Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In der Hylleruper Kirche war auf Befehl des Bischofs ein Trauergottesdienst für den hochseligen König gehalten worden, Pastor Fangel hatte alle lobenswerten Eigenschaften Christians des Achten hervorgehoben, so daß die Bauern in der Kirche keinen Haken fanden. Er hatte für den neuen Landesherrn vorschriftsmäßig und aus eigenem Herzen vorsichtig gebetet: »Der allmächtige Gott gebe Friedrich VII. ein festes und weises Herz und aufrichtige Diener, die durch Gerechtigkeit und Milde alle Gegensätze versöhnen und jedem Teile seiner Monarchie sein volles, gutes Recht gewährleisten.«
Das konnte vielleicht ein Strick werden, wurde von Unbekannt nach Norderhusen berichtet und vom Amtmann benutzt, um einen Verweis zu erteilen. Wenn der Pastor Fangel in seinem Gebet die Unterstellung mache, daß der König noch nicht ein festes und weises Herz habe, sondern erst bekommen müsse, so sei das eine grobe Ungehörigkeit, ja implicite ein crimen laesae majestatis, denn Seine Majestät habe seit vierzig Jahren ein weises und festes Herz besessen und bei jeder Gelegenheit bewiesen. Weiter! Da in der Predigt gesagt werde, daß jedem Landesteile sein gutes Recht gewährt werden solle, so folge daraus mit logischer Notwendigkeit, daß irgendeinem Landesteile bisher sein volles Recht vorenthalten worden sei. Der Pastor Fangel habe die Frage, welcher Landesteil und welches Recht gemeint sei, sofort zu beantworten.
»Wir werden unser gutes Amt und Brot verlieren,« lamentierte Frau Gertrud erschrocken und gab den etwas jesuitischen Rat: »Mein Sutor, gib die prompte Antwort: Ich habe dabei an das Königreich gedacht, das schon lange eine freiere Verfassung und größere Volksrechte begehrt.« Pastor Fangel schrieb, was seine gescheite Frau ihm sagte, setzte aber um der Wahrheit willen hinzu: »Ich habe an Dänemark, aber auch an Schleswig-Holstein gedacht, das Preß- und Redefreiheit, beschließende Stimme der Landstände und Bestätigung der Landesrechte von Sr. Majestät erbittet.«
Herr d'EIsfleth las die Antwort des Pastors, der so brav für beide Landesteile betete, konnte daraus keinen Strick drehen und fluchte gotteslästerlich. Sein Auge betrachtete lauernd jeden Buchstaben, jedes Tüttelchen, bohrte sich an einer Stelle fest und begann zu leuchten. Schleswig-Holstein war mit zwei Bindestrichen geschrieben! Dieses äußere Symbol des Up ewig ungedelt war verboten und wirkte auf ein Dänengemüt, wie das rote Tuch des Torrero auf den Stier. Die offizielle Schreibweise war und sollte in allen Eingaben sein: Schleswig und Holstein. Ah, aus dem lästerlichen Bindestrich lasse sich einmal ein Haken biegen, haha, eine Angel für den Fangel, um den Pastor aus seinem Amt zu heben. Der Amtmann legte liebevoll das Schriftstück zu den wichtigen Personalakten.
Christian VIII. schlief in der Roeskilder Domgruft. Auch ein toter König ist bald vergessen, kann keinen absetzen und keinen befördern, kann keine Ämter und keine Orden vergeben und gilt nichts mehr. Nur die, welche schmerzlich erfahren, daß ein neuer Pharao, der von ihren Verdiensten ums Vaterland nichts weiß noch wissen will, den Thron bestiegen hat, weinen dem Hochseligen noch lange heiße und heftige Tränen nach. In Hyllerup sprach kein Mensch mehr von dem Toten, nur der Totengräber und Glöckner dachte alle Tage, aber mit viel Ärger an König Christian, der ihm noch im Tode viele unnütze Arbeit machte, denn er mußte alle Mittage eine Stunde lang die großen Glocken läuten, was viel Mühe und wenig Lohn brachte. In allen Kirchen des Landes wurde monatelang geläutet, aber die Glocken konnten das Gedächtnis des Entschlafenen nicht wachhalten. Alle Untertanen dachten nur an den neuen König, der jedem Nutzen und der Allgemeinheit bessere Zeit bescheren sollte. Die Dänen hofften, daß Friedrich VII., der mit den liberalen Ideen, die sein Vater haßte, liebäugelte, eine freie Verfassung geben und Schleswig inkorporieren werde. Man wußte ja, daß der neue Herrscher ein Schwächling sei. Die Ultras in der Hauptstadt machten eine kleine, unblutige Revolution. Die Agitatoren in Nordschleswig wurden jetzt ganz zügellos, ja brutal, weil kein Hemmschuh und keine starke Hand mehr war, und hetzten gegen alles, was deutsch war und deutsch sprach. Leute, wie Rolf Krake Hansen und Hans Peder Sjöberg, vergifteten den von Natur gutmütigen und gegen seine Pastoren ehrerbietigen Nordschleswiger.
Fangel merkte mit Betrübnis, wie der böse Geist in seiner Gemeinde wucherte. Er hatte allerdings nur ein mitleidiges Lächeln, wenn die Fanatiker auf der Straße ostentativ ihn nicht grüßten. Die Tagelöhner und Knechte, denen man mit dem Schlagwort von der Freiheit und Gleichheit die blöden Köpfe verdrehte, grüßten zwar, aber mürrisch und gezwungen, und sogar manche Bauern rückten nur an der Mütze herum, ohne sie herunterzuholen. Kleine Zeichen der Zeit!
Jep Hansen war der Alte geblieben, wenn auch der Verkehr zwischen Hof und Pastorat einschlief. Fangels hörten zu ihrem Schmerze, daß Bodil den nationalen Versammlungen beiwohnte und, mit dem Grundtvig-Geiste gesalbt, für die südjütische Sache arbeitete. Patriotische Damen sammelten Gelder, um dem König eine stattliche Orlogfregatte zu schenken, und Bodil ging im Dorfe in alle dänischen Häuser mit der Sammelbüchse, die am Schluß trotz alles Patriotismus viele Kupferschillinge enthielt. Dennoch ist aus Hyllerup durch ihre Hand ein großer Beitrag für die Fregatte in Kopenhagen eingegangen – weil sie unter zwei Augen ihre ganze Eier- und Geflügelkasse hineingeschüttet hatte.
