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Herrn Pickwick erlaubte sein Zartgefühl nicht, Bob Sawyer oder Ben Allen dem jungen Paare vorzustellen, bevor er dasselbe gehörig zu ihrem Empfang vorbereitet hätte, und da er Arabellas Gefühle möglichst zu schonen wünschte, so machte er den Vorschlag, er und Sam sollten in der Nähe vom Georg und Geier absteigen, die beiden jungen Männer aber vor der Hand irgendwo anders ihre Quartiere nehmen. Dieser Vorschlag wurde bereitwillig angenommen und ausgeführt. Herr Ben Allen und Herr Bob Sawyer begaben sich in ein abgelegenes Bierhaus am äußersten Ende des Borough, wo ihre Namen schon früher sehr häufig an der Spitze langer und verwickelter Rechnungen, mit weißer Kreide geschrieben, hinter dem Schanktisch an der Tür zu lesen gewesen waren.
»Welche Überraschung, der Herr Weller!« rief das hübsche Hausmädchen, als ihr Sam an der Tür begegnete.
»Ja, das ist es auch, liebes Kind«, erwiderte Sam, etwas zurückbleibend, um seinen Herrn aus der Gehörweite kommen zu lassen. »Was für ein süßes, angenehmes Geschöpf Sie sind, Marie.«
»Aber, aber, Herr Weller; was schwatzen Sie doch für Unsinn«, sagte Marie. »Lassen Sie das, Herr Weller.«
»Was soll ich lassen, mein liebes Kind?« sagte Sam.
»Nun, eben das«, erwiderte das hübsche Hausmädchen. »Gehen Sie Ihres Weges.«
Mit dieser Mahnung stieß das hübsche Hausmädchen Sam lächelnd an die Wand und erklärte ihm, er habe ihr ihre Haube zerdrückt und ihr Haar ganz in Unordnung gebracht.
»Auch haben Sie mich gehindert, zu sagen, was ich wollte«, fügte sie hinzu. »Es liegt schon seit vier Tagen ein Brief für Sie da; Sie waren kaum eine halbe Stunde fort, als er kam, und auf der Adresse steht: ›Höchst eilig‹.«
»Wo ist er denn, meine Liebe?« fragte Sam.
»Ich habe ihn zu mir gesteckt, sonst wäre er ganz gewiß schon lange verlorengegangen«, erwiderte Marie. »Da ist er; es ist mehr, als Sie verdient haben.«
Mit diesen Worten und nach vielen artigen, kleinen, koketten Zweifeln, Befürchtungen und Wünschen, sie werde ihn doch nicht verloren haben, zog Marie den Brief hinter dem hübschesten und feinsten Musselinbusenstreif, den man sich denken kann, hervor und überreichte ihn Sam, der ihn mit ebenso vieler Galanterie als Innigkeit küßte.
»Ach, du meine Güte!« sagte Marie, den Busenstreif wieder zurecht drückend und sich stellend, als ob sie von nichts wüßte; »Sie scheinen sich ja auf einmal ganz darin verliebt zu haben.«
Herr Weller antwortete nur mit einem Blinzeln, von dessen eigentlicher voller Bedeutung keine Beschreibung auch nur den schwächsten Begriff geben könnte; dann setzte er sich neben Marie auf eine Fensterbank, erbrach den Brief und betrachtete seinen Inhalt.
»Hallo!« rief Sam; »was ist das?«
»Doch nichts Schlimmes?« fragte Marie, ihm über die Schultern sehend.
»Oh, Ihre Racker von Augen!« sagte Sam aufblickend.
»Kümmern Sie sich nicht um meine Augen; lesen Sie Ihren Brief«, sagte das hübsche Hausmädchen und ließ dabei ihre Augen so schalkhaft und schön blitzen, daß sie ganz unwiderstehlich waren.
Sam erfrischte sich mit einem Kuß und las wie folgt:
»Markis Gran.
»By Dorken.
»Mithewoch.
Mein liber Samele!
