Johannes Dose
Im Kampf um die Nordmark
Johannes Dose

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Sechzehnter Abschnitt.

Die Maskerade im Sterbezimmer.

In der Nacht nach dem Absturz der Nachtwandlerin erreichte Heimreich seine Heimat. Die Gassen vermeidend, hinter den Hecken, wie ein Dieb, vorsichtig spähend und horchend, ging er nach dem Pastorat. Den Backenbart hatte er mit Mühe wieder festgeklebt.

Er brach durch den Knick, daß die Zweige knackten, denn hier im Pfarrgarten war sicherlich keine Gefahr und keine Menschenseele um Mitternacht. Ach, im Schlafzimmer brannte Licht – Gott sei Dank, ein Nachtlicht – die Mutter lebte noch! Der tröstliche Gedanke beflügelte seinen Schritt, jede Vorsicht war hier überflüssig, obgleich der Mond alles beleuchtete.

Da stutzte und starrte er. Dicht vor ihm, auf der halbversteckten Bank saß ein Pärchen und koste. Das war ja Karen, die Jungmagd des Pfarrhauses, die mit irgendeinem Knecht eine Liebschaft und im Pfarrgarten ein Stelldichein hatte. Das freche Frauenzimmer! Die beiden, die den Eindringling groß und deutlich sahen, aber natürlich nicht erkannten, schienen noch mehr Unbehagen, als der Einbrecher, zu verspüren und verkrochen sich aneinander. Was nun? Durch die Hecke zurückweichen und draußen warten, bis das Techtelmechtel zu Ende war? Nein, jede Minute war kostbar. Heimreich, als tapferer Kriegsmann, wählte nicht die Retirade, sondern die Attacke. Den Stock hochgeschwungen, mit dem Kriegsruf: »He, hier im Garten, im geweihten, heiligen Pastoratsgarten, wird geliebelt!« stürzte er ziemlich langsam, um Zeit zur Flucht zu lassen, aber mit wildwütigen Gebärden auf das Pärchen los, das Reißaus nahm. Der Knecht, als Held, mit Riesensprüngen weit voran und Karen mit Gekreisch: »Nimm mi mit! De Kierl sleit mi dod!« und mit hochgerafften Röcken hinterdrein!

Heimreich kalkulierte, daß die Magd heimlich aus dem Hause entwischt sei und wahrscheinlich ein Schlupfloch offen gelassen habe. Richtig! Ein Fenster der Waschküche stand nur angelehnt und ließ sich als Eingang benutzen. Er kletterte hindurch, schlich sich durch die dunklen Zimmer und horchte an der Tür des Schlafgemachs, hinter der ein Licht brannte und ein Zeitungsblatt raschelte. Durch das Schlüsselloch waren die Umrisse einer weiblichen Gestalt zu erkennen. Das mußte ja seine wachende Schwester sein. Mit leisem Finger anklopfend, flüsterte er: »Hil-de, Hil-de.« Das Blatt sank, die Leserin horchte.

Er klopfte lauter. Die Gestalt erhob, der Lichtschein verstärkte sich.

Heimreich trat weit ins Zimmer zurück und winkte mit der Hand, um jeden Aufschrei zu verhüten.

Bodil – ja Bodil steht mit dem Lichte in der Tür und sieht einen wildfremden, grotesken, unheimlichen Menschen, natürlich einen professionellen Ein- und Verbrecher. Sie stößt im ersten Schreck einen Schrei aus: »O ... Herr Pastor! Herr Pastor!« Aber sie flieht nicht und fällt noch weniger in Ohnmacht, sondern das beherzte Mädchen setzt geschwind die Lampe hin, ergreift und schwingt die eiserne Feuerzange, die neben ihr am Ofen hängt, und knirscht gedämpft – o welche Rücksicht, um nur die Kranke nicht zu ängstigen! – aber zornig und kampfbereit: »Sofort heraus! Oder ich rufe die Männer ... ich hole die Flinte ... heraus!«

Ein herrliches und heldenhaftes Weib, das wie eine Walküre das Schwert der Feuerzange schwingt!

»Bodil, ich bin es ... Heimreich Fangel!« Es amüsiert, es erschüttert ihn, er muß ob der ungeheuren Komik lachen, ja lachen und möchte am liebsten vor der Herrlichen einen Kniefall tun.

Sie erkennt unter Tausenden die Stimme und betrachtet mit tief gerunzelter Stirn den englischen Halunken. »Wer sind – Sie?«

Heimreich reißt jetzt mit einem Ruck den Backenbart, den er ganz vergessen hat, vom Gesicht herunter. Das ist das liebe, lächelnde, glückstrahlende Kandidatengesicht.

»Heim-reich!« Das junge, mutige Mädchen wird scheu und blutrot und steht mit großen, gefüllten Augen vor ihm, als wenn es ein Wunder sehe und ein Mirakel erlebe.

»Verraten Sie mich nicht! Als schleswig-holsteinischer Offizier bin ich hier vogelfrei ... wenn die Polizei mich findet und faßt, werde ich als Spion behandelt. Ich mußte meine totkranke Mutter noch einmal umarmen.«

Die Tränen treten auch ihm in die Augen.

»Ich glaube noch nicht, daß es zu Ende geht ... Ihre Mutter besitzt eine ungemeine Lebenskraft und ist eine von denen, die es auf achtzig Jahre bringen.«

»Gott sei gelobt! Das Erste, was ich in der Heimat höre, ist ein Evangelium, und die Erste, die mir begegnet, ist mei-, ist Bodil ... das muß Glück bedeuten und Glück mir bringen. Reichen Sie mir nicht die Hand?«

»Ja, ja! Sie tragen ja nicht die schreckliche Uniform.« Ihr Händedruck ist fest und freundlich.

Er wird um des Wortes willen traurig und lacht doch: »Der Einbrecher ist Ihnen noch erträglicher als der Offizier? Verraten Sie mich nicht durch eine Unvorsichtigkeit!«

Stolz guckt sie ihn an. »Bin ich etwa ein unüberlegtes, schwatzhaftes Ding?«

Die Pastorin erwachte und bewegte sich. Spürte der Instinkt des Mutterherzens seine Nähe? »Ist mein Sohn endlich gekommen? Mein Heimreich, wo bist du?« Die recht kräftige Frage klang nicht wie das schwache Geflüster einer Sterbenden. Dennoch winkte Bodil und wollte die Kranke auf die allzu große Freude vorbereiten.

Bald kniete Heimreich am Bette, und die Mutter streichelte ihren liebsten Sohn. »Nun will ich gerne sterben, nachdem ich dein Angesicht gesehen habe.«

»Nein, nun wirst du genesen ... ich küsse dich gesund.«

»Ja, du bist strahlende Gesundheit und strotzende Kraft. Gib mir meine Hornbrille, damit ich dich gründlich sehen kann! Ei, wie stark und stattlich du geworden bist! Ich habe einen Helden, einen deutschen Helden geboren, der für unser Vaterland und unsere Freiheit gefochten hat.« Schleunig aber setzte die patriotische Frau hinzu: »Es kommt nicht wieder zum Kriege ... du gehst mir in keine Schlacht mehr, in keine!«

»Lassen wir alles, was bei anderen Anstoß erregt!« bat er rücksichtsvoll.

