Charles Dickens
Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Zweiter Teil
Charles Dickens

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Siebenunddreißigstes Kapitel.

In dessen Hauptzügen man eine authentische Version des Märchens vom Prinzen Bladud findet, und worin zugleich von einem höchst merkwürdigen Unglück berichtet wird, das Herrn Winkle widerfuhr.

Da Herr Pickwick wenigstens zwei Monate in Bath zu bleiben gedachte, so hielt er es für ratsam: für sich und seine Freunde eine Privatwohnung zu nehmen; er mietete daher, sobald sich eine günstige Gelegenheit zeigte, zu einem mäßigen Preis den obern Teil eines Hauses im Royal Crescent, der jedoch mehr Raum bot, als sie brauchten, weshalb Herr Dowler und seine Gemahlin sich erboten, ihnen ein Schlaf- und ein Wohnzimmer abzunehmen. Dieser Vorschlag wurde sogleich angenommen, und in drei Tagen waren sie alle in ihrer neuen Wohnung eingerichtet, worauf Herr Pickwick mit dem größten Eifer den Brunnen zu trinken begann. Er ging dabei ganz systematisch zu Werke. Vor dem Frühstück trank er ein Viertelliter und ging dann einen Hügel hinauf spazieren; das zweite Viertelliter trank er nach dem Frühstück und spazierte dann einen Hügel hinab; nach jedem neuen Viertelliter erklärte aber Herr Pickwick aufs feierlichste und nachdrücklichste, er fühle sich um ein Gutes besser, worüber seine Freunde äußerst entzückt waren, obgleich sie vorher nie etwas von einem Unwohlsein an ihm bemerkt hatten.

Der große Brunnensaal ist sehr geräumig, mit korinthischen Säulen, einer Musikgalerie, einer Tompionglocke, einer Statue von Nash und einer goldenen Inschrift verziert, die alle Wassertrinker wohl beachten sollten, denn sie appelliert an sie im Namen christlicher Menschenliebe. Das Wasser wird aus einer großen marmornen Vase geschöpft, um die herum eine Menge gelbliche Trinkgläser stehen, und es ist ein höchst erbaulicher und befriedigender Anblick, mit welcher Beharrlichkeit und mit welchem Ernst dieselben geleert werden. Es sind Bäder in der Nähe, die ein Teil der Gesellschaft gebraucht. Hinterher spielt eine Kapelle, um denen, die sich gebadet haben, Glück zu wünschen. Es ist noch ein zweiter Brunnensaal da, in dem gebrechliche Herren und Damen mittels einer so erstaunlichen Menge und Mannigfaltigkeit von Sänften und Stühlen herumgeführt werden, daß derjenige, der keck genug ist, mit der regelmäßigen Anzahl von Zehen einzutreten, in augenscheinlicher Gefahr schwebt, ohne dieselben wieder herauszukommen. In einen dritten Brunnensaal gehen alle ruheliebenden Leute, denn es wird dort weniger Geräusch gemacht als in den andern. Auch an Spaziergängen ist großer Überfluß vorhanden, wo man eine Menge Leute mit und ohne Krücken, mit Stöcken und ohne Stöcke antrifft; es geht dabei sehr lebhaft, lustig und unterhaltend zu.

Jeden Morgen trafen sich die regelmäßigen Wassertrinker, Herr Pickwick unter ihnen, im Brunnensaal, tranken ihr Viertelliter aus und gingen dann pflichtgemäß spazieren. Auf der Nachmittagspromenade fanden sich Lord Mutanhed, der ehrenwerte Herr Crushton, die verwitwete Lady Snuphanuph, die Frau Oberst Wugsby und all die vornehmen Herrschaften, sowie sämtliche Wassertrinker vom Morgen zusammen. Sodann gingen oder fuhren sie spazieren oder ließen sich in Sesseln schieben und trafen dann einander nachher wieder. Die Herren begaben sich hierauf in das Lesezimmer, allwo sie verschiedene Gruppen bildeten, und gingen dann nach Hause. War abends Theater, so trafen sie sich vielleicht dort; war Reunion, so suchten sie einander in den Sälen auf; jedenfalls kamen sie am folgenden Tage wieder zusammen – eine höchst angenehme Lebensweise, vielleicht nur etwas zu einförmig.

