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Heimreich Fangel, obgleich ein Mitbegründer des Kieler Studentenkorps, hatte die grellen Mängel auch der kampffreudigsten Miliz zu deutlich-drastisch gesehen. Er meldete sich in Rendsburg, um als gemeiner Soldat zu dienen, und wurde auf seinen Wunsch einem Jägerkorps zugeteilt. Weniger glatt vollzog sich die Einkleidung, denn es fehlte an Jägerröcken. An anderen Monturen war freilich kein Mangel, jedoch es waren genau dieselben roten Röcke, die auch von den Feinden getragen wurden. Die Uniformen wurden schleunigst mit grüner Farbe gefärbt und an die Rekruten verteilt. Man merkte bald, daß sie die dänische Falschheit in sich hätten. Nach dem ersten Regenwetter betrachteten die Krieger mit versteinertem Lachen ihr Aeußeres und ihre sogenannte kleidsame Tracht.
Die grüngefärbten Röcke schillerten in allen unmöglichen und scheußlichen Farben! Je öfter der Himmel die militärische Ausbildung durch reichliche Regengüsse segnete, desto schauerlicher sahen die zebragestreiften »Schniepel« aus, die der militärischen Heldengestalt einen wunderbar klownartigen Anstrich gaben. Pfui Spinne! Das schmucke Aeußere hebt weit mehr das Selbstvertrauen und den Mut des Soldaten, als man glauben möchte. Und doch schlugen sich die Jäger sehr tapfer in den grauenhaft farbigen Röcken.
Mit beispielloser Anstrengung und Ausdauer rüstete sich das kleine Land zum Kampfe. Die Einberufenen, die Freiwilligen strömten nach Rendsburg. In elf Tagen war die geschlagene Armee auf neuntausendsechshundert Mann gebracht worden und rückte gut bewaffnet aus dem Tore der Festung. Ein Bundeskorps besetzte Holstein. Friedrich Wilhelm IV. hielt sein Versprechen und sandte ein Armeekorps, um dem bedrängten Bruderstamm beizustehen. Der alte Wrangel, der recht kauzhaft war und noch origineller sein wollte, wurde Oberbefehlshaber der ganzen deutschen Truppenmacht. Man hörte im Lager allerlei Aeußerungen über seine Nachahmung Blüchers, sein krauses Soldatendeutsch, seine große Vorliebe für korrekte Paradeschritte und Gewehrgriffe, seinen genialen Blick dafür, daß jeder Knopf und jeder Riemen richtig saß, aber man hatte die Ueberzeugung, daß Wrangel ein strammer Haudegen und, wenn auch kein strategischer Kopf, so doch ein recht tüchtiger Heerführer sei.
Heimreich biwakierte am Ostersabbat mit seiner Kompagnie bei dem Dorfe Groß-Rheide und hat von der Osterschlacht nur das Finale gesehen und selbst mitgemacht. Am feierlichen Auferstehungsmorgen, als im Dorfe Kropp die Osterglocken läuteten, hallten vom Nordosten her die ersten Donnerschläge der Kanonen, die das Ringen der berühmten Osterschlacht einleiteten und -läuteten. In der Stunde jagte ein dänischer Trompeter wie toll durch Schleswigs endlose Gasse, riß die Tür der altberühmten Domkirche auf, wo die Dänenbataillone sorglos dem Ostergottesdienst beiwohnten, und blies gellenden Alarm mitten in die Predigt hinein. Die Deutschen brechen gegen das Dannevirke vor! Bestürzt und kopflos rannten die Soldaten und Offiziere aus dem Gotteshause und zu den Sammelplätzen, um beklommen in den Kampf zu eilen. Den Dänen war nicht geheuer, denn sie wußten, daß sie heute nicht nur mit dem viel schwächeren Schleswig-Holsteiner, sondern mit dem deutschen Recken die Kräfte zu messen hätten. In rührend frommer Einfalt hatte ihr Führer einen Angriff während des heiligen Festes für höchst unchristlich und unmöglich gehalten und seine Soldaten ruhig zur Kirche geschickt. Die bösen Preußen waren so unchristlich, das Osterfest nicht zu respektieren, sondern just am heiligen Morgen ihre höllische Attacke zu machen.
Die Jäger, bei denen Heimreich diente, standen den ganzen Vormittag verdrossen, obgleich die herrlichste Ostersonne schien und die Schlei wie ein Brennspiegel glitzerte, hörten die Kanonade und sollten auf Wrangels Befehl mit ihrer ganzen Armee die Reserve bilden. Die Rolle als Zuschauer und Zaungäste und bestenfalls als Lückenbüßer gefiel ihnen sehr schlecht und hat der Verehrung des greisen Generalissimus den ersten Abbruch getan. Man murrte, das sei Absicht, um den Preußen alle Glorie des Tages zu verschaffen. Wrangel war eben Preuße und wollte, daß seine Preußen sich auszeichneten.
Einerlei! Sie haben ihre Sache gut gemacht. Mit jener alt- und echtpreußischen Bravour, in geschlossenen Gliedern, wie im Paradeschritt stürmten sie die feste Stellung der Dänen, die hinter den Wällen des Dannevirke standen, jagten sie im ersten Anlauf den Feind, der die preußische Osterparade mit blankem Bajonett schaudernd sah, in helle Flucht. Nachdem Verstärkungen aus Schleswig angekommen, setzte er sich noch einmal auf den Höhen am Busdorfer See fest, doch auch hier verjagten ihn die Preußen. Von dem Ostertage an hatten die Dänen ein Grauen vor den blitzenden Pickelhauben.
Heimreichs Truppe durfte endlich ausschreiten und erreichte Busdorf, wo eben der Kampf getobt hatte und die Wagen, voll von Verwundeten, noch hielten. Mehrere Jäger traten neugierig heran, gaben den Durstigen ihre Feldflasche und fragten naiv, ob es sehr weh täte und wo die Kugel sitze. Als ein armer Kerl seinen Mantel aufhob und ihnen den vom Granatsplitter aufgerissenen Leib zeigte, wurden sie blaß wie eine getünchte Wand. »O–oh! Datt is jaa to gräsig!« – »Krischan, hest em sehn?« – »Dann lever forts en Kugel för de Kopp!«
Christian wollte sich auch an dem gräßlichen Anblick gruseln, als der Hauptmann mit einem forschen Fluch die Leute von dem Wagen wegtrieb und an den Jäger Fangel, den er wie einen Offiziersaspiranten behandelte, die Worte richtete: »Der Anblick der Blessierten nimmt den Kerlen die Kourasch. Hoffentlich kommen wir noch ins Feuer. Ich freß die Hannemänner, wenn sie nicht Halt machen ... und wenn sie stehen bleiben, fressen wir sie zweimal.«
Die Hannemänner – der allgemeine Spottname für die Dänen – hatten eine wilde Retirade gemacht und sprangen noch immer über die Knicks und Wälle zwischen Busdorf und dem Pulverholz. Ueberall lagen ihre Gewehre, Mäntel, Tornister und Mützen, ja ihre Stiefel, die sie fortgeworfen hatten, um im Laufen ihr Höchstes zu leisten. Vorwärts marsch! Da blitzten die Augen der Schleswig-Holsteiner, die mit langen Schritten durch den Friedrichsberg – Schleswigs Vorstadt – marschierten und nun hoffen durften, den verhaßten Feind noch zu fassen, denn bei Gottorp und am Pulverholz wurden noch Schüsse gewechselt. Aber was tat Wrangel jetzt, nachdem seine Preußen ihre Bravour bewiesen und das berühmte Dannevirke genommen hatten, um den geschlagenen Feind zu vernichten? Er ließ zum Appell blasen und befahl eine Stunde Ruhe, da er jetzt ungestört zu Mittag essen wolle. Diese Mittagsruhe ist ihm sehr übel genommen und sehr zweideutig ausgelegt worden. Nach der Mahlzeit ließ er dem Prinzen von Noer durch einen Adjutanten sagen: Nun könne er mit seinen Schleswig-Holsteinern drankommen und bei dem Pulverholz draufgehen. Der Prinz ließ seine Jäger schleunigst vorrücken gegen die Feinde, die vom Gottorper Damm an und auf den Höhen des Tiergartens eine waldgedeckte Stellung hatten.