Jep nahm die Mütze ab, als er dem Pastor unter dem Kirchhof begegnete, und sagte mit verkniffenen Augen: »Hier sind fünf Taler für die Armen, Herr Pastor, ich muß nämlich Gott danken, ich habe viel Glück gehabt ... eben rechtzeitig habe ich meine sechzig Ochsen nach Hamburg gebracht und gut verkauft. Überall, wo wir auf der Rückreise durchpassierten, waren die Leute wild geworden, nichts hörte man von früh bis spät als Schleswig-Holstein meerumschlungen, na, meine Ohren kriegen davon keinen Ohrenzwang ... aber ich danke Gott, daß ich meine Ochsen in Hamburg und meine Geldkatze in Hyllerup habe. Ich war meines Lebens nicht sicher, oft schrien sie hinter mir: Du verdammter Dän! Ich fürchtete die ganze Zeit, sie würden mich totschlagen und mein Geld rauben. Das gibt Mord und Aufruhr, so wahr ich Jep heiße!«
»Der Herr behüte unser Land!« sagte der Pastor. Was war geschehen?
Was die Zeitung am Abend berichtete, wirkte wie ein Donnerschlag. Gatte, Frau und Tochter saßen um den Tisch herum, preßten die Hände zusammen und sahen mit erschrockenen Augen sich an. Eine Revolte in Kopenhagen und die Eiderdänen Minister!
Frau Gertrud weinte. »Ich hatte in der Nacht scheußliche Träume, ging immerfort durch Wasser ... o, sie werden uns verjagen.«
»Nein, nein, wenn der deutsche Bund energisch auftritt, wird Dänemark Vernunft annehmen ... das große Deutschland kann es nicht dulden, daß Schleswig dänisch wird.«
Die Frau fand ihren Optimismus wieder. »Ja, der Bund wird Schleswig beschirmen und den Augustenburger zum Herzog machen.«
»Sag' das nicht laut, denn es ist Hochverrat, solange Friedrich VII. lebt!«
Es folgten im Pastorat bange Tage voll Sorge und Unruhe. Am dritten Tage blieb auch noch, um die Spannung unerträglich zu machen, der Altonaer Merkur aus. Warum? Der Pastor stellte die Pfeife fort und ging bei jedem Geräusch ans Fenster. Horch, Pferdegalopp! Eskild war der rasche, kotbespritzte Reiter. Im Regenmantel und in langen Stiefeln mit angeschnallten Sporen trat er sehr ernst ins Zimmer und verriet eine Aufregung, die man nie an ihm gesehen.
»Wollte Ihnen das Schreckliche mitteilen, damit Sie vorbereitet sind. Es kommt zum Kriege! In Kiel haben sie Revolution gemacht und sich bewaffnet und den Krieg angefangen. Gräßliche Dinge wurden in Norderhusen erzählt ... Herr Pastor! Die Sklaven im Rendsburger Zuchthaus sollen alle losgelassen sein, um in Nordschleswig alle dänisch Gesinnten zu erschlagen, unsre Häuser und Höfe zu plündern. Gott helf uns, Gott helf uns! Die Leute meinten, man müßte Sturm läuten, einen Landsturm bewaffnen, um die Räuber zu empfangen. Herr Pastor, verstecken Sie schnell Geld, Silbersachen und die Kirchenbücher!«
Der Pastor mußte, trotzdem sein Herz bedrückt war, hell lachen, mußte den ehrlichen Eskild, der es so herzlich gut meinte, auslachen: »Die kannibalische Geschichte von den Rendsburger Sklaven ist ein purer Unsinn und eine rein verrückte Angst. Wenn die andren bösen Nachrichten nicht besser verbürgt sind, können wir ruhig bleiben.«
Eine sanfte Frauenstimme sagte freundlich: »Eskild, wir danken Ihnen sehr ... ich bringe Ihnen eine Tasse heißen Kaffe und einen Bissen.«
Der sehr verlegene und ein wenig verletzte Bauer – kein Mensch läßt sich gern auslachen – wurde ungemein glücklich, weil sie ihn mit seinem Vornamen anredete, was sie seit dem unseligen Weihnachten nicht mehr getan, und reichte treuherzig der kleinen Hilde seine große Hand.
Um kein dummer Bauer zu sein, der sich von den Stadtleuten Räubergeschichten und Riesenbären aufbinden ließ, sagte er mit Nachdruck. »Das von der Revolution in Kiel ist leider wahr, denn das steht in der Zeitung.« Er holte mit einer gewissen Genugtuung die Zeitung hervor und gab sie zögernd, weil es die dänische Dannevirke war, dem Pastor.
Fangel durchflog die Zeilen und murmelte halbe Sätze: »Aufruhr der Kieler Studenten und Bürger ... Reventlov, Beseler und drei andre Hochverräter die Rädelsführer ... die Insurgenten bewaffnen sich ... die Truppen des Königs werden in ein paar Wochen die Revolte unterdrücken.«
Die Erhebung des Landes war eine Tatsache. Fangel erblaßte und stand, wie jeder Beamte, vor einer schweren Gewissensfrage: War das Selbsthilfe und Notwehr? Oder ruchloser Aufruhr gegen die Obrigkeit? Noch lebte ja der rechtmäßige Herr und Herzog. Und hatte die bedrückte Heimat, weil ihr Herzog Unrecht tun wollte, das Recht, ihn zu suspendieren? Fangel stand erschüttert vor der Frage und konnte kein Nein, aber auch kein entschiedenes Ja finden.
Rasch-naiv löste die gute Pastorin die Gewissensfrage: »Wenn die Erhebung ein gutes Ende nimmt, wenn Deutschland uns hilft, die Dänen aus dem Lande zu bringen, wenn wir erst unsren deutschen Herzog und ein freies Schleswig-Holstein haben, o dann werden wir alle Tage Weihnachten haben und zwanzig Jahre jünger sein, mein Sutor.« Ihr Herz hatte keine Skrupel, wofern die Sache nur gut ging.
Eskild wandte sich an Hilde: »Hier muß jeder nach seinem Gewissen handeln. Ich muß der bestehenden Obrigkeit gehorchen und dem König treu bleiben ... seien Sie mir nicht böse!«
»Wie könnte ich Ihnen böse sein, weil Sie treu sind?«
»Aber wenn ich mit den Waffen kämpfen müßte gegen Schleswig-Holstein ...?«
In jäher Angst faßte Hilde seinen Arm. »Sie müssen Soldat sein, wenn es zum Kriege kommt? O mein Gott!« War es ihr ein so empörender Gedanke, Eskild auf feindlicher Seite zu sehen? Oder war die Möglichkeit, daß dieser Mann in Kampf und Schlacht ziehen müsse, ihrer Seele ein Entsetzen?