Nach einem solchen Tag saß Herr Pickwick, als seine Freunde bereits zu Bett gegangen waren, noch über seinem Tagebuch, als es auf einmal leise an seiner Tür klopfte.

»Bitte um Verzeihung, Sir«, sagte seine Hauswirtin, Frau Craddock, den Kopf hereinstreckend, »wünschen Sie vielleicht noch etwas, Sir?«

»Nein, Madame«, erwiderte Herr Pickwick.

»Mein Mädchen ist zu Bett gegangen, Sir«, fuhr Frau Craddock fort, »und Herr Dowler will die Güte haben, auf seine Gemahlin zu warten, da die Gesellschaft erst spät auseinandergehen wird. Wenn Sie daher nichts mehr bedürfen, Herr Pickwick, so möchte ich ebenfalls zu Bette gehen.«

»Nur zu, Madame«, erwiderte Herr Pickwick.

»Dann wünsche ich gute Nacht, Sir«, sagte Frau Craddock.

»Gute Nacht, Madame«, dankte Herr Pickwick.

Frau Craddock entfernte sich und Herr Pickwick schrieb weiter.

Nach einer halben Stunde war er mit seinen Einträgen fertig. Er drückte das Löschblatt sorgfältig auf die letzte Seite, schloß das Buch, wischte die Feder an seinem untern Rockfutter ab und öffnete die Schublade des Schreibpultes, um sie hineinzulegen. Hier erblickte er einige engbeschriebene Bogen Papier, die so zusammengelegt waren, daß der von guter deutlicher Hand geschriebene Titel ihm geradezu in die Augen fiel. Da er nun hieraus sah, daß es kein Privatdokument war, und da es außerdem Beziehung auf Bath zu haben schien und sich durch seine Kürze empfahl, so nahm er das Manuskript, zündete einstweilen sein Nachtlicht an, damit es gut brennen möchte, bis er fertig wäre, rückte sofort seinen Stuhl näher ans Feuer und las wie folgt:

Die wahrhaftige Geschichte vom Prinzen Bladud.

»Vor nicht ganz 200 Jahren las man auf einem der öffentlichen Bäder in dieser Stadt eine nunmehr verschwundene Inschrift zu Ehren ihres mächtigen Erbauers, des berühmten Prinzen Bladud.

Schon viele hundert Jahre vorher hatte sich von Generation zu Generation eine alte Sage fortgepflanzt, der erlauchte Prinz habe, weil er mit dem Aussatz behaftet gewesen, nach seiner Rückkehr von dem alten Athen, allwo er sich eine reiche Ernte von Kenntnissen gesammelt, den Hof seines königlichen Vaters gemieden und trübsinnig unter Hirten und Schweinen gelebt. Unter der Herde befand sich (so erzählt die Legende) ein Schwein mit einer ernsten, feierlichen Miene, mit dem der Prinz sympathisierte – denn auch er war sehr ernst gestimmt –, ein Schwein von nachdenklichem, zurückhaltendem Wesen; ein Tier, das allen andern weit überlegen, dessen Grunzen schrecklich und dessen Biß scharf war. Der junge Prinz seufzte tief, sobald er das Gesicht des majestätischen Schweines sah: er dachte an seinen königlichen Vater, und seine Augen benetzten sich mit Tränen.

Dieses kluge Schwein badete sich gern in tiefem Schlamm; jedoch nicht im Sommer, wie gewöhnliche Schweine jetzt zu tun pflegen, um sich abzukühlen, und schon in jenen seinen Zeiten taten (ein Beweis, daß das Licht der Zivilisation schon damals, wiewohl nur schwach, heraufzudämmern begonnen hatte), sondern in schneidend kalten Wintertagen. Es hatte immer ein so reines Fell und sah so gesund aus, daß der Prinz sich entschloß, die reinigenden Kräfte desselben Wassers zu erproben, dessen sich sein Freund bediente. Unter diesem schwarzen Schlamm sprudelten die heißen Quellen von Bath. Er badete sich und wurde kuriert. Nun eilte er an den Hof seines Vaters, bezeugte ihm seine Ehrfurcht, kehrte aber schnell wieder hierher zurück und gründete diese Stadt mit ihren berühmten Bädern.

