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»Die Herren möchten alle ins Kasino kommen«, war dem Chefingenieur Grabbe nach seiner Landung bestellt worden. Zusammen mit Dr. Hegemüller und Saraku beeilte er sich, der Aufforderung Folge zu leisten. In dem nicht allzu großen, aber behaglichen Raum, der für die Werkleitung vorgesehen war, trafen sie Lüdinghausen und Hidetawa in lebhaftem Meinungsaustausch, während Yatahira sich nur hin und wieder mit einer kurzen Bemerkung an der Unterhaltung beteiligte.
»Ich erblicke in der Strahlrakete das kommende Verkehrsmittel«, sagte Lüdinghausen gerade, als Grabbe mit seinen Begleitern eintrat. »Ich denke, daß sie schon in naher Zukunft die Flugzeuge ersetzen wird. Den Anfang dazu haben Sie, Herr Hidetawa, ja schon selbst gemacht, als sie mit Ihrer Rakete von Tokio hierher eilten.« Lüdinghausen brach ab, um die Ankommenden zu begrüßen und Dr. Hegemüller mit Hidetawa bekannt zu machen.
»Ich stimme Ihnen vollständig zu, Herr Professor«, spann Hidetawa danach den Gedankengang Lüdinghausens weiter. »Die Strahlrakete wird ein wundervolles Verkehrsmittel werden, ein schnelleres und zuverlässigeres als das Flugzeug. Wir werden unsere nächste Konstruktion danach einrichten müssen, denn so ganz einfach war der Flug von Tokio nach Gorla mit meiner ersten Maschine nicht.« Während Lüdinghausen zustimmend nickte, fuhr Hidetawa fort, seine Ansichten zu entwickeln, und kam dabei zu Ausführungen, die sich nicht allzusehr von denen unterschieden, die noch nicht vierundzwanzig Stunden später Professor Ruggero Villari gegenüber machte.
Auch er entwarf seinen Zuhörern das Bild einer vergrößerten, bis in alle Einzelheiten sorgfältig durchkonstruierten und mit allen Bequemlichkeiten für die Reisenden ausgestatteten Rakete.
»In welchen Höhen soll diese Maschine der Zukunft verkehren?« fragte Hegemüller, als Hidetawa eine kurze Pause machte.
»Ich denke in etwa hundert Kilometer Höhe«, meinte der Japaner. »Man wird gut tun, unterhalb der Heavyside-Schicht zu bleiben, um sicheren Funkverkehr mit der Erde zu haben. Die Atmosphäre ist in dieser Höhe bereits so dünn, daß man ohne Schwierigkeit mit einem Kilometer in der Sekunde fliegen kann, und das dürfte wohl für alle Zwecke genügen. Nehmen Sie beispielsweise die Strecke Berlin – New-York. Die Rakete würde den sechstausend Kilometer langen Weg in einer Stunde und vierzig Minuten bewältigen können, und soviel Zeit dürfte wohl jeder Reisende übrig haben.«
Dr. Hegemüller konnte nicht länger an sich halten. »Aber man könnte doch höher gehen und viel schneller fliegen«, platzte er heraus.
»Sicher könnte man es, Herr Doktor Hegemüller«, erwiderte Hidetawa mit unerschütterlicher Ruhe. »Aber es wäre nicht klug, es zu tun.«
»Warum denn nicht?« fragte Hegemüller.
»Aus zwei Gründen, Herr Doktor. Erstens der kosmischen Strahlung wegen. Wir wissen nicht, wie stark diese Strahlung in großen Höhen ist. Sie könnte vielleicht die Gesundheit, ja sogar das Leben der Reisenden gefährden.«
»Das ließe sich wohl durch Messungen sehr schnell feststellen«, bemerkte Chefingenieur Grabbe.
Hidetawa nickte. »Gewiß, das ließe sich feststellen. Doch es bleibt noch ein anderer schwerwiegender Grund, nicht allzu große Höhen aufzusuchen. Man würde sich dadurch des Schutzes begeben, den die Erdatmosphäre uns gegen die stets in großen Mengen auf die Erde niederstürzenden Meteoriten gewährt. Die beste und betriebssicherste Rakete wäre verloren, wenn sie von einem Meteorstein mit zehn- oder zwanzigfacher Granatengeschwindigkeit getroffen würde. Solchen Gefahren darf man ein Verkehrsmittel selbstverständlich nicht aussetzen.«
Die Enttäuschung, die sich in Hegemüllers Zügen malte, war so unverkennbar, daß Hidetawa noch einmal das Wort nahm.
»Die Strahlrakete, Herr Doktor«, fuhr er fort, »gibt uns die Möglichkeit, aus der Erdatmosphäre hinaus in den freien Weltraum vorzustoßen. Sicherlich werden solche Entdeckungsfahrten auch von Forschern unternommen werden, doch das hat nichts mit dem Verkehr zu tun; es ist und bleibt vielmehr ein gefährliches Unterfangen, das zwar im Interesse der Wissenschaft erwünscht, ja sogar notwendig ist, bei dem die Betreffenden aber jedesmal ihr Leben riskieren.«
»Wenn es erst soweit ist, fliege ich mit«, schrie Hegemüller begeistert. »Ich melde mich hiermit für den ersten Flug in den Weltraum an!«
»Bleiben Sie bei sich, Kollege«, sagte Grabbe und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Vorläufig brauchen wir Sie noch hier unten in Gorla. Später, wenn Sie Ihre Aufgaben gelöst haben, können Sie sich meinetwegen an einem Spazierflug nach dem Mond beteiligen . . . wenn sich jemand findet, der Sie mitnimmt.«
Lüdinghausen hatte den Erguß Hegemüllers belustigt mitangehört. Jetzt nahm er das Wort, um die Verhandlung sachlich zu führen.
»Herr Hidetawa ist bereit«, erklärte er, »einige Tage in Gorla zu bleiben, um hier in gemeinsamer Beratung mit uns die Pläne für eine Verkehrsrakete vorzubereiten. Er wird im Gästehaus des Werkes wohnen ebenso wie Herr Yatahira. Für heute lohnt es sich nicht mehr. Morgen früh wollen wir unsere Besprechungen beginnen. Ich denke, wir treffen uns am besten um neun Uhr bei Ihnen, Herr Grabbe, und machen uns gemeinsam an die Arbeit.«
Mißmutig schlenderte Dr. Hegemüller nach Werkschluß durch die Hauptstraße Gorlas auf seine Wohnung zu. Was die Herren heut im Kasino besprochen hatten, war ja alles ganz schön und ordentlich, aber für den quecksilbrigen und stets unternehmungslustigen Hegemüller viel zu nüchtern. Neue brauchbare Verkehrsmittel schaffen? Gewiß, das mußte natürlich auch sein, aber ein Vorstoß in den Weltraum erschien ihm tausendmal verlockender als die tägliche Ingenieurtätigkeit am Konstruktionstisch.
Er machte halt und blickte zum Firmament empor. Im Osten stand die Sichel des zunehmenden Mondes. Er reckte die Arme aus, als ob er das Nachtgestirn greifen und zu sich herabziehen wolle; ließ sie wieder sinken, als er Schritte hinter sich vernahm. Es war nicht nötig, daß irgendein Fremder ihn bei seinem absonderlichen Benehmen beobachtete.
Eben wollte er weitergehen, da waren die Schritte unmittelbar neben ihm, und Yatahira bot ihm einen guten Abend.
Dr. Hegemüller erwiderte den Gruß und wußte in seiner augenblicklichen Stimmung nicht recht, wie er ein Gespräch anfangen sollte, als der Japaner seinerseits begann.
»Sie äußerten heute nachmittag den Wunsch, Herr Doktor, den ersten Raketenflug in den Weltraum mitzumachen.«
Hegemüller musterte den Sprechenden scharf von der Seite. Wollte der ihn etwa zum besten haben? Dann sollte er eine Antwort bekommen, die Hörner und Zähne hatte. Doch die Züge Yatahiras verrieten nichts von einer solchen Absicht. Ernst und ruhig schaute er vor sich hin. So erwiderte Hegemüller ausweichend.
»Sie haben gehört, wie unsere Herren darüber denken. Die Eroberung des Weltraumes soll Forschern und Gelehrten vorbehalten bleiben; wir Ingenieure sollen uns darauf beschränken, die Strahlrakete als Verkehrsmittel zu entwickeln.«
»Mein Herr Hidetawa denkt anders darüber.« Leise hatte Yatahira die Worte vor sich hin gesprochen. Sekunden verstrichen, bis Hegemüller ihren Sinn erfaßte; dann überstürzten sich die Fragen an seinen Begleiter.
»Herr Hidetawa denkt anders darüber? Er will die Eroberung des Weltraumes nicht anderen Leuten überlassen? Was beabsichtigt er? Wann will er einen Vorstoß unternehmen? Muß dazu eine neue Maschine gebaut werden? Wie lange wird das dauern?«
»Eine halbe Stunde, Herr Doktor Hegemüller.«
»Was?! Wie soll ich das verstehen? Treiben Sie Ihren Scherz mit mir, Herr Yatahira?«
»Ich scherze nicht, Herr Doktor Hegemüller. Herr Hidetawa hat mir erlaubt, heut nacht mit seiner Rakete einen Flug zu unternehmen. Er hat nur die eine Bedingung gestellt, daß ich morgen früh um neun Uhr zu unserer Besprechung komme . . . wenn ich kommen kann.«
»Wenn Sie kommen können? Was soll das bedeuten?«
»Es ist eine ernste Sache, Herr Doktor. Herr Hidetawa hat heut die Gefahren genannt, mit denen man bei einem Flug in den freien Raum rechnen muß. Es geht auf Leben und Tod; darüber muß sich jeder klar sein, der den Flug wagt.«
»Sie wollen ihn trotzdem unternehmen?«
Yatahira nickte.
»Ich will es! Herr Hidetawa ist der Meinung, daß die Ehre des ersten Raumfluges den Erfindern der Strahlrakete gebührt.«
»Wollen Sie mich mitnehmen?«
Wieder ein Nicken des Japaners. »Deswegen habe ich Sie gesucht und bin Ihnen nachgegangen, Herr Doktor.«
»Yatahira, Sie nehmen mich mit?!«
Am liebsten wäre Hegemüller seinem Begleiter in überwallender Freude um den Hals gefallen. Mit Mühe bezwang er sich, preßte nur die Rechte Yatahiras und stammelte Dankesworte. Yatahira blieb unbewegt.