Plötzlich nahm der Alte, der lange durch sein Fernrohr, aber absolut nichts Neues gesehen hatte, den Befehl zurück: »Ich denke, wir hören für heute auf.«
Der Prinz remonstrierte höflich-heftig: »Exzellenz, man darf dem geschlagenen Feinde nicht Zeit lassen, sich zu ordnen, das ist die erste Hauptregel aller Strategie.«
Wrangel mit seinem recht unstrategischen, aber sehr autokratischen Kopfe erwiderte eigensinnig: »Ich sage, wir hören auf! Verstehen Sie mir!«
Die ärgerliche und, wie man behauptete, oft absichtliche Verwechslung von mir und mich imponierte nicht dem Prinzen, der stumm salutierte und seinem Roß die Sporen gab, um eine Insubordination zu begehen. Zum Glück waren seine Jäger schon in unzähmbarer Kampflust, ohne den Widerruf des ersten Befehls abzuwarten, in Plänklerketten und in gestrecktem Lauf gegen die feindliche Stellung losgestürmt. Der von Noer ließ seine Artillerie auffahren und abprotzen, ging mit seiner ganzen Infanterie vor und entschuldigte sich vor seinem Vorgesetzten damit, daß er seine Jäger habe retten müssen.
Heimreich kam ins Feuer und merkte in seinem Furor kaum, wie die Kugeln ringsum flogen und seine Kameraden fällten, er war unter den Ersten der langen Plänklerkette, lud, zielte und schoß mit größter Schnelligkeit. Auf einer Wiese am Tiergarten ging sein Hauptmann mit geschwungenem Säbel voran und durchstach einen verwundeten Dänen, der neben einer Weide lag und, wie der heimtückische Hund wähnte, ungesehen sein Gewehr abdrückte. Der Hauptmann stocherte mit dem blutigen Säbel, stieß ihn in den weichen Grund und stürzte auf das Gesicht hin. Ihm war nicht mehr zu helfen. Das war der Hauptmann Waldmann, ein biderber Baier und freiwilliger Kämpfer für Schleswig-Holsteins Recht, und der Offizier, der bei Busdorf gebetet hatte: Gott gebe, daß wir auch ins Feuer kommen! Nun war sein Wunsch erfüllt und seine Heldenlaufbahn abgeschlossen.
Heimreich drang mit den anderen in den Wald hinein, wo viele Dänen hinter den Bäumen sich versteckten, hinterrücks schossen und schnell geduckt weiter liefen. Beim Absuchen einer Schlucht rief eine Stimme hinter einer Buche im breitesten, besten Plattdeutsch: »Jung, willst du mi, en goden Dütschen, dodscheten?« Der lange, gutmütige Christian aus Hamdorf streckte, angeheimelt von der Muttersprache, seine Hand und seine Flasche aus und lachte: »Ja, datt verbiestert sich hier dörchenanner ... nimm en Sluck, Kamerad!«
Eine ganze Salve krachte, eine Hohnlache gellte, viele Rotröcke huschten davon. Der lange Christian, durch die niederträchtige Hinterlist hervorgelockt, stürzte, von vielen Kugeln durchbohrt, und sein ehrliches Gesicht war vom Pulverdampf verbrannt. »Auf die Meuchlerbande!« schrie Fangel empört. Mit Wut säuberten sie die Schlucht, ohne Pardon wurde jeder Dänenschädel zerschmettert. Einer mit Leutnantsabzeichen, der in Brombeerranken sich verfing, purzelte hin, und sofort holten drei Kolben zum Schlage aus; aber sie senkten sich, ohne niederzuschmettern. Der Gestürzte nämlich bat im korrekten Hochdeutsch: »Halt, Kamerad, schone mein junges Leben! Ich bin gezwungen mitgegangen und ein guter Schleswiger.«
Die Verwunderung, einen guten Deutschen unter den Dänen zu finden, rettete seinen Schädel. »Watt, büst du en Dütscher?«
»Ja, ja, Kamerad! Nimm meine Waffe!« Der Leutnant konnte nicht schnell genug seinen Säbel abliefern, um so eine gewisse Garantie für sein Leben zu bekommen.
Heimreich traute seinen Augen kaum und salutierte spöttisch: »Herr Leutnant Frederik von Fangel!« Es war sein Vetter, den er zuletzt bei dem Rendsburger Putsch gesehen hatte, und der halb ängstlich, halb erfreut seinen Arm umklammerte.
»Mein lieber Vetter, steh' mir bei! Das Völkerrecht, daß Gefangene unverletzlich sind, wird doch bei euch respektiert. Ich stelle mich unter deinen Schutz. Verschaffe mir ein gutes Quartier und die Erlaubnis, auf parole d'honneur frei umherzugehen!«
»Wir werden dich heil abliefern ... das Weitere bestimmt das Kommando. Hör' mal! Du sprichst wohl ein vortreffliches Plattdeutsch? Hast du einen unserer Leute hinterlistig hervorgelockt?«
Der Leutnant, dem das böse Gewissen aus dem blassen Gesicht glotzte, war zweifellos der Tückebold gewesen, aber er bestritt es natürlich mit vielen Ehr- und Eidbeteuerungen.
Die Schlacht war gewonnen. Der Däne retirierte nach Flensburg und warf seine Waffen zum Teufel. Die Jäger führten achtzehn Gefangene und einen dänischen Leutnant nach dem Schloßplatze, Frederik Fangel schmeichelte sich an seinen Vetter heran und flüsterte vertraulich: »Ich fange schon lange an, meine Ansichten zu revidieren und mein Urteil zu ändern, ich bin beinahe entschlossen, die Dänen zu verlassen und bei euch ein Patent zu nehmen. Unter uns! Meine Gefangennahme war mir recht erwünscht.«
»Ich bezweifle aber sehr, daß dieser Zuwachs uns erwünscht sein wird,« erwiderte der deutsche Vetter sehr kühl.
Frederik Fangel ist – um die unerquickliche Historie dieses Herrn vorwegzunehmen – nach Kiel gebracht worden, wo er durch sein Ehrenwort die Erlaubnis erhielt, frei in der Stadt sich zu bewegen. Da er wie ein Deutscher sich gerierte, machte es ihm keine Schwierigkeit und keine Skrupel, in Zivil die Flucht zu ergreifen.–
Wrangel fand sich mit Anstand in die Insubordination des Prinzen, die den Sieg vollendete und die Scharte bei Bau auswetzte. Er hat allerdings in der unbegreiflichsten Weise den großen Ostersieg nicht ausgenutzt, sondern geradezu, wie die Schleswig-Holsteiner bald sahen und mit Erbitterung sagten, sich bemüht, die Dänen vor den schrecklichsten Folgen der schweren Niederlage, vor der gänzlichen Vernichtung, die in seiner Hand lag, zu bewahren. Als Wrangel am Tage nach der Schlacht in Flensburg einzog, erhielt er von den Bürgern genaue Nachricht von der totalen Auflösung der feindlichen Armee, wie sie an demselben Morgen, halb bekleidet, ohne Waffen, an die fortjagenden Geschütze sich festklammernd, auf die abgehenden Schiffe springend, in wildester Panik nach Alsen zu geflohen sei. Er hätte mit seiner Kavallerie die aufgelöste Horde energisch verfolgen müssen, so wäre unbedingt der größte Teil der Dänen-Armee in seine Hände gefallen; denn der Kommandant von Sonderburg hatte in seiner Kopflosigkeit, als er die Nachricht von der verlorenen Schlacht erhielt, die Schiffbrücke zwischen Alsen und dem Festlande abbrechen lassen. Die fliehenden Dänen brauchten drei volle Tage, um in Böten überzusetzen, saßen volle drei Tage in der schönsten Falle, ohne daß der alte Preußenheld sie belästigt hätte. Nichts von alledem, was die Kinderlehre der Strategie vorschrieb, was die verdammte Soldatenschuldigkeit forderte, wurde angeordnet, nein im Gegenteil, Wrangel befahl am 26. April einen Rast- und Ruhetag für die ganze Armee – damit die Dänen der Mausefalle entschlüpfen könnten. Um wenigstens etwas – aber etwas sehr Ridiküles – zu tun, jagte der preußische Divisionär Radziwill südlich von der Flensburger Föhrde – statt im Norden derselben die Fliehenden zu fangen – nach Holms, um auf die dänischen Schiffe zu kanonieren. Genialer Blödsinn! Mit Sechspfündern auf Orlogschiffe zu feuern, ist genau so gescheit, wie mit Flitzbögen einen Walfisch zu beschießen.
Im schleswig-holsteinischen Lager murrte man, und ein häßliches Gerede ging von Mund zu Mund: man habe mit Absicht den Feind entwischen lassen. Der Alte, der im Herbst 46 bei der Inspektion des holsteinischen Bundeskontingents, das er befehligte, von Christian VIII. mit de Großkreuz des Danebrogordens dekoriert und gewaltig geehrt worden sei, wolle seinen lieben Dänen und Dekorateuren nicht allzu wehe tun.