Es dut mier Sehr leith das ich daß vergnigen habe dir schlechte nachrichten fon deiner stiefmudder gäben zu müssen – sie hat sich verkeldet weil sie onforsichtiger weise im nasen Graß Im Regen saß um Einen schäfer zu Hören der erßt in der senkenden nacht aufhören konnte weil ehr sich mit Brandwein Und Wasser erhißt hadde und Sich nicht eher anhalden Konnte als biß er wieder ein bißgen nichtern Geworten wahr Was gar manche stunden weknam und der Dokter sagte wen Sie Gleich darauf warmmen Brandwein und waßer gedronken hette stadd vorhehr so hädde es ihr Nichts gedan ihre reder wurden Augenblücklich geschmiehrt und alles Gebraucht um sie wider in den gang zu brengen was Mann sich nur denken kan dein Vadder hadde hofnung sie werde sich wider Herausreisen wie gewenlich aber als sie wider um di ecke herumfuhr da kamm sie in dem falschen weg und rolte den Berg hennunter mit Einer geschwentigkeit wie mann noch nie gesehen had und droz dem das der Dokter sie kleich pesah, so half es doch alles nichts den sie bezalde am lezden schlagbaum 20. Minuten vor 6 Ur gestern abend und had also die krose reise weid under der gewenlichen zeit Gemacht waß vielleicht auch daher gekomen ist daß sie unterwegs Gar wennig gepäk eingenommen had dein vatter sagt wenn du komen wilst und mich Besuchen Sammi so wird er es als eine Grose Freide ansehen den ich ben so Gans allein Samel Nodabene er wird es dir schon Sagen das es recht wird und weil wir so vile denge mid einanter abzumachen haben so wird dein Brenzibal dir gewiß nichts in den weg Legen Sammi denn ich kene en besser und vermelte ihm Meinen resbegt und bin auf Ewig dein
Tony Weller.«
»Was für ein unbegreiflicher Brief!« sagte Sam: »wer kann aus diesen Geschichten allen klug werden? Auch ist es nicht meines Vaters Hand, sondern nur seine Unterschrift mit Kanzlei-Buchstaben. Die kenne ich.«
»Vielleicht hat er einen andern schreiben lassen und dann nur seinen Namen daruntergesetzt«, sagte das hübsche Hausmädchen.
»Warten Sie noch eine Minute«, versetzte Sam, den Brief noch einmal überlesend und dabei von Zeit zu Zeit innehaltend, um darüber nachzudenken. »Sie haben es erraten. Der Herr, der es geschrieben hat, hat das ganze Unglück gehörig erzählt, und dann ist mein Vater dazugekommen, hat ihm über die Achsel gesehen und den ganzen Handel dadurch verwirrt gemacht, daß er auch seinen Senf dazu gab. So macht er es immer. Sie haben ganz recht, liebe Marie.«
Nachdem er sich über diesen Punkt zufriedengestellt, überlas Sam den Brief noch einmal, und da er sich jetzt endlich einen klaren Begriff von seinem Inhalt zu bilden schien, sagte er schwermütig, als er ihn zusammenlegte:
»So ist also das arme Geschöpf tot! Es tut mir leid um sie. Sie war kein böses Weib; wenn nur die Schäfer sie in Frieden gelassen hätten. Ich bin recht betrübt darüber.«
Herr Weller äußerte diese Worte in einem so ernsthaften Tone, daß das hübsche Hausmädchen die Augen niederschlug und gleichfalls eine sehr ernsthafte Miene annahm.
»Und doch«, fuhr Sam fort, indem er den Brief mit einem leisen Seufzer in die Tasche steckte: »es hat einmal sein müssen, und nun es geschehen ist, läßt sich nimmer helfen, wie die alte Dame sagte, als sie ihren Diener geheiratet hatte – nicht wahr. Marie?«
Marie schüttelte den Kopf und seufzte ebenfalls.
»Ich muß meinen Herrn um Urlaub angehen«, sagte Sam.
Marie seufzte abermals – der Brief war so gar rührend.
»Adieu!« sagte Sam.
»Adieu!« erwiderte das hübsche Hausmädchen, den Kopf abwendend.
»Sie werden mir zum Abschied doch eine Hand geben?« sagte Sam.
Das hübsche Hausmädchen reichte ihm eine Hand, die, obwohl die Hand eines Hausmädchens, dennoch eine sehr kleine Hand war, und stand auf, um zu gehen.
»Ich werde nicht sehr lange fortbleiben«, sagte Sam.