Er suchte das Schwein mit allem Eifer früherer Freundschaft auf – aber ach, das Wasser war sein Tod geworden. Es hatte unvorsichtigerweise bei zu heißer Temperatur ein Bad genommen, und der Naturphilosoph war nicht mehr. Er hatte später in Plinius einen Nachfolger, der ebenfalls ein Opfer seines Durstes nach Kenntnissen wurde.

So die Sage: die wahre Geschichte aber lautet folgendermaßen:

Vor vielen hundert Jahren blühte in Pracht und Herrlichkeit der weltberühmte Lud Hudibras, König von Britannien. Er war ein mächtiger Monarch und er war so außerordentlich stark, daß die Erde unter seinen Fußtritten erbebte. Sein Volk sonnte sich in dem Leuchten seines Angesichts, so rot und strahlend war dasselbe. Er war wirklich jeder Zoll ein König. Und er maß viele Zoll; denn obgleich er nicht ungewöhnlich groß war, so hatte er dagegen einen merkwürdigen Umfang, und die Zolle, die seiner Länge abgingen, wurden durch seine Dicke ersetzt. Könnte irgendein entarteter Monarch heutigentags einigermaßen mit ihm verglichen werden, so würde ich sagen, der verehrungswürdige König Cole sei dieser erlauchte Potentat.

Diesem guten König hatte seine Gemahlin vor achtzehn Jahren einen Sohn geboren, der den Namen Bladud erhielt. Er wurde bis in sein zehntes Jahr einer Erziehungsanstalt des Landes anvertraut und dann unter der Obhut eines zuverlässigen Mannes nach Athen geschickt, um dort seine Studien zu vollenden. Hier blieb er acht volle Jahre, nach deren Verlauf der König, sein Vater, den Lord Kammerherrn hinüberschickte, um seine Rechnungen zu bezahlen und ihn nach Hause zu geleiten. Der Lord Kammerherr wurde mit Jubel empfangen und bekam von Stund an ein bedeutendes Gehalt.

Als der König Lud den Prinzen, seinen Sohn, zu einem so schönen jungen Mann herangewachsen sah, dachte er sogleich, wie nett es wäre, wenn er ihn ohne Aufschub verheiratete, damit durch seine Kinder das glorreiche Geschlecht der Lud bis auf die spätesten Zeiten der Welt fortgepflanzt würde. Deshalb schickte er eigens eine aus vornehmen Hofleuten, die weiter nichts zu tun hatten und ein so einträgliches Amt brauchen konnten, bestehende Gesandtschaft zu einem benachbarten König und verlangte dessen schöne Tochter für seinen Sohn. Zugleich ließ er ihm melden, daß ihm alles daran liege, mit seinem Bruder und Freund in den besten Verhältnissen zu bleiben. Wenn aber die Vermählung nicht zustande kommen sollte, so werde er sich in die unangenehme Notwendigkeit versetzt sehen, sein Königreich anzugreifen und ihm die Augen auszustechen.

Darauf antwortete der andere König, der der Schwächere war, er sei seinem Freund und Bruder für alle seine Güte und Großmut sehr verbunden, und auch seine Tochter habe nichts gegen die Vermählung einzuwenden, sobald es dem Prinzen Bladud gefällig sein würde, zu kommen und sie zu holen.

Diese Antwort hatte Britannien kaum erreicht, als die ganze Nation außer sich war vor Freude. Man hörte von allen Seiten nichts als Töne des Jubels und Entzückens, freilich aber auch das Geklingel des Geldes, das der königliche Schatzmeister von dem Volke einsammelte, um die Kosten des glücklichen Ereignisses zu bestreiten. Aus dieser Veranlassung auch geschah es, daß König Lud im versammelten Rat, hoch auf seinem Thron sitzend, der Freude seines Herzens vollen Lauf ließ und dem Lord Oberrichter befahl, die edelsten Weine und die Minnesänger kommen zu lassen – ein Akt der Gnade, der durch die Unwissenheit gegenseitig sich abschreibender Historiker dem König Cole zugeschrieben wurde, und zwar in jenen berühmten Zeilen, in denen von Seiner Majestät gesagt wird:

»Er heischt die Pfeife, und er heischt sein Glas,
›die Fiedler‹, ruft er, ›sollen jetzt erscheinen.‹«

Das ist jedoch eine offenbare Ungerechtigkeit gegen das Andenken des Königs Lud und eine unbillige Übertreibung der Vorzüge des Königs Cole.

