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Im Laufe einer knappen Woche hatte die Höhle bei dem Landhaus Hidetawas ein verändertes Aussehen bekommen. Wo vordem ewige Dunkelheit herrschte, erhellten jetzt elektrische Lampen das mächtige Gewölbe bis in die letzten Winkel. Transformatoren waren aufgebaut und Blitzröhren betriebsbereit. In Schränken und auf Tischen standen alle Chemikalien, die man vielleicht benötigen würde. Darüber hinaus aber war noch etwas geschehen. Jene weichen Bastmatten, auf deren Fertigung sich das Inselvolk des Fernen Ostens so meisterhaft versteht, waren in großer Anzahl an den Höhlenwänden aufgehängt und dämpften den vorher so störenden Widerhall bis zum Verschwinden. So war aus einer unwirtlichen, ja fast unheimlichen Grotte in kurzer Zeit ein behaglicher Raum geworden, in dem es sich wohl arbeiten ließ.
Schon früh am Morgen hatten Yatahira und Saraku sich hier eingefunden, aber vergeblich warteten sie auf ihren Meister Hidetawa, während die Stunden verrannen. Um über die Zeit hinwegzukommen, begannen die beiden ein gleichgültiges Gespräch; doch ohne es zu wollen, kamen sie dabei schnell zu den Dingen, um die sich all ihr Denken drehte.
»Was halten Sie von dem Brand des physikalischen Institutes in Rom?« hatte Yatahira gefragt, und fast zwangsläufig kam die Antwort Sarakus.
»Ich glaube, daß er mit dem Strahlstoff zusammenhängt, den die Italiener aus Amerika geholt haben.«
»Es ist möglich, daß Ihre Vermutung zutrifft, Saraku, aber das wird sich niemals mehr feststellen lassen, denn das Institut ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Man hat in Rom keine Erklärung dafür, wie das Feuer ausgekommen ist. Man weiß nur, daß es unheimlich schnell um sich gegriffen hat. Ein Angestellter des Institutes soll von den Flammen überrascht worden und zu Tode gekommen sein.«
Ein leichtes Lächeln glitt über die Züge Sarakus, während er antwortete. »Denken Sie an unsere Erfahrungen in Deutschland. Nur ein Milligramm des Stoffes hatten wir mit einem andern Stoff vermischt und mußten schwer gegen die Atomglut kämpfen. Vielleicht haben die Männer in Rom denselben Versuch mit einer größeren Menge gemacht.«
»Sie haben recht, Saraku. Das würde den Ausbruch des Brandes erklären. Vielleicht . . . nein, wahrscheinlich ist es so gewesen. Ein bitterer Verlust ist es für die italienische Wissenschaft.«
»Für uns eine nützliche Warnung, Yatahira, wenn wir durch unsern eigenen Versuch nicht schon genügend gewarnt wären. Man darf den Strahlstoff nachträglich nicht mehr vermischen. Die Deutschen sind auf dem richtigen Weg, wenn sie zuerst eine Mischung herstellen und dann das Gemenge in der Blitzröhre aktiv machen.«
Sie brachen ihr Gespräch ab, denn durch den Stollen her kam in diesem Augenblick Hidetawa in die Höhle. Seine ersten Worte waren eine Entschuldigung für sein verspätetes Kommen.
»Ich erhielt heute nacht Strahlstoff vom Boulder-Damm und habe ihn sofort analysiert«, fügte er erklärend hinzu. Als er die Überraschung der beiden andern bemerkte, fuhr er fort: »Durch einen amerikanischen Mittelsmann bekam ich die Proben. Einem Landsmann von uns hätte man den Zutritt zu dem Damm natürlich verweigert.« Saraku und Hidetawa tauschten einen schnellen Blick. Im gleichen Augenblick dachten sie das gleiche: In den Staaten kann man für Geld jeden und alles kaufen. In unserm Land hätte sich niemand zu solchem Dienst für Fremde hergegeben. Hidetawa sprach weiter. »Die Probe aus den Staaten hat genau dieselbe Zusammensetzung wie der Strahlstoff, den Sie mir aus Deutschland mitgebracht haben. Ich halte es für sicher, daß der Stoff in beiden Fällen aus der gleichen Quelle stammt.«
»Sie glauben, Meister?« Saraku sprach zögernd, fast ungläubig. »Die Kugel, die wir aus dem deutschen Werk entfliehen sahen, wäre weitergeflogen . . . über das Westmeer . . . über den amerikanischen Kontinent bis zum Boulder-Damm hin?«
Hidetawa lächelte. »Mit einigen Zwischenlandungen, Saraku. Die eigenartigen Vorkommnisse der letzten Wochen . . . ich schreibe sie sämtlich der aus dem deutschen Werk entflogenen Strahlkugel zu. Wer kann wissen, ob sie nicht bis zu unsern Inseln gekommen wäre, wenn nicht der Sperrdamm in Amerika ihrem Irrflug ein Ziel gesetzt hätte?«
»Bis zu unsern Inseln?« Zweifelnd wiederholte Yatahira die Worte Hidetawas. »Ein Flug um mehr als die Hälfte des Erdballes?«
Hidetawa nickte. »Das ist nicht viel für den Strahlstoff. Eine etwas andere Richtung beim Abflug, und die Kugel könnte in den Fernen des Weltraumes verschwinden. Einmal der anziehenden Kraft unserer Erde . . . unserer Sonne entronnen, könnte sie im endlosen Raum treiben . . . Jahre . . . Jahrzehnte . . . bis ihre letzte Kraft verstrahlt wäre . . . bis vielleicht eine andere Sonne ihren ausgebrannten Rest an sich riß . . .«
Schweigend lauschten Yatahira und Saraku dem greisen Gelehrten, der von seinen eigenen Worten hingerissen zu sein schien. Selten . . . sehr selten nur geschah es, daß Hidetawa über die strengen Grenzen nüchterner Wissenschaft hinausging und solchen phantastischen Möglichkeiten Ausdruck gab. »Möglichkeiten einer fernen Zukunft . . .« Er fuhr mit der Hand über seine Augen, als wolle er Bilder verjagen, fortwischen, und ging unvermittelt zu etwas anderem über. »Unsere Arbeit ruft. Wir wollen Strahlstoff nach dem deutschen Verfahren herstellen. Ist alles für den Versuch vorbereitet?«
»Es steht alles bereit.« Saraku gab die Antwort und geleitete ihn in eine geräumige Nebenhöhle, in der die Apparatur aufgebaut war.
Saraku und Yatahira hatten ihre Zeit in dem deutschen Werk nicht verloren und aus den dort begangenen Fehlern gelernt. Obwohl sie die neue Röhre Dr. Hegemüllers, die erst nach ihrem Fortgang gebaut wurde, niemals gesehen hatten, stand hier in dieser Grotte ein massives Gebilde, das ihr nicht unähnlich war.
»Unsere Röhre wird unter dem Druck der strahlenden Masse nicht zerbrechen«, erklärte Yatahira mit dem Stolz des erfolgreichen Erfinders.
»Und wenn sie zerbräche, könnte uns der Stoff doch nicht entfliehen. Die Höhle hält ihn sicher fest«, fügte Saraku hinzu.
Die Arbeit begann. So wie Yatahira und Saraku es schon in Deutschland getan hatten, mischten sie die Stoffe, formten sie unter hydraulischem Druck und brachten sie in die Röhre. Elektrische Hochspannung pulste durch die Kabel, traf den Stoff in der Röhre, erschütterte seine Atome und ließ ihn radioaktiv werden.
Kein Zwischenfall störte die Versuche. Genau so wie sie es erwarteten, vollzogen sich die Umwandlungen in der Röhre, und ebenso wie in dem deutschen Werk auf der andern Seite des Erdballes lag auch hier in der Grotte Hidetawas bald eine Reihe von Strahlkugeln, bereit für eine weitere Verwendung.
Überrascht hatten Saraku und Yatahira zunächst feststellen müssen, daß diese Strahlkugeln gar keine Neigung zeigten, nach irgendeiner Richtung zu entfliehen. Entmutigt glaubten sie zuerst, daß ihre Versuche mißlungen wären, aber Hidetawa belehrte sie schnell eines Besseren. Er wies eine starke Strahlung nach; er zeigte ihnen, daß der Stoff durch seine ganze Masse hindurch aktiv geworden war, und sorgte dafür, daß sie sich durch starken Bleischutz gegen die gefährliche Strahlung wappneten.
Drei Tage verstrichen in unablässiger Arbeit. Es wurde kräftig geschafft, aber trotzdem war Hidetawa nicht befriedigt.
»Was wir erreicht haben«, so faßte er das Ergebnis ihrer Tätigkeit zusammen, »das haben die Deutschen schon seit Wochen. Wir müssen jetzt aus eigener Kraft weiterkommen, neue Versuchsreihen ansetzen, die Eigenschaften des Strahlstoffes unter veränderten Bedingungen studieren. Nur so können wir einen Fortschritt erzwingen.«
Willig hörten Yatahira und Saraku die Ausführungen ihres Meisters an. Nur einmal widersprachen sie ihm, als er die Möglichkeit erwog, den fertigen Strahlstoff noch weiter zu vermischen, und erreichten durch ihre Warnungen, daß er den Gedanken vorläufig aufgab.