Der Riese wurde feuerrot und klärte den Irrtum auf. »N-nein, ich werde nicht Soldat, ich habe ja Glück gehabt und bei der Session mich freigespielt.«
»Wie ist das zu verstehen?«
»Das Soldatwerden ist hierzulande eine reine Lotterie, und eine ungeheure Ungerechtigkeit ist die Bestimmung, daß nur die auf dem platten Lande Geborenen mit Ausnahme der Prediger- und Lehrersöhne und der hochgeborenen Herren, militärpflichtig sind. Weil der Rekrutenbedarf nicht so groß ist, wie die Zahl der tauglich Befundenen, wird unter den Ausgehobenen eine Lotterie veranstaltet, und wer Glück hat, wie ich, zieht ein Freilos und ist von jeder Militärpflicht befreit.«
»Ja, ich habe davon gehört ... welch eine Willkür! Da ist vieles faul im Staate Dänemark, wie schon Shakespeare erkannte.«
Der Pastor hörte mit einem Lächeln den treffenden Ausspruch seines Töchterleins und sagte tiefernst: »Dänemarks Schuldkonto ist groß und lang ... nun ist der angehäufte Unmut zur Explosion gekommen, die Heimat steht in Brand. Ist es ein heiliges Feuer?«
Eskild reichte die Hand zum Abschiede. »Wir müssen Geduld haben und das Ende abwarten. Ist die Sache von Gott, so wird sie bestehen.«
Fangel war allein mit den Seinen und streichelte die Hand seiner Frau, deren Optimismus einen starken Stoß bekam, denn Hilde sagte: »Schrecklich ist mir die Ungewißheit, wo unser Heimreich ist, und was er jetzt tun wird oder schon getan hat.«
Klaus war eingetreten, hörte die letzten Worte und sagte entschieden: »Wenn Heimreich seinen Verstand hat, wird er sich nicht die Finger verbrennen, sondern vom Brande hübsch fern bleiben.«
Der Pastor betrachtete diesen Sohn mit einem durchdringenden Blick. »So, das ist dein Standpunkt! So weit ich deinen Bruder kenne, wird er anders denken und handeln, wird er bereits der Erhebung sich angeschlossen haben.«
Klaus blickte einen Augenblick bestürzt den Vater an und brummte dann trotzig: »Ja, das ist meine Meinung. Wenn danach verfahren wird, werden wir alle im Pastorat am besten fahren.«
Frau Gertrud zitterte und klagte: »Mein Gott, mein Gott! Du glaubst, daß Heimreich mitgeht in den grausigen Krieg ... mir wird ganz krank, wenn ich daran denke, daß eine Kugel ihn tötet oder zum Krüppel schießt. Nein, nein! Er als Predigersohn kann ja gar nicht eingezogen werden und wird nicht Soldat. Aber – ich kenne den Unband – o, er wird freiwillig mitgehen ... mein Sutor, schreibe ihm sofort und verbiete, verbiete es ihm eindringlich, energisch, mit unserer ganzen Elternautorität und Elternangst, nicht mitzugehen noch mitzukämpfen!«
»Mein Sohn ist mündig und würde mir doch nicht gehorchen, denn als Mann muß er nach seinem Gewissen handeln. Da dürfen wir ihm nicht dreinreden. Meine liebe Gertrud, jetzt werden wohl viele Mütter unsrer Heimat heiße Tränen und blutige Opfer dem Vaterlande bringen müssen.« Er streichelte die Wange der Schluchzenden. Wo war nun ihre Zuversicht und ihr Zukunftstraum von dem freien, deutschen Herzogtum? Sie weinte in Angst um ihren Heimreich. Erst als sie pünktlich zur gewohnten Stunde einschlief, versiegten ihre Tränen. Pastor Fangel aber schloß kein Auge in der Nacht, stand leise wieder auf, wachte und wanderte in seinem Zimmer bis zum Morgen. Er betete um Gewißheit. Als die Morgenröte anbrach, hatte er sich zur Gewissensantwort durchgerungen: Man muß dem Vaterlande mehr gehorchen als der fremden Obrigkeit, die des Landes beschworene Rechte bricht. Die Erhebung ist ein heiliger Freiheitskampf, eine heilige Notwehr. Von Stund an schwankte er nicht mehr, und die Angst vor dem Eidbruch, die an jeden gewissenhaften Beamten herantrat, war überwunden.
Während der Nacht war viel Lärm auf der Gasse draußen und die Aufregung im Dorfe sehr groß. Die Schauermär, daß die Rendsburger Zuchthäusler auf Nordschleswig losgelassen seien, wurde von den einfältigen Dorfbewohnern geglaubt. Viele Weiber und Memmen schlotterten vor Angst und vergruben ihr Bargeld. Andere, wie Hans Peder Sjöberg und Konsorten, saßen im Kruge, verspeisten alle deutschen Hunde und tranken sich in starken Pünschen einen starken Mut. Rolf Krake fluchte: »Pinedöd! Wir müssen Hyllerup gegen die Rendsburger Räuber verteidigen.« Die Tapferen beschlossen sofort, einen Landsturm zu bilden, und wählten Hans Peder, der Soldat gewesen war, zum Kapitän und Rolf Krake zum Leutnant.
Des Morgens früh um 7 Uhr trat der Kirchenälteste Christian Andresen, sonst ein verständiger Mann, kreideweiß in das Studierzimmer des Pastors, war ganz aus dem Häuschen und rang die Hände. »Herr Pastur, Herr Pastur, vergraben Sie die Kirchenkasse und die Silbergeräte! Wir sind verloren. Zweitausend Räuber, Brandstifter und Mörder sollen mit Büchsen und Piken bei Norderhusen sein.«
Der Pastor lachte. »Mein guter Andresen, ich gebe Ihnen mein Wort, daß kein einziger Sträfling losgelassen ist.«
Der Bauer schluckte ein paarmal die erste Angst herunter und erzählte stotternd-schlotternd die zweite gräßliche Gefahr, die Haus und Dorf bedrohe. »Wenn das auch nicht wahr ist, so steht doch in der Zeitung, und das ist wahr ... in Kiel wird alles Gesindel bewaffnet, in Hamburg werden alle Lumpen von der Straße, alle Löwen vom Hamburger Berg, alle Einbrecher angeworben, und diese sogenannten Freischärler, die Frauen und Kinder nicht verschonen, werden über Nordschleswig herfallen ... es geht uns ans Leben, es ist fürchterlich ...«
»Nein, es ist nur lächerlich und eine närrische Angst.«
»Jetzt wird ja ein Landsturm errichtet ... wir müssen wohl alle mitexerzieren, um Hyllerup zu schützen ... sobald die Freischärler kommen, wird Sturm geläutet, und alle nehmen hinter den Knicks, wo sie doch etwas gedeckt sind, Aufstellung ... o was muß man in seinen alten Tagen erleben!« Der alte Mann hatte Tränen im Auge und beweinte die kommenden Schrecknisse.
