere ich mich an den Vormittag, an dem wir von der Peterburgskaja nach der Wassiljewski-Insel umzogen. Es war ein heller, trockener, kalter Herbstmorgen. Meine Mutter weinte; mir war sehr traurig zumute; ich fühlte eine solche Beklemmung in der Brust; eine unerklärliche, furchtbare Angst preßte mir das Herz zusammen . . . Es war eine schwereZeit . . . 39

 


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