»Überlegen Sie es sich genau!« sagte er gelassen. »Es geht um Leben und Tod. Wir kennen die Größe der Gefahren nicht, aber wir wissen, daß sie groß sind. Es ist keineswegs sicher, ob wir von dem Flug zurückkehren. Auch Herr Hidetawa weiß das. Er hatte die Absicht, den Flug selbst zu unternehmen. Erst als ich ihn daran erinnerte, daß er sich für sein großes Werk erhalten müsse, ließ er sich bereit finden zurückzutreten. Ich hatte das Glück, daß er meine Bitte erhörte. Er hat mir erlaubt, an seiner Statt zu fliegen.«
Dr. Hegemüller hörte kaum noch auf das, was Yatahira sprach. Alle seine Gedanken drehten sich um den bevorstehenden Flug. Endlich nach Herzenslust in den Weltraum vorstoßen dürfen! Nicht mehr gehemmt sein durch Befehle von Vorgesetzten, die über jedes Kilometer Rechenschaft verlangten! Was hatten solcher Möglichkeit gegenüber die Gefahren zu bedeuten, von denen Yatahira sprach?
»Ich kann über meine Person frei verfügen . . . und wenn es sein muß, auch über mein Leben«, schlug er dessen Warnungen in den Wind. »Kommen Sie! Lassen Sie uns gehen.«
Hidetawas Maschine glich in den grundsätzlichen Anordnungen der Grabbeschen Rakete, doch war sie wesentlich geräumiger. Außerdem bemerkte Dr. Hegemüller, der ihr Inneres zum ersten Male zu Gesicht bekam, Einzelheiten, die ihn überraschten. Hier waren die Meßinstrumente und Steuerungsmechanismen systematisch in einem Kommandostand zusammengefaßt. Unbekannte Instrumente fielen Hegemüller auf. Nur aus der Beschriftung der Skalen konnte er auf ihren Verwendungszweck schließen, und einige erklärende Worte Yatahiras gaben ihm volle Klarheit. Hier war bereits eine Apparatur vorhanden, durch die eine einigermaßen gesicherte Navigation im freien Weltraum überhaupt erst möglich wurde. Schließlich gestattete eine schwere Kristallscheibe, welche die Kuppel der Rakete abschloß, auch einen freien Ausblick nach oben, so daß die Insassen während des Fluges das Ziel, welches sie ansteuerten, ständig im Auge behalten konnten.
Mit einer leichten Handbewegung drückte Yatahira Dr. Hegemüller in einen bequemen Sessel nieder. Er selbst trat an die Apparatewand des Kommandostandes. Eine Hebelbewegung, Hidetawas Maschine stieß vom Boden ab und schoß in die Höhe.
Aus der Kraft, mit der sein Körper in das Sesselpolster gedrückt wurde, zog Dr. Hegemüller den Schluß, daß die Beschleunigung, mit welcher die Maschine emporstrebte, recht beträchtlich sein mußte.
Während er noch auf die Zeigerscheiben der Meßinstrumente blickte, hatte er den Eindruck, als ob die Rakete sich zur Seite neige, als ob sie etwas schräg läge. Noch bevor er fragen, etwas sagen konnte, deutete Yatahira nach oben. Hegemüller blickte dorthin und sah genau im Mittelpunkt der Kristallscheibe die Mondsichel. Seine Blicke trafen sich mit denen Yatahiras. Der nickte ihm lächelnd zu.
»Unser Ziel, Herr Doktor. Wir steuern es auf Sicht an.«
*
Der neunte Schlag der Werkuhr war verklungen, als Lüdinghausen in Grabbes Zimmer trat.
»Sind die Herren noch nicht hier?« fragte er nach einem kurzen Blick in die Runde.
»Ich erwarte sie jeden Augenblick, Herr Professor. Wollen Sie bitte Platz nehmen.«
Während der Chefingenieur Lüdinghausen einen Sessel hinschob, öffnete sich die Tür zum zweiten Male. Hidetawa kam, begleitet von Saraku, ins Zimmer. Eine kurze Begrüßung, und sie nahmen ebenfalls an dem großen mit Schreibblöcken besetzten Konferenztisch Platz. Lüdinghausen warf einen Blick auf die Wanduhr und runzelte die Stirn.
»Fünf Minuten nach neun, Herr Grabbe. Wo steckt Doktor Hegemüller? Yatahira fehlt auch noch. Die jungen Herren lassen uns warten.«
Grabbe zuckte die Achseln. »Ich verstehe es nicht, Herr Professor. Herr Hegemüller weiß, daß unsere Besprechung auf neun Uhr angesetzt worden ist.« Er griff nach einer Klingel. »Ich werde einen Boten in seine Wohnung schicken. Er soll ihm Beine machen.«
Bevor der Chefingenieur noch auf den Knopf drücken konnte, griff Hidetawa nach der Klingel und zog sie an sich. Befremdet schaute Grabbe ihn an, während Hidetawa zu sprechen begann.
»Ich bitte Sie, Herrn Doktor Hegemüller und meinen Mitarbeiter Yatahira für eine Stunde zu entschuldigen. Die Herren werden um zehn Uhr hier sein.«
»Um zehn? Unsere Besprechung wurde auf neun Uhr festgesetzt. Warum hält sich Herr Hegemüller nicht an die Verabredung?« Lüdinghausen stellte die Frage in einem scharfen Ton. Wieder einmal hatte es den Anschein, als ob sich ein Donnerwetter über dem Haupte des Doktors zusammenzöge. Hidetawa hielt es für richtig, einzugreifen.
»Gedulden Sie sich bitte für die kurze Zeit, Herr Professor. Ich bin sicher, daß Sie die Unpünktlichkeit entschuldigen werden, wenn Sie die Gründe der Herren gehört haben.« Während Lüdinghausen zweifelnd den Kopf schüttelte, sprach Hidetawa weiter. »Wir können inzwischen wohl schon beginnen. Ich habe zusammen mit Herrn Saraku gestern abend einige Skizzen entworfen, die uns als erste Unterlage für unsere Besprechung dienen könnten.«
Hidetawa war ein Forscher von internationalem Ruf. Er war der älteste am Tisch, und er war schließlich als Gast hier; so fügten Lüdinghausen und Grabbe sich seinem Wunsch und traten in die Besprechung ein, doch mit ganzem Herzen waren sie nicht bei der Sache. Die etwas geheimnisvoll klingenden Worte ihres japanischen Freundes wollten ihnen nicht aus dem Kopf. Öfter als einmal wanderten ihre Blicke von den Skizzen, die Hidetawa ihnen vorlegte und erläuterte, nach dem Zifferblatt der Wanduhr. Einhalb zehn Uhr . . . dreiviertel zehn . . . nur noch wenige Minuten . . . dann würde man endlich erfahren, was hinter diesen Worten steckte. Und dann . . . Bei aller Hochachtung vor Hidetawa nahm sich Grabbe doch vor, dem eigenwilligen Hegemüller unter vier Augen gehörig den Kopf zu waschen, und auch Lüdinghausens Laune war nicht die allerbeste.
»Es wird sich also empfehlen, bei dem Bau für die äußere Form einen liegenden an Stelle eines stehenden Zylinders zu wählen«, hatte Hidetawa soeben gesagt, als die Uhr anhub, die zehnte Stunde zu schlagen. Im gleichen Augenblick klopfte es auch an der Tür, und die Erwarteten traten ein. Yatahira hatte eine ziemlich umfangreiche Mappe unter dem Arm, Hegemüller hielt ein Schreibheft in der Hand.
Lüdinghausen sah die beiden an und wunderte sich über ihr Aussehen. Ihre Gesichter waren gerötet, ihre Augen glänzten wie im Feuer, und eine eigenartige Spannung lag in ihren Zügen.
Übernächtigt sehen sie aus; als ob sie in kein Bett gekommen wären; als ob sie sich durch irgendwelche Reizmittel munter erhalten, ging es Grabbe durch den Sinn.
Yatahira hatte die Mappe inzwischen vor Hidetawa hingelegt. Der schlug sie auf und nahm das erste Blatt heraus. Lüdinghausen, der neben ihm saß, sah, daß es eine photographische Aufnahme im Folioformat war. Das Bild stellte eine Art Gebirgslandschaft dar, einen kreisförmigen Krater. Mit großer Schärfe zeigte es Felsschroffen und Schlünde.
»Wie finden Sie die Aufnahme, Herr Professor?« fragte Hidetawa, während er das Blatt vor Lüdinghausen hinschob.
Dessen Blick ging abwechselnd zwischen der Photographie und Hidetawa hin und her.
»Ich möchte es für eine Mondaufnahme halten«, begann er unsicher. »Ähnliche Aufnahmen wurden mit dem großen Spiegelteleskop der Hamilton-Sternwarte gemacht . . .«
»Sie haben recht, Herr Professor, es ist der Mondkrater Kopernikus, doch wir brauchten kein Spiegelteleskop dazu, das Bild wurde mit einer einfachen Tele-Kamera aufgenommen.«
Kopfschüttelnd ließ Lüdinghausen das Blatt sinken. »Mit einer einfachen Kamera?« fragte er erstaunt. »Die amerikanischen Astronomen machten ihre Aufnahme mit einer tausendfachen Vergrößerung. Nach meiner Erinnerung zeigen ihre Bilder weniger Einzelheiten als das hier . . .«
»Die Amerikaner haben vom Mount Hamilton aus über eine Entfernung von 380 000 Kilometer photographiert. Meine Maschine stand heut nacht nur 300 Kilometer vom Krater Kopernikus ab, als Herr Yatahira diese Aufnahme machte.«
»Was sagen Sie? Dreihundert Kilometer vom Mond ab?« Lüdinghausen lehnte sich in seinen Sessel zurück und schloß für ein paar Sekunden die Augen. Als er sie wieder öffnete, lag ein anderes Bild vor ihm. Eine zackige, zerrissene Felswand von scharfen Schlagschatten durchsetzt. »Ein Teil der Kraterwand des Kopernikus«, fuhr Hidetawa in seiner Erläuterung fort. Das Bild wurde aus hundert Kilometer Entfernung genommen. Hier noch eine Aufnahme . . .« er schob Lüdinghausen ein drittes Photo hin.