Der Pastor tröstete. »Die Deutschen sind keine Barbaren, sondern gesittete Menschen und werden Ihnen kein Haar krümmen, kein Huhn stehlen.«
»Ja, Sie können deutsch sprechen und werden wohl geschont, aber wir armen Menschen, die wir nur dänisch können, müssen alle über die Klinge springen. Das Kriegsunglück ist vorhergesehen worden. Die alte Karen hat eines Abends den ganzen Faustruper Berg voll von vierrädrigen Karren mit eisernen Kanonen gesehen ... hier wird gemordet und geplündert. Mein Vater hat noch die wilden Kosaken in Christiansfeld gesehen, aber die Freischärler sind noch viel schlimmer als die Russen und Türken und wie die Menschenfresser in Afrika. Auch hat das weiße Gespenst sich wieder gezeigt und die Leute erschreckt. Das ist eine böse Vorbedeutung.«
Die Bauern und Tagelöhner waren von einem tollen Fanatismus und noch mehr von einer tollen Panik befallen, die unsinnigsten Gerüchte fanden begieriges Gehör und blödsinnigen Glauben.
Eines Tages, nach der Einnahme von Rendsburg, jagte ein Reiter durchs Dorf und schrie vor jeder Tür: »Rendsburg ist durch Verrat gefallen. Gott helf uns! Die Sklaven kommen! Wer sein Leben behalten will, der laufe und fliehe!«
Einige Furchtsame und Feiglinge packten hastig ein Bündel und sind bis Kolding, ja bis nach Friedericia gelaufen. Sogar Per, der Kutscher und erste Knecht des Pastors, sonst eine brave Seele, betrat, ganz weiß im Gesicht, die Studierstube und bat mit bebender Stimme um zehn Taler Lohn, da er gleich eine Reise machen und seinen Bruder in Vorbasse in Jütland besuchen müsse.
Der Pastor sah sofort, daß der plötzliche Besuch des Bruders nur ein Vorwand sei, um die Flucht zu ergreifen, und fragte: »Sind Sie unzufrieden mit Ihrem Dienst? Wollen Sie Ihren Lohn und Ihre Entlassung?«
Per hatte Tränen im Auge. »Ich bin hier acht Jahre im Dienst und verdiene dreißig Spezies, einen wirklich guten Lohn ... aber, Herr Pastur, Sie können nicht von einem armen Menschen verlangen, daß ich mich von den Deutschen totschlagen lasse ... und wer nicht abgetan wird, den stecken sie, so sagen alle, in die deutsche Montur und stellen sie in die erste Schlachtlinie, um als Kanonenfutter und Kugelfang zu dienen.«
Der Pastor bewog den armen, unwissenden Kerl zum Bleiben, indem er mit dem baumlangen Menschen wie mit einem Kinde redete: »Bei Ihrem Bruder in Vorbasse würden Sie noch weniger als hier in Sicherheit sein, sintemal Jütland für die Deutschen Feindesland ist, Hyllerup aber zum Herzogtum gehört und darum milde behandelt wird. Gerade hier im Pastorat, wo ich mit den Soldaten deutsch sprechen kann, sind Sie am besten geborgen, und ich verbürge mich für Ihr Leben, Ihre Haut und Habe, solange Sie bei mir sind.«
Per war trotz allem kein Dummkopf, sondern ein Schlauberger und Sicherheitskommissar und kraute sich. »Wollen Sie mir das schriftlich geben, Herr Pastur?«
Mit verbissenem Lachen schrieb der Brotherr die Bürgschaft, die dem Knechte Leben, Haut und Habe garantierte, und die Per beruhigte. Der Pastor sah ihm nach und schlug die Hände zusammen. »O sancta simplicitas! O heilige Einfalt! Dieses Volk ist wie eine armselige, irre geleitete Hammelherde ... mein Gott, erbarme dich des armen, unwissenden Volks!« –
Der Hylleruper Landsturm, den die paar Deutschen der Gemeinde die Holzpantoffelgarde nannten, exerzierte alle Tage eine Stunde vor Feierabend auf dem Toft von Christian Andresen. Pastor Fangel ging des Weges spazieren und hörte die forschen Kommandorufe des Landsturm-Leutnants Rolf Krake, der sein Haupt um einen halben Kopf höher und steiler trug. Vergebens sich mühend, dem kleinen verwachsenen Dorfschneider eine militärische Positur beizubringen, fluchte Rolf wie ein rechter Korporal: »Kreuzjammer und Kruzitürken! Der Kerl schießt einen Buckel, wie des Pastors grise Katze! Die Schultern zurück, die Brust nach vorn, Er Jammerlappen!«
Hans Peder Sjöberg, der als Soldat an seinem Leibe erfahren hatte, wie ein Rekrut gepufft und geknufft werden muß, wollte seinem Leutnant beistehen und den krummen Schneider mit Gewalt zurechtbiegen. Da schrie das Schneiderlein jämmerlich: »Au, au, mein lieber Hans Peder! Ich hab' ja einen kleinen Höcker und einen schiefen Rücken, mein lieber Hans Peder.«
Sjöberg schnauzte ihn an: »Gottstod! Hier hilft kein lieber Hans Peder in diesem militärischen Stand! Hier hilft kein Maulspitzen! Hier heißt es: Herr Kapitän Sjöberg! Schultern zurück! Bauch herein!«
Der Zuschauer lächelte und lugte durch die Hecke. Kräftige Kommandos erklangen. »Richtung! Rechtsum!« Einige schwenkten nach links, und ein Gefluche erhob sich. »Ganze Kompagnie vorwärts marsch!« Wacker klapp– klapp–klappten die Holzpantoffeln und Holzschuhe, denn der Hylleruper entweihte seine Stiefeln nie am Werkeltage.
»Ha–al–lt!« Einige Schockschwerenot-Halunken klappten nach.