»Ach, Sie sind immer fort«, erwiderte Marie, ihren Kopf ein ganz klein wenig emporwerfend. – »Kaum kommen Sie, Herr Weller, so gehen Sie schon wieder.«
Herr Weller zog die Haushaltungsschönheit näher an sich und knüpfte ein flüsterndes Gespräch mit ihr an, das noch nicht lange gedauert hatte, als sie ihr Gesichtchen umwendete und sich herabließ, ihn wieder anzublicken. Als sie sich trennten, war es auf irgendeine Art unumgänglich notwendig für sie geworden, auf ihr Zimmer zu gehen und ihre Haube und Locken zu ordnen, bevor sie daran denken konnte, sich ihrer Gebieterin zu zeigen, und als sie zu dieser Tätigkeit die Treppe hinauftrippelte, beglückte sie Sam noch mit manchem Gruß und Lächeln über das Geländer hinab.
»Ich werde nicht länger als einen oder höchstens zwei Tage ausbleiben, Sir«, sagte Sam, nachdem er Herrn Pickwick mit dem Verlust bekannt gemacht, den sein Vater erlitten.
»So lange du es für nötig findest, Sam«, erwiderte Herr Pickwick. »Du hast unbeschränkte Erlaubnis.«
Sam verbeugte sich.
»Sag' deinem Vater, Sam, wenn ich ihm in seiner gegenwärtigen Lage auf irgendeine Art von Nutzen sein könne, so sei ich von Herzen gern bereit, alles zu tun, was in meinen Kräften steht«, setzte Herr Pickwick hinzu.
»Danke Ihnen, Sir«, erwiderte Sam. »Ich werd's melden, Sir.«
Unter solchen und ähnlichen Äußerungen gegenseitiger Geneigtheit und gegenseitiger Teilnahme trennten sich Herr und Diener.
Es war gerade sieben Uhr, als Samuel Weller vom Bock einer Postkutsche, die durch Dorking kam, einige hundert Schritte vom Marquis von Granby entfernt, abstieg. Der Abend war kalt und trübe, die kleine Straße sah düster und traurig aus, und das mahagonifarbige Gesicht des edlen und tapferen Marquis schien einen finstereren und melancholischeren Ausdruck zu haben als sonst, indem es wehmütig knarrend vom Winde hin und her geworfen wurde. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen, die Läden teilweise geschlossen; von dem Haufen Müßiggänger, die sich gewöhnlich an der Tür versammelten, war keine Spur zu sehen, und der Platz stand öde und verlassen.
Da Sam niemand erblickte, an den er einige vorläufige Fragen hätte richten können, so ging er sachte ins Haus, schaute sich um und fand schließlich rasch seinen Vater.
Der Witwer saß in dem kleinen Zimmer hinter dem Schanktisch an einem besonderen runden Tischchen, rauchte eine Pfeife und starrte mit unverwandtem Blick ins Feuer. Offenbar hatte das Begräbnis erst an diesem Tage stattgefunden; denn an seinem Hut, den er auf dem Kopfe behielt, hing ein etwa anderthalb Ellen langes Trauerband, das nachlässig über die Stuhllehne herabwallte.
Herr Weller war offenbar in sehr tiefe Betrachtungen versunken, denn obgleich Sam ihn mehrere Male beim Namen rief, so fuhr er doch mit demselben starren und ruhigen Gesichte zu rauchen fort, und blickte erst auf, als ihm sein Sohn endlich die flache Hand auf die Schulter legte.
»Sammy!« rief Herr Weller; »sei mir willkommen!«
»Ich habe Euch schon einhalbdutzendmal gerufen«, sagte Sam, seinen Hut an einen Nagel hängend; »aber Ihr hörtet mich ja gar nicht.«
»Nein, Sam, ich habe dich nicht gehört«, erwiderte Herr Weller und sah aufs neue gedankenschwer ins Feuer. »Ich war ganz in eine Träumerei versunken, Sammy.«
»Worüber habt Ihr denn so nachgesonnen?« fragte Sam, seinen Stuhl ans Feuer rückend.
»Ich habe an sie gedacht, Sammy«, erwiderte Herr Weller senior und warf seinen Kopf in der Richtung nach dem Dorkinger Kirchhof empor, als stumme Erklärung, daß seine Worte sich auf die selige Frau Weller bezögen.
»Ich dachte eben daran, Sammy«, fuhr Herr Weller fort, indem er seinen Sohn mit großem Ernst über seine Pfeife hinaus anblickte, als wollte er ihn versichern, daß seine Worte, so außerordentlich unglaublich sie auch klingen möchten, doch ruhig und mit gutem Bedacht erwogen seien: »ich habe eben daran gedacht, Sammy, daß es mir im ganzen sehr leid tut, daß sie abgefahren ist.«
»Das gebührt sich auch für Euch«, erwiderte Sam.