Bodil war Augenzeugin der Liebkosungen und Zärtlichkeiten, welche Mutter und Sohn nicht müde wurden einander zu erweisen; und unwillkürlich stieg ein kleines Neidgefühl in ihr empor, als wenn sie der alten Frau so viel Liebe und Glück mißgönnen müsse.

Der Pastor und Hilde wurden geweckt und von des Sohnes Ankunft verständigt.

Fangel beugte sich über seine Frau. »Beim Klopfen an meiner Tür mitten in der Nacht bekam ich einen gehörigen Schreck, und ich befürchtete, es stünde schlecht um meine Gertrud ... nun sehe ich zu meinem freudigen Erstaunen, daß du viel klarer und heller aus den Augen blickst.«

»Ja, mein Sutor, ich fühle mich so frei und leicht, als wenn ich aufstehen könnte ... jetzt glaube ich selbst, daß die Totenfrau, der Glöckner und Küster und auch der Pastor, die sich schon auf eine große Leiche gespitzt haben, eine große Enttäuschung erleben werden.« –

Als Klaus morgens um halbfünf Uhr polternd und brummend die Mägde und Knechte geweckt hatte und im Wohnzimmer seinen Bruder vorfand, prallte er wie vor einem Geiste zurück. Das paßte ihm ganz und gar nicht in seine Berechnung, solange Bodil im Pfarrhause Nachtwachen hielt und stundenlang weilte.

»Ich scheine dir keine freudige Ueberraschung zu sein,« lachte Heimreich gezwungen.

»Das kann für dich eine ganz verfluchte Geschichte werden, wenn sie dich fangen ... auf dem Glacis in Friederiz ist mehr als ein Spion erschossen worden.«

»Ich bin kein Spion.«

Klaus zuckte die Achseln. »Die Mägde sehen dich doch, heute weiß das ganze Dorf, daß du hier bist, und morgen ist es in Norderhusen bekannt.«

Hilde hatte einen Gedanken. »Wir verstecken Heimreich in der Giebelstube ... nur nachts kommt er herunter, am Tage füttere ich ihn, wie die Raben den Elias am Bache Krith.«

Das war gar nicht nach dem Geschmack des Leutnants, der sich schnell die Bartkoteletten an die Backen klebte. »Jetzt kennt mich kein Mensch in ganz Hyllerup, nicht einmal meine leibliche Mutter. Man erzählt offen in der Küche, daß ein Neffe Brodersen, der lange in London gelebt hat, seinen Pastor-Onkel hier für ein paar Tage besuche ... jede Geheimtuerei erregt Argwohn ... die Unverfrorenheit ist mein bester Schutz.«

Klaus warnte brüderlich. »Du hast ja die Mutter gesehen und deinen Zweck voll und ganz erreicht. Bleibe hier nicht länger, als durchaus notwendig! Das Kriegsgericht macht schnellen Prozeß.«

Der Leutnant lehnte kurz ab, selbst der verständige Vater hielt es für unleidlich, gleich wieder Abschied zu nehmen. Im Familienrat wurde beschlossen, daß der Sohn als anglisierter Neffe Brodersen ein paar Tage dableibe, dreist das Fremdenzimmer beziehe und in der Oeffentlichkeit den Backenbart trage.

Es waren einzige, innige Tage voll Sonnenschein und Liebe. Es kam zwar nicht zu einer Aussprache zwischen Bodil und Heimreich, aber er sah in ihren Augen den zärtlichen Schimmer der alten, seligen Zeit, in ihrem ganzen Wesen war ein neuer, sanfter, leise vergebender Zug, der mit seinen deutschen Schwächen und Insurgentensünden milde Nachsicht üben wollte.

Wenn der Bruder unten in der Stube weilte, saß Hilde stets an der Tür wie ein Posten, um jede Ueberraschung zu verhüten. Trotzdem passierte das kleinere Malheur, daß ein Huhn in die Drangtonne stürzte, und das größere, daß die Magd Karen mit dieser Unglücksbotschaft auf Strumpfsocken – die Holzschuhe ließ sie draußen stehen – durch alle Zimmer rannte und in der Aufregung, ohne anzuklopfen, ins Krankengemach hineinstürzte und atemlos anfing: »Das schwarze Huhn ist ge-fal-fal-len ...« Wie aus den Wolken gefallen stand die rotbackige Magd, riß Augen, Mund und Nase sperrweit auf und gaffte entsetzt den Engländer mit dem Backenbarte an. Das war ja der Räuberkerl, der in der Mondnacht sie und ihren Niels mit dem Stock bedroht und von der Bank vertrieben hatte. Doch sie schwieg davon hübsch still, um nicht ihre nächtlichen Ausgänge zu verraten, und lief nach der Küche. Dort, von der Zungenlähmung sich erholend, lief ihr Mundwerk wie ein Mühlrad, im allertiefsten Vertrauen teilte sie der Großmagd, später auch der Botenfrau und am Spätabend ihrem Schatz, der als Knecht bei Rolf Krake diente, ihr Erlebnis mit.

Währenddessen wurde in der Krankenstube Kriegsrat gehalten. Heimreich erzählte halb mit Lachen, halb mit Verdruß die Vertreibung des Liebespaares aus dem Paradies des Pfarrgartens. Hilde hielt es für das Klügste, Karen eine plausible Erklärung zu geben, ehe diese ein Geschwätz mache. Sie nahm die Jungmagd abseits und sagte ihr, der Neffe aus London sei spät nachts angekommen und in seiner Unkenntnis des Ortes durch die Hecke gedrungen, um an das erleuchtete Hinterfenster zu klopfen.

Karen sagte Ja-a-ja-a, dachte sich aber ihr Teil und redete mit ihrem Niels darüber. Besonders der Umstand, daß sie wegen des Stelldicheins keine Schelte bekommen hatte, erregte ihren Verdacht, daß die Sache einen Haken habe und hier ein Rätsel zu ergründen sei. Rolf Krakes Knecht bestärkte am Abend ihr Mißtrauen und riet ihr, gut aufzupassen und den langen Laban mit dem Backenbart nicht aus den Augen zu lassen, denn der sei entweder ein Falschmünzer oder ein deutscher Spion. »Du mußt mal urplötzlich,« sagte der schlaue Niels, »aus Versehen und in aller Dummheit in die Giebelstube hineindringen und rasch Umschau halten, ob der Mosjö nicht Papiergeld macht oder Karten für die deutschen Aufrührer zeichnet. Wenn es gelänge, eine Geldmacher abzufassen, ließe sich ein schönes Stück Geld verdienen für deine Aussteuer.«

Der Gedanke an die Aussteuer schärfte Karens Sinne und Schläue.

Am nächsten Tage kurz vor Mittag horchte sie nach oben – der Kerl war noch im Giebelzimmer –, nahm sie geschwind Besen, Wischtuch und Schippe und rannte auf Strümpfen die Treppe hinauf.