In langen Beratungen stellten sie danach zu dritt ein neues Arbeitsprogramm auf. Viele andere Metalle noch außer dem Blei sollten in die Blitzröhre gebracht und andere Beimengungen ihnen zugefügt werden. Tage hindurch fuhr ein Kraftlastwagen zwischen Tokio und Hidetawas Landsitz hin und her, um die benötigten Chemikalien heranzubringen. Viele Flaschen hatte das Fuhrwerk geladen, die in Staubform alle bekannten Metalle vom Uran bis zum Lithium enthielten. Andere mit flüssigen Kohlenwasserstoffen gefüllte Gefäße, große Glasballons zum Teil, schleppte es auf den folgenden Fahrten heran. Hidetawa beaufsichtigte selbst das Ausladen der wertvollen Fracht und stand dabei, als Hunderte von Flaschen und Ballons in die Höhle gebracht und in eine Nebengrotte getragen wurden, in der bereits ein halbes Hundert inzwischen fertiggestellter Strahlkugeln lagerte. Befriedigt blickte er auf die gestapelten Vorräte, nachdem der Wagen seine letzte Fahrt gemacht hatte.
»Das gibt uns Arbeit für Monate, vielleicht für Jahre«, sagte er zu seinen beiden Gehilfen. »Morgen ist ein Feiertag, übermorgen wollen wir mit den Arbeiten beginnen. Jedes Metall werden wir in die Blitzröhre bringen. Die Mischungen der Metalle unter sich und mit den Zusatzstoffen werden wir strahlend machen. Wir werden Neues entdecken. Wenn das Schicksal uns günstig gesinnt ist, werden wir noch Größeres schaffen als die Deutschen.«
Ein Feiertag im Frühsommer. Ein Volksfest für die japanische Hauptstadt; ein Tag der Ruhe und Sammlung für Hidetawa und seine Gehilfen. Schon stand die Sonne im Westen, als ein unterirdisches Grollen den Boden erzittern ließ. Ein leichter Erdstoß, ein schwaches Beben. Auf dem vulkanischen Boden der Inseln Nippons war ein derartiges Vorkommnis keine Seltenheit. Solange die Kräfte der Tiefe sich nicht stärker regten, kümmerte sich das Millionenvolk der Hauptstadt nicht allzu sehr darum, und bald kam der zitternde Boden auch wieder zur Ruhe.
Viel stärker aber war die Erschütterung südwärts der Metropole nach Jokohama hin in dem Küstenstrich, wo das Besitztum Hidetawas lag. Bebenfest war das Landhaus des greisen Gelehrten nach Plänen erbaut, die er selbst entworfen hatte. Ein in sich fest vernietetes stählernes Fachwerk, fast so widerstandsfähig wie ein massiver Block, bildete das Gerippe des Hauses und trug die elastischen leichten Wandungen. Auch schwere Erdstöße konnten diesem Bau kaum etwas anhaben. Mit einem so jähen Ruck und so stark bebte jetzt aber der Boden, daß Hidetawa gestürzt wäre, wenn nicht Saraku hinzugesprungen und ihn aufgefangen hätte.
In langen Schwingungen pendelte die Ampel an der Decke des Gemaches, polternd stürzte eine schwere Porzellanvase um und rollte auf dem Fußboden hin und her, als ein zweiter und dritter dem ersten Erdstoß folgten. Behutsam ließ Saraku, von Yatahira unterstützt, Hidetawa auf eine Matte gleiten, die den Fußboden bedeckte; ließ sich selbst neben ihm nieder und schaute besorgt um sich; halblaut sagte er zu Yatahira:
»Draußen wird größere Sicherheit sein. Wollen wir den Meister ins Freie bringen?«
Hidetawa hatte es gehört und gab ihm Antwort. »Mein Haus ist sicher, Saraku. Die Erde müßte sich unter ihm spalten, wenn es . . .« Er brach jäh ab. Ein anderer Gedanke war ihm gekommen. »Die Höhle, Saraku! Die Strahlkugeln! Wenn sie auch ins Rollen gekommen sind. Unsere Flaschen und Gefäße . . .« Er raffte sich empor und stand aufrecht vor den beiden. »Wir müssen hin! Kommen Sie!«
Er wandte sich nach der Tür hin, schritt auf sie zu. Eilig folgten ihm Saraku und Yatahira, von Sorge erfüllt, daß ein neuer Erdstoß den Alten zu Boden werfen könnte. Doch die Erde blieb ruhig, die Gewalt der unterirdischen Kräfte schien sich in drei heftigen Stößen erschöpft zu haben.
Sie kamen ins Freie. Mit schnellen Schritten eilte Hidetawa durch den Garten den Weg entlang, der zu den Bergen führte. Jetzt hatte er den Stollenmund erreicht, wollte hinein und taumelte wieder zurück. Ein heißer Schwaden fegte ihm entgegen. Luft drang aus dem Höhlengang so glühend, daß sie ihm im Augenblick die Brauen versengte, ja sogar seine Kleidung in Brand gesetzt hätte, wenn Saraku ihn nicht jäh zur Seite gerissen hätte.
Weiter zur Seite und noch immer weiter, denn wie aus einem Vulkankrater schossen jetzt die feurigen Gase aus dem Stollen; ein wildes Gemenge von Rauch und Flammen, das jeden Baum und Strauch, den es erreichte, im Nu verdorren und verbrennen ließ. Schritt für Schritt mußten die drei sich immer weiter zurückziehen, bis sie endlich in Sicherheit haltmachen konnten.
Wie mochte es in der Höhle selbst aussehen? Das war die Frage, die sie alle gleichmäßig bewegte. Fast hundert Meter lang und mehrfach gewunden war der Stollen, der zu ihr führte. Welche Energien mußten in der Tiefe des Berges entfesselt sein, wenn es hier noch zu solchem gewaltsamen Ausbruch kam?
Auf dem halben Wege zwischen der Bergwand und dem Landhaus befand sich an einer Böschung eine Rasenbank. Am Arme Sarakus ging Hidetawa bis dorthin und ließ sich niedersinken, erschüttert von dem jähen Schlag, den seine Pläne und Arbeiten durch ein unvorhergesehenes Elementarereignis erlitten hatten. Schweigend verharrten Saraku und Yatahira an seiner Seite, kaum weniger bewegt als Hidetawa selbst.
Während die Minuten verrannen, überdachten sie das Geschehen und erkannten mit Grauen die Gefahr, der sie nur durch einen Zufall entgangen waren. Wären die Erdstöße etwas früher oder später gekommen, zu einer Zeit, da sie sich in der Höhle befanden . . . im Bruchteil einer Sekunde wären sie vernichtet, in stiebende Asche verwandelt worden. Unvorstellbare Gefahren barg der neue Strahlstoff. Heimtückisch bedrohte er jeden, der seine Eigenschaften nicht kannte. Traumhaft kamen den beiden Gehilfen Hidetawas Erinnerungen an Sprengstoffexplosionen, an Katastrophen vergangener Zeiten, da Dynamitwerke und Nitroglyzerinfabriken mit der gesamten Belegschaft in die Luft geflogen waren. Das mochte wohl der Blutzoll sein, den die Natur so oft forderte, wenn menschlicher Forscherdrang es unternahm, ihr ein Geheimnis zu entreißen.
Die Stimme Hidetawas riß sie aus ihrem Sinnen. Er hatte seine Schwäche überwunden. Straff aufgerichtet schaute er nach den Bergen hinüber, während die Worte von seinen Lippen kamen: »Der Ausbruch hat aufgehört, wir wollen noch einmal hingehen.«
Es schien in der Tat so zu sein. Die Stelle, an der sie sich befanden, etwa hundertfünfzig Meter von der Bergwand entfernt, bot einen freien Ausblick auf den Eingang zu der Höhle. Wie ein schwarzes Loch gähnte jetzt wieder der Stollenmund, aus dem noch vor kurzem die entfesselte Energie hervorgebrochen war. Rötlichgrau hob sich der Fels um die Mündung herum ab. In etwa fünfzig Meter Höhe ging der steile Hang in ein begrüntes Plateau über, an das sich erst in größerer Entfernung wieder eine Steigung anschloß. Einen malerischen Hintergrund für den Parkgarten Hidetawas bildete der Fuß des Gebirges; eine sichere Arbeitsstätte hatte der Berg ihm für seine Arbeiten gewähren sollen, und nun war alles plötzlich so ganz anders geworden. Wenn auch jetzt Ruhe zu herrschen schien, so sprachen doch die verdorrten und verbrannten Bäume in der Umgebung des Höhlenmundes eine beredte Sprache und erzählten von der Katastrophe, die sich hier abgespielt hatte.
»Wir wollen hingehen«, wiederholte Hidetawa seine Aufforderung und erhob sich von der Rasenbank, wollte den Fuß vorsetzen, verhielt aber seinen Schritt wieder wie gebannt von dem, was seine Augen sehen mußten. Eine Baumgruppe auf dem Plateau oberhalb des Stolleneingangs geriet ins Wanken. Die Stämme erzitterten, die Laubkronen neigten sich gegeneinander . . . und dann waren die Bäume plötzlich wie weggewischt, von der Fläche verschwunden, zusammen mit dem Boden, auf dem sie standen, in die Tiefe gestürzt. Der Fels war in sich zusammengebrochen. Viele tausend Tonnen Gesteins, die das Dach der Höhle bildeten, waren in sie hineingestürzt und füllten sie jetzt mit endlosen Trümmermassen aus.
Dröhnend, polternd und krachend drang der Lärm des Bergsturzes zu Hidetawa und seinen Begleitern. Zitterte die Erde schon wieder unter ihren Füßen? Kam ein neues Erdbeben auf? Nein! Es war nur die Erschütterung durch die stürzenden Felsmassen, die sie verspürten. Die Erde blieb ruhig. Die entfesselte Energie des Strahlstoffes hatte die Zerstörung bewirkt. Als wollte die Natur eine Bestätigung dafür geben, brachen jetzt Qualm und Flammen aus dem Einsturzkrater auf der Plateaufläche hervor. Das Spiel war noch nicht zu Ende. In der Tiefe des Berges raste die Atomkraft weiter.