Herr Weller nickte zustimmend, senkte seinen Blick zum Feuer herab, hüllte sich in eine Wolke und versank aufs neue in tiefes Nachdenken. Nach einer langen Pause vertrieb er den Rauch mit der Hand und sagte:
»Ach, sie hat noch so gescheit gesprochen, Sammy.«
»Was hat sie denn gesprochen?« fragte Sam.
»Ich meine bloß das, was sie in ihrer Krankheit gesagt hat«, erwiderte der alte Herr.
»Und was denn?«
»Das will ich dir jetzt erzählen. ›Weller‹, sagte sie, ›ich fürchte, ich habe nicht ganz so an dir gehandelt, wie ich hätte handeln sollen; du bist ein sehr guter Mann, und ich hätte dir dein Haus angenehmer machen sollen. Jetzt, da es zu spät ist, fange ich an einzusehen, wenn eine verheiratete Frau fromm zu sein wünscht, so soll sie damit anfangen, ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen und die, welche um sie sind, glücklich und fröhlich zu machen. Sie kann zwar wohl in die Kirche oder Kapelle oder was weiß ich alles gehen, aber sie soll dieses nicht als Entschuldigung für Müßiggang, für eigennützige Absichten oder etwas noch Schlimmeres verwenden. Ich habe das getan und habe Zeit und Vermögen an solche verschwendet, die es noch mehr getan haben als ich. Aber ich hoffe, wenn ich nicht mehr sein werde, Weller, so wirst du an mich denken, wie ich war, ehe ich diese Leute kennenlernte, und wie ich eigentlich von Natur gewesen.‹ – ›Susanne‹, sagte ich, denn ich war sehr angegriffen, Samuel; ich kann's nicht leugnen, mein Junge – ›Susanne‹, sagte ich, ›du bist mir ein sehr gutes Weib gewesen, deswegen sprich nichts von alledem und sei guten Muts, mein Schatz; du wirst es gewiß noch erleben, daß ich diesem Stiggins den Kopf entzweischlage.‹ Sie lächelte darüber, Samuel«, fuhr der alte Herr fort, einen Seufzer durch seine Pfeife erstickend, »aber hernach starb sie.«
»Nun gut«, sagte Sam, der es nach drei oder vier Minuten, während denen der alte Herr beständig langsam den Kopf hin und her gewiegt und feierlich geraucht hatte, endlich wagte, mit einem kleinen Trostgrunde hervorzurücken: »Seht Ihr, Vater, wir müssen alle mal sterben, der eine früher, der andere später.«
»Ja, das müssen wir alle, Sammy«, sprach Herr Weller senior.
»Die Vorsehung hat es einmal so eingerichtet«, sagte Sam.
»Ja, ja«, versetzte sein Vater mit ernstem Beifallsnicken. »Was würde denn sonst aus den Totengräbern werden, Sammy?«
Verloren in dem durch diese Betrachtungen eröffneten unermeßlichen Feld der Vermutungen, legte Herr Weller senior seine Pfeife auf den Tisch und schürte mit nachdenklichem Gesicht das Feuer.
Während der alte Herr damit beschäftigt war, trat eine wohlbeleibte Köchin in Trauerkleidung, die bisher in der Schenkstube beschäftigt gewesen war, ins Zimmer, nickte Sam zum Zeichen der Erkennung mehrere Male freundlich zu, stellte sich schweigend hinter seines Vaters Stuhl und kündigte ihre Anwesenheit durch ein leises Husten an, welchem, als es unbeachtet blieb, ein lauteres nachfolgte.
»Hallo«, sagte Herr Weller senior, indem er das Schüreisen fallen ließ, als er um sich schaute und hastig mit dem Stuhle wegrückte. »Was gibt's?«
»Trinken Sie doch eine Tasse Tee, mein lieber Herr«, erwiderte das wohlbeleibte Frauenzimmer in schmeichelndem Tone.
»Ich mag nicht«, versetzte Herr Weller in barschem Tone. »Ich wollte, Ihr wäret« – hier hielt Herr Weller plötzlich inne und fügte in leisem Tone hinzu – »wo der Pfeffer wächst.«
»Ach du meine Güte! Wie doch das Unglück die Leute verändert!« sagte das Frauenzimmer emporblickend.