»Ganze Kompagnie rückwärts marsch!« Dieses Kommando wurde verhängnisvoll. »Halt, meine Pantoffeln!« schrien zwei, schrien viele. Die Helden liefen nämlich bei dem Rückwärtsmarschieren aus den Pantoffeln heraus, patschten auf Strümpfen im feuchten Grase zurück, um ihre Fußbekleidung wieder zu erlangen, wobei ein höchst unsoldatisches Gewirre, Gezänk und Gelächter entstand. Die auf dem Schlachtfelde stehengebliebenen Pantoffeln, die hin und her storchenden Helden, die von nassen Füßen schrien und auf das saudumme Kommando schimpften, – dieser Landsturm war ein so urpossenhaftes Bild, daß der Zuschauer hinter der Hecke aus vollem Halse lachte und sein bescheidenes Bäuchlein sich hielt.
Die alte Kathrin, die wegen ihrer bösen Zunge gefürchtet war, stand ungesehen hinter dem Ziehbrunnen ihrer Kate und zischte erbost mit dem Mummelmunde: »Da kann man sehen, daß unser eigener Pastor unsere brave Dorfwehr verlacht und das deutsche Räuberpack herbeiwünscht.«
Der geistliche Herr ging schnell weiter. Aber noch schneller lief ein Raunen durchs Dorf, und die Erzählung der alten Kathrin, daß der Pastor sich über den Landsturm lustig gemacht habe, machte viel böses Blut in der Gemeinde. Die im Pfarrhause hörten nicht das zischelnde Gerede und merkten nur, daß einige Bauern noch mürrischer grüßten und die Mütze kaum rückten.
Nur der Leutnant Bosen wurde immer liebenswürdiger und küßte halb im Scherze sogar die Hand der Pastorin, als wenn er wieder der galante Leutnant auf dem Hofparkett in Kopenhagen sei. Eines Morgens noch vor dem Frühstück – obwohl er sonst die formellen Besuchszeiten innehielt – kam Bosen ins Pastorat und schwenkte die schäbige Seehundfellmütze. Seine Haltung war noch soldatischer geworden, sein Aeußeres gepflegter, sein Gesicht gewaschener, auch sein Anzug war proprer, was er einem heimlichen Wohltäter verdankte. Weil Jep Hansens Spar- und Eigensinn dabei blieb, daß sein »Hofjägermeister« nicht mehr als Kost und Wohnung verdiene, hatte Bosen manchmal seine liebe Not geklagt: Selbst der bedürfnisloseste Mensch müsse seine Blöße bedecken und ein paar Schillinge im Sacke haben. Pastor Fangel hatte diese Seufzer gehört und mehr als einmal diskret und anonym dem entgleisten Sohn seines Vorgängers zehn Kuranttaler gesandt.
Heute so früh am Tage machte Bosen einen kecken, jugendlichen Eindruck. »Der Kieler Krach hat Folgen ... hurra, es gibt Krieg, Herr Pastor. Jetzt ist der Soldat nicht mehr ein unnützer Kommißbrotesser, sondern wird vom friedlichen Bürger in seinem wahren Werte erkannt. Die Einnahme von Rendsburg ist ein Streich nach meinem Herzen, die Schleswig-Holsteiner sind Teufelskerle, und der Prinz von Noer hat meine ganze, volle Hochachtung.« Sein großes Auge stand ernst und fürs Vaterland begeistert, während das kleine verschmitzt und schadenfröhlich blinkerte. Der Putsch des Prinzen hatte seinem Abenteuergemüt unbändiges Ergötzen bereitet und seine Landsknechtseele zu einem Entschluß getrieben. »Herr Pastor, ich weiß, Sie sind ein deutscher Mann, und Ihnen kann ich es offen sagen. Die Teufelskerle sollen meine Kameraden, und der geniale Prinz von Noer soll mein Feldherr sein ... ich bin bereit, dem Augustenburger mit allen zehn Fingern Treue zu schwören. Hurra! Wir werden es mit dem Schwerte den hochnäsigen Kopenhagenern auf den Rücken schreiben, daß wir Deutsche sind und bleiben wollen, und daß sie ihren alkoholischen König für sich behalten und in Spiritus setzen sollen. Bei den Revolutionären in Kiel ...«
»Was sagen Sie! Es ist keine Revolution!« fiel Fangel ihm unwirsch in die Rede.
»Pardon, Herr Pastor! Bei den Insur-, na, bei den tapferen Schleswig-Holsteinern soll ein großer Mangel an Leutnants sein. Gediente Offiziere werden gesucht. Wenn ich nur ein wackeres Pferd zwischen den Schenkeln hätte, würde ich flugs zum Prinzen von Noer reiten und ihm meine Dienste und meinen Degen anbieten. Aber der Gaul und das Geld fehlen ... der elende Mammon! A kingdom for a horse! Herr Pastor! Sie haben den fünfjährigen Fuchs, ein Prachttier mit hohem Gang und stolzem Hals, das wäre ein Offizierspferd, das sich sehen lassen könnte. Ich würde gern alle meine Tiere, die Füchse, den ganzen Hundezwinger, der wertvoll ist, das trommelnde Kaninchen, den sprechenden Star, das singende Huhn, verpfänden. Verkaufen Sie mir den Fuchs für 400 Taler, die ich auf Ehrenwort von meinem Sold bezahlen werde, und nehmen Sie meine ganze Menagerie so lange als Pfand und in Pflege, denn die Künstlernaturen, das trommelnde Kaninchen, der sprechende Star, das singende Huhn, sind mindestens 120 Taler wert, wenn ein Liebhaber sich findet.«
Fangel blies nachdenklich den Rauch der Morgenpfeife in die Luft. »Mein Sohn Klaus hat den Fuchs sehr gern und will ihn nicht verkaufen.«
»Herr Pastor, Sie sind Herr im Pfarrhofe, und Sie sind ein deutscher Mann, der nicht nur deutsch redet, sondern deutsch handelt. Ich fordere kein Opfer, denn ich werde später den Fuchs mit seinem vollem Wert bezahlen, aber Ihr Vaterland verlangt ein Opfer von Ihnen! Den braven Truppen fehlt's an Offizieren, ein führerloses Heer muß unterliegen. Sie können dem Vaterlande einen Offizier zuführen, zwar einen Krippenbeißer, aber einen gelernten, im Krieg gewesenen Leutnant, der eine Attacke zu machen weiß und sein Leben blitzwenig estimiert. Ich bin kein Feldherr, aber beim Sturm nicht der Schlechteste noch Letzte. Verkaufen Sie mir den Fuchs, der auf Ehrenwort bezahlt wird!«
»Nun darf ich als Deutscher nicht mehr Nein sagen, nehmen Sie in Gottes Namen den Fuchs!«
Der Pastor gab sein bestes Pferd hin, obgleich Klaus beinahe grob gegen seinen Vater wurde, nahm aber wohlweislich die Menagerie nicht in Pfand und Pflege.