Eine Stunde verstrich und noch eine. Der Abend sank herab. Schon wurden die ersten Sterne am Himmel sichtbar. Ein dämonisches Bild bot der neue Krater nun in der einfallenden Dunkelheit. Hell strahlte seine Glut den Nachthimmel an; gespenstisch zuckten Flammen aus ihm empor. Wie Raketen schossen hin und wieder glühende Brocken aus dem brodelnden Schlund pfeilgerade in die Höhe.
Viel wußten die japanischen Zeitungen in der nächsten Zeit von einem Vulkan zu berichten, der bei dem letzten Erdbeben in der Nähe der Straße von Tokio nach Jokohama entstanden war. Für mehrere Wochen lieferte das ungewöhnliche Naturereignis ihnen Stoff für ihre Spalten, denn Wochen hindurch dauerte es, bis die Atomenergie sich erschöpft hatte und der Berg wieder zur Ruhe kam.
*
Chefingenieur Grabbe hatte mit Professor Lüdinghausen in dessen Zimmer eine Besprechung, als der Institutsdiener eine Besuchskarte hereinbrachte. Lüdinghausen murmelte etwas von unerwünschter Störung, als er sie in Empfang nahm, doch seine Miene veränderte sich, sowie er einen Blick darauf geworfen hatte.
»Was halten Sie davon?« fragte er, während er sie Grabbe hinhielt. Auch der war überrascht, als er den Namen darauf gelesen hatte.
»Was, unser alter Freund Saraku meldet sich wieder? Ich denke, der sitzt in Tokio und arbeitet mit Hidetawa zusammen.«
»Der Herr ist unten in der Anmeldung«, erlaubte sich der Diener zu bemerken. »Er sagte, er wolle den Herrn Professor nicht lange stören, er hätte nur persönlich einen Brief abzugeben.«
»Es ist gut, führen Sie den Herrn hierher«, befahl Lüdinghausen. Kaum hatte der Diener die Tür hinter sich zugezogen, als der Professor sich kopfschüttelnd an Grabbe wandte. »Die Sache ist mir unverständlich.«
»Mir ebenfalls, Herr Lüdinghausen. Ich hatte seinerzeit den Eindruck, daß Saraku und sein Landsmann Yatahira etwas verschnupft von hier fortgegangen seien; ich habe keine Ahnung, weshalb er jetzt wiederkommt und was für einen Brief er uns zu bringen hat.«
»Nun, das werden wir ja gleich erfahren.« Noch während Lüdinghausen es sagte, kam der Diener zurück und führte Saraku in den Raum.
Eine kurze höfliche Begrüßung von beiden Seiten, dann begann Saraku sofort mit dem Zweck seines Besuches.
»Ich habe die Ehre, Herr Professor, Ihnen ein Schreiben meines Lehrers, des Herrn Hidetawa, zu übergeben, und bin auch befugt, schriftlich oder mündlich eine Antwort von Ihnen entgegenzunehmen.«
Lüdinghausen nickte.
»Es ist auch mir eine Ehre und ein besonderes Vergnügen, ein Schreiben Ihres berühmten Landsmannes zu empfangen.«
Er öffnete den Briefumschlag, entfaltete die Einlage und begann zu lesen. Je weiter er mit der Lektüre kam, desto bewegter wurde sein Mienenspiel.
»Gestatten Sie, Herr Saraku«, sagte er, während er das Schriftstück dem Chefingenieur Grabbe reichte.
»Ein Vorschlag, über den sich vielleicht reden läßt«, meinte er, nachdem er das Schreiben gelesen hatte. »Für uns neu ist die Mitteilung über die Italiener. Es war uns unbekannt, daß sie mit einem ähnlichen Strahlstoff arbeiten. Herr Hidetawa führt den Brand des Instituto Fisiko auf einen durch diese Arbeiten verursachten Energieausbruch zurück. In den Zeitungsmeldungen war von einem Kurzschluß die Rede, aber . . . wir wissen ja, was man nicht definieren kann, das sieht man für 'nen Kurzschluß an.«
»Es war kein Kurzschluß, weder im Instituto Fisiko noch in unserm Laboratorium an der Straße von Jokohama. In beiden Fällen waren es Ausbrüche atomarer Energie.«
Saraku hatte es leise, aber bestimmt gesagt.
Chefingenieur Grabbe pfiff durch die Zähne. »An der Straße nach Jokohama? Wo ein neuer Vulkan entstanden ist? Sprechen Sie davon, Herr Saraku?«
»Jawohl, Herr Grabbe. Durch eine unglückliche Verkettung von Zufällen kam dort Strahlstoff mit anderen Substanzen in Berührung. Das Gemenge, das sich dabei bildete, explodierte wie Dynamit . . . nur hunderttausendmal stärker. Meinen verehrten Lehrer veranlaßte das Vorkommnis zu der in seinem Schreiben enthaltenen Anregung. Herr Hidetawa glaubt, daß ein ständiger Erfahrungsaustausch zwischen den beteiligten Stellen – eine Art von Interessengemeinschaft, wenn ich es so nennen darf – die Gefahren verringern könnte.«
»Wir kennen diese Gefahren recht genau, Herr Saraku«, etwas wie Ablehnung klang aus den Worten Grabbes.
»Wir wissen das, Herr Chefingenieur«, beeilte sich Saraku zu erwidern. »Herr Hidetawa sprach mit viel Bewunderung von Ihren Arbeiten. Er hob besonders hervor, wie geschickt Sie bei der Änderung der Mischungsverhältnisse die explosive Phase übersprungen hätten . . .«
»Ja, was wissen Sie denn davon?« fiel ihm Grabbe verwundert ins Wort, »wir haben die Mischungsverhältnisse niemals bekanntgegeben.«
»Sie vergessen, Herr Grabbe, daß mehrfach Strahlstoff aus Ihrem Werk entwichen ist. Wer etwas davon fand und analysierte, konnte die Mischung ergründen. Am Boulder-Damm haben die Italiener Stoffproben gesammelt . . . und wir auch. Die Zusammensetzung Ihres Strahlstoffes ist kein Geheimnis mehr.«
Für eine kurze Zeit schwiegen die drei, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Verflucht, daß die andern unsere Mischung kennen! dachte Chefingenieur Grabbe.
Was hat der Japaner eben von einer explosiven Phase gesprochen? Davon ist uns noch nichts bekannt. Hidetawa scheint mehr von diesen Dingen zu wissen als wir, ging es Lüdinghausen durch den Sinn, während Sarakus Gedanken nach Rom schweiften.
»Man müßte wissen, wie die Italiener sich dazu stellen.« Unvermittelt warf Grabbe die Bemerkung auf, und Saraku fing sie sofort auf.
»Mein Freund Yatahira ist zu dieser Stunde bei Professor Ruggero, um ihm den gleichen Vorschlag zu machen. Ich erwarte heut noch Drahtnachricht von ihm.«
Lüdinghausen war inzwischen mit seinen Überlegungen ins reine gekommen. Jedes Wort langsam abwägend, begann er jetzt zu sprechen.
»Herr Hidetawa schlägt einen Austausch von Erfahrungen vor, um uns vor Katastrophen zu schützen. Wenn wir überhaupt zu einem Abkommen gelangen, werden wir meines Erachtens noch einen Schritt weitergehen müssen.«
Erwartungsvoll blickte Saraku ihn an, als er fortfuhr. »Wir werden wirklich eine Interessengemeinschaft – Sie erwähnten das Wort bereits, Herr Saraku – aufbauen müssen. Ich verstehe darunter nicht nur einen Austausch von Erfahrungen, sondern auch von Patentrechten und Patenten, die sicher bald zu nehmen sein werden.«
Chefingenieur Grabbe zog die Stirn bedenklich in Falten, als die Worte Patent und Patentrechte fielen. Lüdinghausen bemerkte es und fuhr fort: »Ich halte es für richtig, Herr Grabbe, daß wir ganze Arbeit machen. Das Abkommen, an das ich denke, würde jedes Gegeneinanderarbeiten und jede unnütze Doppelarbeit ausschließen und für alle Teile das Vorteilhafteste sein.«
»Aber die Italiener?« warf Grabbe ein.
»Wir werden abwarten, wie sich die Italiener zu dem Vorschlag des Herrn Hidetawa stellen. Wenn sie klug sind, nehmen sie ihn an und erweitern ihn auch in dem von mir angedeuteten Sinne. Im Augenblick, Herr Saraku, können wir nichts anderes tun als abwarten.«
Die Wartezeit währte nicht allzu lange. Noch am gleichen Nachmittag konnte Saraku Lüdinghausen melden, daß Ruggero dem Vorschlag Hidetawas wohlwollend gegenüberstünde, und nun begann der Draht zwischen Gorla und Rom zu spielen, während gleichzeitig Funksprüche zwischen Saraku und Hidetawa hin- und herflogen.
Es lag auf der Hand, daß ein Abkommen, wie das hier geplante, nicht von heut auf morgen zustande gebracht werden konnte. Aber die Verhandlungen ließen sich beschleunigen, und das geschah in diesem Fall mit allen Mitteln. Die Juristen der drei Partner wurden aufgeboten und gingen daran, vielparagraphige Verträge zu schmieden. Chiffrierte Texte flogen durch den Äther und kamen mit kleineren oder größeren Abänderungen zurück. Arbeitsgebiete wurden abgegrenzt, vorhandene Rechte bewertet und für die Verteilung der noch zu erwerbenden ein Schlüssel vereinbart. Schon nach wenigen Tagen war es klar, daß die Interessengemeinschaft sicher zustande kommen würde.