»Eine Aufnahme der gleichen Wandpartie aus fünfzig Kilometer Abstand. Näher ist Herr Yatahira an unseren Satelliten nicht herangegangen, um unnötige Gefahren zu vermeiden.«
Während Hidetawa sprach, ließ er die etwa zwanzig bis dreißig Blätter, welche die Mappe noch enthielt, wie spielend durch seine Finger gleiten. Es waren sämtlich Aufnahmen der Mondoberfläche, aus einer Nähe und infolgedessen in einer Vergrößerung aufgenommen, wie sie auch das mit dem schärfsten Teleskop bewaffnete menschliche Auge bisher noch nie erblickt hatte. Tiefes Schweigen herrschte am Tisch. Nur das Rascheln der Blätter in Hidetawas Hand unterbrach die Stille. Der zog jetzt wieder eine andere Aufnahme heraus und hielt sie Lüdinghausen hin.
»Hier beginnt Neuland«, erklärte er dabei weiter. An dieser Stelle hier –« er zog mit dem Finger eine Linie über das Gebilde – »beginnt die der Erde abgewandte Seite des Mondes, die bisher noch niemand sah.«
»Sie haben den Mond umfahren?!« Es waren die ersten Worte, die Grabbe seit der Ankunft Yatahiras sprach.
»Nicht ich, Herr Grabbe. Herr Yatahira und Herr Doktor Hegemüller haben den Flug gewagt und glücklich zu Ende geführt.«
»Heute nacht soll das geschehen sein?« Ungläubig warf Lüdinghausen die Frage auf.
»Heute nacht, Herr Professor. Ich sagte es bereits«, kam die Antwort Hidetawas.
Lüdinghausen griff nach dem Schreibblock und begann zu rechnen, während er halblaut Zahlen vor sich hin murmelte: »384 000 Kilometer hin . . . 384 000 Kilometer zurück . . . die Umkehrschleife . . . 780 000 Kilometer. Herr Gott im Himmel, Ihre Maschine muß eine Geschwindigkeit von wenigstens zehn Sekundenkilometer entwickelt haben . . . Bodengeschwindigkeit . . .«
Hidetawa schüttelte den Kopf. »Mehr, Herr Professor Lüdinghausen. Die Maschine war von 18 Uhr gestern bis 8 Uhr heute morgen unterwegs. Wir hatten nur vierzehn Stunden Zeit. Herr Yatahira mußte einen großen Teil des Weges mit 20 bis 25 Sekundenkilometer zurücklegen. Herr Doktor Hegemüller hat das Logbuch geführt. Vielleicht interessiert es Sie, seine Aufzeichnungen zu hören.«
Während Hidetawa sprach, überschlugen sich die Gedanken Lüdinghausens. Etwas Unerhörtes war geschehen. Eine unsterbliche Tat war in der vergangenen Nacht vollbracht worden. Menschlicher Wagemut und Erfindungsgeist hatten die Schranken durchbrochen, die ihnen für alle Ewigkeit gesetzt zu sein schienen. Zum ersten Male war ein Flug durch den Weltraum von einem Gestirn zu einem andern gelungen. Eine japanische Maschine hatte das geschafft. Ein Japaner hatte sie gesteuert, aber ein Deutscher war auch dabeigewesen . . . hatte Aufzeichnungen über den denkwürdigen Flug gemacht, ein Logbuch geführt.
An ein anderes Dokument mußte Lüdinghausen dabei denken . . . an das Logbuch der »Santa Maria« mit der Cristofero Colombo vor einem halben Jahrtausend seine Entdeckungsfahrt in die Neue Welt unternahm . . . Wurde es nicht noch heut in Spanien aufbewahrt und wie ein Heiligtum gehütet? Würde das Logbuch über die erste Entdeckungsfahrt in den Weltraum ein gleiches Schicksal haben?
Lüdinghausen nahm alle Vorwürfe zurück, die er Hegemüller im stillen gemacht hatte. »Lesen Sie vor, Herr Doktor!« rief er ihm zu.
Hegemüller schlug das Heft auf und begann zu lesen. »Gestartet am 30. Juli um 18 Uhr mit der Rakete des Herrn Hidetawa. An Bord Yatahira und Dr. Hegemüller. Beschleunigung zwei Meter in der Sekunde.
18 Uhr 5 Minuten. Der Kurs wird nach Sicht auf den Mond gesetzt.
18 Uhr 30 Minuten. Fluggeschwindigkeit 3,6 Kilometer in der Sekunde. Entfernung von der Erde 3240 Kilometer. Die irdische Atmosphäre liegt weit hinter uns. Die Beschleunigung wird auf 5 Meter pro Sekunde erhöht.
19 Uhr. Fluggeschwindigkeit 12 Sekundenkilometer. Abstand von der Erde 15 000 Kilometer. Die Erde schwebt wie ein mächtiger Ball im Raum. Die Beleuchtung durch den Mond ist stark genug, um Einzelheiten erkennen zu lassen.
Unter uns liegt die Sibirische Ebene . . .«
Zeile um Zeile, Eintragung um Eintragung las Dr. Hegemüller vor. Eintönig wirkten die vielen Zahlenangaben über die Geschwindigkeiten und Standorte, doch dazwischen gab es auch Notizen, welche die Zuhörer schärfer aufhorchen ließen. Unter 20 Uhr war vermerkt:
»Die Rakete tritt aus dem Erdschatten hinaus. Wir fliegen in hellem Sonnenschein. Es wird warm im Inneren der Rakete. Wir stellen die Heizung ab . . .
1 Uhr morgens. Wir sind einer großen Gefahr entgangen. Ein Bolide schoß dicht an der Rakete vorbei. Wenige Meter näher, und unser Schicksal wäre besiegelt gewesen. Wir fliegen mit 30 Sekundenkilometer durch den Weltraum.
2 Uhr. Yatahira stellt die Beschleunigung ab, setzt starke Verzögerung an. Wir müssen uns festbinden, um nicht nach oben gegen die Decke geschleudert zu werden.
2 Uhr 30. Die Mondkugel ist zu einer Scheibe geworden, die den vierten Teil des Himmels umspannt. Wir verzögern die Geschwindigkeit noch stärker.
3 Uhr. Die Rakete stößt dicht an dem Mondgestirn vorbei. Die Verzögerung hat sich ausgewirkt. Unsere Geschwindigkeit beträgt nur noch 30 Meter in der Sekunde. Triebkraft steht auf Null. Mit gleichbleibender Geschwindigkeit fliegen wir über der Mondoberfläche dahin.
3 Uhr 15. Ich habe die Kamera in Betrieb genommen und mache Aufnahmen. Eben habe ich den Krater Kopernikus photographiert.
3 Uhr 45. Yatahira hatte alle Hände voll mit der Steuerung zu tun. Wir umfliegen das Nachtgestirn in einer kreisförmigen Schleife.
3 Uhr 50. Die Sonne ist wieder verschwunden. Wir sind in den Mondschatten eingetaucht. Die Navigation wird schwierig. Wir ändern den Kurs und bleiben 1000 Kilometer von der Mondoberfläche ab.
4 Uhr 15. Die Sonne ist wieder da. Wir befinden uns von der Erde aus gerechnet noch hinter dem Mond. Als die ersten Menschen erblicken wir seine Rückseite. Sie unterscheidet sich nicht von der Vorderseite. Totes Gebirge, Kraterzacken und Felsriffe.
4 Uhr 25. Der Satellit ist umschifft. Yatahira hat Sorge um die Zeit. Er hat versprochen, bis um 9 Uhr zurück zu sein. Wir legen uns in die Sessel. Yatahira gibt Beschleunigung auf 10 Sekundenmeter. Unsere Körper sind schwer wie Blei. Es muß ertragen werden, wenn wir unsere Zeit innehalten wollen.
5 Uhr 30. Wir rasen mit 40 Sekundenkilometer durch den Raum.
6 Uhr. Erde und Mond erscheinen fast gleich groß. Der halbe Rückweg ist geschafft. Wir werden pünktlich sein können.
7 Uhr. Wir stehen nur noch 45 000 Kilometer von der Erde ab. Höchste Zeit, die Verzögerung wirken zu lassen.
7 Uhr 30. Einzelheiten der Erdoberfläche werden erkennbar. Unter uns liegt ein weites Meer. Während der Stunden, die wir im freien Weltraum waren, hat sich der Erdball weiter von Westen nach Osten gedreht. Wir befinden uns über dem Stillen Ozean östlich von den japanischen Inseln. Yatahira setzt den Kurs drei Striche nach Westen.
7 Uhr 45. Die Kursänderung hat sich ausgewirkt. Deutschland liegt wieder unter uns. Jetzt heißt's noch, Gorla richtig ansteuern.
7 Uhr 55. Wir stehen senkrecht über Gorla. Sinken mit drei Meter in der Sekunde.
8 Uhr glücklich gelandet.«
Dr. Hegemüller hatte geendet. Die Stille, die seinen Worten folgte, unterbrach als erster Hidetawa. »Die Herren hätten pünktlich hier sein können, Herr Professor Lüdinghausen. Ich hielt es jedoch für richtiger, daß sie sofort die während des Fluges gemachten Aufnahmen entwickelten, kopierten und hierher brachten; denn, meine Herren, wir stehen jetzt vor der Frage, in welcher Weise wir mit dem, was wir erreicht haben, an die Öffentlichkeit treten wollen.«
»An die Öffentlichkeit treten wollen?« Halb zustimmend, halb zögernd wiederholte Lüdinghausen die letzten Worte Hidetawas. »Halten Sie die Zeit dafür schon gekommen?«
»Jawohl, Herr Professor Lüdinghausen. Wir wissen wohl, was bei Ihnen, bei uns und in Rom geschafft wird, aber wir wissen nicht, was sich an anderen Stellen entwickelt. Wenn wir uns die Priorität sichern wollen, müssen wir der Welt umgehend einen Bericht über den ersten Flug in den Weltraum geben, sonst könnte es vielleicht sein, daß ein anderer uns zuvorkäme.«
»Das wäre . . .« Chefingenieur Grabbe geriet in Harnisch. »Das wäre ja scheußlich! Haben Sie bestimmte Gründe für Ihre Vermutung, Herr Hidetawa?«
Der Japaner zuckte die Achseln. »Ich sage nur, Herr Grabbe, daß die Möglichkeit vorliegt. Wir wissen nicht, was in amerikanischen oder englischen Laboratorien geschieht. Sicher ist nur, daß jene Vorkommnisse, die sich vor einigen Monaten ereigneten, doch ziemliches Aufsehen erregt haben. Ich meine jene entflogenen Stücke des Strahlstoffes«, fuhr er auf einen fragenden Blick Grabbes fort, »die an verschiedenen Stellen unserer Erdkugel niederfielen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß auch Forscher in anderen Ländern dadurch neugierig und hellhörig geworden sind. Deshalb möchte ich auf eine sofortige Veröffentlichung dringen.«
»Wie soll der Bericht gehalten werden?« fragte Lüdinghausen.