Nein, kleinliche Motive haben den alten Haudegen niemals entehrt. Er, der ganz gewiß im schleswigschen Feldzeuge keine neuen Lorbeerkränze um sein weißes Haupt legte, soll durch geheime Instruktion aus Berlin zu seiner unbegreiflich laxen Kriegsfühlung bestimmt worden sein, so daß er einem höheren Befehl, das Bajonett mit Moderation zu gebrauchen, gehorchte. Nur im Lager wurde kritisiert. Das Land und Volk feierte mit grenzenlosem Jubel den Ostersieg, der ganz Schleswig von den Dänen säuberte, liebte und lobte in hohen Tönen die Preußenbrüder, die Helden und Helfer, und die Landesversammlung votierte dem General von Wrangel den heißen Dank des Vaterlandes, was den für Ehrungen sehr empfänglichen Graukopf gar sehr gerührt haben soll. –
Heimreich war durch Bewachung eines Gefangenen-Trupps bei der Nachhut geblieben und lag eine Nacht im Pastorate zu T. in Quartier, in Angeln, ein paar Meilen von Schleswig. Obgleich er als Pastorsohn und Kandidat sich einführte, wurde er von dem Kirchenherrn in T. unkollegialisch empfangen, und die Jungfer setzte ihm ein mäßiges Dienstboten-Essen in der Küche vor. Er ließ es unberührt und ging nach dem Kruge, um zu speisen, allwo Wirt und Gäste ihm erzählten, ihr Pastor T., obgleich deutsch geboren, spiele sich zum Aerger und Ekel der Gemeinde als königstreuen Dänen auf, habe am Ostermorgen auf der Kanzel gestanden und, als der Kanonendonner der Schlacht herüberhallte, gewaltig prophezeit und gewettert: »Hört ihr den Donner des Gerichts? Ja, das sind die Gerichte Gottes, da werden die Verräter und Aufrührer mit blutigen Schlägen gezüchtigt!« Alle deutschen Bauern hätten schweres Aergernis daran genommen und beschlossen, dem undeutschen Pastor einen Possen zu spielen. Heimreich ging in sein Quartier und sagte, als man ihm auf dem Boden ein strohgefülltes Mägdebett unverfroren anwies, sehr gleichmütig, daß er es vorziehe, in dem schönen Gastzimmer, wo der Bischof bei Visitationen sein Lager aufschlage, Quartier zu nehmen. Der Pastor betrachtete den Kriegsmann und brummte eine Grobheit. Worauf der Kandidat ruhig erwiderte: »Ich will um Ihretwillen hier unten bleiben und bei der Hand sein, wenn heute nacht die Fehme kommen und Sie wegen der Osterpredigt zur Rechenschaft ziehen sollte.«
Der Pastor T. erblaßte und leuchtete selbst dem Gaste, der im weichen Bischofsbette prächtig schlief, bis ein Spektakel ihn weckte. Der Hof wimmelte von schwarz vermummten Gestalten, die den sogenannten Rummeltöpfen dumpf grollende, greuliche Töne entlockten, auf alten Kaffekannen gräßlich bliesen, mit Schmiedehämmern auf Waschkesseln trommelten und eine schauerliche Katzenmusika dem Kirchherrn machten. Der Pastor stürzte im Nachthemde, darüber er den weiten Priestersummar geworfen hatte, bebend und blaß ins Gastzimmer und flehte, am Bischofsbett hinsinkend: »Helfen Sie mir! Die Fehme will mich umbringen! Sie haben ja Waffen.«
Auf dem Hofe entstand eine jähe Stille; dann rief eine Grabesstimme gegen das Fenster: »Hörst du, du Schalksprophet, die Donner des Gerichts? Ein furchtbares Fehmgericht wird über den Verräter des Vaterlandes, den Dänenfreund, ergehen. Die Fehme von T. hat Urteil gefällt und Recht gesprochen: Pastor T. von T., du sollst zur Sühne und Buße »Schleswig-Holstein meerumschlungen« aus vollem Halse singen, widrigenfalls du bis zum Halse dreimal in deinen Teich getaucht und als Deutscher von neuem getauft und geboren wirst. Her–r–r–aus! Oder gesungen!«
Der stattliche Kirchherr, der sich unter dem Bette verkrochen hatte, kam schlotternd hervor und stotterte: »Um m–meines W–Weibes und m–meiner K–kinder willen muß ich m–mein armes Leben erhalten ... ich gehorche der rohen Gewalt.« Er stellte sich ans Fenster und fing an zu messen, zu meckern. »Schleswig-Holstein ...« Aber das »meerumschlungen« blieb ihm im Halse stecken.
»Still, still, er singt! Haha, er singt! Lauter, lauter!« brüllte es von draußen.
Und der Pastor sang mit tremulierender Stimme das Insurgentenlied: »Schleswig-Holstein meerumschlungen, deutscher Sitte hohe Wacht.«
Der Soldat im Bischofsbett steckte sich den Zipfel des Lakens in den Mund. Draußen schrien einige: »Den letzten Vers noch mal, den letzten Vers noch mal!«
Aber der Soldat sprang ans offene Fenster und sagte lachend: »Genug des grausen Spiels! Geht heim, ihr Schöffen und Beisassen der heiligen Fehme, ihr habt scharf gerichtet! Gute Nacht!«
»Gode Nacht, gode Nacht!« grüßten die finsteren Gestalten der furchtbaren Fehme in gutem und gutmütigem Plattdeutsch.
Am Morgen drückte der Kirchherr von T. dem Soldaten die Hand, ein Herrenfrühstück mit Eiern, Schinken und Spickgans stand auf dem Tische, und neben dem Teller des Gastes lagen zwölf Bischofszigarren als Dankopfer.
Wie harmlos war dieser bäurisch derbe Unfug, der dem deutschen, pseudodänischen Pastor mitten im kerndeutschen Angeln einen grotesken Schabernack spielte, verglichen mit dem pöbelhaften Ueberfall der fanatischen Hylleruper! –
Bis zur dänischen Grenze war nur ein Weg von zehn deutschen Meilen – d. i. ein zweitägiger Soldatenmarsch – und nicht der kleinste Wall und Widerstand. Und dennoch war Nordelbingien des Preußenlobes voll, als Wrangel, der mit Moderation focht und marschierte, nach neun vollen Tagen, am 2. Mai, die jütische Grenze überschritt.
Der Jäger Fangel kam in die Gegenden, wo jeder Weg und Steg, jedes Dorf und jede Kirche, ja jeder zweite Mensch wenigstens von Angesicht ihm bekannt war. Hoch schlug ihm das Herz, daß auch er ein Helfer sei, der die teure Heimat aus der Hand des Peinigers befreie. Während eines kurzen Halts in Norderhusen ging er in das Haus des Hardesvogts. Der Onkel war äußerst reserviert, und die böse Nachricht, daß sein Frederik in Gefangenschaft geraten sei, schien den Vater mehr zu erfreuen als zu alterieren. »Dann ist er ja, Gott sei Dank, weit vom Schuß ... um den ist mir nicht bange ... aber mein Christian hat wahnsinnig gehandelt. Der alte, verständige Mensch läuft einem Abenteuer nach ... o, er wäre bei seinem enormen Fleiße unfehlbar Amtmann mit neun-, zehntausend Talern geworden, und das wirft er für eine Chimäre weg!«
Der Neffe blickte aus dem Fenster und machte ein böses Gesicht. »Was sehe ich zu meinem Schmerz? Du hast keine schleswig-holsteinische oder deutsche Fahne herausgehängt, um den Einzug der Truppen zu feiern? Das könnte üble Folgen haben ... kaufe dir schleunigst blau-weiß-rotes Tuch!«
»Nein! Nein!« Wie energisch der Hardesvogt sein konnte! »Ich habe in meinem Gewissen das Für und Wider erwogen ... nein, den Rückzug schneide ich mir nicht ab ... die Insurg–, die blau-weiß-rote Fahne hänge ich nicht hinaus; denn die Deutschen, wofern sie Herren bleiben im Land, sind anständig und werden mich nicht aus Amt und Brot jagen, aber die Dänen würden mir, wenn ich die Farbe bekenne, unbedingt den Hals umdrehen. Den letzten Ausgang weiß keiner.«
Der Mann kannte genau den Charakterunterschied der beiden Nationen und rechnete mit der Dummheit des deutschen Michel.
»Der Ausgang ist doch sonnenklar. Wir besetzen Jütland, d. i. das halbe Dänemark, und erzwingen den Frieden und die Freiheit.«
Der Hardesvogt lächelte mit den Zähnen. »Ja, mein lieber Neffe, wenn die anderen Großmächte nicht wären ... es heißt, daß Rußland und England intervenieren.«
»Diplomatische Phrasen! Arm in Arm mit Preußen fordern wir Europa in die Schranken.«
Diese optimistische Anschauung teilten die meisten im Lande im wonnigen Mai 1848.
Heimreich lag über Sonntag in Stepping, einem Dorfe dicht an der Grenze, einquartiert und erhielt zwölf Stunden Urlaub vom Hauptmann, um seine Eltern zu besuchen. Bis Hyllerup waren es gut und gern zweieinhalb Stunden, aber der Marsch wurde in zweien gemacht. Eine kleine Strecke allerdings nahm ein bekannter Bauer aus Faustrup den Insurgenten auf seinen Wagen. Der Faustruper wußte als guter Nachbar viel von den allzu dummen Hyllerupern zu erzählen.