Heimreich strich just den Schnurrbart in die Länge, bürstete ein Stäubchen vom Rocke – um Bodils willen wurde so sorgfältige Toilette gemacht – und befeuchtete den falschen Backenbart mit Wasser, als die Tür aufging, Karen mit dem Besen in der Faust auf der Schwelle stand und ihn wie ein Gespenst anstierte. Der Engländer hatte den großen, gefährlichen Bart nicht im Gesicht, sondern in – der Hand und war ein alter, guter Bekannter.

»Gott im hogen Himmel, datt is jaa unse Kandidaat!«

Mehr konnte die verwirrte Magd nicht sagen, und weil sie mehr als genug gesehen hatte, verschwand sie im Nu.

Heimreich begrüßte heute sehr verdrießlich die Seinen. »Die dumme Dirn hat mich ohne Bart gesehen ... was nun?«

Da ist der längste Familienrat gehalten worden. Klaus empfahl schleunigste Abreise, und zwar mit der Eilpost. Auch der Vater unterschätzte nicht die Gefahr und sah keinen andern Ausweg.

Doch die Kranke weinte und wehklagte: »Noch ein paar Tage muß ich meinen Jungen behalten ... die plötzliche Trennung würde mein Tod sein.«

Der Vater, von der Angst um das Leben der Gattin und das Leben des Sohnes hin und her gerissen, sagte: »Ich glaube nicht, daß es innerhalb 24 Stunden in Norderhusen ruchbar wird, aber länger als bis morgen abend darf er auf keinen Fall hier bleiben. Mein Sohn, tua res agitur ... dein Schicksal ist's, und dein ist die Entscheidung.«

»Gut! Morgen abend um 9 Uhr trete ich den Marsch an. Wenn die Magd zuverlässig ist, muß ihr striktes Schweigen über meine Anwesenheit auferlegt werden.«

Erst morgen abend kam Bodil wieder, um Hilde abzulösen, darum war es ihm unmöglich, sich heute von der Heimat zu trennen.

Klaus wußte das auch, schaute einen Augenblick ins Leere und bot dann mit Eifer seine Dienste an. »Ich werde es Karen beibringen, daß sie den Mund halten soll, das muß man nicht direkt, sondern diplomatisch machen.« Der Agrarier war im Verkehr mit Dienstboten gewitzigt und für die Mission wohl geeignet.

Heimreich dankte seinem Bruder sehr herzlich.

Nachmittags vier Uhr ging die Magd in den Stall, um ihre zwölf Kühe zu melken. Während die Milch in den Eimer strullte, kehrte die Rotbunte den Kopf und betrachtete zärtlich die Melkerin, als wenn's ihr Kälbchen wäre. Die Magd schielte unter dem Kopftuche nach dem Gange, wo der junge Herr stehen blieb. Der war wohl bange, daß nicht rein gemolken würde. O nein, der grüßte gegen seine sonstige, kurz angebundene Art und sagte leutselig: »Schafft's in den Eimer?«

»Jaa, fif Kannen gibt se.«

»Na, min Dirn, hest du all en Brüdgam?«

Sie kicherte und wurde klatschrot. »Niels will mi heiraden, awer ick weet noch nich, ob ick will, denn he hett nix und ick heff nix, und null mal null makt null.«

»Dirn, du kannst fix reknen, und Geld magst du liden.«

So ging's ein Weilchen weiter, Klaus fing natürlich, wie die Bauern, mit dem Schwanze an, wenn er von der Schnauze sprechen wollte, und sagte dann unvermittelt und unvermutet: »Du hast meinen Bruder gesehen? Was hast du dir dabei gedacht?«

»Dabi kann man sich en ganz Del denken. He hett woll en guden Grund, den Engländer to speien und sich den gräsigen Bart in't Gesicht to kleben.«

»Watt du för en Klogschnacker büst!« Klaus lehnte sich an die Kuh und dämpfte die Stimme. »Laß das Strippen und höre mit beiden Ohren zu! Der Kandidat dient ja bei den Schleswig-Holsteinern und darf nicht hier sein ... wenn er geklaut wird, muß er bös brummen. Du weißt natürlich, wenn du ihn beim Amtmann anzeigst, kannst du ein schön Stück Geld – ich meine zweihundert Taler sind's – verdienen.« Klaus schielte nach dem Kopftuch und beobachtete die Wirkung seiner Worte, die Gier im heißen Gesicht der Magd. Zweihundert Taler! Ihr schwindelte.

»Wehe uns, wenn Rolf Krake wüßte, was du weißt, meine Dirn, der liefe ja im Galopp noch Norderhusen, um das Geld zu verdienen. Aber du wirst hübsch den Mund halten und Rolf Krake nichts sagen ... du wirst auch nicht selbst bei dem Amtmann Anzeige erstatten und meinen Bruder ins Unglück bringen. Versprich mir das, min Dirn!«

»Nee, ick do datt nich, darup swör ick mit Finger und Fäuten.«

»Schöin, du büst en ganz Kloke.«

Der junge Fangel hatte seine diplomatische Mission ausgerichtet; kein Vater und keine Mutter, kein Mensch und kein Gott konnten ihm vorwerfen, daß er seine Bruderpflicht nicht erfüllt habe.

In der Magd war die Habgier geweckt. Karen molk die letzten Kühe nicht rein und war völlig konsterniert. Die zweihundert Taler, welche die Anzeige einbringen sollte, die zweihundert, die für eine arme Melkerin ein Vermögen bedeuteten, berauschten ihr Gehirn, betäubten ihr Gewissen. Sie konnte ja gut rechnen und kalkulierte also: Rolf Krake soll das viele Geld nicht verdienen ... ich habe eine gute Herrschaft und wäre eine schlechte Person, wenn ich die Anzeige erstatten würde ... aber mein Niels kann zum Amtmann gehen und das Geld verdienen, denn der hat weder mit Händen noch Füßen geschworen.

O Menschenseele, du bist ein geborener Sophist und Jesuiter.

Punkt 10 Uhr ging Pastor Fangel durchs ganze Haus, verschloß und verriegelte alle Außentüren. Seine kranke Frau hatte heute viel weniger Fieber und phantasierte gar nicht mehr, wurde vom Husten wenig geplagt und wollte immerzu die Stimme ihres Sohnes hören, der von der Mordnacht bei Friederizia und von der Tapferkeit seiner Armee erzählte.

»Solange wir ein solches Heer besitzen, ist Schleswig-Holstein nicht verloren.«

Das wollte die deutsche Frau immer wieder hören und wurde nicht müde, an der Verstärkung der Bataillone, an der Statistik und Strategie des Jägerleutnants sich zu erbauen. – –

Die Kirchenuhr schlug zehn. Hilde trat ihre Nachtwache an. Die Lampe erlosch, das spärliche Nachtlicht brannte auf dieser Seite des Bettschirms, und bei dem trüben Scheine las die Krankenpflegerin mit großen Augen und glühenden Wangen eine kurze Notiz im Altonaer Merkur.