»So kurz wie möglich. Eine Einleitung von zwanzig Zeilen, eine Abschrift des Logbuches und ein halbes Dutzend wirksamer Aufnahmen werden vollständig genügen.«
Lüdinghausen nickte. »Sie haben recht, Herr Hidetawa. Diese kurze Form wird die wirksamste sein. Ich werde alles vorbereiten lassen. Wollen Sie mir bitte noch die Aufnahmen angeben, die Sie für die geeignetsten halten.«
Der Wunsch Lüdinghausens war schnell erfüllt, und dann begann der Apparat des Gorla-Werkes zu arbeiten. Es wurde in fremde Sprachen übersetzt, kopiert und vervielfältigt, und noch am Abend des gleichen Tages ging der Bericht über den ersten Weltraumflug an alle großen Nachrichtenagenturen und Depeschenbüros der Erde hinaus.
*
Als eine Sensation allerersten Ranges wirkte sich der Bericht über den ersten Raketen-Raumflug in der Weltöffentlichkeit aus. Zwischen Hammerfest und Feuerland, zwischen Wladiwostok und Melbourne gab es keine Zeitung, die ihn nicht unverkürzt abgedruckt hätte.
Verschieden waren die Kommentare, welche die einzelnen Blätter ihrer jeweiligen Einstellung entsprechend dazu brachten. Von ungläubigem Zweifel bis zu begeisterter Zustimmung waren alle Tonarten vertreten. Nur darin waren sich alle einig, daß mit diesem Raumflug eine neue Epoche der Technik und des Verkehrswesens begonnen habe . . . falls die Nachricht sich bewahrheiten sollte, wie die ewigen Zweifler hinzufügten.
Mit verschiedenen Gefühlen wurde der Bericht von den unmittelbar interessierten Stellen aufgenommen. Professor Ruggero verschlug es die Sprache, als er ihn las, und als er sie wiederfand, gab er seiner Stimmung Villari gegenüber einen Ausdruck, der an Lebhaftigkeit nichts zu wünschen übrigließ.
»Wieder sind die anderen uns zuvorgekommen!« schrie er ihn an. »Wieder waren es die Japaner, die nun nach dem ersten Verkehrsflug um den halben Erdball auch den ersten Weltraumflug gemacht haben. Die Japaner zusammen mit den Deutschen, denn ein Deutscher hat dabei das Logbuch geführt. Immer kommen wir zu spät! Was können wir noch unternehmen, um nicht ganz ins Hintertreffen zu geraten? Sprechen Sie, Villari! Unsere Ehre steht auf dem Spiel. Unsere Ehre und die Ehre Italiens. Was raten Sie mir?«
Villari blieb diesen Ausbrüchen gegenüber ruhig. Er dachte sich sein Teil, aber er hielt es nicht für angebracht, alles auszusprechen, was ihm durch den Sinn ging. Wenn du früher auf mich gehört hättest, carissimo, wenn du nicht so maßlos verbockt gewesen wärest, dann hätten wir die erste Rakete gehabt und brauchten jetzt nicht hinten nachzuhinken, dachte er bei sich. Vorsichtig begann er zu sprechen.
»Die Tatsache steht fest, Herr Professor, daß als erster ein Italiener einen Raketenflug in die Stratosphäre unternommen hat. Jawohl! Das bin ich gewesen!« fuhr er fort, als Ruggero ihn verständnislos ansah.
»Unglücklicher! Sprechen Sie nicht davon!« Ruggero streckte wie abwehrend seine Arme aus. »Danken Sie Gott, daß dieser Flug unbekannt geblieben ist. Sorgen Sie dafür, daß er niemals bekannt wird!«
Carlo Villari merkte, daß seine Worte wenig Gnade vor den Augen Ruggeros fanden und suchte nach einem anderen Weg.
»Dann sehe ich nur eine Möglichkeit«, fuhr er nach kurzem Überlegen fort. »Sowie unsere neue Verkehrsrakete startbereit ist, müssen wir einen Propagandaflug unternehmen. Ganz groß müssen wir die Sache anlegen. Die berühmtesten Wissenschaftler unseres Landes müssen wir dazu einladen. Schon vorher muß unsere Presse darüber berichten. Auch Vertreter der Schriftleitungen müssen mit an Bord sein, die unterwegs durch Funk Nachrichten an ihre Blätter geben.«
Villari erwärmte sich an seiner Idee, während er sie weiterentwickelte. Mit lebhaften Worten malte er sie dem Professor aus, wie man das verlorene Terrain zurückerobern könne, wenn die Presse für den Flug der ersten Verkehrsrakete in richtiger Weise interessiert würde, und riß schließlich auch Ruggero mit.
»Sie haben recht, Villari«, stimmte der ihm bei und begann im nächsten Augenblick schon einen praktischen Überschlag zu machen.
»Wir können mit aller Bequemlichkeit fünfzehn Personen in unserer neuen Maschine unterbringen. Wir beide müssen natürlich mitfliegen; bleiben noch dreizehn Plätze. Sagen wir also sechs Wissenschaftler und sieben Pressevertreter.«
Villari widersprach. »Ich glaube, es wird genügen, wenn wir drei Wissenschaftler und zehn Herren von der Presse einladen. Als Vertreter der Wissenschaft würde ich die Herren Oriola, Montuori und Giovari vorschlagen. Die Einladungen an die Presse müssen wir uns noch sorgfältig überlegen. Zehn Plätze sind nicht viel. Wir müssen geschickt auswählen, damit sich niemand zurückgesetzt fühlt. Es wäre mir lieber, wenn wir die doppelte Zahl von Einladungen ergehen lassen könnten, aber es wäre verfehlt, zuviel Personen an Bord zu nehmen. Der Komfort und die Behaglichkeit, welche unser neues Verkehrsmittel bietet, würden dann nicht voll zur Geltung kommen. Eventuell werden wir mehrere derartige Flüge machen müssen.«
In Rede und Gegenrede erörterten sie den Plan weiter und einigten sich schließlich auf die von Villari vorgeschlagene Verteilung der verfügbaren Plätze.
Während der Bau der neuen Verkehrsrakete in Tag- und Nachtschichten nach Menschenmöglichkeit gefördert wurde, korrespondierte Professor Ruggero mit den drei als Fluggäste in Aussicht genommenen Gelehrten. Carlo Villari aber spielte seine persönlichen Beziehungen zur italienischen Presse aus: er beschränkte sich nicht darauf, die Vertreter führender Zeitungen brieflich und mündlich von dem zu unterrichten, was auf die Veranlassung Ruggeros und des Instituto Fisiko entstanden war und sich jetzt bereits seiner Vollendung näherte. Er brachte sie auch in die große Montagehalle; er zeigte ihnen den imposanten Bau der neuen Rakete nicht nur von außen, sondern führte sie durch das Innere, zeigte ihnen den Kommandoraum, lud sie ein, in den bequemen Sesseln des Passagierraumes Platz zu nehmen, von denen man durch breite Fenster einen guten Ausblick nach allen Seiten hatte. Er erklärte ihnen die Einrichtungen einer Bar und einer elektrischen Küche, die während des Fluges für die leiblichen Bedürfnisse der Gäste sorgen sollten, und verstand es, auf solche Weise ihre Erwartungen schon jetzt hoch zu spannen. In den Zeiten zwischen derartigen Vorführungen aber steckte er selbst viele Stunden an jedem Tag in der Montagehalle und suchte die Fertigstellung der italienischen Maschine auf jede Art und Weise zu beschleunigen.
*
Auch in Gorla wurde nach den neuen von Grabbe, Hegemüller und Hidetawa gemeinsam entworfenen Plänen gebaut, doch es ging nicht so überstürzt zu wie in Rom. In Gorla arbeitete man mehr nach dem Grundsatz »Gut Ding will auch gut Weile haben« und legte Wert auf die sorgfältigste Durchkonstruktion aller Einzelheiten. Die Sicherheit der Insassen blieb dabei die wichtigste Forderung, denn nach dem geglückten Weltraumflug war der sonst so draufgängerische Hegemüller schwer nachdenklich geworden.
»Ich komme mir vor wie der Reiter über dem Bodensee«, äußerte er sich öfter als einmal Bekannten gegenüber, die ihn zu dem gelungenen Wagnis beglückwünschten, und Grabbe gegenüber begründete er dies Gefühl eines nachträglichen Grauens so eingehend, daß der Chefingenieur schließlich kopfschüttelnd meinte: »Sollte sich ein Wunder ereignen, Kollege? Sollten Sie auf Ihre alten Tage doch noch vernünftig werden?«
Aber Dr. Hegemüller war heut nicht in der Laune, auf diesen Ton einzugehen. Ernster, als es sonst seine Art war, fuhr er fort:
»Wir haben bei unserem Flug Kopf und Kragen riskiert. Ich will nicht von den Gefahren sprechen, die der Weltraum an sich bietet; die müssen von jedem, der Raumschiffahrt treiben will, mit in Kauf genommen werden. Aber auch die Einrichtungen der Rakete Hidetawas waren trotz aller Verbesserungen und Fortschritte noch unzulänglich. Für einen Verkehrsflug unterhalb der Heavyside-Schicht mögen sie gut sein, aber für eine Navigation im Weltraum reichen sie doch noch nicht aus. Es war ein unverdientes Glück, daß wir die unbeleuchtete Hälfte des Mondballs glücklich umschifften. Die Gefahr, in der Dunkelheit vom richtigen Kurs abzukommen und zu stranden, war sehr groß. Yatahira hat es mir erst nachträglich eingestanden, daß wir auf der abgewandten Seite unseres Satelliten um ein Haar einen Gipfel gerammt hätten, während er noch glaubte, tausend Kilometer von der Mondoberfläche entfernt zu sein.«
»Das wäre freilich das Ende gewesen«, mußte Grabbe zugeben. »Welche Verbesserungen der Navigationsmittel schlagen Sie vor?«
Hegemüller begann seine Vorschläge an den Fingern aufzuzählen. »Erstens eine komplette Kreiselkompaßanlage. Wir dürfen nicht wieder lediglich auf Sternbeobachtungen angewiesen sein. Zweitens ein Echolot, das es uns gestattet, jederzeit unsern Abstand, sei es von der Erdoberfläche, sei es von der des Mondes, festzustellen. Drittens eine starke Scheinwerferanlage, um das Gelände anstrahlen zu können. Viertens . . .«
»Hören Sie auf, Herr Doktor!« unterbrach ihn Grabbe. »Wenn wir das alles unterbringen wollen, müssen wir anbauen. Dann muß unsere Rakete noch um ein gutes Stück vergrößert werden.«
»Also vergrößern wir sie, Herr Grabbe«, meinte Hegemüller. »Höchste Sicherheit muß angestrebt werden. Eine Katastrophe, ja schon ein ernstlicher Unfall könnte die neue Technik des Raketenfluges in Verruf bringen und um Jahre zurückwerfen.«
Grabbe strich sich bedenklich über die Stirn. Den Gründen Hegemüllers konnte er sich nicht verschließen, obwohl sie eine Umarbeitung der vorliegenden Pläne und einen beträchtlichen Zeitverlust nach sich ziehen mußten.