»Um ein Haar hätten Sie Hyllerup in Schutt und Asche gefunden, und wäre es von den Aufrührern in Grund und Boden gebrannt worden ... wenn nicht Ihr Vater und andere vernünftige Leute gewesen wären.«
Fangel fragte erschrocken, und der Faustruper erzählte mit Behagen. »Das müssen ja gottlose Heiden und Unchristen sein, die Preußen, die am heiligen Ostertage eine Schlacht schlagen. Schon am Ostermontag kamen die ersten Flüchtlinge nach Hyllerup, keuchten ihre Schreckensmär und verbreiteten Grauen im Dorfe. Die hatten verteufelt schnell ihre Beine gebraucht und zwölf Meilen in achtzehn Stunden gemacht, verlangten Essen und Trinken und tischten schreckliche Geschichten auf. Ein Däne habe mit zehn Pickelhauben sich schlagen müssen, aber zuletzt seien die Räuber und Sklaven aus Rendsburg dazu gekommen, mit fünfzehn Feinden könne selbst ein Jüte nicht fertig werden. Bei Schleswig schwämmen zehntausend in ihrem Blut, die Retirade sei ein Rennen mit der Zunge lang aus dem Halse gewesen.
»Am Dienstag schleppten sich noch mehr Versprengte ins Dorf, ohne Gewehr und Tornister, oft in Holzschuhen ober barfuß, die Kommißstiefel in der Hand statt an den Füßen.«
Bei dem Dänen nämlich bildet sich durch das stete Tragen der unförmlichen Holzschuhe ein hoher, harter Knorpel aus dem Spann des Fußes, so daß die Stiefel an der Stelle schmerzhaft drücken und er lieber, als die Marter zu erdulden, barfuß läuft.
»Auch Verwundete schwankten ins Dorf und brachen hier, wo die Grenze nahe war, am Knick zusammen, konnten oder wollten nicht weiter gehen. Für sie und die Herren Offiziere wurden sechzig Wagen requiriert und sollten in einer Stunde bei der Kirche stehen. Da haben die patriotischen Bauern ein Gestöhn und Geschrei gemacht, doch es half kein Seufzen und Maulspitzen. »Ihr südjütischen Klotzköpfe und Kartoffeldänen,« hieß es, »seid jetzt wohl meerumslungene Sleswig-Holsteiner geworden ... sechzig Wagen und eine Kalesche für den Herrn Oberst, oder der Teufel soll euch holen!« Die Rede machte die Hylleruper geschmeidig, haha, sechzig Gefährte jeder Gattung hielten am Kirchhof, wurden beladen, und viele hängten sich an die Speichen. Auch der Pastor mußte eine Kriegsfuhre stellen, und Priester-Per mußte seine fetten Braunen seufzend anspannen, nahm Abschied, wie für die Ewigkeit, und hockte kummervoll auf dem Sitzbrett.
»Die Hylleruper liefen wie ein Hühnervolk, das einen Habicht am Himmel sieht, schreiend zwischen ihrem Hause und dem Kruge hin und her. Die schrecklichen Freischärler mußten gleich erscheinen. Ein Wächter saß im Kirchturm, um Auslug zu halten und Sturm zu läuten. Rolf Krale Hansen lag im Bett, wollte krank sein und das klügere Teil wählen. Aber der Danebrogmand Hans Peder beredete das dumme Volk: »Wir müssen mit dem Landsturm unser Dorf verteidigen und hinter den Knicks Aufstellung nehmen.« Die eine Hälfte der Landstürmer – die andere Hälfte war spurlos verschwunden – versammelte sich mit Steinschloßflinten, Sensen, Mistgabeln im Kruge, trank sich Kourage und fing zuletzt zu singen an voll Mut und Branntwein:
Nun geiht datt drup mit alle Mann,
Mit Büchsen und mit Forken,
Wo hier nicht fechten will und kann,
Das sünd wohl dütsche Schorken.
»Der Pastor, Ihr Vater, lief, daß ihm die weiße Halsbinde wie ein Friedensfähnlein über die Schulter flog, durchs Dorf, hörte das Gesinge und rannte in Jep Hansens Stube hinein. Bodil saß da und zupfte Charpie. »Auf mich und mein Wort hören die Tollen nicht, mich als Deutschen verhöhnen sie ... gehen Sie, Jungfer Hansen, ins Wirtshaus! Behüten Sie unser friedliches Dorf vor dem Wahnsinn, dem Untergange! In Kriegszeiten läßt der Soldat nicht mit sich spaßen, schießen die Bauern, so werden alle, welche Waffen tragen, füsiliert, und Hyllerup geht in Flammen auf.«
»Bodil war ein beherztes, entschlossenes Frauenzimmer, ließ die weiße Schürze fallen und eilte, ohne eine Antwort zu geben, wie sie ging und stand, nach dem Kruge. Ihre Versicherungen, daß kein ruhiger Bürger Schaden leiden werde, ihre Vorstellungen, nach Hause zu gehen und die Mordwaffen zu verstecken, fanden schließlich Gehör, und die allermeisten drückten sich nur allzugern, denn die gefährliche Geschichte war ihnen längst auf den Magen gefallen. Nur Hans Peder protestierte: »Haha, wollt ihr euch von einem Weibsbild kommandieren lassen?« Da stampfte Bodil auf die sandbestreute Diele: »Hans Peder, ich zeige dich als Aufwiegler bei dem Hardesvogt an, damit du eingesteckt und unschädlich wirst.« Er sah, daß er keinen Landsturm mehr habe, setzte sich und schimpfte und trank Pünsche, bis seine Gemahlin erschien und ihn am Arme von seinem Kaffepunsch fortriß.«
Die Pickelhauben kamen nach Hyllerup. Wrangel hatte bestimmt, daß die Preußen im fetten Osten des Landes gen Norden zögen, während die Schleswig-Holsteiner auf dem sandigen Mittelrücken marschieren und kraft dieses preußischen Egoismus bei den Torfbauern mit Buchweizengrütze sich mästen mußten. Dieser Armeebefehl war als absichtliche Zurücksetzung nicht geeignet, das Murren im Lager zu dämpfen und die Wrangel-Verehrung zu mehren.
Stattliche Gardesoldaten lagen in Hyllerup im Quartier und wurden von den freudig überraschten Bauern, die auf Schwedentränke und andere Scheußlichkeiten, wenigstens auf Prügel und Plünderung gefaßt waren, aufs beste bewirtet. Die Preußen waren stramme Kerle, die in strenger Disziplin standen und kein Huhn stahlen.
Heimreich ging durch die Küche ins Pfarrhaus. Die Mutter schrie auf und lag schluchzend in den Armen des Sohnes. Der alte Pastor guckte aus der Studierstube, hatte den Pfeifenkopf in der einen, den Pfeifenauskratzer in der anderen Hand, die Brille oben auf der Stirn und legte die vollen Hände auf Heimreichs Schultern. »Du hast recht getan ... wenn ich deine junge Kraft hätte, so hätte ich ebenso gehandelt.«
»Ach Gott, wie gut, mein Sutor, daß du Graukopf und alter, inkapabler Stakkel hübsch bei mir bleiben mußt. O, Heimreich, du bist in der grauenhaften Schlacht gewesen?« sagte die Mutter.
»Ja, ich bin stolz auf meine Feuertaufe.«
»O, ich bitte dich, schone dein Leben, gehe nicht mit den Ersten, um dich hervorzutun, sondern halte dich nach hinten, und suche stets einen Knick als Schutz!«
Klaus, der Agrarier, stand hinter dem Bruder. »Na, da bist du ... Donnerwetter, in der »schöinen« Uniform.« Klaus beäugte ironisch den zebragestreiften Kriegsrock. »Alle Achtung, du wirst noch Hauptmann werden. Ich habe keine Anlage zum Heldentum und bin zu Hause geblieben. Ich mußte hier bleiben um der Eltern willen ... wenn die ganze Wirtschaft nicht zugrunde gehen sollte, mußte ich auf dem Pfarrhofe ausharren und meine schlichte Pflicht tun.«
Der Pastor brummte etwas und befahl, das Allerbeste aufzutischen. Eine Sekunde lang verzerrte sich das Gesicht des ältesten Sohnes, und der Neid in ihm raunte: Ja, wenn der beste Sohn heimkehrt, wird das fetteste Kalb geschlachtet, ich habe alle Tage wie ein Knecht geschuftet.