Leutnant Bosen brachte am nächsten Tage Fräulein Hilde den sprechenden Star und der Pastorin das singende Huhn als sinniges Andenken, drückte heftig-herzlich des Pastors Hand und bestieg den prächtigen Fuchs, um ins schleswig-holsteinische Kriegslager zu reiten. Er ist auch mit viel Eile zum Prinzen von Noer geritten und hat von Hadersleben aus dem Hylleruper Pastor über die kurze und kuriose Audienz einen wahren und knappen Bericht erstattet.
Der recht hochfahrende Prinz, der auf gute Manieren, gute Konduite und gute Kleidung sehr viel gab, machte ein spaßiges und spinöses Gesicht, als Bosen in langen Schmierstiefeln, noch immer die schäbige Fellmütze auf den ergrauenden Haaren, im Zimmer stand und militärisch salutierte. »Was wünscht Er? Aber kurz und bündig.«
»Ich möchte, kurz gesagt, als Premierleutnant und noch lieber als Hauptmann in Ihrer Armee dienen, Ew. Durchlaucht.« Bosen war bündig und auch höflich, wie er meinte.
Der durchlauchtige Herr wurde unheimlich freundlich, sagte sogar Sie und lächelte seltsam. »Sagen Sie mal, mein Lieber ... äh ... sind Sie vielleicht aus Schleswig, von St. Jürgen?«
In St. Jürgen war das Irrenhaus des Landes. Der Leutnant verzog trotz der infamen Unterstellung keine Miene, nur sein großes Auge lohte feindselig, und seine Gestalt reckte sich. »Nein, ich bin Premierleutnant bei der dänischen Leibgarde gewesen, vor fünfzehn Jahren Schulden halber verabschiedet worden und zuletzt Jäger auf Hylleruphof gewesen.«
Der Augustenburger wurde barsch und brüsk. »Meint Er, daß wir jeden hergelaufenen Waldhüter zum Leutnant und jeden kassierten Leutnant zum Hauptmann machen?«
Jetzt wurde Bosen, dessen kleines Auge boshaft-listig blitzte, vertraulich, nahm umständlich eine Prise, hielt die Tabatiere, als wenn er sie dem Prinzen anbieten wolle, und sagte sehr freundlich. »Mein lieber Prinz, ich meinte ja in meiner Unschuld ... weil der Prinz von Noer, ein früherer dänischer und jetzt infam kassierter Generalleutnant, zum Chef der Armee gemacht ist, wird man in Rendsburg mit Vorliebe die infam Kassierten gebrauchen können und auch einen allerdings nur recht und schlecht kassierten Premierleutnant zum Hauptmann machen. Eine Prise gefällig, mein lieber Prinz?«
Da hat der hochgeborene Herr die Brauen wie Bürsten gesträubt und das Kommando gebrüllt: »Her–r–aus!«
Bosen rief in der Tür sehr herzlich: »Auf Wiedersehen in der Schlacht bei Apenrade oder Flensburg!«
Dieser Augustenburger, des Herzogs Bruder, der, morganatisch vermählt, Prinz von Noer sich nannte, hat den traurigen Ruhm, daß er viele in gleicher Weise brüskierte, manchen tapferen Mann, der für Schleswig-Holstein kämpfen wollte, unklug und kränkend abwies und schließlich in der provisorischen Regierung sich selbst unmöglich machte.
Bosen revidierte plötzlich seine Anschauung und Ueberzeugung, haßte den Noerer, verachtete die schleswig-holsteinische Insurrektion und ist spornstreichs auf dem Fuchs des Hylleruper Pastors ins dänische Lager geritten, wo er mit offenen Armen aufgenommen, sofort zum Kapitän ernannt und mit einer Kompagnie betraut wurde.
Fangel las den wahrhaften Bericht und mußte trotz seines Mißgeschicks über die Tragikomödie, daß er schließlich nicht den Deutschen, sondern den Dänen einen Offizier und Offiziersgaul geliefert habe, herzlich lachen.
Da erschien der zweite Lehrer mit dem bleichen Gesicht, das alles Lachen verlernt hatte, und bat, ihm eine Zeugnisabschrift zu fidimieren. Ein bitteres Lächeln umzuckte seine Lippen, als er sagte: »Ich habe heute eine Art von Jubiläum ... das ist nämlich mein fünfzigstes Bewerbungsgesuch um eine bessere Stelle ... ich weiß vorher, es nützt nichts und ist umsonst geschrieben, gestempelt und frankiert ... aber wir gehen zugrunde bei der kleinen Einnahme.«
»Jeder beklagt Ihr Los ... und Ihre arme Frau kränkelt ständig.«
Lindenhahn stand an der Tür und rang mit sich, ob er das Schwere sagen solle. »Es ist kein Kränkeln, sondern eine unheimliche Krankheit ... der Arzt nennt ihren seltsamen, alle Monate eintretenden Zustand Somnambulismus ... mir graut, wenn sie im Schlaf zu reden anfängt, Unsinniges, aber auch Tiefsinniges und Zukünftiges. Die Erhebung hat sie vorhergesagt. Ach, außer meiner Schule das stete Behüten der Kinder und der Kranken, der endlose Kampf mit Schulden, die Angst, daß meine Ottilie schließlich in einer Anstalt endet ... das reibt mich auf ... denn Somnambulismus ist ja eine psychische Störung ...«
»Der Arzt gibt ihm einen Namen ... was wissen die Doktores von der Psyche, der Seele! Jetzt sprießt im Lande und im Herzen eine herrliche Hoffnung ... wir werden frei, dann schlägt auch Ihre Stunde.«
»Gott gebe es!« sagte Lindenhahn mit einem Seufzer.