»Ein neuer Stern am Geigenhimmel! E. Olsen, ein neuer Geigenvirtuos, der in Dänemark bei seinem ersten Debüt Aufsehen erregte, hat in Stockholm in Gegenwart des Königs und des Hofes mit solchem Erfolg gespielt, daß die Franzosen des Nordens ihm die Pferde ausspannten und der Nachfolger Bernadottes ihm den Wasa-Orden verlieh.«

Sie hatte von dem erfolgreichen Geiger zu ihrem Geburtstag einen Glückwunsch erhalten und wußte, daß E. Olsen der Künstlername des braven Eskild Thorö sei.

In dem Augenblick schlüpfte Karen auf dem üblichen Wege durchs Kammerfenster zu ihrem Niels, der auf der Gartenbank seine Pfeife schmauchte. Das eifrige Geflüster endete mit einem schmatzenden Kuß.

»Nee, min Söte,« sagte Niels pfiffig, »du hest mi gor nix segt, ick weet sülber, watt ick to dohn heff.«

Der Knecht war in seinen Augen ein sehr gescheiter Kerl. So, wie er ging und stand, in Holzschuhen lief er nach Norderhusen.

Die gähnenden Schreiber im Amthause warfen den verrückten Lümmel, der durchaus »ihn selber« – den Amtmann nämlich – sprechen wollte, zweimal hinaus. Niels kam, beharrlich wie ein Jude, zum dritten Male, wollte sich nicht von einem Schreiber das Geschäft vor der Nase wegschnappen lassen und daher nicht verraten, was er »ihm selber« zu sagen habe.

Als schließlich eine Schreiberfaust ihn packte, fing er an zu schreien, es sei ein Spion in Hyllerup. Da horchten die Schreiberohren, und die Schreiberhände ließen von ihm ab. Niels durfte dem Herrn Amtssekretär, den er für »ihn selber«, für den König von Norderhusen hielt, sein Herz ausschütten. – –

Die Drescher in Hyllerup gingen schwerfällig heim, die Nacht mit ihrem Dunkel verhüllte das Dorf, in dem sparsamsten Hause, das am längsten Schummerstunde hielt, flammte ein Talglicht auf. Im Pfarrhaus brannten schon lange die Rüböllampen. Heimreich hatte alle Vorbereitungen für die Reise getroffen, die halbe Ente und die halbe Flasche Wein, auch ein Dutzend Visitationszigarren, die der Vater ihm brachte, in die Taschen des Ulsters gesteckt, auch die Bartkoteletten festgeklebt und wartete nur auf Bodils Ankunft. Er mußte auf jeden Fall warten, um ihr Lebewohl zu sagen.

»Das ist ihr Schritt!« Er kannte ihn unter tausenden und lächelte ihr entgegen. Sie kam hastig, im langen, weiten Mantel, die Kapuze über den Kopf gezogen, drückte ihm die Hand und stieß die Worte heraus: »Ich ... ich habe eine innere Angst ... eine Unruhe, als wenn ein Unglück drohe ... der Amtspolizist lief mir über den Weg, da fuhr ein Schreck in mich hinein ... verlassen Sie schleunigst das Haus und das Dorf auf dem Fußsteige!«

Er sagte leise: »Ja, ich gehe ... mit oder ohne Hoffnung, Bodil?«

Sie antwortete, unter Tränen lächelnd: »Ohne Sie ist es Kampf und Qual, wie mein Herz erfuhr ... darum gehen wir mit Hoffnung voneinander.«

Heimreich küßte ihre Hand und kniete am Bett der Mutter, die ihn nicht lassen konnte und ein paar Minuten lang an sich preßte.

Zwei verhängnisvolle Minuten!

Klaus hatte beim Schein der Stallaterne den Hafer zugemessen und trat in den dunklen Hof hinaus, meinte zwei verdächtige Gestalten an der Gartentür zu sehen und stürzte darauf los. »He, was ist gefällig?«

Allmächtiger! Seine Knie knickten. Der eine war der Amtspolizist, der andere ein Gendarm aus Norderhusen, und noch ein drittes Subjekt mit Polizeimütze und Plempe stand drüben unter der Haustür auf Posten. Klaus zitterte, und eine Stimme in ihm schrie: Du bist der Schuldige, der Schurke, der Bruderverräter und Brudermörder! Er mußte Heimreich retten und den Schergen entreißen.

Die drei Hüter des Gesetzes hatten blank gezogen und sagten barsch: »Wir sollen den Kandidaten Fangel, den Insurgentenhund, der hier spioniert, verhaften.«

Klaus wollte diplomatisch sein und griff in seiner Bestürzung zu einer plumpen Lüge und List. »Ich halte es nicht mit den Insurgenten ... so wahr ich ein Südjüte bin, ist mein Bruder nicht hier, son – sondern auf Hyl– hylleruphof ... laufen Sie dahin, meine Herren ... ehe er verschwindet ... er will dort Adieu sagen.«

Die Gendarme durchschauten den verstörten, stotternden Burschen und lachten: »Sagen Sie Ihrem Bruder auf Hylleruphof, er solle es sich bequem machen, während wir im Pastorat eine kleine Visite machen.«

Klaus schwankte nach der Tenne, wo er auf einen Sack sich hinwarf und in Judasverzweiflung den Strick der Winde, die das Getreide auf den Boden hißte, anstarrte.

Der eine Gendarm ging in den Garten und stand unter den Fenstern dieser Hausseite mit gezücktem Schwert. Der Amtspolizist bewachte die Hofseite, und der zweite Gendarm trat ins Haus, um die Verhaftung zu vollziehen.

Pastor Fangel erbleichte, faltete die Hände und blickte nach oben. Hilde schrie mit Schreckensmiene: »Heimreich, fliehe, fliehe!« Der Gendarm, im vollen Bewußtsein seiner hohen politischen Mission, wollte zeigen, daß er seiner großen Aufgabe und seinem königlichen Amte gewachsen sei, nahm das Schwert in seine Linke und legte feierlich die Rechte auf die Schulter des backenbärtigen Herrn. »Im Namen des Königs, Sr. Majestät Friedrichs VII., von Gottes Gnaden König von Dänemark, Südjütland und Holstein, Herr der Wenden und Gothen, verhafte ich Sie, Heimreich Karl Valentin Fangel.«

»Gut, ich gehe mit.« Der Verhaftete zeigte eine stoische Ruhe.