Wenige Tage später bekam Professor Ruggero einen Brief von Enrico Tomaseo, und mit stiller Freude entnahm Carlo Villari daraus die Mitteilung, daß man in Gorla beim Bau einer neuen Verkehrsrakete auf Schwierigkeiten gestoßen sei. Für Villari war das Veranlassung, die Fertigstellung der eigenen Maschine noch mehr zu beschleunigen. Jetzt glaubte er sicher zu sein, daß man ihm in Gorla nicht wieder zuvorkommen würde.
Aus einer dunklen Ahnung heraus hatte Hidetawa auf die sofortige Bekanntgabe des gelungenen Mondfluges gedrängt.
»Wir wissen wohl, was bei Ihnen, bei uns und in Rom geschafft wird, aber wir wissen nicht, was in amerikanischen oder englischen Laboratorien geschieht«, hatte er zu Professor Lüdinghausen gesagt. In der Tat war seine Befürchtung nicht unbegründet, denn schon seit vielen Wochen geschah in dem amerikanischen Nationallaboratorium zu Albany am Hudson allerlei, was die Herren Grabbe und Lüdinghausen wahrscheinlich aus ihrer Ruhe gebracht haben würde, wenn sie darum gewußt hätten.
Schon seit einer Reihe von Jahren beschäftigte sich Dr. Henry Lee dort mit der Erforschung des Atomzerfalls. Wie zahlreichen andern Physikern war es auch ihm gelungen, auf künstlichem Wege Radioaktivität zu erzeugen, wenn auch die von ihm hergestellten Substanzen nicht annähernd so kräftig strahlten wie die in Gorla und Tokio gewonnenen Stoffe. Mit größter Aufmerksamkeit hatte er die rätselhaften Vorgänge auf den Neufundland-Bänken, im Garten des Farmers Atwater und am Boulder-Damm verfolgt und keine Mühe gescheut, um sich möglichst zuverlässige Berichte darüber zu verschaffen, und endlich den zutreffenden Schluß gezogen, daß man an irgendeiner andern Stelle schon ein gutes Stück weiter sein müsse als in seinem Laboratorium.
Fieberhaft hatte Dr. Lee daraufhin weitergearbeitet, und es war ihm geglückt, seinen eigenen Strahlstoff wesentlich zu verbessern, als die Nachricht von der geglückten Mondumseglung der Japaner und Deutschen auch in Albany wie eine Bombe einschlug. Die Art, wie er sie aufnahm, unterschied sich nicht allzusehr von derjenigen, in der zur gleichen Zeit Professor Ruggero in Rom darauf reagierte. Auch Dr. Lee fühlte sich von anderen, glücklicheren überholt, sah sich ins Hintertreffen geraten und faßte einen tollkühnen Entschluß, um die Scharte wieder auszuwetzen.
Eine Rakete bauen und damit in den Weltraum vorstoßen? . . . Es würde mit dem Strahlstoff, den er zur Verfügung hatte, wohl ebenfalls möglich sein. Die andern hatten den Mond umflogen; den Vorsprung hatten sie zweifellos, aber sie hatten es nicht gewagt, auf seiner Oberfläche zu landen. Diese Tat, eine wirkliche Entdeckertat, mußte noch getan werden, und Henry Lee war entschlossen, sie zu vollbringen.
Eine fixe Idee wurde das bei ihm, die ihn völlig gefangennahm und ihm den Blick für alles andere trübte. Er sah nicht mehr die vielen Gefahren; er machte sich keine Gedanken mehr darüber, ob sein Strahlstoff einer solchen Aufgabe wirklich gewachsen sei. Nur der brennende Wunsch beherrschte ihn noch, als der erste auf dem Mond zu landen und dort das Sternenbanner aufzupflanzen, wie andere amerikanische Forscher es Jahrzehnte früher an den beiden Erdpolen gehißt hatten.
Dem Entschluß folgte die Tat. Während das öffentliche Interesse an dem geglückten Flug Yatahiras allmählich abebbte, während man in Gorla stetig und zielbewußt weiterarbeitete und während in der italienischen Presse Nachrichten über die Pläne Ruggeros erschienen, wurde die Welt plötzlich durch eine neue Sensationsmeldung erschüttert. In Schlagzeilen brachten sie die Mittagsblätter von Albany, in noch größeren Lettern und noch um ein gutes Stück knallender eine halbe Stunde später alle andern amerikanischen Zeitungen von New York bis Frisko.
»Dr. Henry Lee zum Mondflug gestartet.« »Die Strahlrakete von Dr. Lee.« »Dr. Lee beabsichtigt Landung auf dem Mond.« »Dr. Lee wird den Mond für die USA in Besitz nehmen.«
Zwischen den Schlagzeilen stand ein Text, aus dem hervorging, daß Dr. Lee zusammen mit seinen drei Assistenten Johnson, Perkins und Brown den Raumflug gewagt hatte. Weiter erfuhren die Leser daraus, daß die Rakete mit Sauerstoff, Proviant und Wasser für einen Monat versehen sei. An diese wenigen Tatsachen knüpfte der Bericht eine Flut von Hoffnungen, Vermutungen und Möglichkeiten, die zwar der Phantasie seines Verfassers alle Ehre machten, aber mit der harten Wirklichkeit wenig zu tun hatten.
Auf Funkwellen flog die neue Kunde aus den Staaten nach West und Ost über den Erdball. Noch am Abend des gleichen Tages wurde sie auch von den europäischen Zeitungen gebracht und erregte in der Alten Welt nicht weniger Aufsehen als in der Neuen.
»Was sagen Sie dazu, Doktor?« fragte Grabbe und hielt Hegemüller ein Zeitungsblatt hin.
»Der Mann und seine Begleiter sind verloren, Herr Grabbe.«
»Warum verloren, Herr Hegemüller? Ist Ihr Urteil nicht etwas voreilig?«
»Dr. Lee will auf dem Mond landen, Herr Grabbe. Ich glaube, er ist sich nicht klar darüber, was das zu bedeuten hat.«
Chefingenieur Grabbe widersprach. »Doktor Lee ist ein nicht unbedeutender Physiker. Es ist anzunehmen, daß er sich die Gefahren seines Unternehmens vorher genau überlegt hat.«
Hegemüller verharrte auf seinem Standpunkt. »Nein und nochmals nein, Herr Grabbe! Wenn er sich darüber klar wäre, hätte er dies Stück aus dem Tollhaus niemals unternommen.«
»Ich glaube, Sie tun dem Mann unrecht, Herr Doktor Hegemüller. Aus dem Bericht hier geht hervor, daß die Expedition für alle Eventualitäten ausgerüstet ist. Unter anderem wurden für die vier Insassen Skaphanderanzüge mit elektrischer Beheizung und Sauerstofftornister mitgenommen . . .«
Hegemüller lachte kurz auf. »Die elektrische Beheizung wird ihnen ganz besonders nützen, wenn die Temperatur der sonnenbestrahlten Mondoberfläche auf 125 Grad Celsius ansteigt.«
»125 Grad Celsius?« unterbrach ihn Grabbe. »Ist das nicht ein bißchen reichlich, Herr Doktor?«
»Im Gegenteil, Herr Grabbe. Es sind noch zwei Grad zu wenig. Das Mount-Wilson-Observatorium hat in der Mitte der vollbeleuchteten Mondscheibe 127 Grad Wärme festgestellt. Zum Ausgleich dafür wird es aber recht unangenehm frisch, sobald die Sonnenbestrahlung fehlt. Das ebengenannte amerikanische Observatorium maß während einer Finsternis schon eine halbe Stunde später an der gleichen Stelle der Mondoberfläche eine Temperatur von 123 Grad Kälte. Über einen Mangel an Abwechslung werden sich Herr Lee und seine Gefährten also nicht zu beklagen brauchen. Daß sie dies mörderische Mondklima lebendig überstehen, halte ich allerdings für völlig ausgeschlossen.«
»Ich glaube, Sie sehen doch zu schwarz, mein lieber Hegemüller«, wandte der Chefingenieur ein. »Zwischen 120 Grad Hitze und 120 Grad Kälte gibt es doch eine Mitteltemperatur, bei der ein Mensch existieren kann. Wenn Lee und seine Leute sich gerade an der Grenze zwischen der sonnenbestrahlten und der unbestrahlten Mondfläche halten, könnten sie die gefährlichen Temperaturen vermeiden.«
Nur zögernd gab Hegemüller die von Grabbe vorgebrachte Möglichkeit zu.
»Vergessen Sie aber nicht, Herr Grabbe«, meinte er, »daß jene Grenze zwischen Licht und Schatten, auf der menschliches Leben vielleicht möglich ist, sich am Mondäquator mit einer Geschwindigkeit von 17 Kilometer in der Stunde verschiebt. Erleidet die amerikanische Maschine bei der Landung etwa einen Defekt, der sie auch nur für eine Stunde manövrierunfähig macht, so sind die Amerikaner verloren. Rettungslos müssen sie dann entweder in die Zone tödlichen Frostes oder in verderbenbringende Glut geraten. Unser Freund Yatahira wußte sehr genau, weshalb er das Abenteuer einer Landung vermied.«
Grabbe zuckte die Achseln. »Aus Ihnen werde ein anderer klug. Das eine Mal sind Sie optimistisch bis zur Verwegenheit; das andere Mal sehen Sie alles schwarz in schwarz. Es hat keinen Zweck, weiter mit Ihnen zu streiten. Die Zeit wird es erweisen, wer von uns beiden recht behält. Ich bin auf die nächsten Nachrichten von Doktor Lee gespannt.«
Chefingenieur Grabbe schickte sich an, den Raum zu verlassen, als eine kurze Bemerkung Hegemüllers ihn noch einmal zurückhielt.