Daß der italienische Partner so schnell seine Bereitwilligkeit erklärte, war der geschickten Taktik Yatahiras zu verdanken. Der Japaner schilderte Ruggero nicht nur die noch zu erwartenden Gefahren in starken Farben, sondern verstand es auch, den Wert der bereits auf diesem Gebiet gewonnenen Erfahrungen ins rechte Licht zu setzen.
»Das hätte sich vermeiden lassen, Herr Professor«, meinte er, als ihr Weg sie an der Brandstätte des Instituts vorbeiführte, »wenn wir schon vorher zusammengegangen wären. Es ist genau das gleiche, was wir erlebten. Eine unserer wichtigsten Vorschriften verbietet es grundsätzlich, den Strahlstoff und die Zusatzstoffe in demselben Raum aufzubewahren. Ein unglücklicher Zufall, der die Stoffe durcheinanderbringt, ist immer möglich, und dann ist die Katastrophe da.«
»Daß wir das noch nicht wußten, hat uns unser herrliches Institut gekostet«, erwiderte Ruggero mit einem Seufzer.
»Bei uns, Herr Professor, erfolgte der Ausbruch in einer Felshöhle, die wir als Arbeitsstätte eingerichtet hatten, und es entstand ein feuerspeiender Berg.« Yatihara sprach weiter und berichtete von dem gewaltigen Energieausbruch auf Hidetawas Landsitz, während Ruggero mit steigender Ergriffenheit zuhörte. »Ein zweites Mal wird uns das nicht passieren. Heute sind wir gewarnt«, schloß Yatahira seinen Bericht und konnte kurz danach bereits an Saraku funken, daß der Italiener zu einem Abkommen bereit sei.
Zurückhaltend verhielten sich zunächst noch Thiessen und Hegemüller. Sie vertraten beide den Standpunkt, daß das deutsche Institut bisher die Hauptarbeit geleistet hätte und die andern sich nun in ein gemachtes Bett legen wollten. Doch die letzte Entscheidung lag bei Lüdinghausen, und der hatte seinen Entschluß längst gefaßt.
»Na, denn man los!« meinte Dr. Thiessen danach resigniert zu seinen Leuten. »Dann werden die Herren von der Direktion mir hier wohl einen Italiener und einen Japaner ins Labor setzen. Dafür können Sie beide ins Ausland gehen. Was meinen Sie, Hegemüller . . . so als Austausch-Professor nach Tokio? Wäre das nach Ihrem Geschmack?«
Hegemüller fuhr ärgerlich empor. »Ich denke gar nicht daran, Herr Thiessen. Schicken Sie meinethalben den Kollegen Stiegel hin. Ich sitze hier an meiner neuen Aufgabe . . .«
»Die Sie bald gelöst haben werden, wenn Sie so weitermachen wie bisher«, unterbrach ihn Dr. Thiessen lachend. »Haben Ihnen heut vormittag nicht die Ohren geklungen?«
»Ich wüßte nicht, warum«, brummte Hegemüller.
»Weil Lüdinghausen sich zu Grabbe und mir überaus anerkennend über das von Ihnen in so kurzer Zeit Erreichte äußerte. Der Professor meinte, daß man an Hand Ihrer Ergebnisse bald an die fabrikmäßige Herstellung von Strahlmotoren und Strahlturbinen gehen könnte.«
»Mag er meinetwegen, wenn's ihm Spaß macht«, knurrte Hegemüller immer noch mißgestimmt. »Ist ja schon richtig so. Wir entwickeln die Maschinen, nehmen die Patente darauf, und unsere neuen Vertragsfreunde haben den Nutzen davon.«
»Lieber Kollege, jetzt werden Sie ungerecht«, erwiderte Thiessen mit Entschiedenheit. »Sie wissen vielleicht nicht, daß auch Hidetawa bereits mit Erfolg an Motoren und Turbinen gearbeitet hat. Ich war selber überrascht, als mir Lüdinghausen gestern die Pläne und Berechnungen zeigte, die Saraku ihm zu treuen Händen überlassen hatte. Wir werden uns sehr dranhalten müssen, sonst könnten uns die Japaner am Ende noch überflügeln.«
»Das soll den Herrschaften aber verdammt schwerfallen!« rief Hegemüller und schnitt eine Grimasse, als ob er den ersten Japaner, der ihm in Reichweite käme, mit Haut und Haar verschlingen wollte.
»Schaffen Sie sich eine bessere Laune an, Kollege«, meinte Thiessen und ging in sein eigenes Büro.
Eine Weile blieb Hegemüller über seine Zeichnungen gebeugt am Tisch sitzen; dann sprang er auf und begann im Zimmer hin und her zu laufen, während er halblaut Worte und abgerissene Sätze vor sich hin murmelte.
»Die Herrschaften in Tokio wollen Turbinen bauen . . . War von Hidetawa zu erwarten . . . Stellt sich die Sache wohl einfacher vor, als sie ist . . . Ist aber ein langer Weg von einer winzigen Lichtmühle bis zu einer anständigen Turbine, alter Freund . . . Wirst dich noch über allerhand dabei zu wundern haben . . .« Er blieb stehen, starrte zur Decke empor und sprach weiter. »Baut meinetwegen, soviel ihr wollt! Verzettelt euch damit! . . . Der Strahlstoff bietet noch ganz andere Möglichkeiten . . . Gott sei dank, daß ihr davon keine Ahnung habt.«
*
In einer längeren Unterredung mit dem Chefingenieur Grabbe hatte Dr. Hegemüller durchgesetzt, was er wollte. Mit dem Argument »es spart uns Zeit und Geld, Herr Grabbe«, hatte er schließlich die letzten Bedenken Grabbes überwunden und die Erlaubnis erhalten, sich die Versuchskammer aus dem Laboratorium C III für einige Wochen auszuleihen.
Nur widerwillig hatte die Abteilung C III sich dem Befehl von oben gefügt.
»Nur auf vierzehn Tage, Herr Doktor! Für jede Beschädigung müssen Sie mir geradestehen!« rief der Leiter der Abteilung Hegemüller noch nach, als der das strittige Objekt durch seine Leute aufladen ließ, um es in sein eigenes Labor zu schaffen.
»Keine Sorge, Herr Kollege!« winkte Hegemüller lachend ab. Wer hat, hat, dachte er bei sich, als er mit seiner Beute abzog.
Nun stand die Versuchskammer in seiner Abteilung. Es war ein aus daumenstarkem Eisenblech zusammengenieteter Zylinder von doppelter Manneshöhe mit einem Durchmesser von rund anderthalb Meter. Vier kleine runde Fenster, etwa den Bullaugen der Seeschiffe vergleichbar, gestatteten einen Einblick in das Innere, eine luftdicht verschließbare Eisentür war für den Zugang vorhanden. Diese Kammer war, wie ihr Name besagte, für Versuche bei verschiedenem atmosphärischem Druck bestimmt. Der Experimentierende war dabei in ihr von der Außenwelt hermetisch abgeschlossen; doch sorgten Sauerstoffbehälter und andere Vorrichtungen dafür, daß die Luft in dem Zylinder auch bei Dauerversuchen stets atembar blieb.
Von Strahlungsmessungen, die er in seiner isolierten Atmosphäre vornehmen müsse, hatte Hegemüller dem Chefingenieur allerlei erzählt, aber in Wirklichkeit hatte er ganz etwas anderes vor.
Wie ein wertvolles, mühsam errungenes Beutestück betrachtete er die Versuchskammer, ging mehrmals um sie herum, streichelte ihre eisernen Wände mit der Hand und griff dann nach einem Schreibblock, dessen oberstes Blatt mit einer technischen Skizze bedeckt war. Er nahm weiter ein Stück Kreide und begann auf der zylindrischen Wandung der Kammer nach den Angaben der Skizze hier und dort kleine Kreise zu malen und allerlei Linien anzureißen.
Ein Techniker, der dem Dr. Hegemüller dabei über die Schulter gesehen hätte, würde wohl bald erkannt haben, daß der zylindrische Körper auf der Skizze die Versuchskammer darstellen sollte, aber er wäre vielleicht auch über die Änderungen erschrocken gewesen, die nach eben dieser Zeichnung nun noch weiter daran vorzunehmen waren. Unbeschädigt wollte die Abteilung C III ihre Kammer zurück haben, aber jeder der kleinen Kreise, die Hegemüller auf ihre Wandungen zeichnete, bedeutete nach der Skizze eine Bohrung, gerade heraus gesagt also ein Loch, und die Aussichten von C III, das Leihobjekt unversehrt wiederzubekommen, mußten danach verschwindend gering erscheinen. Doch das scherte Dr. Hegemüller sehr wenig. Er verfolgte einen schon seit langem gefaßten Plan und hatte nur den einen Wunsch, daß ihm niemand vorzeitig in die Karten sah.
Von Thiessen hatte er kaum etwas zu befürchten, denn der war voll und ganz mit der Entwicklung der Strahlturbine beschäftigt. Aber Chefingenieur Grabbe liebte es leider, zu unerwarteter Stunde in den Laboratorien seiner Abteilung aufzutauchen, und selbst vor Professor Lüdinghausen war man niemals ganz sicher. Solchen unerwünschten Überraschungen mußte vorgebeugt werden, und Hegemüller fand einen geeigneten Weg dafür.
Die Räume, die ihm für seine Arbeiten zugewiesen waren, lagen in einem Hallenbau, von dem senkrecht ein anderer abging. Der Winkel, der dadurch entstand, war durch einen hohen Bretterzaun abgeschlagen; auf diese Weise hatte man einen ziemlich geräumigen, gesicherten Platz gewonnen, auf dem wetterfeste Maschinen und Geräte, wenn sie nicht im Laboratorium gebraucht wurden, abgestellt werden konnten. Gewöhnlich lagerten dort Transformatoren, Kabel und ähnliches. Jetzt kam auch die Versuchskammer dorthin und war auf diese Weise den Blicken aller derjenigen, die in Hegemüllers Laboratorium kamen, entzogen.