»Ja, das ist's«, murmelte Herr Weller: »das Unglück ist der einzige Doktor, der meine Lage verändert.«
»Ich habe in meinem Leben nie einen so übellaunischen Mann gesehen«, sagte das wohlbeleibte Frauenzimmer.
»Doch was brauche ich mich zu betrüben«, fuhr der alte Herr fort; »es ist ja bloß zu meinem Besten, mit welcher Betrachtung der reuige Schulknabe seinen Kummer beschwichtigte, als er ausgepeitscht wurde.«
Das wohlbeleibte Frauenzimmer schüttelte mit mitleidig-teilnahmsvoller Miene den Kopf und berief sich auf Sam, ob sein Vater nicht wirklich sich zusammennehmen und gegen diese Niedergeschlagenheit ankämpfen solle.
»Sie sehen selbst, Herr Samuel«, sagte sie, »wie ich ihm schon gestern bemerkte, er wird sich einsam fühlen, und das kann er nicht ertragen; aber er sollte sich wieder ein Herz fassen, Sir; denn wahrhaftig, wir bedauern ihn alle wegen seines Verlustes und werden ihm gern alles zulieb tun. Es ist ja keine Lage im Leben so schlimm, Herr Samuel, daß sie nicht verbessert werden könnte, wie eine sehr würdige Person zu mir sagte, als mein seliger Mann starb.«
Hier hielt sich die Sprecherin die Hand vor den Mund, hustete abermals und blickte Herrn Weller senior liebreich an.
»Ich mag jetzt Ihr Geschwätz nicht haben. – Wollen Sie wohl so gut sein, uns allein zu lassen?« fragte Herr Weller mit ernster, fester Stimme.
»Ach du lieber Gott, Herr Weller«, sagte das beleibte Frauenzimmer; »ich habe ja nur aus christlicher Liebe so gesprochen.«
»Ja, das glaube ich«, versetzte Herr Weller. »Samuel, zeig ihr den Weg und mach die Tür hinter ihr zu.«
Das wohlbeleibte Frauenzimmer verstand diesen Wink, ging schnell hinaus und machte selbst die Tür hinter sich zu, worauf Herr Weller senior, dem große Schweißtropfen auf der Stirn standen, sich in seinen Stuhl zurückwarf und sagte:
»Sammy, wenn ich hier noch eine Woche allein bliebe – nur noch eine Woche, mein Junge – so würde mich dieses Weibsbild noch vor Ablauf derselben mit aller Gewalt heiraten.«
»Hm, ist sie denn so gar verliebt in Euch?« fragte Sam.
»Ach, was verliebt!« antwortete sein Vater. »Ich kann sie nun einmal nicht fern von mir halten. Wenn ich mich in einen feuerfesten Kasten mit einem Patentschloß einsperren würde, sie würde Mittel und Wege finden, an mich heranzukommen, Sammy.«
»Das ist ja etwas ganz Herrliches, wenn man so begehrt wird«, bemerkte Sam lächelnd.
»Ich bilde mir nichts darauf ein, Sammy«, erwiderte Herr Weller, heftig das Feuer schürend: »es ist eine schauderhafte Lage. Man vertreibt mich von Haus und Hof. Kaum war deiner armen Stiefmutter der Atem ausgegangen, so schickt mir so ein altes Weib einen Topf mit Marmelade, eine andere einen Krug mit Gelee, und noch eine andere kocht mir eine großmächtige Kanne voll Kamillentee und bringt sie mir höchsteigenhändig.«
Herr Weller pausierte ein wenig mit mannigfachen Zeichen tiefer Entrüstung, blickte dann umher und setzte flüsternd hinzu:
»Es waren lauter Witwen, Sammy, eine wie die andere; nur die Kamillenteefrau nicht – das war eine unverheiratete junge Dame von dreiundfünfzig Jahren.«
Sam antwortete nur mit einem schalkhaften Lächeln, und der alte Herr, nachdem er ein hartnäckiges Stück Kohle voll ernster Empörung zerschlagen hatte, als wäre diese Kohle der Kopf einer dieser Witwen, fuhr also fort:
»Kurz und gut, Sammy, ich fühle, daß ich nirgends sicher bin als auf dem Bock.«
»Und warum meint Ihr da sicherer zu sein, als sonstwo?« unterbrach ihn Sam.