Bodil Hansen trat vor, mit blitzenden Augen, in imponierender Haltung, als wenn sie hier zu befehlen habe. »Sie kennen mich, Herr Gendarm, ich bin die Tochter von Hylleruphof, auch der Amtmann kennt mich als Patriotin, die manches für die dänische Sache getan hat und ganz gewiß nicht einen elenden Insurgenten protegieren wird. Dieser junge Herr ist heimlich und in Zivilkleidung nach Hyllerup gekommen, um seine todkranke Mutter noch einmal zu sehen ... das ist ein menschlich edler Beweggrund, und darum ist er des Mitleids wert.«

Der Gendarm lamentierte: »Nee, ich darf ihn nicht laufen lassen, und wenn Sie mir tausend Taler gäben.«

»Sie mißverstehen mich gänzlich ...ich wäre die Letzte, die einen Insurgenten entwischen ließe ... um den Transport Ihnen zu erleichtern und ein Entweichen unmöglich zu machen, stelle ich Ihnen einen Wagen von Hylleruphof zur Verfügung ... aber wir müssen ein rein menschliches Mitleid mit dem Manne haben, Sie müssen ihm vergönnen, ungestört von seiner sterbenden Mutter Abschied zu nehmen. Auch Sie müssen eine kleine Stärkung und Erfrischung zu sich nehmen, hier in der Stube neben dem Krankenzimmer – Hilde, bring' einen guten Imbiß und die Kümmelflasche! –, während der Wagen geholt wird, lassen wir ihn mit seiner sterbenden Mutter allein fünf bis zehn Minuten... Sie müssen keine Menschengefühle in der Brust haben, wenn Sie das nicht erlauben. Ein Gendarm kann sich ja draußen vors Fenster hinstellen, um jede Flucht unmöglich zu machen.«

»Hihi, der steht schon da, wir wollen nicht die Dummen sein ... aber das geht nicht...«

»Überzeugen Sie sich, daß das Schlafgemach nur diesen einen Ausgang hat! Diese Tür hier bewachen Sie, vor den Fenstern draußen steht ein Posten ... ich will mich verhaften lassen, wenn etwas passieren kann.« Bodil sagte es mit der allerfreundlichsten Stimme, aber in ihren Augen war ein verstohlenes Gefunkel.

Hilde kam mit dem Imbiß und der vollen, verführerischen Flasche, danach der Gendarm lüstern schielte. Die Flasche besiegte seine letzten Bedenken. Er setzte sich an den Tisch, so daß er die Tür stets vor Augen hatte, und hieb mit Eifer in die Butterbrote hinein.

Bodil ging ins Schlafgemach, lächelte dem Gendarm zu: »Ich weiche nicht von der Seite des Arrestanten und werde gut aufpassen, daß er nicht eine Tarnkappe anzieht und durch die Luft reitet«; und sie machte die Tür hinter sich zu.

Die im Krankenzimmer stehen, blicken sich an. Jungfer Hansen spricht leise, aber im raschen, resoluten, befehlenden Ton: »Hier geht's um ein Menschenleben ... wo Not am Mann, ist jede Rücksicht und Ritterlichkeit, jedes Zögern und jede Ziererei eine Torheit, ja eine Todsünde. Sie ziehen meinen Mantel und meine Kapuze an und halten schluchzend das Taschentuch vor den Mund, um den Schnurrbart zu verdecken! Reißen Sie den Backenbart herunter, den ich mir ins Gesicht klebe! Geben Sie mir Ihren Ulster, Ihren Hut! Aber hier hinter dem Bettschirm muß die Verwandlung geschehen, damit der Nachtwächter vor dem Fenster nichts erspäht. Keine Widerrede, kein unnützes Wort dulde ich, mein Wille ist unwiderruflich, keine Sekunde darf verloren gehen, bei meinem Zorn. Ziehen Sie meinen Mantel an!«

Er hätte vor ihr knien mögen und hebt die Hände. »Man wird Sie verhaften, Bodil, und an Ihnen Rache nehmen. Sie handeln groß, ja heldenhaft, und ich soll klein und kläglich mich saldieren und Sie meinem Schicksal überlassen.«

Bodils Gesicht hat einen harten, aber heroischen Zug, ihre Stimme ist scharf, nur ihre Augen lügen nicht und leuchten in jener Liebe, die für den anderen ihr Leben läßt. »Ich will es! Heimreich, ich will Sie lieb haben, doch nur, wenn ich in diesem Stück meinen Willen, meinen Trotzkopf, meinen Eigensinn durchsetze.«

Er gehorcht. Die lächerliche Metamorphose wird vollzogen, aber keiner verzieht eine Miene, obgleich das Bild urkomisch und Bodil in Hut und Ulster und mit den Bartkoteletten im Gesicht zum Tränenlachen, ja zum Totlachen ist.

Alle bleiben tiefernst, und die zwei fangen an zu schluchzen, um ihre Rolle möglichst naturgetreu zu spielen.

Bodil geht, den Hut im Nacken, den Backenbart streichend, im Zimmer hin und her, damit der Polizist da draußen, der bisweilen seine Nase argwöhnisch an die Scheibe drückt, sich von der Anwesenheit des Insurgenten überzeugen könne.

Nur einmal unterbricht sie die Wanderung, um Heimreich bis zur Tür zu begleiten. Ihr klopfendes Herz steht still. Hilde geht schluchzend über die Schwelle, kehrt sich halb um und sagt erschüttert: »Gott sei mit dir, mein armer, armer Bruder! Komm, Bodil, komm!«

Der Gendarm am Tische hat die halbe Flasche geleert, kaut eifrig und schielt über das Glas. Alles in Ordnung! Die beiden heulenden Frauenzimmer nehmen Abschied von dem deutschen Spion, der in und halb hinter der Tür bleibt und an dem riesigen Backenbart kenntlich ist.

Heimreich, im langen Frauenmantel, die Kapuze über die Stirn gezogen, hält das Taschentuch vor den Mund und weint. »Lebe wohl, Bodil!« Er hat schnell, anstatt des Engländers, die Worte gesprochen, reißt sich mit einem Seufzer los und schwankt, gebeugt, das Gesicht ins Taschentuch gepreßt, Arm in Arm mit Hilde aus der Stube.

Der Gendarm führt in dem Moment das Schnapsglas zum Munde, schielt den Weibern nach, die ihres Weges gehen können, wenn nur die Hauptperson da drinnen bleibt. Er schenkt das Glas noch einmal voll, rülpst ein paarmal und kann doch nicht das schöne Stück Schinkenbrot stehen lassen. Das soll und muß noch herunter.

Hilde und ihr Begleiter öffnen die Haustür, sprechen ein stilles Stoßgebet und gehen Arm in Arm an dem hier postierten Gendarm vorbei. Die eine Dame schluchzt ins Taschentuch hinein, die andere kreischt: »O mein armer, unglücklicher Bruder, er ist un-unschuldig.« Der Gendarm läßt ohne Argwohn die zwei Frauensleute passieren.

Auf dem Hofe hält Heimreich die Schwester, die jetzt rasche Schritte machen will, am Arme zurück und flüstert: »Nein, langsam und laut gestöhnt, um keinen Verdacht zu erregen!«

Auf der Gasse, wo der Fußsteig querfeldein abzweigt, wird ein rascher Kuß gegeben, und in voller Karriere rast die eine Dame von dannen. So hat noch nie ein Weib mit den Beinen ausgegriffen und den Mantel hochgerafft, um über Gräben, Holzstege und alle Hindernisse hinwegzusetzen. Der Atem keucht, die Milz sticht, das Tempo wird gemäßigter. Eine solche Retirade hat dieser cimbrische Held in allen seinen drei Feldzügen weder vorher noch nachher gemacht. Nach einer Meile muß er sich verschnaufen und an ein Hecktor sich lehnen. Hier mitten auf dem Felde, mitten in der Nacht, in Weibermantel und Weiberkapuze, hat er nur eine Sehnsucht, einen Schrei – nach einem Hute, einer Mütze. Ein Königreich für eine männliche Kopfbedeckung!