Aber es war ihr nicht vergönnt, dort ein so geruhsames Dasein zu führen wie die anderen auf dem Abstellplatz lagernden Geräte. Maschinen wurden angesetzt und bohrten ein reichliches Dutzend zollstarker Löcher in die Wandungen der Kammer. Danach aber wurden Teile herangeschafft, die inzwischen nach den Zeichnungen von Dr. Hegemüller an anderen Stellen des Werkes fertiggestellt worden waren. Eine Montage begann, die das Aussehen der Versuchskammer so stark veränderte, daß die Abteilung C III ihr Eigentum so leicht nicht wiedererkannt hätte.
Luftdichte Stopfbuchsen wurden aus den Bohrlöchern, durch die kräftige Stahlstangen führten. Außen trugen die Stangen größere Flächen aus starkem Eisenblech, im Innern der Kammer endeten sie in Handgriffe, so daß man die Stangen und somit auch die an ihnen befestigten Flächen drehen konnte. Schließlich aber wurden die außen befindlichen beweglichen Flächen auf einer Seite noch mit einer starken Schicht Strahlstoff belegt.
Möglichst geräuschlos und gewissermaßen nebenher ließ Dr. Hegemüller diese Arbeiten ausführen, während er selbst im Labor über den ihm vom Werk übertragenen Aufgaben saß und sich nur hin und wieder für Minuten auf dem Lagerplatz zeigte, um dort nach dem Rechten zu sehen. Etwa eine Woche war darüber verstrichen; auf etwa zwei Tage schätzte Hegemüller die Zeit, die noch nötig sein würde, um das, was er plante, ganz zu Ende zu bringen, als die Leute von C III bei ihm anriefen. Sie brauchten ihre Versuchskammer für eine dringliche Arbeit selber.
»Augenblicklich ganz unmöglich!« lehnte Hegemüller das Begehren ab, »gerade jetzt benötige ich die Kammer jede Stunde und jede Minute.«
Vergeblich wurde die Stimme am anderen Ende der Leitung immer dringender. Hegemüller blieb unerbittlich und verschanzte sich hinter der Autorität des Chefingenieurs, auf dessen Anordnung hin er die Kammer erhalten hatte. C III wurde grob am Apparat, Dr. Hegemüller ließ alles von sich ablaufen und warf schließlich den Hörer auf die Gabel.
Eine verdammte Geschichte! Hegemüller fuhr sich nachdenklich über die Stirn. Für heute – es war bereits um die vierte Nachmittagsstunde – würde er vor der Gesellschaft Ruhe haben; aber morgen? . . . Dr. Schneider, der Chef der Abteilung C III, war ein zäher Kunde. Morgen würde er bestimmt bei Grabbe Sturm laufen, um die Versuchskammer zurückzubekommen.
Hegemüller versuchte es sich vorzustellen, wie die Dinge dann weitergehen würden. Der Chefingenieur würde den Dr. Schneider natürlich zunächst abweisen. Der würde aber nicht lockerlassen und schließlich . . . so um die Mittagsstunde herum etwa . . . würde der Chefingenieur zu ihm, Hegemüller, kommen und einen Kompromißvorschlag machen. Dabei aber würde er auch sicherlich die Versuchskammer sehen wollen, und – und dann war Holland in Not.
Als Dr. Hegemüller in seinen Überlegungen soweit gekommen war, sprang er von seinem Stuhl auf und ging im Zimmer hin und her, angestrengt auf einen Ausweg sinnend. Verhindern ließ sich die Entwicklung, die er so klar voraus sah, nicht. Nur eine Möglichkeit gab es, der Sache die Spitze abzubrechen. Grabbe mußte vor eine vollendete Tatsache gestellt werden. Wenn er sah, was hier in aller Stille geschafft worden war, würde der Chefingenieur sich vielleicht auf seine Seite stellen.
Hegemüllers Entschluß war gefaßt. Er rief die Leute, die mit der Montage der Versuchskammer beauftragt waren, zusammen und eröffnete ihnen mit kurzen Worten, daß sie diese Nacht durcharbeiten müßten. Morgen früh müsse die neue Maschinerie für eine Besichtigung fertig sein.
Als die Werkuhren die fünfte Morgenstunde schlugen, war die Montage beendet. Die Werkleute packten ihr Handwerkszeug zusammen und verließen die Halle, um sich wohlverdienter Ruhe hinzugeben; Dr. Hegemüller blieb allein zurück.
Im Frühlicht des neu heraufkommenden Tages ging er auf den Abstellraum hinaus. Noch einmal überprüfte er diese wunderliche, nach seinen Ideen und Plänen an die Versuchskammer angebaute Maschinerie, öffnete die Tür der Kammer und betrat ihr Inneres. Verschiedene Hebel und Handgriffe betätigte er drinnen und stellte fest, daß sie leicht jedem Druck gehorchten. Mit zufriedener Miene verließ er nach einiger Zeit die Kammer wieder und ging in sein Arbeitszimmer. Eine Weile blieb er dort noch an seinem Schreibtisch sitzen, und seine Gedanken begannen zu wandern.
Was er erstrebte, hatte er erreicht. Die wenigen Minuten in der Versuchskammer hatten ihm Gewißheit darüber gegeben. Mochte dieser Tag nun bringen, was er wollte, Dr. Hegemüller war bereit, dem Kommenden entgegenzutreten. Er griff nach Hut und Stock. Dem verschlafen aufblickenden Nachtportier vergnügt einen guten Morgen wünschend, trat er durch das Portal auf die Straße hinaus. Jetzt nach Hause gehen und sich noch einmal ins Bett legen? Er verspürte keine Lust dazu; er zog es vor, sich die Zeit bis zum Werkbeginn durch einen Spaziergang zu vertreiben. Über taufrische Wiesen, durch im Frühsommerlaub stehenden Wald wanderte er dahin, bis es Zeit wurde, wieder ins Werk zu gehen.
Fast genau so, wie er es vorausgesehen, spielten sich die Ereignisse im Lauf des Vormittags ab. Ein Anruf von C III . . . nochmalige schroffe Weigerung Hegemüllers . . . ein Anruf von Chefingenieur Grabbe, als Antwort wiederum eine Weigerung, und dann – es war um die elfte Morgenstunde – erschien Grabbe selbst in der Abteilung Hegemüllers.
Offensichtlich lag dem Chefingenieur daran, die Dinge zu einem friedlichen Ende zu bringen. Nur mit halbem Ohr hörte er die Einwendungen Dr. Hegemüllers an, während seine Blicke in der Halle hin- und hergingen.
»Wo haben Sie die Kammer?« unterbrach er ihn unvermittelt.
»Auf dem Abstellplatz, Herr Grabbe. Es schien mir nicht zweckmäßig, die Versuche hier vorzunehmen, wo möglicherweise ein Unbefugter davon Kenntnis bekommen könnte.«
»Auf dem Abstellplatz? . . . Hm . . . eigenartig . . . Ich möchte die Kammer einmal sehen, Herr Dr. Hegemüller.«
»Bitte sehr, Herr Chefingenieur«; Hegemüller sagte es scheinbar ruhig, obwohl sein Herzschlag in diesen Sekunden beträchtlich schneller als vorher ging.
Seite an Seite verließen sie die Halle und kamen auf den Abstellplatz.
»Ja, zum Teufel, wo steht denn die Kammer?« fragte der Chefingenieur, nachdem er sich vergeblich nach allen Seiten umgeschaut hatte.
»Bitte hier, Herr Grabbe.« Es war begreiflich, daß der Chefingenieur das Streitobjekt nicht erkannte, obwohl er direkt davorstand. Er hatte die Versuchskammer als einen glatten aufrecht stehenden Zylinder in der Erinnerung, hier aber sahen seine Augen etwas ganz anderes. Reichlich ein Dutzend teils größerer, teils kleinerer, teils senkrecht, teils waagerecht angeordneter Stahlblechflächen, auf den ersten Anblick ein unübersehbares Gewirr, verschleierten die Zylinderform bis zur Unkenntlichkeit. Es dauerte ein Weilchen, bis Grabbe die Versuchskammer als den tragenden Kern dieser Konstruktion erkannte. Kopfschüttelnd schritt er um das absonderliche Bauwerk herum, blieb dann vor Hegemüller stehen.
»Sie sagten mir, Herr Doktor Hegemüller, daß Sie die Kammer für Strahlungsmessungen nötig hätten. Unter der Bedingung, daß Sie sie unbeschädigt zurückgeben, wurde sie Ihnen leihweise überlassen. Mit keinem Wort war von derartigen Umbauten die Rede. Was hat das da . . .« er wies auf die von Grund aus veränderte Kammer, »mit Messungen zu tun?«
»Messungen des Strahlungsdruckes, Herr Grabbe. Darf ich Sie bitten, mir zu folgen.« Hegemüller öffnete, während er es sagte, die Tür zu der Kammer, nötigte den Chefingenieur mit einer einladenden Handbewegung einzutreten, folgte ihm und schloß die Tür wieder. Verwundert blickte der Chefingenieur auf die mannigfachen Hebel und Handgriffe im Innern der Kammer, während Hegemüller in seiner Erklärung fortfuhr.