»Weil ein Kutscher ein privilegiertes Individuum ist«, erwiderte Herr Weller, seinen Sohn fest ansehend. »Weil ein Kutscher, ohne Argwohn zu erregen, viel tun kann, was andere Leute nicht tun können; weil ein Kutscher auf achtzig Meilen Weges mit allen Frauenzimmern auf dem freundschaftlichsten Fuße stehen kann, ohne daß es einem Menschen einfällt, er wolle eine davon heiraten. Welcher andere Mann kann das sagen, Sammy?«
»Ja, es ist etwas daran«, sagte Sam.
»Wäre dein Herr ein Kutscher gewesen«, meinte Herr Weller weiter; »glaubst du, die Jury würde ihn dann verurteilt und die Sachen so zum äußersten haben kommen lassen? Ganz gewiß nicht!«
»Warum nicht?« sagte Sam verächtlich.
»Warum nicht?« versetzte Herr Weller; »weil es gegen ihr Gewissen gewesen wäre. Ein ordentlicher Kutscher ist eine Art Verbindungsglied zwischen dem ledigen und dem ehelichen Stande, und das weiß jeder praktische Mann.«
»Ihr meint also, die Kutscher seien überall der Hahn im Korbe, und es falle den Frauenzimmern nicht ein, sich an sie zu halten?«
Sein Vater nickte.
»Wie das so gekommen ist«, fuhr Vater Weller fort, »kann ich nicht sagen; aber es ist einmal so. Ein Kutscher, der seine bestimmten Stationen fährt, besitzt soviel liebenswürdige Eigenschaften, daß stets alle jungen Frauenzimmer in jeder Stadt, durch die er kommt, ihm nachsehen und – ich möchte fast sagen – ihn anbeten: ich weiß selbst nicht warum, denn ich weiß nur, daß es so ist. Es muß der Naturlauf so sein – eine Fügung, ein Dispensarium, wie deine selige Mutter zu sagen pflegte.«
»Eine Disposition«, sagte Sam, den alten Herrn verbessernd.
»Ganz recht, Samuel, eine Dispensition, wenn du lieber willst«, erwiderte Herr Weller: »ich sage einmal Dispensarium, und es ist überall so geschrieben an all den Orten, wo man umsonst Arzneien bekommt und bloß eine Flasche mitbringen muß; weiter sage ich nichts.«
Mit diesen Worten stopfte Herr Weller seine Pfeife aufs neue, zündete sie an, gab seinem Gesicht abermals einen gedankenvollen Ausdruck und fuhr also fort:
»Darum also, mein Junge, weil ich es nicht für ratsam ansehe, hier zu bleiben und zu heiraten, ich mag wollen oder nicht, und weil ich mich von diesen interessanten Mitgliedern der Gesellschaft nicht ganz und gar trennen möchte, habe ich den Entschluß gefaßt, wiederum mit meiner alten Kutsche zu fahren und mein Quartier abermals im Bell-Savage aufzuschlagen, das mein väterliches und angeborenes Element ist.«
»Was soll aber hier aus dem Geschäft werden?« fragte Sam.
»Das Geschäft, Samuel?« erwiderte der alte Gentleman, »das Haus und alles, was niet- und nagelfest ist, wird durch einen Privatkontrakt verkauft, und von dem Kaufgeld werden nach dem Wunsch deiner Stiefmutter, den sie ganz kurz vor ihrem Tode ausdrückte, zweihundert Pfund für dich angelegt, in den – wie heißt man doch diese Dinger –«
»Was für Dinger«, fragte Sani.
»Die Dinger, die in der City immer auf und ab fahren.«
»Omnibus?« meinte Sam.
»Unsinn!« erwiderte Herr Weller. »Die Dinger, die immer so schwanken und sich auf alle mögliche Arten mit der Nationalschuld und den Schatzkammerscheinen und all den Geschichten vermischen.«
»Ah so, die Fonds?« sagte Sam.
»Richtig, ja«, meinte Herr Weller: »die Fonds; zweihundert Pfund von dem Geld sollen für dich in den Fonds angelegt werden, Samuel, in Obligationen zu viereinhalb Prozent.«
»Sehr viel Güte von der alten Dame, daß sie an mich gedacht hat«, sagte Sam. »Ich bin ihr sehr verbunden.«
»Der Rest wird auf meinen Namen angelegt«, fuhr der ältere Herr Weller fort, »und wenn ich einmal von der Heerstraße abberufen werde, so fällt er auch an dich. Darum, mein Junge, bring nur nicht alles auf einmal durch und nimm dich in acht, daß keine Witwe aufspürt, du habest Vermögen, denn sonst bist du verloren.«
Nach dieser väterlichen Warnung nahm Herr Weller mit vergnügterem Gesichte seine Pfeife wieder zur Hand, indem die Auseinandersetzung dieser Dinge offenbar sein Herz bedeutend erleichtert hatte.