Man wird ihn scharf verfolgen und auf den vermeintlichen Spion fahnden lassen. Schnell weiter gen Süden! Aber in diesem auffallenden Gewand?

Durch den Knick blinzelt ein Lichtschimmer, ein Stern ist dem Flüchtling aufgegangen; denn dort im Kirchdorfe A. wohnt der Pastor G., ein deutscher Mann, den er kennt.

Heimreich schleicht sich um das Haus herum und klopft an das Fenster der hell erleuchteten Studierstube. Pastor G. fürchtet sich vor dem langen Frauenzimmer, das in so ungewöhnlicher Weise Audienz begehrt, und öffnet vorsichtig einen Fensterspalt. Heimreich schiebt geschwind die Hand zwischen Fenster und Rahmen, um Zeit für seine Erklärung und Bitte zu gewinnen.

Der Pastor ist ein sehr ängstlicher Herr und klagt mit zager Stimme: »Sie bringen mich in eine furchtbare Lage ... ich werde wegen Begünstigung eines kriminell Verfolgten bestraft werden und mein Amt und Brot verlieren.«

»Nein, nur einen Hut verlieren Sie, und das nicht mal, da ich ihn bezahlen will.« Diese kühle Antwort und ein kalter Zugwind kommt von draußen.

Der Pastor, der in dem allergeringsten Zugwind den Odem einer Krankheit und einen Hauch des Todes spürt, eilt an den Ständer, reißt die erste beste Kopfbedeckung herunter, reicht sie hinaus und schlägt das Fenster zu. Aber zwei Minuten später kommt ihm eine sehr schmerzliche Erkenntnis: In der Aufregung hat er seinen funkelnagelneuen Zylinderhut, der fünf Taler gekostet hat und nur einmal getragen worden ist, verschenkt, hat er buchstäblich fünf Taler aus dem Fenster geworfen!

Fangel wendet sich gen Westen, wirft bei Tagesanbruch Bodils Mantel fort und wandert viele Meilen bis nach Tondern, den feinen, feierlichen Hut auf dem Haupte, so daß die witzigen Wegfahrer ihn für einen Probenreuter halten und ironisch fragen, wo er seinen Gaul versetzt habe. Von Tondern aus wird die Post benutzt und vermindert sich die Gefahr mit jedem Meilensteine. Später hat er erfahren, daß zwölf berittene Gendarme alle Landstraßen und Königswege zwischen Hadersleben und Flensburg durchstreift und einen gewissen Kandidaten Fangel wie eine Stecknadel gesucht hatten. Der kluge Umweg über Tondern war seine Rettung gewesen. –

Hilde wankte nach dem Abschied vom Bruder ins Pfarrhaus zurück, ihr graute bei dem gräßlichen Gedanken, daß die hochherzige Bodil an des Flüchtlings statt ergriffen und – erschossen werden würde. Bodil selbst hatte noch immer den heroischen Ausdruck und die trotzig stolze Haltung, während sie mit Absicht möglichst lange, um den Vorsprung zu verlängern, im Krankenzimmer mit harten, männlichen Schritten auf und ab ging, damit der Polizist im Garten stets den Delinquenten sehen könne. Dieser Herr wurde allgemach ungeduldig und stampfte mit den kalten Füßen. Der Gendarm im Zimmer dagegen hatte viel Zeit und Langmut und war in jene humane Stimmung, wo man alle Menschen Brüder nennt und von Herzen lieb hat, hineingeraten. Der Montblanc von Butterbroten war verschwunden und die Flasche mehr als halb geleert. Sein Antlitz glänzte und leuchtete, er schielte nach der Flasche und schenkte sich ein letztes und noch ein allerletztes Glas ein. Als er einen Wagen im Hofe holpern hörte, öffnete er die Tür des Krankenzimmers. »Mein lieber Herr Fangel, Sie müssen mir lassen, daß ich Ihnen einen langen Abschied erlaubt habe ... nun müssen Sie nett mitgehen, ohne Fisimatenten oder Fluchtversuche zumachen.«

Bodil zog in dem Moment den Ulster aus und riß den Backenbart herunter. »Verzeihen Sie die Komödie und Maskerade! Ich mußte dem jungen Fangel forthelfen ... warum ist meine Sache ... ich fahre mit Ihnen nach Norderhusen, um die ganze Verantwortung zu tragen.«

Der Gendarm taumelte zurück, verfing sich mit den Sporen im Teppich und fiel buchstäblich auf den Rücken. Feuerrot, mit Prusten und Schnauben kam er auf die Beine. »So'n infames Weibsbild! Die falsche Kröte hat mit einem Königlich dänischen Gendarm zu Pferde Komödie gespielt. Ich verhafte Sie, Sie niederträchtiges Frauenzimmer! Mein Arrestant sind Sie! Ich – ich binde Sie am Wagen fest.«

Bodil hatte einen hochfahrenden Blick und eine scharfe Stimme. »Ich bin Jep Hansens Tochter und als gute Dänin in Norderhusen bekannt. Wenn Sie mich beschimpfen, wird es Ihnen zwiefach übel ergehen. Wofern ich verschweigen soll, daß Sie sich durch eine Flasche Branntwein verleiten ließen ...«

Der arme Kerl bekam einen Wutanfall, verfluchte die Buddel, die ihn zum Dummen gemacht habe, und schmetterte die Flasche in Scherben, glotzte aber dann die über den Fußboden fließende Flüssigkeit wehleidig an, als wenn das verschüttete, seine Bestimmung verfehlende Feuerwasser ihm in der Seele leid täte. Das Zertrümmern besänftigte den Wütigen, der jetzt kleinlaut wurde und in Jammertönen immer wieder erzählte, daß er eine Frau und fünf Kinder habe.

»Kommen Sie! Ich bringe Sie nach der Stadt,« sagte das energische Fräulein.

»Sie – Sie – brin-gen mich?« Das war für das Fassungsvermögen des Königlichen eine Umkehrung aller polizeilich geschützten Weltordnung.

Also ist Bodil Hansen, von zwei Gendarmen begleitet, nach Norderhusen gefahren. Hier gab sie im Verhör die Erklärung ab, daß sie aus rein menschlichen Beweggründen die Flucht begünstigt habe, dieweil der junge Fangel in keiner Weise ein Spion, sondern nur nach Hause gekommen sei, um seine todkranke Mutter noch einmal zu sehen. Sie wolle für ihre Tat büßen und bitte um gnädige Strafe. So selbstbewußt und ruhig, wie ihre äußere Haltung, war ihr Inneres bei weitem nicht, denn ihr graute vor dem abscheulichen Gefängnis mit dem ekelhaften Ungeziefer. Wenn sie nicht die Tochter des reichen Jep Hansen und eine bei patriotischen Sammlungen bewährte Dänin gewesen wäre, so wäre es ihr recht übel ergangen. Sie wurde glimpflich mit einer Geldbrüche von fünfundzwanzig Talern bestraft. Die Dänen waren sehr rücksichtsvoll, um nicht ein weibliches, wertvolles Mitglied ihrer Partei zu vergrämen und zu verlieren.