Doch inmitten aller dieser Feste und Lustbarkeiten war ein Trauriger, der seine Lippen nicht netzte, wenn die funkelnden Weine eingegossen wurden, und nicht tanzte, wenn die Barden spielten. Das war niemand anders als der Prinz Bladud selbst, dessen Glück zu Ehren in diesem Augenblick ein ganzes Volk sowohl seine Kehlen wie sein Geldbeutel anstrengte. Der Prinz hatte sich nämlich, ohne Rücksicht auf das unzweifelhafte Recht des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, sich für ihn zu verlieben, sowie allen politischen und diplomatischen Gebräuchen zuwider, bereits auf eigene Faust ein Liebchen ausgesucht und sich heimlich mit der schönen Tochter eines edlen Atheners verlobt.

Hier haben wir einen schlagenden Beweis von den mannigfaltigen Vorteilen der Zivilisation und feinerer Gesittung. Hätte der Prinz in späteren Zeiten gelebt, so hätte er sich ohne weiteres mit dem Gegenstande der Wahl seines Vaters vermählt und sodann allen Ernstes daran gedacht, sich von der Bürde zu befreien, die so schwer auf ihm lastete. Er hätte sich bemüht, sie durch systematische Mißhandlungen und Vernachlässigungen ins Grab zu bringen, oder wenn der gute Takt ihres Geschlechts und ein stolzes Bewußtsein, daß sie diese Unbilden nicht verdient, sie dennoch aufrechterhalten hätte, so wäre er zu schnelleren und sichereren Mitteln, sie loszuwerden, geschritten. Dem Prinzen Bladud dagegen fiel keiner dieser Auswege ein – er bat seinen Vater um eine geheime Unterredung und eröffnete sich ihm.

Es ist ein altes Vorrecht der Könige, alles zu beherrschen, nur ihre Leidenschaften nicht. König Lud geriet in eine schreckliche Wut, schleuderte seine Krone bis an die Zimmerdecke empor und fing sie wieder auf – in jenen Tagen hatten nämlich die Könige ihre Kronen auf dem Kopf und nicht im Tower – er stampfte auf den Boden, schlug sich vor die Stirn, jammerte, daß sein eigen Fleisch und Blut sich gegen ihn empöre, endlich aber rief er seine Leibwache und befahl ihr, den Prinzen alsbald in einen tiefen Turm zu werfen. Das war die gewöhnliche Art, wie die Könige in früheren Zeiten mit ihren Söhnen verfuhren, wenn sie im Punkte der Vermählung andere Absichten hegten als ihre Väter.

Nachdem der Prinz Bladud beinahe ein Jahr lang in dem hohen Turm eingesperrt gewesen, ohne eine andere Aussicht für seine leiblichen Augen als eine steinerne Wand, oder für die Augen seines Geistes als langwierige Gefangenschaft, begann er natürlich einen Plan zur Flucht zu entwerfen, den er nach mondenlangen Vorbereitungen glücklich ausführte. Er ließ absichtlich sein Tischmesser im Herzen des Kerkermeisters stecken, damit der arme Bursche, der Familie hatte, von dem rasenden König nicht als Beförderer seiner Flucht angesehen und bestraft werden möchte.

Der König war wie wahnsinnig ob des Entrinnens seines Sohnes. Lange wußte er nicht, an wem er seinen Kummer und Zorn auslassen konnte, bis er sich zum Glück des Lord Kammerherrn erinnerte, der den Prinzen nach Hause begleitet hatte, und dem er seine Pension und seinen Kopf zugleich nahm. Mittlerweile durchwanderte der junge Prinz, gut verkleidet, zu Fuß die Reiche seines Vaters, in allem Ungemach aufrechterhalten und erfreut durch den süßen Gedanken an die atheniensische Jungfrau, die die unschuldige Ursache seiner grausamen Prüfungen war. Eines Tages wollte er in einem Dorfe Ruhe suchen, und da er sah, daß auf dem Rasen lustig getanzt wurde und alle Gesichter vor Freude glänzten, so wagte er es, einen der Fröhlichen, der neben ihm stand, nach der Ursache dieser allgemeinen Freude zu fragen.