»Glauben Sie nicht an den Sieg? Sind Sie kein Deutscher mehr?«
»Ja, ja, aber zu viel Kummer und Elend verlernt das Hoffen. Meine Frau redete neulich in ihrem Zustande darüber ... als ich fürwitzig fragte: Ottilie, wird im nächsten Jahre unsere und unseres Landes Not zu Ende sein? gab sie die furchtbare Antwort: O, wir gehen durch schwarzes, tiefes Wasser, durch den Teich Trübsal, den See Verraten, durch die Gewässer Verlassen, Unrecht, Schmach und Niedertracht, durch dreizehn häßliche Seen müssen wir gehen, aber dann wird alles sehr gut. Herr Pastor, wenn die dreizehn Seen dreizehn Leidensjahre für uns und unsere Heimat bedeuten, werden meine Augen das gute Ende nicht mehr sehen.«
»Hören Sie nicht auf kranke Reden! Es gibt nur einen Propheten, und das ist der Glaube, welcher spricht: Dennoch werden wir deutsch und, so Gott will, jetzt!«
»Ach, Herr Pastor, wo das Meer ein kleines Loch findet, wühlt es immer weiter, bis der Deich bricht ... so auch das Verhängnis, das, wenn es erst in einem Hause ein Loch gefunden hat, durch alle Türen und Fenster steigt und immer neues Unglück auf einen Unglücklichen wirft. Ich muß es ausschreien! Mein kleiner, süßer Knabe, mein Liebling mit den blauen Denkeraugen, entwickelt sich nicht normal ... geht schon ins dritte Jahr, geht – das klingt wie Hohn –, kann nicht gehen, kann keinen Schritt tun, schlaff bleiben die Beine, und seine großen, schönen Augen blicken so unbegreiflich starr und inhaltlos mich an ... nur essen, immer essen will sein Mäulchen, das kaum ein Lächeln und keinen Sprachlaut hat. Wenn mein Bübchen ein ... Blödkopf würde, o der Gedanke geht mir wie ein Gespenst nach, daß ich ergrause.«
Der Seelsorger drückte des Lehrers Hand. »Ich beklage Sie und möchte nach meinen Kräften helfen.« Er hatte einen Kassenschein in der anderen Hand und fuhr geschwind wie ein Taschendieb, damit seine Tat nicht gesehen werde, in Lindenhahns Rocktasche hinein.
Das Geld verstopfte den ungeduldigsten Gläubigern das rücksichtslose Maul. Für einen Teil der Summe kaufte der Lehrer die neue Tischdecke, um die seine Frau lange gequält hatte. Seine Ottilie kaufte allzugern und lernte nimmer, daß nur durch peinliche, kleinliche Oekonomie ihr Haushalt bestehen könne, und nichts war ihm schwerer, als ihren Wünschen und Bitten Widerstand zu leisten. Die Tischdecke kostete fünf Kuranttaler. War das eine schwache oder eine starke Liebe?
Nach acht Tagen schüttete eins der Kinder das Tintenfaß über die neue Tischdecke. Ein mehrstimmiges Geschrei erhob sich, nur der Lehrer lachte wild und las an demselben Tage in der Zeitung, daß der Lehrer Högsbro die Küsterstelle erhalten habe. Wieder ein importierter Jüte! Lindenhahn lachte noch häßlicher und fühlte einen tiefen Ekel, einen trostlosen Pessimismus: eine so bodenlose Gemeinheit herrscht in der Welt und besonders in Nordschleswig, daß ihr nur mit den gemeinsten Waffen beizukommen ist.
In dieser Dämmerstunde trat ein Unsichtbarer zu ihm in die Stube und sagte fein-falsch-freundlich: Wenn du insgeheim zu dem einflußreichen Laurids Skow gehst und ihm erzählst, seine gewaltige Rede habe dich überzeugt und bekehrt, so wird der eitle Bauer geschmeichelt und dir gewogen sein ... wenn du ihm dann mit bebender, anbetender Stimme erklärst, daß er der allmächtige Mann in Nordschleswig sei, der allein dir zu helfen vermöge, wird seine dumme Eitelkeit dir Beistand gewähren und deinen Pferdefuß gar nicht gewahren. Appelliere nicht an das Christentum und Mitleid, an den Opfer- und Edelmut der Menschen, sondern fasse sie an ihrer Menschlichkeit, Schwäche und Gemeinheit, einmal an ihrem Eigensinn, zweimal an ihrem Eigennutz, dreimal an ihrer Selbstklugheit und dreimal dreimal an ihrer Eitelkeit und Dummheit, so wird es dir wohl gehen, und du wirst lange, fett und reichlich leben auf Erden.
Der unsichtbare Gentleman hinterließ diese Maximen und auch einen gewissen Mißduft. Der verhärmte Lehrer lachte heiser: Recht hat der Schurke! Doch er ging noch nicht zu dem mächtigen Agitator, sondern wollte klüger als der Teufel sein und erst den Ausgang der Erhebung abwarten. Wird Schleswig befreit, so wird eine große Jütenauswanderung anheben, und drei Kirchen werden um einen Küster sich reißen.
Er wich in diesen Tagen seinem Kollegen aus, denn der Küster hatte eine Art und Weise, einem Menschen durch Rock und Hemd und direkt ins Herz zu sehen, hatte einen Blick, der Lindenhahn unbehaglich war. Lauritz Lauritzen trug nach alter Gewohnheit seinen Dungbrei aufs Feld, jedoch in seiner pünktlichen Tätigkeit war insofern seit dreißig Jahren eine Aenderung eingetreten, als er sein Korn nicht selbst mit dem Flegel drosch, sondern in Akkord dreschen ließ. Nicht, weil er das Alter und Abnehmen seiner Kraft spürte, sondern um eine freie Stunde zu gewinnen, eine Stunde, wo er in dieser großen Zeit die Zeitung von Anfang bis Ende las. Er hatte auf die Schleswig-Holsteinische Zeitung abonniert.
Die Zeitungen hatten Anno achtundvierzig ein fettes Jahr und einen erstaunlichen Abonnentenzuwachs. Alle Tage revolutionierte und explodierte es irgendwo. Alles, was buchstabieren konnte, verschlang die neuesten Nachrichten; alle Menschen, sogar die Spittelweiber, politisierten und nahmen Partei.
Selbst Pastor Fangel stand bisweilen am Fenster, wenn die Zeitung nicht pünktlich kam. Als er einmal heftig paffend nach dem »Altonaer Merkur« ausschaute, kamen drei Männer im Gänsemarsch über den Hof. Was? Habe ich eine Sitzung des Kirchenrats für heute anberaumt, und es ist mir entfallen? Nein, die Merktafel war leer. Die drei Männer waren nämlich drei Kirchenjuraten der Gemeinde, Terkel Terkelsen, Bertel Bertelsen und Christian Andresen, den wir bereits kennen. Sie stellten im Studierzimmer in einem Halbkreise sich auf, zeigten eine gewisse Aufregung und räusperten sich.
Der Pastor fürchtete irgendeinen neuen politischen Unsinn oder Unfug und fing an: »Stopfen Sie sich zuerst die Pfeife, dann wollen wir Platz nehmen.«
Die zwei füllten ihre Meerschaumpfeifen, Andresen holte seine Wirtshauspfeife mit dem Riesenkopfe, der ein Viertelpfund fassen sollte, aus der Rocktasche und stopfte fest und voll. Man rauchte und schwieg und sah den Pastor an, ob der nichts sagen werde.