»Sie werden keine Nachricht von Doktor Lee bekommen«, hatte der gesagt.
»Warum nicht, Herr Hegemüller?«
»Weil seine Maschine sich außerhalb der Heavyside-Schicht befindet. Für alle Radiowellen bis zu den Ultrakurzwellen hin ist die Schicht ein absolutes Hindernis. Ein Verkehr wäre nur mit Wellen von der Größenordnung der Wärme- oder Lichtstrahlen möglich. Aus dem Grund habe ich die Scheinwerferanlage für unsere eigene Maschine vorgeschlagen. Unsere stärksten Scheinwerfer geben immerhin die Möglichkeit, von einer unbeleuchteten Stelle der Mondoberfläche sichtbare Morsezeichen zur Erde zu senden, aber Doktor Lee hat bestimmt nicht derartiges an Bord. Er kann keine Nachricht senden, nicht um Hilfe rufen; ganz auf sich selbst ist er angewiesen . . . verloren und verlassen, entweder im Weltraum oder in der Kälte und Glut unseres Trabanten.«
Sollte Hegemüller mit seiner Prophezeiung recht behalten? Die Tage reihten sich aneinander, ohne daß ein Lebenszeichen von der amerikanischen Maschine kam. Schon begannen sie sich zu Wochen auszudehnen, während man immer noch hoffte und in Albany stündlich die Rückkehr der kühnen Weltraumflieger erwartete.
Als die vierte Woche anbrach, begann die Stimmung umzuschlagen. Nun fing man in den Vereinigten Staaten an zu rechnen: Jetzt haben sie noch für sechs Tage Atemluft an Bord; noch Wasser und Proviant für vier Tage . . . jeder neue Tag ließ die Zahlen weiter schrumpfen, die Hoffnung geringer werden. Man erinnerte sich früherer Unfälle, bei denen Unterseeboote auf den Seegrund gesunken waren und man ähnlich gerechnet hatte. Ohne Mundvorrat konnte ein Mensch Wochen überdauern, ohne Wasser wenigstens einige Tage, aber ohne Frischluft nur wenige Minuten. Drohend erhob sich das Gespenst des Erstickungstodes für Dr. Lee und seine Gefährten. Schon zählte man in Albany die Stunden, die ihnen noch übrigblieben, zählte schließlich sogar noch die Minuten bis zu jener verhängnisvollen letzten, in der man die Expedition verloren geben mußte, und dann gingen die Maschinen der amerikanischen Presse an und warfen Extrablätter heraus. Wieder gab es knallende Schlagzeilen, doch anders als vor vier Wochen waren sie gehalten. Eine Trauerbotschaft hatten sie zu verkünden. Das tragische Ende eines kühnen Forschers hatten sie der Leserschaft mitzuteilen. Ein Ende, das sich nach den Unterlagen des Nationallaboratoriums fast auf die Sekunde genau angeben ließ.
Chefingenieur Grabbe war erschüttert, als er die Nachricht am Lautsprecher hörte. Auch in Gorla hatte man ja das Schicksal der amerikanischen Expedition verfolgt; mit begreiflichem Interesse zuerst, mit immer steigender Sorge danach, bis nun die traurige Gewißheit kam.
»Sie haben recht behalten«, sagte Grabbe zu Hegemüller.
»Leider, Herr Grabbe. Ich hätte mich lieber Lügen strafen lassen, doch die harten Tatsachen sind stärker als alle Wünsche und Hoffnungen. Erinnern Sie sich daran, wie Hidetawa noch vor seiner Rückkehr nach Tokio über das Unternehmen urteilte. Er war genau der gleichen Meinung wie ich.«
Über die ganze Erde hin verbreitete der Rundfunk die Nachricht von dem tragischen Ende der amerikanischen Expedition, und von Millionen von Hörern wurde sie vernommen. Auch Signor Guerresi, der Kapitän des Frachtdampfers »Felicità«, der sich auf der Fahrt von Sardinien nach Neapel befand, hatte sie gehört und seinem Ersten Offizier Signor Marzano seine Meinung über den Fall nicht vorenthalten.
»Die Amerikaner sind nun tot«, hatte er gesagt. »Schon vor vier Stunden erstickt, wie das Radio eben gemeldet hat. Ein böses Ende, Signor Marzano. Aber schließlich haben sie es sich selber zuzuschreiben.«
»Man sollte für ihre armen Seelen eine Messe lesen lassen«, meinte Marzano.
»Ja, das müßte man tun«, griff Guerresi den Vorschlag seines Ersten Offiziers auf. »Es ist zu befürchten, daß sie mit einer Todsünde von dannen gegangen sind.«
»Mit einer Todsünde? Wie das, Signor Capitano?«
»Weil man ihr Unterfangen als einen bewußten Selbstmord auffassen kann, Signor Marzano. Ich las darüber im ›Popolo Romano‹ einen Artikel von unserem Professor Ruggero; dem berühmten Ruggero, der in allernächster Zeit selbst mit einer dieser neuen Raketenmaschinen aufsteigen will. Er verurteilte das amerikanische Unternehmen als einen selbstmörderischen Wahnsinn und sagte die Katastrophe als unvermeidlich voraus.«
»Ja, Signor Capitano. Unser Professor Ruggero ist ein anderer Mann als die Amerikaner. Er überlegt sich vorher genau, was er tut. Nach allem, was man darüber hört und liest, soll seine neue Flugmaschine ein technisches Wunderwerk werden. In den Zeitungen stand, daß er einen Rundflug um die Erde vorhat, zu dem die bedeutendsten Gelehrten unseres Landes eingeladen worden sind. Signor Ruggero wird sein Unternehmen sicher glücklich zu Ende bringen.«
Dies Gespräch zwischen Guerresi und Marzano fand in der Offiziersmesse der »Felicità« statt, und danach wurde es für Marzano Zeit, seine Wache auf der Brücke anzutreten, während Guerresi sich in seine Kabine zurückzog.
Gemächlich schlenderte Marzano auf der Kommandobrücke der »Felicità« hin und her. Die Tyrrhenische See lag glatt wie ein Spiegel unter einem wolkenlosen Himmel. Kein Lüftchen regte sich, so daß der Erste Offizier reichlich Muße hatte, seinen Gedanken nachzugehen. Noch einmal ließ er sich das vorher Gehörte durch den Sinn gehen. Die amerikanischen Raketenflieger waren nun also elend erstickt. Eingeschlossen in einen metallenen Kerker trieben ihre Leichen irgendwo im unendlichen Weltraum oder lagen auf dem Mond, und bis zum jüngsten Tage würden sie so treiben oder liegen. Nie mehr würde man von ihnen etwas sehen oder hören.
Durch ein pfeifendes, singendes Geräusch wurde Marzano aus seinen Betrachtungen gerissen. Immer stärker schwoll das Geräusch an, wandelte sich in ein brausendes Dröhnen, und dann schlug etwas Schimmerndes, Metallisches kaum zweihundert Meter von der »Felicità« entfernt auf das Meer und wühlte bei seinem Sturz die eben noch so ruhige Wasserfläche auf.
Eine ringförmige Welle lief von der Einschlagstelle her nach allen Seiten über die See hin. Noch rieb sich Marzano erstaunt die Augen, als die Welle klatschend gegen die eiserne Wand der »Felicità« schlug. Er hatte etwas niederstürzen sehen; ein Zweifel daran war ausgeschlossen. Wo war es geblieben? Die See war an dieser Stelle mehr als dreitausend Meter tief. War es auf den Grund gesunken, das Glänzende, Raketenartige . . . blitzartig durchzuckte ein neuer Gedanke Signor Marzano . . . Sollte es die amerikanische Rakete gewesen sein? Irrte das Bauwerk des Dr. Lee vielleicht nicht mehr im Weltraum umher? War es, von der Anziehungskraft gepackt, auf die Erde zurückgestürzt? Sollte es sein Schicksal sein, bis zum Ende aller Tage auf dem Grund des Tyrrhenischen Meeres zu ruhen? Viele Fragen, die dem Ersten Offizier blitzartig durch den Kopf gingen.
Noch stand er regungslos und starrte auf die blaue See, als das Wasser von neuem in Bewegung geriet. Der blanke Metallkegel tauchte wieder aus der Flut auf, sprang an die zehn Meter in die Luft empor, fiel klatschend auf das Wasser zurück und blieb dort, leicht hin- und herwogend, liegen.
Marzanos Hand packte den Griff des Maschinentelegraphen.
»Maschine stop!« ging das Kommando nach unten. »Maschine rückwärts, halbe Kraft!« folgte ihm gleich danach ein zweites. Die »Felicità« verlor Fahrt, kam zum Stillstand, begann nun schon langsam rückwärts zu laufen, als Guerresi auf der Brücke erschien.
»Was gibt's, Marzano? Warum haben Sie gestoppt?« Während die Fragen noch von seinen Lippen sprudelten, erblickte er den Metallkegel, der jetzt kaum fünfzig Meter entfernt querab nach Steuerbord lag.
Ein neues Kommando Marzanos brachte die »Felicità« zum Stillstand.
»Wir wollen ein Boot zu Wasser lassen, Signor Capitano«, wandte er sich an Guerresi. »Würden Sie mich auf der Brücke vertreten? Ich möchte selber mit zu der amerikanischen Rakete fahren.«
Jetzt erst fand Guerresi die Sprache wieder. »Nein, Signor, ich fahre auch mit. Der Zweite Offizier soll Ihre Wache übernehmen.«
In zwei Minuten kam das Boot zu Wasser, und wieder eine halbe Minute später lag es neben dem Metallbau, der kaum etwas anderes als eine Rakete sein konnte.
»Ich möchte sie an Bord holen, aber ich fürchte, unsere Ladebäume werden das Gewicht nicht tragen können«, meinte Guerresi mit einem zweifelnden Blick auf den mächtigen Metallkegel.
Noch während der Kapitän es sagte, war Marzano auf den Bordrand des Bootes getreten und schaute durch eine der verglasten Luken in das Innere der Rakete.
»Merkwürdig, Signor Guerresi«, wandte er sich nach kurzem an den Kapitän. »Es sollen doch vier Mann in der Rakete gewesen sein. Ich kann beim besten Willen nur einen sehen . . .«
Mit einem Sprung war Guerresi neben ihm und blickte ebenfalls durch die starke Kristallglasplatte. Er starrte in das Innere der Maschine, bis ihm die Augen zu tränen begannen, und mußte die Beobachtung Marzanos bestätigen.