»Ich kenne das Gewicht der Konstruktion, Herr Grabbe. Das Gewicht von uns beiden kann ich schätzungsweise mit hundertfünfzig Kilogramm in Rechnung stellen. Es fragt sich nun, welche Größe genügt, um diese Gewichte durch den Strahlungsdruck zu kompensieren. Da habe ich nun Flächen angebracht, die jetzt noch senkrecht stehen und sich ihre strahlenden Seiten zukehren. Wenn ich sie aber mehr oder weniger waagerecht stelle . . . sehen Sie, durch diese Hebel hier, Herr Grabbe, dann kann der Strahlungsdruck frei wirken . . .«
Noch während er es sagte, bewegte Hegemüller die Hebel aus ihrer Lage, und im gleichen Augenblick ging ein leichtes Schüttern durch die Kammer.
»Hegemüller! Was machen Sie? Sind Sie toll geworden?« Grabbe stieß die Worte heraus, während sein Blick an einem der Kammerfenster hing. Durch das Glas hindurch sah er draußen die Hallenwand sich langsam nach unten bewegen. Schon glitt die Oberkante eines der hohen Fenster vorüber. Jetzt kam die Dachtraufe in Sicht, als Hegemüller wieder in die Hebel griff.
Sofort verlangsamte sich der Aufstieg der Kammer und kam in der nächsten Minute ganz zum Stehen. In umgekehrter Folge glitten die Einzelheiten der Hallenwand wieder vor Grabbes Augen vorüber. Die Dachkante, das Fenster. Immer langsamer wurde der Fall der Kammer nach unten, während Dr. Hegemüller die Hebel kaum merklich verstellte. Ein leichtes Scharren, ein kaum fühlbarer Stoß zum Schluß. Sie stand wieder fest auf dem Boden, Hegemüller öffnete die Tür.
Kein Wort war während der kurzen Fahrt mehr aus Grabbes Mund gekommen. Mit zusammengepreßten Lippen, jede Muskel gestrafft, hatte er durch das Fenster gestarrt. Jetzt entspannten sich seine Züge wieder, er wollte sprechen, aber Hegemüller kam ihm zuvor.
»Ich wollte jetzt bei Tageslicht nicht höher gehen, Herr Chefingenieur. Unbefugte hätten dabei die Strahlrakete sehen können, das Geheimnis wäre nicht mehr gewahrt geblieben.«
Jetzt erst kam Grabbe zu Wort. »Sie sind des Teufels, Hegemüller!« war das einzige, was er zunächst hervorzubringen vermochte. Noch suchte er nach Worten, als Dr. Hegemüller weitersprach.
»Wir können schneller steigen. Die Strahlenplatten waren nur um dreißig Grad auseinandergeschwenkt. Den vollen Auftrieb liefern sie erst bei hundertachtzig Grad.«
»Hören Sie auf, Mensch!« fuhr ihm Grabbe dazwischen, aber Hegemüller ließ sich in seinem Vortrag nicht stören.
»Der Mond ist fast voll. Wie denken Sie über einen kleinen Nachtflug in die Stratosphäre?«
»Danke für die freundliche Einladung, Herr Doktor Hegemüller.« Abweisende Ironie klang aus den Worten Grabbes. »Ich möchte meine Knochen nicht unnötig riskieren. Ich will Ihnen sogar glauben, daß Sie mit Ihrer improvisierten Strahlkutsche bis in die Stratosphäre kommen . . . aber sicher zurückkommen werden Sie kaum. Es fehlt Ihnen ja die Orientierung nach unten.«
»Verzeihen Sie, Herr Grabbe, das ist ein Irrtum.« Mit dem Fuß schob Hegemüller eine Bodenklappe beiseite. Glas kam darunter zum Vorschein, die Scheibe eines in den Boden eingesetzten Fensters.
»Hm! So, so! Daran haben Sie auch gedacht. Nicht übel. Na, Schneider wird sich freuen, wenn er seine Kammer wieder zu Gesicht bekommt.«
»Die kriegt er nicht wieder, Herr Grabbe.« Hegemüller sagte es so überzeugungstreu, daß Grabbe trotz seiner Erregung lachen mußte. »Auch gut, meinetwegen!« lenkte er ein. »Wir werden Herrn Schneider eine neue Kammer bauen müssen; aber auch Sie, Verehrtester, werden mir mit diesem provisorischen Vehikel hier keine halsbrecherischen Versuche mehr anstellen. Was Sie da gemacht haben, Herr Hegemüller, ist gut. Daß es mal wieder gegen alle Werksbestimmungen verstößt, sind wir nachgerade von Ihnen gewohnt. Jetzt wollen wir die Sache aber mal vernünftig und mit den richtigen Mitteln angreifen. Kommen Sie mit in mein Büro. Wir müssen die Angelegenheit besprechen.«
Als Hegemüller in seinem Arbeitszimmer seinen Hut vom Haken nahm, klingelte das Telephon. »Sofort . . . einen Augenblick.« Er reichte dem Chefingenieur den Hörer. »Herr Doktor Schneider möchte Sie sprechen.«
»Hat mir gerade noch gefehlt!« Grabbe sprach eine Minute in das Mikrophon und warf den Hörer auf die Gabel zurück.
»Ein verfluchter Kerl, der Hegemüller«, sagte am anderen Ende der Leitung Dr. Schneider ärgerlich zu dem Physiker Kraus.
»Wie ist's? Will er die Kammer nicht 'rausrücken?« fragte der ihn.
»Kein Gedanke daran. Er braucht sie noch. Herr Doktor Hegemüller geruht unsere Kammer noch auf unbestimmte Zeit zu gebrauchen.«
»Aber das geht doch nicht, Herr Schneider. Das ist ganz unmöglich. Was sollen wir denn da machen?«
»Wir sollen uns eine andere bauen, hat der Chefingenieur dekretiert. Eine andere bauen. Verstehen Sie, Herr Kraus? Aber wie lange das dauert, danach fragt er nicht. Ich finde es hahnebüchen!«
»Ich finde es großartig, Herr Doktor Schneider.«
»Großartig?! Wieso?«
»Wir wollten schon längst eine bessere und größere Kammer haben, Herr Doktor. Eine bessere Gelegenheit, billig dazu zu kommen, gibt es gar nicht. Jetzt können wir bauen, was wir uns schon lange wünschen; der Chefingenieur wird die nötigen Summen anweisen, ohne ein Wort darüber zu verlieren.«
Zu derselben Zeit, in der dies Zwiegespräch in der Abteilung C III stattfand, sagte Grabbe zu Hegemüller:
»Hoffentlich geben die Kerls sich zufrieden. Ich habe Ihnen gesagt, daß sie sich eine neue Kammer bauen sollen, denn die hier können sie natürlich nicht wiederbekommen.«
In Grabbes Büro gab es danach eine lange Besprechung zwischen ihm und Hegemüller. Viele Einwände hatte Grabbe zu machen, viele Bedenken auszusprechen; doch fast stets konnte Hegemüller sie widerlegen. In der Tat hatte er an alle Möglichkeiten gedacht, und aus dem unvollkommenen Mittel, das die Versuchskammer für diesen Zweck ja schließlich nur war, das Bestmögliche gemacht.
»Trotz allem, mein lieber Hegemüller«, beendete Grabbe die Unterredung, »wollen wir nicht unnötig Gefahr laufen, sondern neu bauen, wie wir es eben besprochen haben. Machen Sie die Zeichnungen dafür fertig und bringen sie sie mir. Ich werde die einzelnen Teile an verschiedenen Stellen anfertigen lassen, damit das Geheimnis gewahrt bleibt.«
Als Hegemüller am nächsten Morgen in das Werk kam, galt sein erster Gang dem Abstellraum. Verdutzt rieb er sich ein paarmal die Augen, aber es blieb so, wie er es auf den ersten Blick gesehen hatte. Der Platz, auf dem die so stark veränderte Versuchskammer gestanden hatte, war leer. Seine Strahlrakete war spurlos verschwunden.
*
Was Thiessen einmal kurz nach der Schließung des Dreierpaktes zwischen Rom, Tokio und Gorla mehr im Scherz als im Ernst gesagt hatte, war nicht eingetroffen, denn Dr. Stiegel und Dr. Hegemüller waren in dem deutschen Institut geblieben; der eine bei Thiessen, der andere in seiner eigenen Abteilung, aber ausländischer Besuch war vorhanden. Noch immer hielt sich Saraku in Gorla auf und arbeitete mit Thiessen an der Entwicklung der Strahlturbine. Außerdem war Carlo Villari mit Aufträgen und Vorschlägen Ruggeros vor einigen Tagen von Rom hier eingetroffen und hatte in der Hauptsache ebenfalls in der Abteilung Thiessens zu tun.
Durch den Brand des Instituto Fisiko waren die Italiener in ihren Arbeiten zunächst stark behindert, doch mit bemerkenswerter Energie hatte es Ruggero verstanden, provisorische Arbeitsstellen zu schaffen, so daß auch in Rom die Forschung auf dem neu erschlossenen Gebiet kräftig weiter vorgetrieben werden konnte. Die Ergebnisse, die Ruggero aus Rom und Hidetawa aus Tokio fast täglich funkten, erwiesen sich für die Arbeiten in Gorla als wertvolle Förderungen. Auch Thiessen, der anfangs nicht besonders für das Dreierabkommen eingenommen war, mußte das anerkennen, und dementsprechend war auch sein Verhalten gegenüber den beiden ausländischen Gästen seiner Abteilung freundlicher geworden. Er zeigte sich ihnen gegenüber weniger zugeknöpft als in den ersten Tagen, wenn er auch in seinem Inneren immer noch einen kleinen Rest von Mißtrauen bewahrte.