»Es klopft jemand an die Tür«, sagte Sam.
»Laß ihn nur klopfen«, versetzte sein Vater mit Würde.
Sam befolgte die Weisung: aber es wurde zum zweiten- und drittenmal geklopft. Das Klopfen schien gar nicht mehr aufhören zu wollen, und nun fragte Sam, warum der Klopfende nicht hereingelassen werde?
»Still still!« flüsterte Herr Weller mit ängstlichen Blicken: »nimm nur gar keine Notiz davon: vielleicht ist es eine von den Witwen.«
Da also keine Notiz von dem Klopfen genommen wurde, so wagte es der ungesehene Gast nach kurzer Pause, die Tür zu öffnen und hereinzusehen. Es war kein Weiberkopf, der sich zu der teilweise geöffneten Tür hereinsteckte, sondern die langen schwarzen Locken und das rote Gesicht des Herrn Stiggins. Herrn Weller fiel die Pfeife aus der Hand.
Der ehrwürdige Gentleman öffnete beinahe unmerklich allmählich die Tür, bis die Öffnung weit genug war, um seinen langen Leib hereinzulassen, worauf er ins Zimmer schlüpfte und es mit großer Sorgfalt sehr sachte verschloß. Er wandte sich sofort gegen Sam, hob zum Zeichen seiner unaussprechlichen Bekümmernis über den Unglücksfall, der die Familie betroffen, Hände und Augen empor, rückte den hochlehnigen Stuhl in seinen alten Winkel am Kamin, setzte sich auf die Ecke desselben, zog ein braunes Taschentuch hervor und hielt es an seine Augen.
Während dies vorging, hatte sich Herr Weller senior mit weit aufgerissenen Augen seine Hände auf die Knie gestemmt und mit einem Gesicht, das grenzenlosestes und überwältigendstes Erstaunen ausdrückte, in seinen Stuhl zurückgelehnt. Sam saß ihm stumm gegenüber und wartete mit brennender Neugier den weiteren Verlauf der Sache ab.
Herr Stiggins hielt sich sein braunes Taschentuch mehrere Minuten lang vor die Augen, stöhnte zu verschiedenen Malen recht herzlich, bemeisterte aber endlich durch eine gewaltige Kraftanstrengung seine Gefühle, steckte das Tuch ein und knöpfte seinen Rock auf. Danach schürte er das Feuer, rieb sich sodann die Hände und blickte Sam an.
»Ach, mein junger Freund!« sagte Herr Stiggins, mit sehr leiser Stimme das Stillschweigen unterbrechend; »hier ist Trauer und Betrübnis eingetreten.«
Sam nickte ein ganz klein wenig.
»Auch für den Mann des Zorns!« fügte Herr Stiggins hinzu: »sie macht das Herz eines Auserwählten bluten.«
Sam hörte seinen Vater etwas murmeln, als ob er Lust hätte, die Nase eines Auserwählten bluten zu machen; Herr Stiggins aber hörte nichts davon.
»Wissen Sie nicht, junger Mann«, flüsterte Herr Stiggins, seinen Stuhl näher zu Sam rückend, »ob sie dem Immanuel etwas vermacht hat?«
»Wer ist das?« fragte Sam.
»Die Kapelle«, erwiderte Herr Stiggins: »unserer Kapelle, unserer Herde, Herr Samuel.«
»Sie hat dem Pferch nichts vermacht und dem Schäfer auch nichts und den Tieren darin ebensowenig; nicht einmal den Hunden hat sie etwas vermacht.«
Herr Stiggins blickte Sam verschmitzt an, warf einen Seitenblick auf den alten Herrn, der mit geschlossenen Augen dasaß, als ob er schliefe, rückte sodann seinen Stuhl immer näher und sagte:
»Auch mir nichts, Herr Samuel?«
Sam schüttelte den Kopf.
»Ich sollt doch denken, etwas«, sagte Stiggins, so blaß werdend, wie er nur konnte. »Besinnen Sie sich, Herr Samuel; nicht einmal ein kleines Andenken?«
»Nicht einmal soviel, wie Ihr alter Schirm da wert ist«, erwiderte Sam.