»Sie haben richtig gesehen, Signor. Es ist nur ein Mann darin, und der scheint tot zu sein . . . aber warum ist er tot?« sprach er nach kurzem Überlegen weiter. »Für einen Mann hätte die Atmungsluft noch lange reichen können . . . Woran mag er gestorben sein?«
Während Guerresi die Worte noch vor sich hinsprach, ging ein leichtes Zucken durch die Gestalt, die lang hingestreckt in der Rakete lag.
Marzano fühlte sich am Arm gepackt. »Er hat sich bewegt! Es ist noch Leben in ihm.« Laut schrie der Kapitän es Marzano zu.
Der griff nach einem der Bootsriemen, holte damit zum Schlage aus und versuchte das Kristallglas zu zertrümmern. Doch sein Bemühen war vergeblich. Die starke Scheibe widerstand dem Angriff.
»So geht es nicht, Marzano«, sagte der Kapitän. »Sie zerbrechen eher den Riemen als das Glas. Selbst wenn es Ihnen gelingt, wäre damit auch nichts gewonnen. Die Luke ist zu klein, um einen Menschen hindurch zu lassen. Wir müssen die Rakete auf das Deck der ›Felicità‹ holen. Dort können wir sie mit unseren Bordmitteln öffnen.«
Es war keine leichte Aufgabe, die der Kapitän Guerresi sich gestellt hatte. Von drei Ladebäumen mußten sie schwere Trossen auslassen und um den Rumpf der Rakete legen. In gleichem Tempo mußten sie drei Deckwinden angehen lassen, damit das Gewicht der Maschine sich gleichmäßig auf die drei Trossen verteilte, und trotzdem bogen sich die Ladebäume unter der schweren Belastung noch gefährlich durch. Aufregende Minuten verstrichen, bis das mächtige Stück sicher auf dem Deck der »Felicità« lag.
Das Frachtschiff hatte keine Schweißbrenner an Bord. Mit Meißeln und Hämmern gingen die Matrosen Guerresis gegen die Rakete vor. Laut erdröhnte ihre Wandung, während die Meißel unter der Wucht kräftiger Hammerschläge ihre Bahnen in das Metall fraßen. Guerresi drückte die Hände an seine Ohren, schrie Marzano zu: »Das ist ein Lärm, um Tote aufzuwecken.«
Marzano, der seine Augen an einer der Luken der Rakete hatte, nickte. »Stimmt, Signor Capitano! Der Tote da drin ist wieder lebendig geworden. Er hat sich aufgesetzt, bewegt den Kopf, sieht sich um.«
»Vorwärts! Hurtig! Avanti!« spornte Guerresi seine Leute an. »Sputet euch, daß wir den armen Teufel schnell aus seinem Gefängnis herausbekommen.«
Seine Worte taten ihre Wirkung. Noch schneller und kräftiger als bisher fielen die Hammerschläge. Ein letztes Splittern, Knirschen und Krachen noch, und ein Stück der Metallwandung brach heraus. Groß genug, daß Guerresi durch die entstandene Öffnung in die Rakete hineinsteigen konnte. Auf dem Fuß folgte ihm Marzano.
Sie fanden bestätigt, was sie bereits von außen gesehen hatten. Nur ein Mann war in der Rakete. Ein Mensch, der zwar lebte, aber schwer benommen und immer noch halb ohnmächtig war. Sie hoben ihn heraus, trugen ihn in die Kabine Guerresis und betteten ihn auf ein bequemes Lager. Aufs neue wurde er hier bewußtlos.
Die »Felicità« hatte keinen Arzt an Bord. In Notfällen mußten die medizinischen Kenntnisse des Kapitäns herhalten. Der ging jetzt mit sich zu Rate und kam zu folgendem Schluß: Der Mann ist ein Yankee. Für Yankees soll Whisky immer das beste sein. Dann handelte er danach. Er rieb seinem Patienten Stirn und Schläfen mit kräftigem Whisky ein und verabreichte ihm auch innerlich eine kräftige Dosis davon, mit dem Erfolg, daß der so Behandelte die Augen aufschlug und Fragen stellte, die Signor Guerresi zum Glück beantworten konnte, da er als Seemann der englischen Sprache mächtig war.
»Sie sind an Bord eines italienischen Dampfers, Sir. Ihre Maschine ist ebenfalls geborgen. Befindet sich oben auf Deck.«
Allmählich kam auch Guerresi dazu, Fragen zu stellen. Er wollte in Erfahrung bringen, wodurch sein Mann in diesen Zustand geraten war, und konnte bald ausfindig machen, daß es durch den scharfen Stoß beim Aufschlag der Rakete auf das Wasser geschehen war. Konnte durch vorsichtiges Befühlen des Amerikaners auch feststellen, daß der keinen ernstlichen Schaden erlitten hatte. Eine kräftige Mahlzeit und noch einige Glas Whisky taten dann das Ihrige. Im Laufe der nächsten Stunde erfuhr Kapitän Guerresi nicht nur, daß er es mit Dr. Lees Assistenten Joe Brown zu tun hatte, sondern erhielt auch Auskunft über dessen Abenteuer und das Schicksal seiner drei Gefährten.
Es war eine aufregende und traurige Geschichte, die Guerresi Stück um Stück aus seinem Patienten herausholte. Voller Zuversicht war Dr. Lee mit seinen drei Gefährten gestartet, und zunächst war auch alles gut gegangen. Freilich war die Triebkraft seiner Maschine nicht annähernd so stark wie diejenige der deutschen und japanischen Rakete, aber nach einem dreitägigen Flug erreichte sie doch ihr Ziel, und Lee konnte zur Landung schreiten.
Schon während des Fluges hatte er seinen Begleitern genaue Instruktionen für das Verhalten nach der Landung gegeben. Grundsätzlich sollten stets zwei Mann in der Rakete bleiben, während die beiden anderen, angetan mit den für diesen besonderen Zweck konstruierten Skaphanderanzügen, die Maschine durch eine Luftschleuse verlassen und auf Erkundung gehen sollten. Die Luftschleuse war erforderlich, da der Erdtrabant ja keine Atmosphäre hat. Die Rakete verlassen, bedeutete also, in einen luftleeren Raum hinaustreten. Wäre das aber durch eine einfache Tür hindurch geschehen, so wäre die unter irdischem Atmosphärendruck stehende Luft der Rakete im Augenblick ins Freie gepufft, was natürlich Tod und Untergang für die Insassen bedeutet hätte. Auch die Skaphanderanzüge waren auf diese Verhältnisse zugeschnitten. Zwar glichen sie äußerlich durchaus Taucheranzügen, aber ihr Stoff war darauf berechnet, einen inneren Überdruck von einer Atmosphäre auszuhalten, so daß die Raumschiffer auch außerhalb ihrer Rakete die gleichen Druckverhältnisse und Atmungsbedingungen haben mußten wie auf der Erde. Bis dahin hatte Dr. Lee also durchaus zweckmäßig für alles vorgesorgt.
Verfehlt aber war es, daß er die Landung nicht an einem der Mondpole, sondern in der Nähe des Äquators vollzog, wo die Grenze zwischen Licht und Schatten, zwischen Hitze und Kälte sehr schnell wandert. Er landete im Schattengebiet noch etwa zwei Kilometer von der Lichtgrenze entfernt und entschloß sich, sofort in Begleitung von Perkins auf Erkundung auszugehen, während Johnson und Brown in der Maschine zurückblieben.
Es herrschte noch volle Dunkelheit, als Lee und Perkins die Rakete verließen, so daß sie eine mitgenommene Starklichtlampe in Betrieb setzen mußten, um ihren Weg zu finden.
Geraume Zeit konnten Brown und Johnson noch den Schimmer der Lampe verfolgen, dann entschwand er ihren Blicken. Etwa fünf Minuten verstrichen, während die Bergkämme in der Richtung, nach welcher Lee und Perkins fortgegangen waren, immer stärker zu flimmern und zu glitzern begannen, und dann war plötzlich das volle Sonnenlicht da; die Lichtgrenze hatte die Rakete erreicht und schnell überschritten.
In dem grellen Sonnenlicht konnten die beiden in der Maschine Zurückgebliebenen auch ihre Gefährten wiedersehen, doch was sie erblicken mußten, ließ sie aufs tiefste erschrecken. Dr. Lee und Perkins waren über einen schroffen Abhang etwa hundert Meter tief abgestürzt und lagen regungslos auf dem zerklüfteten Gestein. Wie das Unglück geschehen konnte, wird sich wohl niemals aufklären lassen, doch die Vermutung liegt nahe, daß die geringe auf der Mondoberfläche herrschende Schwerkraft die Ursache gewesen ist. Merkten doch auch Johnson und Brown in der Rakete, wie unsicher und unkontrollierbar ihre Bewegungen durch die nur den sechsten Teil der Erdschwere betragende Mondschwere geworden waren.
Daß den Verunglückten Hilfe gebracht werden mußte, war klar, und daß sie allerschnellstens kommen mußte, stand gleichfalls außer Zweifel, denn schon begann sich die Temperaturerhöhung infolge der Sonnenstrahlung auch in der Rakete stark fühlbar zu machen.
Nur einer durfte die Rakete verlassen. Wer sollte gehen, Johnson oder Brown? Da sie sich nicht einigen konnten, ließen sie das Los entscheiden. Johnson zog den längeren Papierstreifen. Eilig legte er sich den schützenden Skaphander an und schleuste sich ins Freie. Doch wertvolle Minuten waren über all den Vorbereitungen verstrichen. Fast schon unerträglich war die Hitze auch bereits in der Rakete geworden, als Johnson sie verließ.
Gespannt verfolgte Brown den Weg des anderen. Trotz der ernsten Lage mußte er fast lächeln, als er dessen groteske Bewegungen erblickte. Er sah ihn mannshohe Sprünge machen, sah ihn in schnellem Lauf über breite Schluchten dahinsetzen, denn Johnson stürmte mit voller Muskelkraft auf die Unfallstelle zu und achtete in seiner Aufregung nicht darauf, daß sein Körper hier nur den sechsten Teil seines irdischen Gewichtes hatte, daß jede seiner Muskelanspannungen hier sechsmal so stark wie auf der Erde wirken mußte. Brown sah ihn laufen, erblickte ihn bereits in nächster Nähe der beiden Verunglückten, während ihm selbst der Schweiß aus allen Poren brach, denn zu tropischer Glut war inzwischen die Temperatur in der Rakete angestiegen. Ein Blick auf das Thermometer zeigte ihm, daß sie fünfzig Grad Celsius bereits überschritten hatte und die Quecksilbersäule ständig weiter nach oben auf die Sechzig zustrebte. Und dann sah er etwas, das ihm den Herzschlag stocken ließ. Dicht neben Lee und Perkins schwankte Johnson einige Sekunden wie ein Betrunkener hin und her, stürzte zu Boden und blieb bewegungslos neben den Körpern der beiden andern liegen.