Klaus mußte einem Aerger Luft machen und schimpfte auf den Leutnant Bosen, der den schönen Fuchs bis heute nicht bezahlt habe, und auf die Dänen, die auf der Zwangsfuhre den Pastorknecht und die beiden Braunen mitgenommen hätten. »Die anderen sind alle schon zurück ... wo bleibt nur unser Fuhrwerk mit unsren besten Pferden?«
Das war auch für den Vater eine rechte Sorge. Warum war der zuverlässige Knecht nicht zurückgekehrt?
Heimreich hatte bei aller Heimatfreude, die sein Herz durchströmte, etwas sehr Schweres auf dem Herzen, trug sich mit einer bösen Trauer- und Todesnachricht, die seine Schwester tief erschüttern, vielleicht in Krankheit stürzen werde. Hilde saß bei Tisch an seiner Seite und sah immer öfter und ernster ihn an, denn sie konnte von jeher jede Heimlichkeit in seinem Antlitz lesen. Plötzlich zupfte sie ihn am Aermel und flüsterte tonlos: »Sag es mir! Kunz Reuter ...?«
»Ach Gott, Kunz ...« Es blieb die Träne im Auge und das Wort in der Kehle ihm stecken.
»Kunz Reuter ist tot ...«
»Hilde, du weißt es schon? Es war ein schöner Heldentod ohne Leichtsinn und Pose.«
»Ich ahnte es, und es wurde mir vorhergesagt von der Somnambulen.« Die kleine Pastortochter war totenblaß, hatte aber jene steinerne Ruhe der starken Ergebung, die schon das Schwerste überwunden hat.
Alle Gabeln ruhten, nur Klaus aß mit Appetit weiter. Heimreich erzählte von dem ruhmlosen Tage und kündete den Ruhm des Toten, der beim Untergange des Freikorps die Waffe ergriff, wie ein Winkelried voranstürmte, für sein Vaterland fiel und in den Armen des einstigen Freundes verblutete. »Es waren wohl zwei Menschen in ihm, zwei Seelen in seiner Brust, aber der Kunz, der bei Bau focht und fiel, war ein herrlicher Mensch, ein Mann aus edlem Guß, ein deutscher Held, ein treuer Sohn unserer Heimat.«
Die Schwester hörte unbeweglich zu und hielt die Hände gefaltet, als wenn sie bete. Der Bruder bestellte den letzten Gruß des Sterbenden, der mit Hildes Namen auf den bläulichen Lippen verschied. Da ging ein Zittern durch ihren zarten Körper, und all die in einem Jahre zurückgepreßten Tränen strömten über ihre Wangen. Hilde ging in ihr Zimmer, um mit ihrer Erinnerung allein zu sein.
Klaus kaute weiter und meinte kreuzverständig: Es sei viel besser, daß der Mensch gestorben sei, denn nun werde die Schwester den Luftikus vergessen und hoffentlich noch eine Partie machen, denn unverheiratete Predigertöchter seien übel dran und für ihre Angehörigen eine Zukunftssorge.
Am Nachmittage gegen drei Uhr klapperte ein Fuhrwerk mit kreischenden Rädern auf dem Hofe. Wer konnte das sein? Alle gingen ans Fenster. »Himmel! Das sind ja meine Braunen!« brüllte Klaus, »aber man kennt sie nicht wieder. Vater, das ist zu schändlich ... wir müssen in Kopenhagen klagen und Ersatz verlangen, weil das Militär unser bestes Gespann verhunzt hat. Dreihundert Taler sind zum Teufel.«
Er lief hinaus, befühlte die Rippen der dürren Gäule, die in trübseliger Gestalt, aber mit freudigem Gewieher den Heimatstall begrüßten, und er schimpfte auf den Knecht: »Wie hast du meine Pferde verhunzt, du Lump! Ich ziehe es dir vom Lohne ab.«
Per wimmerte. »Härr, ick heff ken Schuld, ick heff ken Schuld! Ick bün selbst up'n Hund gekommen, wie'n Hund verprügelt worden.«
Der Pastorknecht, der auch dünn und mager geworden war, stapfte ins Haus und erzählte unter Schniefen seine grauenhaften Erlebnisse. »Herr Pastur, ich bin Haut und Knochen geworden, wie meine Pferde. Uh, uh, was habe ich durchgemacht auf dieser Fuhre und Fahrt! Die verdammten Dänen sind Menschenschinder, noch schlimmer als die Kosaken, die meinem Vater die Knute zeigten ... uh, an meinem Kreuz sitzen noch die Striemen. Die dänischen Unteroffiziere behandelten uns ärger als das liebe Vieh. Ging bei dem Mordsgalopp – es konnte ihnen in ihrer Angst nie schnell genug gehen – etwas am Wagen oder Geschirr kaput, setzte es mörderliche Hiebe. Wurden die Gäule mager und matt – und sie mußten es werden bei der Schinderei –, so setzte es wieder Prügel, obgleich man weder Heu noch Hafer bekam. Ich habe für meine paar Spezies Futter von den Unteroffizieren, die es den Bauern stahlen, kaufen müssen. Krieg ich das wieder, Herr Pastur?« – Fangel nickte. – »Ich danke schön, Sie sind ein guter, gerechter Herr. Trockenes Kommißbrot gab es zu essen, aber kaum halb genug. Ließ ich mir in einem Wirtshaus für mein Geld eine Grütze geben, brüllte der Sergeant sofort: Das Bauernvolk will immer fressen, vorwärts! Und es gab Hiebe. Schliefen wir eine Stunde neben den armen, abgehetzten Pferden, gossen sie uns die Tränkeimer über den Kopf und schimpften: Der faule Bauernlümmel will immer schnarchen. Als die Schufte mich endlich in Friederiz rot, blau und grün am ganzen Körper laufen ließen, unter der Bedingung, daß ich zwei Flaschen Branntwein ausgäbe, dankte ich meinem Gott. Aber o Not, o Unglück! Bei Kolding griffen andere Flüchtlinge mich auf und zwangen mich mit vorgehaltenem Gewehr – ich fühle noch den kalten Lauf an der Schläfe – umzukehren. Noch einmal ging es in Jütland hinein. Wieder wurde ich armer Mensch gescholten, gepufft, geprügelt. Ich glaubte, ich würde nicht Hyllerup lebendig wiedersehen.«
»Wie bist du denn schließlich dem Pack entronnen, mein armer Per? Nun hast du es mal gefühlt, was die Dänen sind ... zwei Tage sollst du ruhen,« sagte die gutmütige Pastorin.
Der Knecht machte das schweinspolitische Gesicht. »Ich bin ja nicht in Fockbeck, wo sie den Aal ertränkten, geboren, Frau Pasturin ... um nicht von der retirierenden Bande – mögen sie alle Sklaven in Rendsburg werden! – wieder aufgegriffen zu werden, machte ich einen weiten Umweg, obgleich die armen Tiere mir weh taten, über Skanderup und Vorbasse und die böse Gegend, wo der Scheuerpfahl mitten in der Stube steht und jedem Gaste zur Benutzung angeboten wird. Das war für einen an Reinlichkeit gewohnten Menschen ein Kreuz und Jammer ... ja, der Herr hat mich heimgesucht ... aber vorsichtig schlief ich stets im Heu. Nun bin ich hier – Gott sei Dank! – blau und grün, krank und verhungert und werd' mein Lebtag daran denken. O, Herr Pastur, ich bin von der dänischen Gesinnung, die Hans Peder Sjöberg mir einpredigte, gründlich kuriert. Ich speie, ich spucke auf die Dänen! Ich fühle jetzt, ich habe hier drinnen eine deutsche Ueberzeugung.«
»Na, Per, geh jetzt hin und iß und schlaf dich aus!« lächelte der Pastor.
Und sein jüngster Sohn lachte: »Jetzt heißt es aber aufgepaßt, daß Per nicht von den Preußen zu Kriegsfuhren gepreßt wird ... sonst spuckt er uns auf Dänen und Deutsche zumal, und wir hätten einen Menschen ohne irgendwelche Ueberzeugung.«
Heimreich guckte ein paarmal in den Wandspiegel. Die Figur war kriegerisch, schlank und schneidig, nur die Chamäleonsfarbe des Rockes wollte seinem Soldatenstolze nicht gefallen. Klaus schlürfte seinen Kaffe und schielte über die Tasse hinweg, beobachtete das Spiegelbild und sagte mit seiner phlegmatischen Stimme: »Willst du nicht Jep Hansen besuchen? In deiner schönen Uniform kannst du dich sehen lassen.« In den Augen saß eine Arglist, in dem Wunsche war eine Absicht.
»Ich bin sehr stolz auf meinen Soldatenrock ... ich würde stolz auf meinen Bruder sein, wenn er auch dieses Ehrenkleid trüge. Weil du dich über die Mißfarbe meines Rockes mokierst, will ich mich just im Dorfe sehen lassen und Jep Hansen begrüßen. In einem Stündchen bin ich zurück.«
Der Vater blickte erst den einen und dann den andern Sohn an. Woher und warum war diese Animosität zwischen den Brüdern, die er heute zum ersten Male bemerkte.