Endlich nahm Terkel Terkelsen das Wort. »Sie wissen doch, Herr Pastur, daß es wieder im Dorfe greulich spukt ... ich habe letzte Nacht mit eignen Augen das Gespenst, die weiße Frau mit der Großmutterhaube, gesehen und getraue mich nachts nicht mehr aus dem Hause ... Bertel kann mir bezeugen, daß ich kein Kujon bin, aber mir bricht der Schweiß aus, wenn ich daran denke ... ich mußte stehen bleiben, weil mir die Beine wie festgeleimt waren ... oben im Schalloch des Turmes stand der Spuk, legte die Arme über die Querstange und schrie ...«
»Was schrie er denn?« wollte der Pastor, der ernst zu bleiben sich bemühte, gern wissen.
»Das habe ich nicht verstanden ... als ich die Beine los kriegte, lief ich natürlich. Es ist in Hyllerup nicht mehr zum Aushalten, viele sind in den letzten Mondnächten halbtot geängstigt worden. Broder und seine Frau kamen von einer Geburtstagsfeier ... oben auf dem Schulhause, auf dem schmalen First, schwebte das Gespenst hin und her ... Broder hat ja ein dreistes Maul, hatte ein paar Kaffepünsche und Kourasch im Leibe und rief, obgleich seine Frau ihn zupfte, hinauf: In Gottes oder des Düwels Namen! Büst du en Christenminsch oder en Höllengeist?«
»Na, die weiße Frau blieb wohl stumm?«
»Nee, Herr Pastur, das ist ja das Gräsige, das Gespenst sagte deutlich und auf dänisch: »Bei Flensburg krachen die Kanonen ... da kommen fünf, sechs, zehn Wagen durch das Dorf ... sie wimmern um Wasser, rot die Röcke und rot das Stroh ... Blut tropft auf die Straße ... im Pastorat ist ein vergrämtes Gesicht.« Was sagen Sie nun?«
Dem Pastor wurde unbehaglich bei der Erwähnung seines Hauses, und er überlegte. Terkelsen strich sein Haar, das sich zu heben begann, herunter und räusperte sich. »Hm, hm, das sind schreckliche Vorzeichen und Vorbedeutungen. Gott gnade uns und unseren Strohdächern, wenn hier eine Schlacht geschlagen wird. Wir werden alle umkommen, wofern wir nicht rechtzeitig retirieren. Aber was wird aus dem Vieh? Broder ist mit seiner Frau schon ausgerückt zu seinem Bruder in Kolding. O, eine Angst ist in der ganzen Gemeinde, vernünftige Leute verlieren den Verstand, wenn die Spukerei nicht aufhört. Herr Pastur, Sie sind als unser Seelsorger von Gott eingesetzt, helfen Sie uns, gehen Sie mit der Bibel dem Gespenst zu Leibe, bannen Sie den Geist in die Erde und Hölle hinein!«
»Um das Gespenst zu packen, sollte man doch lieber als mich, den alten, schwachen Mann, drei handfeste Männer nehmen, denn es wird vielleicht ein Geist oder Geisteskind sein, das feste Prügel haben muß.«
Die Kirchenältesten machten ein sehr unzufriedenes Gesicht. Bertel Bertelsens dumm glotzende Miene wurde plötzlich diplomatisch, und er sagte im Namen der Deputation: »Wir hatten vor achtzig Jahren eine sehr tüchtigen Seelsorger in Hyllerup, einen ganzen Mann Gottes, der jeden bösen Geist zur Ruhe brachte und in die Erde mahnte. Das müssen Sie doch auch können, Herr Pastur, wenn Sie in Kiel alles gründlich studiert und Ihr Geschäft richtig gelernt haben. Nehmen Sie Bibel und Kruzifix mit und beschwören Sie das Gespenst, damit die Gemeinde zur Ruhe kommt!«
Terkel Terkelsen unterstützte die Bitte mit bebender Stimme: »Jaa, be–ten und ban–nen Sie den gräß–lichen Spuk in den Erdboden ...«
»... In die tiefste Hölle hinein, damit er nicht wiederkommen kann.« Christian Andresen wollte auch seine Schuldigkeit als Kirchenältester tun.
Fangel dachte nach und antwortete mit Ernst und Würde, obgleich ein Schalk hinter seinen Ohren saß. »Ja, ich will das Gespenst beschwören, sobald bewiesen ist, daß es kein menschliches, sondern ein übernatürliches Wesen ist. Das muß erst einwandfrei festgestellt werden, denn als Pastor darf ich mich nicht lächerlich machen. Darum schlage ich vor: Sie sind drei kräftige, handfeste Männer ... nehmen Sie einen Knotenstock und auch eine Leiter mit! Sobald das Gespenst irgendwo erscheint, steigen Sie ihm aufs Dach, greifen Sie mit Ihren sechs Fäusten fest zu! Nur wenn es sich wehrt, dürfen Sie mit dem Knüppel losschlagen ... wenn es Au–weh schreit und um Gnade bittet, werden Sie Ihr Gaudium erleben ... wofern aber der Spuk nicht sich greifen laßt, sondern wie ein Nebel verschwindet, werde ich ihn mit der Bibel beschwören, mein Wort, meine Hand darauf!«
Andresens kugelrundes Gesicht wurde lang und länger, Bertel ließ die Nase und die Unterlippe immer tiefer hängen, Terkel holte aus dem gepreßten Herzen die Worte: »Nee, Herr Pastur, wi faaten datt Gespenst gewiß nich an ... datt geiht up Dod und Leben ... nee, wi hebbt Fru und Kinner.«
»Dann müssen Sie drei verwegene Kerle dingen, die für zehn Kuranttaler den Spuk näher untersuchen.«
Die Kirchenältesten, von der Zumutung des Pastors tief erschreckt, empfahlen sich schnell und kleinlaut. In der Tür blieb Bertel stehen, um noch eine Frage sich zu erlauben: »Und wer soll die Kerle bezahlen?«
Da gab der Pastor seinen letzten und besten Rat: »Wenn kein Geld da ist, muß Rolf Krake Hansen des Nachts ausrücken ... ja, das wäre eine Heldentat für den Hylleruper Landsturm.«
Der Pastor lachte herzhaft hinter der zugemachten Tür und ist von dem Kirchenrat nicht mehr gebeten worden, den unheimlichen, dänisch sprechenden Geist zu beschwören.