»Aber vielleicht«, fuhr Herr Stiggins nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens zögernd fort: »vielleicht hat sie mich dem Manne des Zornes zur Fürsorge empfohlen, Herr Samuel?«
»Nach allem, was er mir gesagt hat, könnte es sehr wohl sein«, antwortete Sam; »er hat soeben von Ihnen gesprochen.«
»Wirklich?« rief Stiggins aufstrahlend. »Ah, gewiß ist eine Änderung mit ihm vorgegangen. Wir können jetzt ganz angenehm miteinander leben; nicht wahr, Herr Samuel? Ich würde für seine Sachen sorgen, solange Sie fort sind – und ganz gewiß gut sorgen.«
Herr Stiggins stieß einen tief hervorgeholten Seufzer aus, schwieg und erwartete eine Antwort. Sam nickte, Herr Weller senior aber gab einen ganz außerordentlichen Ton von sich, einen Ton, der weder ein Seufzer, noch ein Gestöhne, weder ein Grunzen, noch ein Geknurr war, sondern von allen vieren etwas zu haben schien.
Stiggins deutete diesen Ton als ein Zeichen der Reue oder Gewissensangst, blickte ermutigt umher, rieb sich die Hände, weinte, lächelte, weinte wieder. Dann aber ging er sachte durch das Zimmer nach dem ihm wohlbekannten Schranke in der Ecke, nahm ein Glas herunter und warf mit großem Bedacht vier Stücke Zucker hinein. Hierauf blickte er abermals um sich, stöhnte jämmerlich, ging sachte hinaus in die Speisekammer, füllte das Glas mit Ananasrum, kam schnell zurück, trat an den Kessel, der lustig über dem Feuer sprudelte, mischte seinen Grog, rührte um, schlürfte, setzte sich, nahm sofort einen langen herzlichen Zug von dem Rum mit Wasser und hielt darauf an, um zu verschnaufen.
Herr Weller senior, der bis jetzt immer noch verschiedene, seltsame und wunderliche Versuche machte, sich schlafend zu stellen, sprach bei alledem kein Wort. Als aber Herr Stiggins innehielt, um Atem zu schöpfen, stürzte er auf ihn zu, riß ihm das Glas aus der Hand, schüttete ihm den Rest ins Gesicht und schleuderte das Glas in den Kamin. Zugleich packte er den ehrwürdigen Gentleman fest am Kragen und machte sich daran, ihn wütend durchzuprügeln und mit den Füßen zu zerstampfen, wobei er jeden Stoß seiner Stulpenstiefel mit verschiedenen heftigen und unzusammenhängenden Flüchen auf Herrn Stiggins Gliedmaßen, seine Augen und seinen Leib begleitete.
»Sammy!« rief Herr Weller: »drück mir den Hut fest auf den Kopf.«
Sam drückte als ein gehorsamer Sohn seinem Vater den Hut mit dem langen Bande fester auf den Kopf. Darauf hämmerte der alte Gentleman mit neuer Munterkeit auf Herrn Stiggins los, trieb ihn durch das ganze Zimmer, durch den Gang, zur Haustür hinaus und auf die Straße. Dabei nahm seine Wut während der ganzen Aktion eher zu als ab, und er ward immer grimmiger, so oft er seinen Stulpenstiefel aufhob.
Es war ein schöner, erheiternder Anblick, den rotnasigen Mann in Herrn Wellers Griffen sich winden und seine ganze Gestalt vor Angst zittern zu sehen, während in rascher Reihenfolge Schlag auf Schlag fiel. Noch herrlicher aber war es anzuschauen, wie Herr Weller unter gewaltigem Widerstande Herrn Stiggins Kopf in einen vollen Pferdetrog tunkte und ihn solange unter dem Wasser hielt, bis er halb erstickt war.
»So!« sagte Herr Weller, seine ganze Energie in einen höchst konzentrierten letzten Fußtritt legend, als er Herrn Stiggins endlich mit dem Kopfe wieder aus dem Trog hervorkommen ließ; »jetzt schick' mir noch einen von diesen müßiggängerischen Schäfern daher, ich will ihn zu Brei zusammendrücken und nachher ersäufen. Sammy, hilf mir herein und reiche mir ein Gläschen Branntwein. Ich bin ganz echauffiert, mein Junge.«