Bereits in einer halben Stunde war Heimreich wieder da. Die Leute auf der Gasse gafften dem Soldaten nach, Kathrin zischte: »Kiek, kiek! Der Sohn des Pastors ist bei den Insurgenten und hat das teure Dänenblut vergossen, nun haben wir klare Beweise, daß unser Pastor ein deutscher Landesverräter ist.«
Bodil saß am Fenster und legte dem Vater, dem der Sonntag lang wurde, eine Patience. Sie erbleichte bis in die Schläfen, erhob sich rasch und ging ins Nebenzimmer, wo sie beide Hände gegen die Brust preßte, als wenn ihr Herz zerspringen wolle. Sie mußte erst sich fassen und den stechenden Schmerz überwinden.
Jep begrüßte mit Handschlag den unerwarteten Gast, plierte pfiffig und machte sich ein bißchen lustig in seiner Weise. »Unser Kandidat ist ein Kriegsmann geworden und hat den Pastor an den Nagel gehängt. Wollen Sie nun beim Kalbsfell bleiben, bis Sie Oberst sind? Ein bißchen lebensgefährlich ist ja das Metier ... bringt es auch recht was ein? Ich wollte nicht für zehn Kurantschilling meine Haut zu Markt tragen. Ich frage ja wie ein Bauer.«
»Ja, die Verpflegung ist reichlich und die Löhnung gut, und Schleswig-Holstein ein Land, das sich nicht lumpen läßt.«
»Na, bei den Frauensleuten werden Sie mit dem zweierlei Tuch und dem wunderschönen Rock jetzt Ihr Glück machen.« War ein böser Sarkasmus.
Heimreich runzelte die Stirn und kehrte mit einem Ruck den Kopf. Bodil trat über die Schwelle, groß, stattlich und schön wie je; aber ihre Haltung hatte etwas Steifes, ja Starres, ihr Kopf saß wie im Nacken fest, das Gesicht war weiß, die Lippen schmal, die Augen angstvoll aufgerissen, wie eines Menschen, der vor dem Hinabstürzen in einen Abgrund stiert. Sie reichte dem Besucher die Hand nicht, sondern blieb drei Schritte vor ihm stehen, und in Gegenwart des Vaters brach die wehe, zornige, rücksichtslose, hoffnungslose Verzweiflung aus ihrem Munde. »Heimreich, das hast du mir getan! In diesem ruchlosen Rock der Feinde meines Landes kommst du zu mir, um mein Weh um des Vaterlandes Niederlage zu verhöhnen, um meine Liebe zu brechen, mein Herz mit Füßen zu treten. Du trägst die Waffe der Aufrührer, und Dänenblut klebt an deinen Fingern. O, ich liebe dich, aber jetzt graut mir vor dir! Nun hast du alle Brücken abgebrochen ... den ich am meisten geliebt, der hat mir am wehesten und grausamsten getan. Wie konnte Liebe so Liebloses tun?«
»Bodil, ich mußte um des Gewissens willen mein Vaterland lieben, für meine Heimat, die ein erstes, ewiges Geburtsrecht an mir hat, mein Leben und, was mehr ist, meine Liebe einsetzen.«
»Nein, du mußtest nicht bei den Aufrührern Soldat sein, du konntest passiv, außerhalb des Streites, ein friedlicher Bürger, wie Hunderttausende im Lande, bleiben.«
»Ich hatte das wehrhafte Alter ... Bodil gedenke meiner nicht im Zorn, wenn ich falle ... ich behalte dich immer lieb.«
»Heimreich, ich müßte dich um meines Gewissens willen hassen, und ich muß dich lieben ... aber ... o ... ich kann dich nicht ohne Grauen und Abscheu in dem Rock sehen ... geh, geh!«
Sie schlug die Hände vors Antlitz und stürzte ins Schlafgemach, wo sie sich aufs Bett hinwarf und in Krampf und Qual wimmerte. Nun war alles aus, ihr Leben, ihre Liebe, ihre Hoffnung vernichtet.
Traurig, trostlos, ernst und ergeben, ohne wider sein Schicksal zu rasen, ging er über den Friedhof heim. Er hatte sich als Opfer dem Vaterlande gebracht, das stärkte seine Seele in dieser Not. Jetzt war das letzte Band zerrissen, der Bruch vollendet, kein Weg und Steg zu ihrem Herzen. Still und ein wenig starr setzte er sich zu Hause an den Tisch und nahm die Hand der Mutter. Die Mutterliebe, die bis zum Tode hält, war ihm geblieben. Die Mutter, die keine besonderen Sympathien für die Südjütin hegte, hatte Bodils Lob gesungen, wie tapfer sie den Eltern in der bösen Nacht beigestanden. Er hatte im stillen Sinn gehofft, daß sie ihre radikalen Anschauungen gemäßigt habe, daß sie allmählich ein- und vom fanatischen Dänentum ablenken und abrücken und eine jener parteilosen, unpolitischen Frauen, die an der Grenze zahlreich sind, werden würde. Jetzt war das aus und abgetan, der eine Traum seines Herzens tot und begraben. Aber das andere hohe Ideal, ein Kämpfer für seines Volkes Recht und Freiheit zu sein, sollte nun seine Seele ganz erfüllen. Für die Heimat wollte er leben und, wenn es sein mußte, sterben, und das Sterben schien ihm viel leichter und beinahe begehrenswerter zu sein. –
Heimreich betrat das Zimmer seiner Schwester, die hastig ein Päckchen Briefe – die Reliquien von Kunz, deren Durchsicht ihr wie eine Totenmesse gewesen war – in der Kommode verschloß, und mit einem melancholischen Lächeln meinte er: »Nun können wir beide dasselbe Seufzerlied singen und Trübsal blasen.«
»Nein, dir wird noch die rote Rose einst voll erblühen, mein Bruder, hoffe wider Hoffnung! Aber mir wird nur die weiße sprossen, wie Frau Lindenhahn mir weissagte.«
»Ich will dich nicht mit Hoffnung trösten und täuschen, meine Hilde ... denn der Tod ist der unwiderrufliche Schluß.«
»Ach, ich bin nicht traurig. Alle Menschenschwächen und -schlacken, was fehler- und flatterhaft, unfertig und unschön an ihm war, ist durch seinen Tod gesühnt. Der mannhafte, hochgemute Kunz, der den Heldentod starb, der fleckenlose, vollkommene Held webt und lebt in meinem Gedächtnis, den kann und darf ich jetzt achten und ehren und inniglich lieben, der Lebende gehörte mir nicht, dem Toten darf ich Liebe und Treue halten.« –
Der Urlaub war zu Ende. Heimreich nahm einen langen Abschied, der seiner Mutter bitterschwer wurde. Sie beschwor ihn, sich in der Schlacht nicht zu exponieren, sondern an seine arme Mutter und immer an die Knicks zu denken, die ja Gottlob im ganzen Lande seien. –
Am Abend ging Klaus nach Hylleruphof, um zu sehen, was passiert und ob Bodil sehr traurig sei. Er sah zwar blitzwenig, denn die Jungfer Hansen ließen keinen in sich hineinschauen, aber es freute ihn mächtig, daß sie höflich und freundlich wie immer war. Der alte Jep klagte über seinen »Reißmatismus« und über die anmarschierenden Kriegssteuern.
Während dessen brachte ein Gespann des Pastorats den Soldaten eine Meile auf den Weg nach Stepping. Bei seiner Ankunft im Quartier wurde dem Jäger eine Überraschung, der Hauptmann teilte ihm seine Ernennung zum Unteroffizier mit. Seine Bescheidenheit hielt das weniger für eine Auszeichnung als für einen Notbehelf, sintemal der Mangel an Unteroffizieren groß war.