›O Fremdling‹, war die Antwort, ›wißt Ihr denn nichts von der neuesten Proklamation unseres gnädigen Königs?‹

›Proklamation? Nein. Was für eine Proklamation?‹ erwiderte der Prinz, denn er war bisher nur auf ziemlich unbesuchten Nebenwegen gewandert und wußte nichts von allem, was auf den öffentlichen Straßen und überhaupt im Reiche vorging.

›Nun‹, sagte der Bauer: ›die fremde Dame, die unser Prinz zu heiraten wünschte, hat sich mit einem vornehmen Manne in ihrem eigenen Lande vermählt. Dies ließ der König verkünden und zugleich große öffentliche Festlichkeiten anordnen; denn natürlich wird der Prinz Bladud jetzt zurückkehren und die Dame heiraten, die sein Vater ihm ausersehen hat, zumal, da sie schön sein soll wie die Mittagssonne. Eure Gesundheit, Sir. Gott erhalte den König.‹

Der Prinz wollte nichts mehr hören. Er floh von dem Platze und drang in die dichteste Wildnis eines nahen Waldes. So wanderte er Tag und Nacht fort unter der brennenden Sonne, wie unter dem kalten, blassen Mond, durch die dürre Hitze des Mittags, sowie durch den feuchten Frost der Nacht, in dem grauen Licht des Morgens, wie in dem roten Glanz des Abends. Er achtete so wenig auf Zeit und Weg, daß er, statt nach Athen zu gelangen, sich nach Bath verirrte.

Da, wo jetzt Bath steht, war dazumal noch keine Stadt. Man sah hier keine Spur von einer menschlichen Wohnung, kein Zeichen von Menschenhand: allein die Gegend war damals schon ebenso reizend, dieselbe herrliche Abwechslung von Hügeln und Tälern, derselbe schöne Fluß, der sich hindurchschlängelt, dieselben hohen Berge, die gleich den Mühseligkeiten des Lebens, von ferne betrachtet, und teilweise durch den glänzenden Nebel des Morgens verborgen, ihre herbe Rauheit verlieren und mild und freundlich erscheinen. Von der lieblichen Schönheit dieser Landschaft ergriffen, sank der Prinz auf den grünen Rasen nieder und badete seine wunden Füße mit seinen Tränen.

›Ach‹, rief der unglückliche Bladud, indem er die Hände rang und trauervoll seine Augen gegen den Himmel erhob: ›möchten doch meine Wanderungen hier zu Ende gehen und meine ergebungsvollen Tränen, womit ich jetzt verfehlte Hoffnungen und verschmähte Liebe beklage, auf immer im Frieden dahinfließen.‹

Sein Wunsch wurde erhört. Es war zur Zeit der heidnischen Gottheiten, die die Leute manchmal beim Worte nahmen, und zwar mit einer Schnelligkeit, die ihnen oft sehr ungelegen kam. Der Boden öffnete sich unter des Prinzen Füßen: er sank hinab in den Abgrund, und alsbald schloß sich die Erde wieder über seinem Haupte, abgesehen von der Stelle, wo seine heißen Tränen durch sie heraufquellen und wo sie seitdem unaufhörlich geströmt sind.

Es ist bemerkenswert, daß bis auf den heutigen Tag große Scharen von Damen und Herren, die sich in ihrer Hoffnung, Lebensgefährten zu bekommen, getäuscht sahen, und beinahe ebensoviel junge Damen und Herren, die sich sehnen, solche zu bekommen, alljährlich nach Bath kommen, um die Wasser zu trinken und daraus große Stärkung und Tröstung schöpfen: – ein höchst gewichtiger Beweis für die Wirksamkeit der Tränen des Prinzen Bladud, und ein Umstand, wodurch die Wahrheit dieser Geschichte außer allen Zweifel gestellt wird.«

Herr Pickwick gähnte zu verschiedenen Malen. Als er ans Ende dieses kleinen Manuskripts gelangt war, faltete er es sofort sorgfältig wieder zusammen, legte es an seinen alten Platz in die Schublade des Schreibpults hinein, zündete sodann mit einem Gesicht, worauf die äußerste Müdigkeit zu lesen war, sein Nachtlicht an und begab sich die Treppe hinauf nach seinem Schlafzimmer.

Vor Herrn Dowlers Tür blieb er, wie gewöhnlich, stehen und klopfte an, um ihm gute Nacht zu sagen.