Und dennoch wurde die tragikomische Maskerade im Sterbezimmer der guten Pastorin – die allerdings gar nicht starb – Anlaß und Ursache, daß Bodil ihre politischen Anschauungen modifizierte und allmählich dem fanatischen Südjütentum verloren ging. So diplomatisch die gebildeten, die Beamten-Dänen zum bösen Spiel eine süßsaure Miene gemacht hatten, so rücksichtslos und roh hat das gemeine Volk der Bauern und Knechte sich betragen. Bodil erfuhr an ihrem Leibe die ganze Brutalität des Fanatismus und die bittere Wahrheit des Wortes:

Verfolgung, Haß und Leiden,
Davon ich nichts verschuld't,
Hab' ich doch müssen leiden
Und tragen mit Geduld.

Die Leute auf der Dorfgasse grüßten nicht, sondern machten ein höhnisches Gesicht und redeten hinter ihr so laut, daß sie es hören mußte: »Ach Gott, wie hochnäsig! Die sollte lieber, als auf der Straße strunzen, ihre Schande verstecken. Das ist die schamlose Person, die sich ausgezogen, die blau-weiß-rote Uniform angezogen und dem »verschworenen« Pastorsohn ihre Kleider und Röcke gegeben hat ... pfui, pfui über die schamlose Person!« Jep Hansens charakterstarke Tochter hätte vor Weh laut schreien, vor Wut die Lästermäuler schlagen mögen.

Es kam noch ärger. Rolf Krake begegnete ihr am Sonntag auf dem Kirchwege und grüßte, ja er grüßte zu ihrer Verwunderung sehr höflich, aber sofort rief er hämisch: »Bodil, singe mal Schleswig-Holstein meerumschlungen! Du sollst dich ja fleißig üben, das Insurgentenlied zu singen ... soll ich Vorsänger sein?« Und Rolf Krake trällerte die Travestie:

»Sleswig-Holstein annektiert,
Und der Herzog ganz kassiert,
Sleswig-Holstein stammverwandt,
Du wirst nie mein Vaterland.«

Bodil mußte von Stund an das ihr so teure Gotteshaus meiden, denn das Kichern und Flüstern, das Sichanblicken und Sichanpuffen und die halblauten, spinösen Bemerkungen der Kirchgänger waren ihr unerträglich. O, zum Lohn für ihre dänische Gesinnung erfuhr sie eitel Haß, Hohn und Verfolgung – jede Stichelei versetzte ihrem Herzen einen häßlichen Stich, aber auch einen heftigen Stoß, der ihre Anschauung ins Wanken brachte. Die Hylleruperinnen, die schon lange die reiche und stolze Hofbesitzertochter mit scheeler Mißgunst angesehen hatten, waren rein des Teufels und die fanatischen Weiber zu Furien geworden. Die zahnlose Malehn, die Katzen-Anna, die Klatsch-Trine und viele von gleichem Kaliber liefen und schrien und schimpften ihr nach auf offener Landstraße. Jep Hansens mutige Tochter rannte weinend nach Hause, um nicht in die Hände der Megären zu fallen.

Selbst in ihrem eigenen Hofe war sie vor Gemeinheiten nicht sicher. In der Nacht hatten böse Buben eine blau-weiß-rote Fahne auf die weiße Außenwand des Hauses hingemalt und darunter mit unbeholfenen Buchstaben geschrieben: »Die blau-weiß-rote Bodil, die deutsche Insurgentenbraut.« O, das war böse und bitter genug, um am Dänentum irre zu werden; aber nein, nein, eine Deutsche war sie nicht, durch dänische Pöbeleien ließ sie sich nicht ins deutsche Lager treiben.

Alle Menschen behandelten Bodil wie eine Abtrünnige, eine Überläuferin, alle mißdeuteten ihren mutigen Maskentausch im Pastorate, alle Zungen fielen mit boshaften Ent- und Unterstellungen über sie her. Das war der Dank, den ihr Dänentum erntete.

Die Jungfer von Hylleruphof sprach fortan nicht mehr von politischen Dingen und sagte nur mit aller Schärfe, daß sie den Fanatismus in jeder Form verachte und verabscheue. Obgleich sie mit dem ganzen Stolz ihrer Seele die Verkennung und Verleumdung ertragen wollte, hatte doch ihr Dänentum, ihr Dänenglaube einen tiefen Riß, ja einen tödlichen Stoß bekommen, und die wüsten Fanatiker hatten eine Decke von ihren Augen gezerrt, so daß sie jetzt mit geschärftem Blick die vielen Untugenden und Fehler, Torheiten und Rücksichtslosigkeiten der Dänen, kurz die maßlose Ungerechtigkeit dieses Volkes, die Schleswig-Holstein empört und zum Bruche gezwungen hatte, sah und erkannte. Auch in diesem starken Mädchenherzen war eine ungeheure Empörung, als wenn sie hassen müßte, was sie geliebt hatte, aber eine Abtrünnige, eine Deutsche werden? Nein, eine Deutsche ist Bodil nicht und kann Bodil nicht werden. –

Ein anderer Bewohner von Hyllerup war auch auf dem besten Wege, seine Ueberzeugung wie ein Hemd zu wechseln, Rolf Krakes Knecht verfluchte alle Dänen und verschwor sich in seinem Zorn, daß er noch ein »verschworner« Insurgent, ein Aufrührer und Umstürzler werden würde. Auf jeden Fall müßten der Amtmann und der Amtssekretär vom Volke geköpft und gevierteilt werden. Dieser Mann, der schlaue Niels, war auch durch den rabenschwarzen Riesenundank der Dänen, wie er glaubte, zur Empörung und dem Aufruhr in die Arme getrieben worden. Nachdem er im Amtshause seine Anzeige erstattet hatte, fragte er den Sekretär, wo ihm die zweihundert Taler ausgezahlt werden würden; worauf dieser Herr ein gar kurioses Gesicht machte und sich eingehend nach seinem Gesundheits- und Geisteszustande erkundigte. Als Niels in schwere Besorgnis um sein vermeintlich verdientes Geld geriet und zu brüllen anfing, daß er seine zweihundert Taler Prämie für Entdeckung eines Spions sofort haben wolle und sich nicht von einem Sekretär begaunern lasse, schrie der Beamte grob: »Sie dummer Lümmel, keinen roten Schilling kriegen Sie ... wir besitzen keine Fonds für Esel und Idioten ... gehen Sie ins Narrenhaus!«

Der erboste Knecht langte über den Tisch, packte den Kerl von Federfuchser, der furchtbar quiekte, am Kragen, wurde aber von den herbeieilenden Schreibern sehr unsanft umarmt, mörderlich gepufft und geprügelt und mit einem Wurfe – eins, zwei, drei – auf die Straße befördert.

Der unglückliche Denunziant hinkte in kläglichster Gemütsverfassung heimwärts. Den langen Hin- und Hermarsch, mitten in der Nacht zum Teil, hatte er gemacht, Brot und Kaffe aus seiner Tasche bezahlt, und keinen Heller, geschweige denn die zweihundert erhofften Taler, hatte man ihm vergütet. Das höhnische Grinsen, die grausamen Hiebe der Schreiber waren sein Lohn gewesen, seine müde Haut hatten sie ihm grün und blau geschlagen. Der heimwärts humpelnde Niels hatte wohl Ursache, über Niedertracht zu klagen, und wurde auf dem Wege ein grimmiger Dänenhasser und ein eingefleischter Insurgent.