Mit Hurra wurde die dänische Grenze überschritten. Der Marsch ging langsam, wie die österreichische Landwehr, und immer weiter ins schwarze Jütland hinein. Die Festung Friedericia überließ der Däne dem Feind ohne Schwertstreich. Wrangel hatte die Hälfte des Königreichs in seiner Gewalt und auf dem Festlande keinen Gegner. Aber – o Schmach – die Orlogschiffe des Duodezreiches blockierten die deutsche Ostküste, kaperten die Schiffe und legten den Handel der Städte lahm. Ohnmächtig war das große Germanien gegen die Raubzüge der elenden Wasserratte. Um sich für den Schaden schadlos zu halten, wurde eine Kontribution von zwei Millionen Speziestaler über Jütland verhängt, was den Dänen einen heilsamen Schrecken einjagte. Diese Bahn, den Dänenbeutel zu schröpfen, mußte mit goldener Rücksichtslosigkeit weiter beschritten werden, das war der Weg, um den kleinen Gernegroß klein zu kriegen. Aber dreimal wehe! Preußens Weisheit und Wrangels Strategie gingen andere und unbegreifliche Wege. Wie ein Blitz schlug der Befehl des Oberkommandos ins Lager ein, der wie ein Tollhausstück verblüffende Befehl zum Rückzuge! Noch ehe die Kontribution eingetrieben war, verließ Wrangel mit seinen dreißigtausend Mann, denen die Dänen keine zwanzigtausend entgegenstellen konnten, Jütland in fluchtähnlicher Eile, ja, er ließ sogar Nordschleswig im Stich und in Feindeshänden. Nicht verlegen um Ausreden, behauptete der General, der Rücken seiner Armee sei von Alsen her bedroht und seine Stellung ohne Verstärkungen unhaltbar gewesen. Die Schleswig-Holsteiner waren aufs höchste entsetzt, und durch ihre Reihen ging auf dieser Retirade nach dem Siege die galgenhumoristische Hohnrede: »Die Dänen könnten nichts Effektvolleres tun, als eine Division Lacher uns nachsenden, die, statt anzugreifen, nur die Zunge auszustrecken und uns auszulachen hätten.« Man wußte damals noch nicht, daß Rußland und England ihre Einschüchterungsversuche in Berlin anfingen. – –
Wrangel hätte ohne Zweifel durch geschickte Operationen die ihm kühn nachziehende, jütische Armee in Nordschleswig abschneiden können, aber er tat alles, um das nicht zu tun. Ja, als der Prinz von Noer ungestüm in Jütland hineinmarschieren wollte, wurden ihm die Hände gebunden durch den preußisch schroffen Befehl der alten Exzellenz: »Unter Androhung kriegsgerichtlicher Behandlung sei darauf zu halten, daß keine Kugel über die Grenze gefeuert werde.« Die Pessimisten sahen die erbärmliche Misere dieser Kriegsführung und kritisierten Preußens Diplomatie. Heimreich hielt den Kopf hoch und hat diese Kritiker oft durch die trockene Bemerkung kritisiert: »Wie es unter tausend Reitenden kaum einen wahren Reiter gibt, so wird man unter tausend Offizieren noch nicht einen Feldherrn finden, und dennoch glaubt jeder, der Sporen trägt, ein großer Kavallerist zu sein, und jeder einfältige Soldat fühlt sich berufen, strategische Maßregeln zu be- und verurteilen.«
Hyllerup hatte keine Einquartierung, alles ging im friedlichen, alten Geleise.
Hilde Fangel trieb einen heimlichen Gottesdienst mit den paar Andenken und Briefen, die sie von Reuter hatte. Jenes sanfte Lächeln, das immer ihre Schönheit gewesen war, kehrte wieder, eine freundliche Güte lag auf ihrem Antlitz. Sie liebte es, auf den Friedhof zu wandern und mit einigen Blumen das verfallene Grab eines Vergessenen zu schmücken. Für jeden Hilfeheischenden im Dorfe war sie zu sprechen. Als Hilde hörte, daß es wieder bei dem Lehrer drunter und drüber gehe, wollte sie zuerst eine Magd senden, denn die kranke Frau, die Reuters Tod vorhergesehen und das zweite Gesicht hatte, war ihr unheimlich. Dennoch überwand ihr Mitleid das Grauen. Tapfer betrat sie die Lehrerwohnung, die in dem unsagbaren Zustande sich befand. Frau Lindenhahn saß am Fenster und machte aus billigen Glasperlen Halsketten für die Kleinen, die sie aber an ihrem Halse zur Probe trug. Dabei hatte das Büblein mit den großen Blauaugen sich arg angefeuchtet, und die Mutter mit dem Perlenschmuck ließ ihn ruhig im Tümpel sitzen.
Das war die erste Augiasarbeit, dann wurde das ganze Haus in Angriff genommen. Nach zwei Stunden voll Fleiß und Schweiß setzte die Pastortochter eine Suppe aufs Feuer, wobei die Mäuse, die hier ungestörtes Gastrecht hatten, zutraulich ihr um die Füße herum liefen.
Einhundertfünfzig Holzschuhe klapperten plötzlich, die Schule war aus. Lindenhahn erschien, herzte seinen Buben und atmete mit Behagen den Duft der Suppe.
Dem jungen Mädchen hatte sich ein Gedanke aufgedrängt: Ob nicht der weiße Nachtspuk, der vor vier Wochen zuletzt gesehen sein sollte, zu der unheimlichen Krankheit der Lehrerfrau in irgendwelcher Beziehung stünde? Sie mußte eine Frage stellen: »Sagen Sie mal, Herr Lindenhahn, hat Ihre Frau, wenn die Anfälle kommen, vielleicht eine Neigung zum Nachtwandeln?«
Er horchte auf, schüttelte heftig den Kopf und antwortete bestimmt: »Nein, nein, meine Frau steht ganz gewiß nicht des Nachts auf ... das ist ausgeschlossen ... ich liege ja an ihrer Seite und merke jede Bewegung, die sie macht. Nein, nein!«
Hilde ließ den phantastischen Argwohn fahren. Auf dem Heimwege begegnete sie dem jungen Thorö, der zu Pferde sah und in großer Hast war. »Um Gottes willen, was ist Ihnen passiert?«
Ohne anzuhalten, kehrte er sich im Sattel und rief: »Ich muß den Doktor holen ... mein Vater ist plötzlich hingestürzt und ohne Besinnung, wir fürchten, der Schlag ...« Die weiteren Worte verschlang der Wind.
In Thorös Hof war die Krankheit eingekehrt und stand der Tod vor der Tür. Der Arzt aus Norderhusen kam und hatte kein Kraut gegen Altersschwäche und Apoplexie. Das gab eine große Leiche in Hyllerup. Der Pastor hielt eine treffliche Leichenrede in der Kirche. Danach ging das ganze Gefolge im gravitätischen Gänsemarsch um den Altar herum, legte ein kleineres, in Papier gewickeltes Geldstück auf das Pult des Küsters und ein größeres auf den Altar des Pastors. Also ist es Sitte und Gebühr in Nordschleswig, nach dem Sprichwort dazulande: Es regnet auf den Pastor und tröpfelt auf den Küster. Als guter Haushalter hat Pastor Fangel das Opfer gezählt und gebucht und mit Gleichmut konstatiert, daß im Papier der Dänenpatrioten viele Kupferlinge sich befanden und das Opfer bei einer großen Leiche früher größer gewesen sei.
Der Küster hatte eine ähnliche Erfahrung gemacht. Als offener, aufrechter Mann ging Lauritzen bei der ersten Begegnung auf Rolf Krake zu, drückte das Papierchen mit dem Opfer ihm in die Hand und sagte freundlich: »Du hast es nötiger als ich, zwei Sechslinge geben einen kleinen Schwarzen, wenn man nach Kaffepunsch-Kurant rechnet.«
Eskild trauerte sehr um seinen Vater und rührte seine Geige nicht an. Um ihn über den ersten Schmerz hinwegzubringen, luden die dankbaren Pastorleute ihn zu fleißigen Feierabendbesuchen ein. Das waren tröstliche Stunden. Als er erfuhr, daß jener unleidliche Student aus Kiel bei Bau gefallen sei, freute er sich, nicht weil er irgend einem Menschen den Tod gegönnt hätte, sondern um Hildes willen, die jetzt die bittere Erfahrung verschmerzen und den Bruder Leichtsinn vergessen werde. Er kalkulierte kreuzverständig, daß die Toten tot und abgetan sind und ein Begrabener kein Nebenbuhler mehr ist, daß alles, auch die unglücklichste Liebe, ein Ende habe und der Augenblick für einen Antrag wahrscheinlich günstig und gut gewählt sei, bevor ein anderer Rival, ein neuer Freund des Bruders Heimreich, ein verführerischer Kriegsmann, auf der Bildfläche erscheine. Obgleich der Bauernsohn merkte und meinte, daß Hilde ihn gern in ihrer Nähe habe und ein unbedingtes Vertrauen ihm schenke, fand er doch nicht den Mut, die Frage zu stellen. Oft war ein Anlauf gemacht worden, jedoch ihre arglose, naive Ermunterung: »Reden Sie frischweg, nur nicht schüchtern!« hatte ihn völlig eingeschüchtert und das Geständnis in seine Brust zurückgetrieben. Da sah er ein, daß der schriftliche Weg für Leute seines Schlages der beste Weg sei.
Eskild konnte seine Gedanken sehr gut zu Papier bringen und schrieb aufs schönste nieder, was er sagen wollte und nicht sagen konnte. Seine große Faust schrieb nämlich wie ein Kalligraph.
In tausend Ängsten harrte er der Antwort.
Er hatte korrekt bei dem Vater um die Hand der Tochter angehalten und zum Schluß ausdrücklich erklärt: Wenn der Bauernstand der Pastortochter nicht zusage, werde er den Hof verkaufen und einen anderen Beruf ergreifen.