»Ah«, sagte Dowler, »Sie gehen zu Bett? Ich wollte, ich läge schon drin. Eine widerwärtige Nacht. Nicht wahr, sehr windig?«

»Ja«, versetzte Herr Pickwick: »gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Herr Pickwick ging auf sein Schlafzimmer und Herr Dowler nahm seinen Sitz vor dem Feuer wieder ein, um sein übereiltes Versprechen zu halten, bis zur Rückkehr seiner Gemahlin aufbleiben zu wollen.

Es gibt nicht leicht etwas Unangenehmeres, als nachts auf jemanden zu warten, besonders wenn dieser Jemand in einer Gesellschaft ist. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, wie schnell den Leuten dort die Zeit vergeht, die sich für uns so träge dahinschleppt, und je mehr man daran denkt, desto mehr schwindet die Hoffnung auf die baldige Ankunft des Erwarteten. Auch ticken die Uhren so laut, wenn man so allein dasitzt, und man meint – wenigstens geht es uns immer so – man habe Unterkleider voll Ungeziefer an. Zuerst juckt es einen am rechten Knie, und dann stellt sich derselbe Reiz am linken ein. Ändert man seine Stellung, so kommt es in die Arme, und wenn man seine Beine in allen möglichen Richtungen die Kreuz und die Quere herumgeworfen hat, so juckt es einen plötzlich an der Nase, an der man sofort reibt, als wollte man sie hinwegreiben, was man gewiß auch täte, wenn es möglich wäre. Auch die Augen machen viel Unbehagen, und der Docht eines Lichtes wird anderthalb Zoll lang, bis man ihn putzt. Diese und andere kleine Nervenstimmungen machen das lange Aufbleiben, wenn alle übrigen schon zu Bett gegangen sind, keineswegs zu einem lustigen Zeitvertreib.

So dachte Herr Dowler, als er vor dem Feuer saß, und er ärgerte sich im Innersten seines Herzens über all die gefühllosen Leute auf dem Ball, die ihn so lange hinhielten. Seine Laune wurde nicht verbessert durch den Gedanken, daß er es sich am Abend in den Kopf gesetzt hatte, Kopfweh haben zu wollen und deswegen zu Hause geblieben war. Endlich, nachdem er zu wiederholten Malen eingenickt und gegen den Kamin hin vorgefallen war, sich aber immer wieder bald genug zurückgeworfen hatte, um das Gesicht nicht zu verbrennen, beschloß Herr Dowler, sich auf das Bett im Hinterzimmer zu legen und daselbst seinen Gedanken nachzuhängen – natürlich nicht um zu schlafen.

»Ich habe einen harten Schlaf«, sagte Herr Dowler, als er sich aufs Bett warf. »Ich muß wach bleiben; hier werde ich das Klopfen wohl hören können. Ja. Ich dachte es doch. Ich kann den Nachtwächter hören. Da unten geht er. Jetzt schon leiser. Eben geht er um die Ecke. Ah!«

Als Herr Dowler so weit gekommen war, wandte auch er sich um die Ecke, an der er so lange gezögert hatte, und versank in einen festen Schlaf.

Schlag drei Uhr wurde eine Sänfte, mit Frau Dowler darin, vor das Haus gebracht. Die Träger waren ein kurzer, fetter Knirps und ein himmellanger Bursche, die auf dem Wege viel Mühe hatten, ihre Körper und vollends gar die Sänfte senkrecht zu erhalten; auf der Höhe und in der Nähe des Halbmondplatzes aber wütete und stürmte der Wind, der ihn von allen Seiten überstreifen konnte, so abscheulich, als wollte er das Straßenpflaster aufreißen; sie waren daher herzlich froh, die Sänfte endlich an Ort und Stelle niedersetzen zu können und fingen an, tüchtig an die Tür zu klopfen.

Sie warteten einige Zeit, aber es kam niemand,

»Das Gesinde liegt gewiß in den Armen des PorpusMorpheus.«, sagte der kurze Sänftenträger, indem er sich die Hände an der Fackel des begleitenden Fackelbuben wärmte.

»Ich wollte, er kneipte sie, daß sie aufwachten«, bemerkte der Lange.