Nach seiner elenden Heimkehr trank er im Krug zu Hyllerup etliche Kaffepünsche, seiner Seele zur Tröstung, und beim vierten Punsche fing er laut an zu gröhlen. Das Gröhlen war ja die Regel, aber das Ungewöhnliche war, daß er aus purer Wut, um seiner Erbosung und Empörung, seinem inneren Aufruhr Luft zu machen, »Schleswig-Holstein meerumschlungen« sang. Da fielen Wirt und Gäste einmütig über ihn her und verprügelten ihn jämmerlich. In solcher Stimmung, krumm und lahm geschlagen, kam er zum Stelldichein.

Seine Karen hatte auf der Gartenbank schon lange gewartet und lief ihm mit ausgebreiteten Armen und hastigen Fragen entgegen: »Min söte Niels, hest du de twe hunnert Daler?«

»Ick will di söten, du Racker! Ken Sößling ... Hohn und Schimp, Släg und Haue heff ick kregen, datt ick knapp krupen kann. Du, du hest mi för'n Burn holen, du hest mi tom Narren makt ... daa, daa hest du din twe hunnert Daler, du Nickel!« Einen Hieb hatte sie weg, und hundert mörderliche Prügel hätte Karen bekommen, wenn sie nicht in schleuniger Flucht Rettung gesucht und gefunden hätte.

Tiefsinnig und die Tränen trocknend, hockte sie in ihrer Kammer. Die schmähliche Denunziation hatte ihr nicht die ersehnte Aussteuer und Heirat gebracht, sondern eitel Unheil angerichtet, hatte Niels Liebe in Haß verwandelt und ihre gute Hoffnung, eine Frau Niels zu werden, ganz zerstört. In ihrem Aerger kündigte sie ihre Stellung zum 1. April, um nach Amerika zu gehen.

»Ist dir der Platz im Pastorat nicht gut genug?« sagte Klaus Fangel verdrießlich, denn die Magd war eine tüchtige Melkerin.

»Das wohl, aber ich bin nicht gut genug für den guten Platz und die gute Herrschaft.« Die Magd Karen war aufrichtig genug, in ihrem Inneren zu fühlen, daß sie nach ihrem schändlichen Verrat bei dieser Brodherrschaft nicht bleiben könne. –

Klaus hatte in jener verhängnisvollen Nacht auf dem Hafersack gesessen und böse Beklemmungen gehabt, war aber seelisch sehr erleichtert worden, sobald er die glückliche Flucht seines Bruders erfuhr. Zwar bereitete Bodils entschlossene und drastische Beihülfe ihm ein tiefgehendes Unbehagen, trotzdem dankte er seinem Gott, daß Heimreich nicht auf dem Festungsglacis erschossen worden sei.

Er ging ins helle Zimmer und glaubte, daß seine Eltern ihn mit einem eigentümlichen Blick musterten. Es war ja pure Einbildung, wurde aber fast zur fixen Idee, denn oft, ja immer hatte er jetzt das scheußliche Gefühl, als wenn große, vorwurfsvolle Augen auf ihm ruhten. Ein paarmal fuhr er völlig unmotiviert seine Schwester an: »Was guckst du?« Und Hilde wußte gar nicht, was sie getan habe. Klaus nahm immer mehr die üble Gewohnheit an, seine Angehörigen nicht anzusehen, wenn sie mit ihm sprachen, und die Mutter schüttelte den Kopf und schalt: »Mein Sohn, du wirst ein sogenannter Lurenbrock.«

Die totkranke Pastorin, die nach dem Edikt des Physikus unbedingt hätte sterben müssen, starb nicht, sondern erholte sich von dem perniziösen Nervenfieber, was bei ihrem Alter in den Augen der Leute ein reines Wunder war, jedoch mit dem Unterschiede, daß der Pastor von einem Mirakel des Herrgotts, der Doktor aber von einem Wunder der ärztlichen Kunst sprach. Die Frau selbst glaubte, daß sie sich an ihrem Sohne Heimreich gesund gesehen und gesund geküßt habe.

Zum ersten Male saß sie in angenehmer Rekonvaleszenz am Fenster im Lehnstuhl, ließ sich von den Strahlen der wärmer werdenden Sonne bescheinen und blickte in den Garten, wo der neue Lenz des Jahres 1850 leise sich regte und die ersten Krokus aus der Erde sprangen. Mitten im süßen Genesungsgefühl kam das alte, kalte Grauen, das über dem Pfarrhause lange lag. »Mein Sutor, das alles müssen wir wohl verlassen, ehe die Spargel schießen und die Syringen blühen.«

Der Pastor erwiderte: »Wie lange habe ich alle Morgen den bösen Brief mit meiner Entledigung erwartet! Wie lange hängt das Unwetter über unserem Haupte, aber der Blitz fährt noch nicht hernieder! Vielleicht hat man mich und meine Entlassung ganz vergessen.«

»Nein, der Däne vergißt nimmermehr seine Bosheit, speichert und spart sich seine Rache nur auf, bis seine Stunde kommt.«

Obgleich Fangel eine doppelte Unbotmäßigkeit begangen, die Erlasse im Namen des Königs nicht verlesen und das Gebet für den König nicht gesprochen hatte, ist seine plötzliche Entlassung nicht gekommen, die Hylleruper behielten ihren guten Pastor. Wie war das zu erklären? Von den regierenden Duumvirn in Flensburg hatte der eine, der Stockdäne Tillisch, wild aufbegehrt, daß alle ungehorsamen Geistlichen des Grenzlandes entsetzt würden, und zwar auf der Stelle. Das wäre zweifellos auch geschehen, wenn es sich um ein paar heroische Charaktere gehandelt hätte. Aber alle, alle haben sich wie Helden benommen, fast alle Pastoren des Landes – neunzig von hundert – haben einmütig, tapfer und trutzhaft sich geweigert, für den König eines fremden Landes auf ihrer Kanzel zu beten. Diese Einigkeit und Energie machte Eindruck. Was einer sagt, verhallt, was aber Hunderte sagen und tun, hat Wucht und findet Widerhall und Wirkung. Alle Geistlichen Nordschleswigs konnte man nicht mit einem Male auf den Schub bringen, die Massenabsetzung war ein Unding, eine Unmöglichkeit, und darum hat der zweite Duumvir, der Preuße Eulenburg, diese radikale Maßregelung mit einem letzten Rest von deutscher Tatkraft verhindert. Die deutschen Pastoren blieben vorläufig in ihrem Amt und beteten für den Herzog des Landes; aber das Schwert des Damokles blieb über ihrem Pfarrhause hängen.

Auf dem Schlachtfelde sollte noch einmal über ihr Bleiben oder Nichtbleiben, über Schleswig-Holsteins Freiheit oder Knechtschaft entschieden werden.


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