Der Pastor las nachdenklich den Brief durch und räusperte sich. Eskild ist lang erprobt und treu befunden, da würde Hilde auf Händen getragen werden.
Er rief seine Tochter, legte den Brief auf den Tisch und sagte ernst: »Ein sehr vertrauenswürdiger und achtbarer Mann hat auf das artigste um dich angehalten.«
Ihre Wangen erbleichten. »Es ist Eskild! Was soll ich antworten?«
»Spricht dein Gefühl weder ja noch nein, so überlege es dir ... ich werde sehr, sehr gern meine Einwilligung geben.«
Ein Zittern lief über ihren zarten Körper, aber ihre Stimme war sehr fest. »Da bedarf es keiner Überlegung ... ich muß den wackeren Freund, den besten und treuesten Mann, aufs schmerzlichste betrüben ... o das schmerzt und schneidet mir ins Herz.« Sie weinte die Tränen des Mitleidens, dem des anderen Schmerz zur eigenen Qual wird.
»Warum kannst du nicht ...?«
»Weil ich einem Manne, wie Thorö, ein ganzes, volles, ungeteiltes Herz entgegenbringen muß und ihm nicht bieten kann, weil in mir ein Heiligtum ist, darin ich das Gedächtnis des Gefallenen feiere.«
Der Vater äußerte mit keinem Wort seine Betrübnis, sondern sagte mild: »Ich werde ihm mit aller Schonung die Nichtannahme seines Antrags mitteilen.«
»Nein, ich möchte es ihm schreiben ... wenn es sich schickt.«
Dieser energische Wunsch wunderte den Vater ein wenig, aber er nickte. »Wie du willst, mein Kind.«
Hilde setzte sich hin und schrieb. Solange noch Reuters Bild in ihre Gedanken sich dränge, dürfe sie keinem, am allerwenigsten einem Thorö, der die höchste Liebe verdiene, die Hand reichen. Sie glaube zwar, daß er ein rechtes Stück ihres Herzens besitze, solange er aber nicht allein darin herrsche, dürfe sie ihm nicht, noch nicht gehören.
Der arme Eskild empfing den Brief und war wie auf den Kopf geschlagen, da er diesen Abschlag nicht erwartet hatte. Er schloß sich drei Tage lang in seiner Kammer ein und berührte das Essen kaum. Die Mägde schüttelten den Kopf und sagten, daß ihr Herr wunderlich geworden sei und nach seinem Vater, dem Querkopf, zu arten scheine. Zuletzt hörten sie ihn am dritten Abend auf seiner Geige eine so ergreifende Weise spielen, daß die Köchin mit der Schürze sich die Augen wischte und zu dem Vorknecht sagte: »Da mutt man wenen, ob man will oder nich.«
Der verständige Eskild war das Opfer eines gewaltigen Irrtums – daß die Toten keine Konkurrenz machen und keine Rivalen sind – geworden. Nicht der lebende, sondern gerade der tote Reuter war sein allerschlimmster Nebenbuhler. Der bei Bau Gefallene stand nicht mehr als wortbrüchiger Klägling, sondern in verklärter Heldengestalt vor Hildes Augen; kraft einer Selbsttäuschung hatte sie den idealisierten, herrlichen Mann geliebt, dem sie Gedächtnisgottesdienste feierte, den sie mit Glorienschein umwob.
Eskild war kopfhängerisch, verzweifelt und einer apathischen Melancholie verfallen. Gerade die Phlegmatiker, wenn sie von einem Schmerze bis in die Tiefe aufgewühlt werden, fühlen das wildeste Weh und fallen am tiefsten in Trübsinn. Der Verständige bedachte nicht, daß über jedes, jedes Grab Gras wächst, jeder Tote vergessen und jeder Schmerz verwunden wird. Nur an eine Stelle im Briefe, der sein Todesurteil gewesen, an die Stelle: »Ich darf Ihnen nicht, noch nicht gehören,« klammerte er sich, wie ein Ertrinkender. War das »Noch nicht« ein kleiner, ferner Hoffnungsschimmer?
Die Köchin, die sich ein Wort erlauben durfte, sagte zu dem Herrn: »Se ward'n uns noch ganz katholsch in'n Kopp ... schämen Se sich, sitten up so'n schöinen Hoff.«
Da raffte Thorö sich auf. Man sah ihn mehrfach nach Norderhusen reiten. Plötzlich hieß es, und das ganze Dorf regte sich darüber auf, daß Eskild seinen Hof für dreißigtausend Taler verkauft habe. Eine Woche nach dem Verkauf, als er seine Siebensachen gepackt hatte, ging er entschlossen ins Pastorat und klopfte schüchtern an. Hilde war allein in der Stube.
Feucht wurde ihr Blick, als sie ihm in die ehrlichen Augen schaute und er stotterte: »D–darf ich Ihnen A–dieu sagen?«
»Wohin gehen Sie denn?«
»Ich ... ich gehe nach Friederiz ... um mich als Rekrut zu stellen.«
Das junge Mädchen wurde sehr aufgeregt. »Mein Gott! Sie haben mir doch gesagt, daß Sie sich freigelost haben ... Sie sind ja gar nicht gestellungspflichtig ... die entsetzliche Einberufungsorder muß ein Irrtum sein.«
»Nein, ich bin nicht einberufen worden, ich will als freiwilliger Rekrut eintreten.« Es kam recht kleinlaut aus ihm heraus.
Hilde war einen Augenblick starr und stumm, dann griff sie nach seinem Arm. »Eskild, was wollen Sie tun! Warum wollen sie als Freiwilliger bei den Dänen dienen? Warum?«
»Weil ich gern die Partei des Schwächeren ergreife, weil ich immer die Pflicht fühle, den Geschlagenen und Geprügelten beizustehen, weil das große Preußen über das kleine Dänemark hergefallen ist und die Dänen jetzt in Not sind, darum drängt es mich, ihnen zu helfen.«
»O, das ist nicht der wahre und eigentliche Grund ... warum wollen Sie mutwillig in Schlacht und Gefahr?«
Nun schimmerte es in seinen Augen, die Worte schossen ihm aus dem Munde. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, das Leben ist mir unerträglich ... mit Schande will ich mich nicht davon machen, aber es wäre schön, mit Ehren gestorben, tot und still zu sein und Ruhe zu haben.«
Entsetzt hielt sie seinen Arm mit beiden Händen. »Eskild, Eskild! Sie wollen freiwillig den Tod suchen in der Schlacht! Sie wollen mich totunglücklich machen, Sie wollen Ihr Blut und den fein ausgeklügelten Selbstmord auf meine Seele laden! Sie wollen mich zur Mörderin machen! Das können Sie mir tun?«
Er preßte seine Fäuste in die Augenhöhlen, um nicht laut zu heulen. »Ich habe nicht die Folgen bedacht, nein, ich wäre ein Schurke, wenn ich Sie betrübte, und verspreche Ihnen, daß ich nicht Soldat werde.«
Er mußte ihr mit Handschlag geloben, daß er weder in direkter, noch indirekter Weise sein Leben wegwerfen werde. Sie lächelte ihm wie ein Engel zu. »Eskild, ich weiß einen Weg zur Arbeit und zum Glück, ich weiß einen Grund, auf dem Sie sich eine neue und schöne Zukunft aufbauen. Sie sind ein geborener Meister im Geigenspiel, das nicht mehr eine Liebhaberei, sondern Ihre Lebensaufgabe sein soll. Nur die Technik und methodische Ausbildung fehlt Ihnen. Gehen Sie nach Kopenhagen oder Stockholm, um einem großen Künstler auf die Finger zu sehen und fleißig zu lernen. Die Geige ist die Königin unter allen Instrumenten. Sie werden ein großer Geiger und ein echter Künstler werden.«
Getröstet hob er das Haupt, denn er ahnte die in ihm schlummernde Kraft und Zukunft.
Noch eine süße Weissagung gab sie ihm mit auf den Weg. »Ich glaube, daß ich viel, sehr viel Sehnsucht nach Ihnen haben werde, aber ich hoffe auf ein Wiedersehen.«
Eskild ging als ein wehevoller, jedoch willensstarker Mann und schaute nach dem Hause zurück. Sie winkte mit dem Taschentuch, darin sie ihre Tränen weinte.
Nur in den hellen Stunden, wenn der Weg eben und das Wetter freundlich war, sah er in weiter Ferne einen kleinen Stern blinken.
Lehrjahre sind immer Leidjahre; man lachte der großen Tatze des Bauern, der ein Künstler werden wollte. Der auf dem Dorfe als Meister gepriesen wurde, fing als letzter Lehrling an und hat mit der ganzen Bauern-Beharrlichleit um die Meisterschaft gerungen.