»Haben Sie die Güte, doch noch einmal zu klopfen«, rief Frau Dowler von der Sänfte herab. »Klopfen Sie noch zwei- oder dreimal.«

Der Kurze, der seinen Auftrag so bald wie möglich los zu werden wünschte, stellte sich an die Tür und polterte aus Leibeskräften darauf los, zuerst in Absätzen von vier oder fünf, sodann von acht bis zu zehn Schlägen, während der Lange sich auf die Straße stellte, ob er etwa an einem Fenster Licht bemerken könnte.

Niemand kam. Alles war still und finster wie zuvor.

»Mein Gott«, sagte Frau Dowler; »Sie müssen noch einmal klopfen.«

»Ist vielleicht eine Glocke da?« fragte der Kurze.

»O freilich«, fiel der Fackelträger ein; »ich habe schon in einem fort daran geläutet.«

»Bloß der Handgriff ist da«, sagte Frau Dowler; »der Draht ist gerissen.«

»Ich wollte, ihrer Dienerschaft würden die Schädel eingeschlagen«, knurrte der Lange.

»Ich muß Sie bemühen, gefälligst noch einmal zu klopfen«, sagte Frau Dowler mit der größten Höflichkeit.

Der Kurze klopfte noch mehrere Male, aber ohne den geringsten Erfolg. Dem Langen riß jetzt die Geduld, er löste ihn ab und klopfte in einem fort mit gewaltigen Doppelschlägen an die Tür wie ein wahnsinniger Briefträger.

Endlich begann Herr Winkle zu träumen, er sei in einem Klub. Die Mitglieder hätten Streit miteinander bekommen und der Präsident sei genötigt, gewaltig auf den Tisch zu hämmern, um die Ordnung wieder herzustellen: sodann schwebte ihm dunkel ein Auktionszimmer vor, wo es an Kaufliebhabern fehlte und der Auktionator alles selbst kaufen mußte; endlich fing er an zu denken, es könne in den Grenzen der Möglichkeit liegen, daß jemand an die Haustür klopfe. Um jedoch ganz sicher zu gehen, blieb er noch etwa zehn Minuten ruhig im Bett und horchte. Erst als er zwei- oder dreiunddreißig Schläge gezählt hatte, gab er sich zufrieden und bildete sich nicht wenig auf seine Wachsamkeit ein.

»Rap rap – rap rap – rap rap – ra, ra, ra, ra, ra, rap«, erschallte der Klopfer an der Haustür.

Höchst verwundert, was dies wohl sein könne, sprang Herr Winkle aus dem Bett, zog schleunigst Strümpfe und Pantoffeln an, wickelte seinen Schlafrock um sich, zündete an dem Nachtlicht, das auf dem Kamin brannte, eine kleine Kerze an und eilte die Treppe hinab.

»Endlich kommt doch jemand, Madame«, sagte der kleine Sänftenträger.

»Ich wollte, ich wäre mit der Hetzpeitsche hinter ihm her«, murrte der Lange.

»Wer ist draußen?« rief Herr Winkle, den Riegel zurückschiebend.

»Frag' nur nicht, du Eselskopf«, erwiderte in großem Ärger der Lange, der nicht anders glaubte, als der Fragende sei ein Diener. »Aufgemacht!«

»Vorwärts! schnell! Du Faultier!« fügte der Kurze aufmunternd hinzu.

Herr Winkle, der noch halb im Schlaf war, gehorchte dem Befehl mechanisch, öffnete die Tür ein wenig und blickte hinaus. Das erste, was er sah, war der rote Glanz der Fackel. Bei diesem unerwarteten Anblick erschrak er, und in der Meinung, das Haus stehe in Flammen, stieß er schnell die Tür weit auf, hielt das Licht über seinen Kopf empor und starrte geradeaus vor sich hin, ohne sich überzeugen zu können, ob das, was er erblickte, eine Sänfte sei oder eine Feuerspritze. In diesem Augenblick kam ein heftiger Windstoß, das Licht wurde ausgeblasen, Herr Winkle ward unwiderstehlich auf die Tritte vor der Haustür hingeweht, und die Tür selbst schlug mit lautem Krachen zu.

»Da haben Sie's, junger Mann«, sagte der kleine Sänftenträger.