»Ich halte die beiden für unbedingt ehrlich und zuverlässig«, meinte Dr. Stiegel, dem gegenüber er sich einmal vertraulich äußerte. »Von dem Japaner glaube ich es auch«, pflichtete Thiessen seinem Assistenten bei, »aber der Italiener ist mir etwas zu lebhaft. Haben Sie einmal seine Augen beobachtet? Keinen Augenblick bleiben sie ruhig, unaufhörlich gehen seine Blicke hin und her, als ob sie etwas Neues erspähen, irgend etwas Wichtiges entdecken wollten . . .«
»Das ist die Art der Südländer«, versuchte Dr. Stiegel ihn zu beruhigen, »sie sind nun einmal lebhafter als wir. Für unsern Geschmack etwas zu unruhig. Ewig quecksilbrig, aber es steckt nichts Böses dahinter.«
»Hoffen wir, daß Sie recht haben«, schloß Thiessen die Unterhaltung.
Dr. Thiessen hatte gut beobachtet. In der Tat waren die Augen Villaris überall und sahen manches, was andern entging. Sie erblickten auch die Strahlrakete Hegemüllers während der kurzen Sekunden, die sie über den Bretterzaun bis zur Dachtraufe der andern Halle emporschwebte, um dann wieder zurückzusinken. Und ebenso lebhaft wie die Augen waren die Gedanken Villaris, als er jetzt das in einem kurzen Moment Erhaschte zu verarbeiten begann.
Etwas Neues hatte Dr. Hegemüller, der grundsätzlich keinem Fremden Eintritt in seine Arbeitsstätte gewährte, dort gefunden und weiter entwickelt, so weit schon, daß seine Konstruktion stieg . . . eine neue Art von Flugschiffen, nicht mehr durch Motorkraft, sondern durch den Strahldruck der neuen Substanz getrieben. Ein Fortschritt von grundlegender Bedeutung, das erkannte Villari im Augenblick. Aber kein Wort war bisher darüber verlautbart. Hielt Gorla trotz des Abkommens mit wichtigen Dingen hinter dem Berg? Dann verstieß es gegen den Vertrag und dann . . . ja dann mußte man sich eben auf anderem Wege Kenntnis davon verschaffen. So schnell wie Carlo Villari diese Erkenntnis kam, war auch sein Plan gefaßt. Kurz vor Werkschluß in einem unbeobachteten Augenblick in einem sichern Versteck verschwinden, die Nacht abwarten und sich dann die Sache in aller Ruhe besehen.
Daß das unter keinen Umständen fair war, daß es einen Mißbrauch der ihm gewährten Gastfreundschaft bedeutete, beunruhigte Villari nur wenig. Er setzte sich darüber mit dem Gedanken hinweg, daß Gorla zuerst unfair gehandelt hätte, und führte seinen Plan so aus, wie er ihn sich vorgenommen hatte.
»Unser Italiener ist heut früher als sonst verschwunden«, sagte Dr. Thiessen zu Stiegel, als sie sich anschickten, das Werk zu verlassen.
»Ja, Herr Thiessen, er schien es heut eilig zu haben«, meinte Stiegel, während sie auf dem Wege zum Werkportal an einem Kellerhals vorüberkamen, in dem, vor unerwünschten Blicken sicher geborgen, derjenige steckte, von dem sie gerade sprachen.
»Weiß der Teufel, was Signor Villari im Ort wieder für Katzen zu kämmen hat«, brummte Thiessen, als sie durch das Portal auf die Straße traten.
Villari hatte die Worte vernommen, die Dr. Stiegel im Vorbeigehen zu Thiessen sprach, und sich daraufhin noch enger in seinem Winkel zusammengekauert. Während draußen der Werklärm verebbte und die Wächter begannen, ihre Runden abzugehen, mußte er die Entdeckung machen, daß das von ihm gewählte Versteck mancherlei zu wünschen übrigließ. Noch herrschte draußen die volle Helligkeit eines Julinachmittags, und ein Wächter, der pflichtgemäß in den Kellerhals hineinschaute, vielleicht sogar einige Stufen der Treppe hinabstieg, mußte ihn unfehlbar entdecken.
Jetzt war es eben siebzehn Uhr, und erst in drei Stunden war mit einfallender Dunkelheit zu rechnen. Bei dem Gedanken daran war es Signor Villari nicht wohl zu Mute. In dem Dämmerlicht, das hier unten herrschte, ertastete er eine hölzerne Tür, erfaßte die Klinke und drückte sie nieder. Die Tür war unverschlossen, sie gab nach, und Villari sah vor sich einen fast leeren, durch ein paar kleine Luken nur schwach erleuchteten Kellerraum. Schnell trat er ein, schloß die Tür hinter sich und schob den Riegel vor. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn, fürs erste war er hier in Sicherheit.
Noch drei Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit. Eine kurze Frist, wenn man im Büro über einer Arbeit saß, eine endlose Zeit, wenn man sie hier tatenlos verbringen mußte. Seine Augen hatten sich inzwischen an das schwache Dämmerlicht gewöhnt. Er blickte sich in dem Raum um und entdeckte in einer Ecke einen Stapel von Plantüchern, die wohl zum Verpacken von Maschinen und Geräten gedient hatten, kein allzu bequemes Lager, aber immerhin ein Lager, auf dem er sich niederlassen und die vom langen Kauern und Stehen steif gewordenen Glieder strecken konnte.
Carlo Villari tat es. Auf dem Rücken liegend, die Hände unter dem Kopf gefaltet, starrte er zur Decke empor und versuchte seine Lage zu überdenken. Unmerklich fielen ihm darüber die Augen zu, und ehe er es sich versah, war er eingeschlafen.
Ein klingendes Dröhnen, das Schlagen der Werkuhren, drang an sein Ohr und rief ihn ins Bewußtsein zurück. Er brauchte Minuten, um sich zu ermuntern, denn lange und fest hatte er geschlafen. Volles Dunkel war um ihn, als er die Augen aufschlug. Er ließ seine Taschenlampe aufleuchten, erkannte in ihrem Schein die ungewohnte Umgebung, den Keller, die Plandecken, auf denen er lag; jäh kam ihm wieder ins Bewußtsein, warum er hierher gegangen war und was er vorhatte.
Er warf einen Blick auf seine Uhr. Zweiundzwanzig Uhr. Fünf Stunden hatte er geschlafen. Noch war nichts verloren . . . Er hatte noch reichlich Zeit für sein Vorhaben. Jedes Geräusch vermeidend, schob er den Riegel der Tür zurück, öffnete sie, sah die Treppe vor sich im Mondlicht liegen. Schnell huschte er sie hinauf, suchte Schattendeckung an einer gegenüberliegenden Wand und bewegte sich vorsichtig in der Richtung auf den Abstellplatz zu.
Weit und breit war niemand zu erblicken; es war wohl gerade die Zeit zwischen zwei Wächterrunden. Ungesehen erreichte er den Zaun, der den Abstellplatz umgab. Die Tür war verschlossen. Gut doppelte Mannshöhe hatte der Zaun, aber Villari war ein geschickter Turner. Schnell hatte er das Hindernis überklettert. Leicht ließ ihn das Mondlicht weiter seinen Weg finden, und bald stand er vor dem, was er suchte. Da war sie, die Strahlrakete Hegemüllers, das Geheimnis, das die Deutschen nicht preisgeben wollten.
Staunend betrachtete Villari das Gebilde. Er wußte nichts von einer Versuchskammer, glaubte, daß Dr. Hegemüller das alles von Grund aus geschaffen hätte, und bewunderte es desto mehr. Ein paarmal umschritt er die Rakete und betrachtete sie mit Blicken, als ob er sie verschlingen wollte. Keine Einzelheit entging ihm, jede der Treibflächen, die aus dem Zylinder herausragten, untersuchte er sachkundig, dabei Worte und Sätze murmelnd, die Anerkennung für den Schöpfer der Konstruktion bedeuteten.
Nun war er damit zu Ende. Sollte er jetzt wieder gehen? Nach Hause eilen, das Ganze dort nach dem Gedächtnis aufzeichnen? . . . Nein, es war noch nicht genug. Auch das Innere der Rakete mußte er sehen. Er öffnete die Tür, trat in den Zylinder, schloß die Tür halb unbewußt wieder hermetisch hinter sich. Gering nur war jetzt das Licht, das durch die vier Luken hineinfiel. In dem ungewissen Schein erkannte er zwei Hebel, die sicherlich zum Verstellen der Haupttriebflächen dienten. Schon lagen seine Hände daran, schon hatten sie die Hebel herumgelegt, viel weiter ausgedreht, als Dr. Hegemüller es bei dem kurzen Versuch am Vormittag getan hatte. Im gleichen Moment spürte er einen Ruck, hatte das Gefühl, daß sein Körpergewicht sich verdoppelte; seine Knie gaben nach, er stürzte zu Boden.
Die Zeit verstrich, viele Sekunden . . . eine halbe Minute, bevor es ihm gelang, sich wieder emporzuraffen, denn schwer lastete der Beschleunigungsdruck der steil zum Himmel emporjagenden Rakete auf ihm. Endlich hatte er seine Glieder wieder in der Gewalt, stand aufrecht auf seinen Füßen und erschrak bis ins Mark, als sein Blick durch eins der Fenster ins Freie glitt.
Weithin dehnte sich tief unter ihm die mondbeschienene Landschaft. Wie verstreutes Spielzeug lagen Dörfer und Weiler zwischen Äckern, Wiesen und Waldungen. Villari war häufig geflogen und vermochte die Höhe ungefähr zu taxieren, vier Kilometer . . . fünf Kilometer . . . vielleicht schon sechs Kilometer . . . ging es ihm durch den Sinn, während er nach den Hebeln griff und sie in die alte Stellung zurückbrachte.