Was war geschehen? War Johnson der brennenden Hitze erlegen, die draußen noch viel stärker sein mußte als hier in der Rakete? Brown blieb keine lange Zeit, darüber Überlegungen anzustellen. Die Umgebung begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Schwäche überkam ihn. Nur noch einen Gedanken vermochte er zu fassen: ›Raus aus der Höllenglut!‹ Mit Aufbietung seiner letzten Kräfte gelang es ihm, die Rakete wieder in Bewegung zu setzen und nach dem Schattengebiet hin zu steuern. An die zwanzig Kilometer stieß die Maschine in die Dunkelheit vor; dann erst verspürte Joe Brown ein Nachlassen der Hitze.
Er hatte keinen trockenen Faden mehr am Leibe, als er die Rakete wieder vorsichtig auf den Boden aufsetzte. Das Trinkwasser im Tank war lauwarm geworden, aber er schluckte eine Menge davon, um den brennenden Durst zu stillen, und fühlte danach, wie seine Kräfte langsam zurückkehrten. Schon war er wieder fähig, richtig zu denken, doch das Ergebnis seiner Überlegungen war wenig erfreulich. Die drei anderen waren tot, das stand für ihn außer Zweifel. Was sollte er jetzt tun? Sofort starten und allein zur Erde zurückkehren? Es war vielleicht das vernünftigste, doch er stand davon ab, als er sich vorstellte, wie man ihn dann in Albany empfangen würde. Es würde Vorwürfe regnen. Einen Fahnenflüchtigen würde man ihn nennen; würde ihn tadeln, weil er nicht alles für die Rettung seiner Kameraden getan, weil er nicht wenigstens ihre Leichen mit zurückgebracht habe.
Die Toten bergen! Wie ließ sich das ausführen? Noch einmal in das beleuchtete Gebiet vorzustoßen, wäre heller Wahnsinn gewesen; gleichbedeutend mit dem sofortigen eigenen Untergang. Nur eine Möglichkeit sah er nach langem Überlegen. Nach achtundzwanzig Tagen würden die Licht- und Schattenverhältnisse an der Unfallstelle wieder die gleichen sein wie zur Zeit des Unglücks. Als er zu dieser Erkenntnis gelangte, rückte die Lichtgrenze schon wieder heran und zwang ihn zum zweiten Mal aufzusteigen und sich weiter in das Schattengebiet zurückzuziehen.
Die toten Gefährten bergen! Ihre Körper mit sich nehmen! Wie mit eisernen Krallen hatte ihn der Gedanke gepackt. Aber achtundzwanzig Tage hier allein auf der Mondoberfläche in ständiger Flucht vor der unaufhaltsam nachrückenden Sonnenglut bleiben? Würde die Triebkraft der Rakete eine so lange Zeit wirksam bleiben? War es nicht möglich, die Frist zu verkürzen? Ja, es gab eine Möglichkeit! Joe Brown erkannte sie. Wenn er durch das Schattengebiet bis zu dessen anderem Rande vorstieß, würde er ebenfalls an einer Lichtschattengrenze die Unfallstelle schon in vierzehn Tagen erreichen können. Er entschloß sich, danach zu handeln. In einem kühnen Flug überquerte er die unbeleuchtete Mondseite und landete an ihrer Grenze.
Die Lage hatte sich dadurch gewandelt, aber viel gebessert hatte sie sich nicht. Mußte er vorher vor dem heranziehenden Licht und der Glut fliehen, so galt es nun, ständig auf der Hut vor der ihm nachziehenden Dunkelheit und dem todbringenden Frost zu sein. Noch jetzt ließ die Erinnerung an die Tage, die er damals durchlebte, ihn erschauern. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten, als Kapitän Guerresi diesen Teil der Geschichte aus ihm herausholte. Kurze Stunden unruhigen Schlafes, in denen wilde Träume ihn quälten. Ein Erwachen unter der Wirkung der einbrechenden Kälte; neue Flucht bis zur Lichtgrenze hin; immer wieder das gleiche Erleben in endloser Folge, während die Tage sich zu Wochen reihten. Nur der unbeugsame Wille, die toten Gefährten zu erreichen, ließ den einsamen Weltraumschiffer diese Leidenszeit überstehen.
Schon glaubte er seinem Ziel nahe zu sein, rechnete sich aus, daß die vor ihm hineilende Lichtgrenze in etwa fünf Stunden die Unfallstelle erreichen würde, begann sich auch darüber klar zu werden, wie unendlich schwierig es sein würde, den Platz wirklich wieder zu finden, als ein neuer Zwischenfall alle seine Pläne über den Haufen warf. Zusehends ließ die Triebkraft der Rakete nach. Viel schneller erschöpfte sich der radioaktive Stoff Dr. Lees als die in Gorla und Tokio benutzten Substanzen. Mit Schrecken nahm Brown es wahr. Grell sah er seinen eigenen Untergang vor Augen, wenn er sich nicht sofort zu einer befreienden Tat aufraffte.
Schwer fiel ihm der Entschluß, die Bergung seiner Kameraden aufzugeben, aber er mußte gefaßt und sofort ausgeführt werden, wenn es ihm noch gelingen sollte, aus der Anziehungskraft des Mondes herauszukommen und mit der schon stark verringerten Triebkraft seiner Maschine ohne tödlichen Absturz die Erde wieder zu erreichen. Verhältnismäßig leicht gelang es ihm noch, zu starten und den neutralen Punkt zwischen Mond und Erde zu erreichen, an dem die Anziehungskräfte der beiden Gestirne sich das Gleichgewicht halten. Mit äußerster Vorsicht steuerte er die Rakete, hütete sich sorgsam davor, sie größere Geschwindigkeiten annehmen zu lassen, und überschritt den neutralen Punkt in einem Schneckentempo.
Dann begann der Fall zur Erde. Die letzten Reste der von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag immer geringer werdenden Treibkraft verwandte er darauf, den Sturz zu bremsen, die Fluggeschwindigkeit so gering zu halten, daß seine Maschine beim Aufprall auf den Erdball nicht zerschmettert würde.
In drei Tagen hatte Dr. Lee seine Rakete von der Erde zum Mond gesteuert; zwei volle Wochen nahm der Rückflug zur Erde in Anspruch. Schon wagte Brown zu hoffen. Schon war die irdische Atmosphäre wieder erreicht. Schon begann der bisher tiefschwarze Himmel violett zu schimmern, schon ging seine Färbung in ein mattes Blau über, als die Treibkraft der Rakete vollends erlosch.
Aus einer Höhe von zehn Kilometer stürzte die Maschine in freiem Fall auf die Erde zu. Joe Brown merkte es sofort daran, daß sein Körper alles Gewicht verlor. Eine leichte Fußbewegung genügte jetzt, um ihn vom Boden der Rakete abzustoßen; frei blieb er im Raume schweben und mußte sich lange mühen, bis es ihm gelang, wieder festen Fuß zu fassen.
Ein Sturz aus Himalaja-Höhe! Er war sich klar darüber, daß das sein Ende bedeutete. Mit Planetengeschwindigkeit würde die Rakete auf den Erdboden aufprallen, in Atome würde sie im Bruchteil einer Sekunde zerschmettert werden. In sein Schicksal ergeben, ließ Brown sich nieder und schloß die Augen. Nur noch um Minuten konnte es sich handeln, und das Ende mußte kommen. Ein Gefühl steigender Wärme ließ ihn noch einmal aufblicken. Taumelnd richtete er sich empor, kehrte sich zu der Wand hin, berührte sie und zog seine Hand mit einem Aufschrei zurück. Er hatte sich verbrannt; die Wand war glühend heiß.
Luftreibung! Traumhaft kam ihm der Gedanke. Die dichte Atmosphäre, welche die Rakete jetzt durcheilte, bremste den Sturz durch Reibung; Reibung, die natürlich Wärme geben mußte; Reibung, die Meteore bis zur hellen Weißglut erhitzte. Sollte es hier ähnlich gehen? Sollte er den Tod nicht durch den Aufprall erleiden, sondern vorher verbrennen? Immer stärker, immer unerträglicher wurde die Wärme im Innern der Rakete. Brown lechzte nach Kühlung und frischer Luft. Er griff nach einem Schraubenschlüssel und holte zum Schlage aus, um eins der Fenster zu zertrümmern. Vergaß in seiner Erregung, daß es ihm kaum gelingen würde, das mehrere Zoll starke, splitterfeste Glas zu zerbrechen . . . und sah im gleichen Augenblick unter sich, weit ausgespannt, die azurfarbene Fläche der See.
Einen Moment nur vermochte er sie zu erkennen. Dann warf die Armbewegung, die er machte, um die Glasscheibe zu zerschlagen, seinen gewichtslosen Körper rückwärts nieder. Lang ausgestreckt blieb er am Boden liegen, während neue Hoffnung ihn durchströmte. Das Meer, das rettende Meer! Seine Fluten konnten den Sturz vielleicht mildern; den Aufprall, der auf festem Land das sichere Ende gebracht hätte, abfangen.
Noch während Brown es dachte, empfand er einen schweren Stoß, spürte einen kurzen, schneidenden Schmerz, dann schwanden ihm die Sinne. Er sah nicht mehr, wie erst ein grünliches Licht das Innere der Rakete erfüllte und wie es dann völlig finster in ihr wurde. Er hörte nicht, wie die starken Metallwände der Maschine unter dem äußeren Wasserdruck ächzten und knisterten. Er merkte nichts davon, daß es wieder hell um ihn wurde.
Erst in der Kabine Guerresis kam ihm das Bewußtsein langsam zurück, und hier erholte er sich so weit, daß er dem Kapitän zu berichten vermochte, was er in vier aufregenden Wochen erlebt und erlitten hatte.
Und dann begann die Funkanlage der »Felicità« zu arbeiten. Aus ihrer Antenne flog die Nachricht vom Schicksal der amerikanischen Expedition und der wunderbaren Errettung des einzig Überlebenden in den Äther hinaus und wurde von vielen Landstationen gleichzeitig aufgefangen.
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