Als Herr Winkle durch das Fenster der Sänfte hindurch das Gesicht einer Dame erblickte, wandte er sich eiligst um, klopfte aus Leibeskräften an die Tür und schrie den Trägern wie wahnsinnig zu, sie sollten mit der Sänfte ihres Weges gehen.

»Fort damit! fort damit!« rief Herr Winkle. »Da kommt jemand aus einem andern Hause; laßt mich in die Sänfte hinein. Versteckt mich, helft mir.«

Dabei schauerte er vor Kälte, und jedesmal, wenn er die Hand nach dem Klopfer erhob, faßte der Wind auf eine höchst unzarte Weise seinen Schlafrock.

»Da kommen ja Leute. Es sind Damen dabei; bedeckt mich doch mit irgend etwas; stellt euch vor mich hin«, heulte Herr Winkle.

Allein die Sänftenträger waren zu sehr durch Lachen in Anspruch genommen, als daß sie ihm den geringsten Beistand hätten leisten können, und die Damen kamen mit jedem Augenblick näher und immer näher.

Herr Winkle tat einen letzten hoffnungslosen Schlag. Die Damen waren nur noch einige Häuser entfernt. Er warf das ausgelöschte Licht, das er in der ganzen Zeit über seinen Kopf emporgehalten hatte, weg und stürzte geradezu auf die Sänfte los, worin Frau Dowler saß.

Jetzt hatte Frau Craddock endlich auch das Klopfen und Lärmen gehört, und nachdem sie sich bloß so viel Zeit genommen, um eine andere Kopfbedeckung als ihre Nachthaube aufzusetzen, rannte sie in das vordere Wohnzimmer, um zu sehen, ob es die rechten Leute seien, und rückte das Schiebefenster gerade in dem Augenblick zurück, als Herr Winkle auf die Sänfte losstürzte. Kaum aber hatte sie gesehen, was unten vorging, so erhob sie ein gewaltiges Jammergeschrei und weckte Herrn Dowler mit der Bemerkung, er solle doch sogleich aufstehen, denn seine Frau laufe mit einem andern Herrn davon.

Herr Dowler sprang vom Bett auf wie ein Gummielastikumball, stürzte in das vordere Zimmer, kam in demselben Augenblick an ein Fenster, wo Herr Pickwick ein anderes aufriß, und das erste, was sich ihren erstaunten Blicken darbot, war Herr Winkle, der in die Sänfte hineinstürmen wollte.

»Nachtwächter!« schrie Dowler wütend, »fangt ihn – packt ihn – haltet ihn fest, bis ich hinabkomme. Ich will ihm die Kehle abschneiden – gebt mir ein Messer – ja, von einem Ohr bis zum andern, Frau Craddock.«

Und trotz des Jammergeschreis der Hausfrau, in das Herr Pickwick mit einstimmte, ergriff der entrüstete Ehemann ein kleines Tischmesser und stürzte auf die Straße hinunter.

Aber Herr Winkle erwartete ihn nicht. Kaum hörte er die schreckliche Drohung des tapfern Dowler, so sprang er ebenso schnell wieder aus der Sänfte heraus, wie er hineingesprungen war, schleuderte seine Pantoffeln auf die Straße, gab Fersengeld und rannte, hitzig verfolgt von Dowler und dem Nachtwächter, um den Halbmondplatz herum. Er behielt immer einen Vorsprung, und als er zum zweitenmal vor das Haus kam und die Tür offen fand, stürzte er hinein, warf sie Dowler vor der Nase zu, sprang in sein Schlafzimmer, verschloß die Tür, pflanzte zur Verrammlung einen Toilettentisch nebst einigen Kommoden davor auf und packte einige notwendige Sachen zusammen, in der Absicht, mit Tagesanbruch zu entfliehen.

Dowler kam vor seine Tür, erklärte durch das Schlüsselloch hinein seinen festen Entschluß, Herrn Winkle am folgenden Tag die Kehle abzuschneiden, und nach einem gewaltigen, verworrenen Lärm im Salon, wobei man vor allem Herrn Pickwicks Stimme vernahm, der Frieden zu stiften bemüht war, zerstreuten sich die Hausgenossen nach ihren verschiedenen Schlafgemächern, worauf alles wieder ruhig wurde.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß hier die Frage aufgeworfen wird, wo Herr Weller diese ganze Zeit über gewesen? Wir werden uns im nächsten Kapitel darüber erklären.

 


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