Augenblicklich wich der schwere Druck von ihm; ja noch mehr geschah. Sein Körper wurde gewichtslos. Eine leichte, kaum merkliche Bewegung seiner Füße, und er schwebte plötzlich frei im Raum, wäre frei schwebend geblieben, wenn er nicht noch die Hände an den Hebelgriffen gehabt hätte und sich so wieder zum Boden der Rakete niederziehen konnte.
Villari war Physiker und wußte die eigenartige Erscheinung zu deuten. Durch die Zurückstellung der Hebel hatte er den Auftrieb von der Rakete wieder fortgenommen. In freiem Fall stürzte sie jetzt nach unten. Mit Geschoßgeschwindigkeit würde sie bald . . . sehr bald auf den Erdboden aufschlagen und zersplittern, wenn er den Fall nicht rechtzeitig bremste.
Langsam zog er die Hebel wieder auseinander, vorsichtig bewegte er sie Zentimeter um Zentimeter und fühlte, wie sein Körper wieder Gewicht gewann.
In Eile und Heimlichkeit hatte Dr. Hegemüller seine Rakete zusammenbauen müssen, und mancherlei fehlte noch. Ein Höhenzeiger war nicht vorhanden, und so war Villari jetzt bei seinem abenteuerlichen Flug lediglich auf sein Gefühl angewiesen. Nur nach seinem Körpergewicht konnte er schätzen, ob die Rakete Beschleunigung nach oben oder nach unten hatte. Fühlte er sich schwerer als gewöhnlich, so ging es mit beschleunigter Fahrt nach oben, fühlte er sich leichter, ging es im Sturz nach unten. Glaubte er sein natürliches Gewicht zu haben, dann durfte er zwar annehmen, daß weder eine Beschleunigung noch eine Verzögerung stattfand, aber über die gleichmäßige Geschwindigkeit, mit welcher die Fahrt stattfand, wußte er auch dann noch nichts. Nur das wußte er, daß seine Lage mehr als kritisch war.
Nach unten mußte er, das war ja klar. Aber gefährliche Geschwindigkeiten hieß es dabei zu vermeiden, und den einzigen Anhaltspunkt, den er dafür hatte, konnte ihm nur die Beobachtung der Landschaft draußen geben. Ein Stück tiefer war er inzwischen schon wieder gekommen, denn enger war der Horizont, größer waren die Häuser der Weiler und Dörfer geworden. Nur noch auf etwa tausend Meter schätzte er jetzt die Flughöhe, wenige Minuten später nur noch auf fünfhundert Meter. Die Rakete war also in einem verhältnismäßig langsamen Fall begriffen. Es mochte noch ein bis zwei Minuten so weitergehen, bevor es Zeit wurde, den Fall noch mehr zu verlangsamen. Doch etwas anderes erfüllte ihn jetzt mit Besorgnis. Das Gorlawerk lag nicht mehr unter ihm, sondern so weit seitlich ab, daß er es durch eine der Seitenluken sehen konnte.
Die Bodenluke, durch die er das Gelände direkt unter sich hätte beobachten können, hatte er bei dem schwachen Licht nicht entdeckt. Die Bedeutung der anderen Hebel, durch die eine Steuerung der Rakete in seitlicher Richtung möglich war, hatte er noch nicht ergründet. Ausgeschlossen war es danach für ihn, zu dem Abstellplatz zurückzukehren, von dem er abgeflogen war. Nur überhaupt wieder mit heilen Gliedern die Erde zu erreichen, war der einzige Wunsch, der ihn bewegte.
Auf Kirchturmhöhe schätzte er jetzt noch den Abstand zur Erde. Laubwipfel erblickte er zu allen Seiten unter sich. Mehrere Kilometer weit bis zu einem in der Nähe von Gorla stehenden Buchenwald war die Rakete seitlich abgetrieben. Wieder griff er in die Hebel, bremste den Fall vorsichtig ab, sah Laub und Zweige an den Fenstern vorübergleiten, vernahm ein Scharren und Kratzen, als starke Äste die Wandungen der Rakete streiften, spürte gleich darauf einen schwachen Stoß. Sein Gefährt war zum Stillstand gekommen.
Sekundenlang verharrte Villari regungslos, dann öffnete er die Tür und sah Zweig und Laub um sich; die Rakete hatte sich in der Krone einer starken alten Buche verfangen. Zögernd setzte er den Fuß auf einen Ast, ging, sich an Seitenzweigen festhaltend, ein paar Schritte voran und konnte nun seine Lage übersehen.
Zwischen vier starken Ästen, in die sich die Baumkrone an dieser Stelle gabelte, hatte der zylindrische Körper der Rakete sich eingeklemmt. So fest und sicher stand sie hier, daß selbst ein Sturm sie kaum losgerissen hätte; so hoch über dem Erdboden hatte das eigenwillige Projektil sich seinen Ruheplatz gesucht, daß Villari nichts von ihm erblicken konnte.
Mit einem schnellen Entschluß warf er die Tür zu und begann behutsam von Ast zu Ast nach unten zu klettern. Doch bald war es damit zu Ende. Er hatte die untersten Zweige der Krone erreicht. Glatt wie eine Säule verlief der Baumstamm weiter nach unten, und immer noch befand er sich reichlich zehn Meter über dem Erdboden. Unmöglich, den starken Stamm mit seinen Armen zu umfassen, an ihm hinabzuklettern. Schon beim ersten Versuche wäre er rettungslos in die Tiefe gestürzt. Was sollte er tun?
Noch einmal nach oben steigen, noch einmal in die Rakete gehen? Sie noch einmal aufsteigen lassen und die Landung an einer anderen, günstigeren Stelle versuchen? Es schauderte ihn bei dem Gedanken, sich dem unheimlichen Gefährt noch einmal anzuvertrauen. Hier oben warten bis der Tag anbrach? Ausharren, bis vielleicht Menschen in die Nähe kamen, die ihm Hilfe bringen konnten? Wie würde er hinterher dastehen? Mit Schimpf und Schande würde er das deutsche Werk danach verlassen müssen. Ein anderer Ausweg mußte gefunden werden, und nach langem Grübeln fand er ihn.
Ohne ein Opfer ging es dabei freilich nicht ab. Seine Kleidung mußte dabei herhalten. Carlo Villari entsann sich der Tatsache, daß die Eingeborenen in der libyschen Kolonie die hohen, glatten Stämme der Dattelpalmen mit Hilfe von Stricken erklommen. Was sonst unmöglich erschien, ging bei Benutzung dieses Hilfsmittels überraschend schnell und sicher vonstatten, und er war überzeugt, daß es auch hier gute Dienste tun würde. Aber wenigstens zwei Stricke waren dazu notwendig. So spielte sich im Laub der Baumkrone zunächst einmal eine Entkleidungsszene ab. Als sie beendet war, trug Carlo Villari seinen Anzug auf der bloßen Haut; zu Stricken zusammengewürgt, um den Baumstamm herumgeworfen, mit seinen Händen und Füßen verbunden, gab ihm der Rest seiner Garderobe jetzt die Möglichkeit, ohne unmittelbare Lebensgefahr an dem glatten Stamm hinabzugleiten. Ohne verschiedene Schrammen und Schrunden ging es freilich nicht ab, und er sah ziemlich mitgenommen aus, als er den festen Boden endlich wieder unter seinen Füßen fühlte.
Jetzt schleunigst fort von hier war sein einziger Wunsch, als er wieder zu Atem kam. Der Mond war inzwischen tief hinabgesunken. Eben noch vermochte Villari sich danach zu orientieren, dann verschwand das Gestirn unter dem Horizont. In der einfallenden Dunkelheit machte der Italiener sich auf den Heimweg. Als er nach langer Wanderung glücklich vor seiner Tür stand, schlugen die Uhren bereits die zweite Morgenstunde. Sein Unternehmen war anders verlaufen und hatte länger gedauert, als er angenommen hatte.
Noch lange blieb er wach, ging unruhig in seinen Räumen hin und her und überdachte die voraussichtlichen Folgen seiner Tat. Natürlich würde man die Rakete vermissen. Zweifellos würde man auch nach ihr suchen, aber finden würde man sie so leicht nicht. Die steckte ja sicher verborgen in der dichten Krone eines hohen Baumes. Später, im Herbst vielleicht, wenn das Laub fiel, würde man auf ihre Spur kommen. Einstweilen würde man sich vergeblich den Kopf zerbrechen, auf welche Weise sie abhanden gekommen war, würde hin und her raten und hundert Möglichkeiten erwägen; auf ihn, Villari, würde aber wohl kaum jemand verfallen. Vor einer Entdeckung glaubte er sich gesichert.
Mit einem Gefühl der Beruhigung warf er sich in einen Sessel . . . und fuhr im nächsten Augenblick wieder auf, denn etwas anderes fiel ihm ein. In dem Drang, schnell von der Landungsstelle fortzukommen, hatte er die aus seinen Kleidungsstücken zusammengedrehten Stricke achtlos in das Unterholz geworfen. Wenn man sie fand . . . wenn man die Zeichnung in den Wäschestücken las – die Buchstaben C. V. –, ihm wurde schwül bei dem Gedanken daran. In der Übereilung hatte er hier einen Fehler begangen, der verhängnisvoll werden konnte.
Noch einmal zurückkehren? Die Stelle wieder aufsuchen, die verräterischen Stücke an sich nehmen? Schnell verwarf er den Gedanken wieder. Jetzt in der Dunkelheit hätte er den Platz schwerlich wiedergefunden, wäre überdies zu spät in das Werk gekommen. Für heute war es auf jeden Fall unmöglich, doch vielleicht später.
Villari nahm sich vor, es morgen oder übermorgen bei Tage zu versuchen, obwohl er sich klar darüber war, daß es auch dann nicht leicht sein würde, den abseits von Weg und Steg zwischen Hunderten seinesgleichen stehenden Baum wiederzufinden.
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