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In verschiedene Höhlen und Winkel des TemplesEinst Ordenshaus der Tempelherren in London, seit 1346 den Rechtsgelehrten und Gerichtspersonen überlassen. sind gewisse dunkle und schmutzige Zimmer zerstreut. Dort findet man den ganzen Morgen während der Freistunden, sowie den halben Abend während der Kanzleistunden, ständig eine unabsehbare Reihe von Schreibern, die mit Papierstößen unter dem Arm und in den Taschen, daraus sie hervorragen, eiligst ab- und zugehen.
Es gibt verschiedene Klassen von Schreibgehilfen. Da ist ein Praktikant, der bezahlt hat und ein Rechtsanwalt in spe ist. Er macht eine lange Schneiderrechnung, erhält Einladungen in Privatzirkel, kennt eine Familie in der Gowerstraße und eine andere in Tavistocksquare, besucht in den Feiertagen jedesmal seinen Vater in der Stadt, der eine Menge Pferde hält, und ist, kurz gesagt, der eigentliche Aristokrat unter den Schreibern. Da ist ferner der salarierte Schreiber – außer der Gerichtsstube oder in der Gerichtsstube, je nachdem es ausgemacht ist –, der den größten Teil der dreißig Schilling, die er wöchentlich bezieht, seinem Privatvergnügen und seiner Bekleidung widmet, wenigstens dreimal wöchentlich auf den Olymp im Adelphitheater geht, darauf in den Mostkellern einen großartigen Aufwand macht und eine Schmutzkarikatur der vor einem halben Jahre abgekommenen Mode ist. Dann ist ferner der Kopist von mittlerem Alter mit einer zahlreichen Familie: immer schäbig gekleidet und öfters betrunken. Und dann kommen die Anfänger in ihren ersten Überröcken, die auf die Schulknaben mit Verachtung herabsehen, wenn sie abends die Schreibstube verlassen und in die Kneipe rennen, wobei sie denken, es gehe doch nichts übers »Leben«.
Doch die Spielarten der Gattung sind zu zahlreich, um sie alle anzuführen; aber wie zahlreich sie auch sein mögen, so kann man sie zu gewissen festgesetzten Kanzleistunden an den vorerwähnten Orten hin- und hereilen sehen.
Diese abgelegenen Winkel sind die Werkstätten des Gesetzes, wo Insinuationen ausgefertigt, Gutachten unterzeichnet, Klagen eingeleitet und eine Menge anderer sinnreicher Einrichtungen zur Marter der getreuen Untertanen Seiner Majestät und zu Nutz und Frommen der Gerichtspersonen in Bewegung gesetzt werden. Die meisten dieser Stuben sind niedere, dumpfe Gemächer, worin zahllose Pergamentrollen, die schon im vergangenen Jahrhundert beschaulich stanken, einen angenehmen Geruch verbreiten, mit dem sich den Tag über das Arom der Trockenfäule und abends die verschiedenen Ausdünstungen der dampfenden Mäntel, der triefenden Regenschirme und der schlechtesten Talglichter verbinden.
Eines Abends, ungefähr zehn bis vierzehn Tage nach der Rückkehr des Herrn Pickwick und seiner Freunde, rannte gegen halb acht Uhr in eine dieser Gerichtsstuben ein Jemand in braunem Überrock mit messingenen Knöpfen. Der Betreffende trug langes Haar unter dem Rande eines abgetragenen Hutes sorgfältig gescheitelt. Seine beschmutzten groben Hosen lag so straff über den Blücherstiefeln an, daß die Knie jeden Augenblick aus ihrer Verhüllung hervorzuplatzen drohten. Dieser junge Mann zog aus seiner Rocktasche einen langen, schmalen Pergamentstreifen, auf den der amtierende Schreiber einen unleserlichen schwarzen Stempel drückte. Dann legte er vier Papierschnitzel von gleicher Größe vor, deren jeder eine gedruckte Abschrift des Pergamentstreifens enthielt und unten noch freien Raum für einen Namen hatte. Nachdem diese freien Räume ausgefüllt waren, steckte er die fünf Dokumente wieder in die Tasche und eilte fort.
Der Mann mit dem braunen Rock und den geheimnisvollen Dokumenten war kein anderer als unser alter Freund, Herr Jackson, von dem Hause Dodson und Fogg Freemans-Court-Cornhill. Statt in die Schreibstube zurückzukehren, aus der er gekommen, lenkte er seine Schritte gerade auf Sun Court zu und ging in den »Georg und Geier«, wo er nach Herrn Pickwick fragte.
»Rufe Herrn Pickwicks Diener Tom«, sagte das Kellermädchen im »Georg und Geier«.
»Bemühen Sie sich nicht«, sagte Herr Jackson; »ich komme in Geschäftsangelegenheiten. Wenn Sie mir Herrn Pickwicks Zimmer zeigen wollen, will ich selbst hinaufgehen.«
»Ihr Name, Sir?« fragte der Kellner.
»Jackson«, erwiderte der Schreiber.
Der Kellner eilte die Treppe hinauf, um Herrn Jackson zu melden; aber Herr Jackson überhob ihn dieser Mühe, indem er ihm auf dem Fuße nachfolgte und ins Zimmer trat, ehe jener eine Silbe hervorbringen konnte. Herr Pickwick hatte an diesem Tage seine drei Freunde zu Tisch geladen, und sie saßen alle vor dem Feuer beim Weine, als, wie gesagt, Herr Jackson hereintrat.
»Wie geht's, Sir?« fragte Herr Jackson, Herrn Pickwick zuwinkend.
Dieser verbeugte sich und sah ihn etwas verblüfft an; denn Herrn Jacksons Züge waren seinem Gedächtnisse nicht mehr gegenwärtig.
»Ich komme von Dodson und Fogg«, bemerkte Herr Jackson im Tone eines Dolmetschers.
Bei diesem Namen stieg Herrn Pickwick das Blut zu Kopf.
»Ich verweise Sie an meinen Anwalt, Sir: Herrn Perker, Grays-Inn«, sagte er. »Kellner, begleiten Sie diesen Herrn hinaus.«
»Bitte um Verzeihung, Herr Pickwick«, fiel Jackson ein, indem er unbefangen seinen Hut ablegte und den Pergamentstreifen aus der Tasche zog. »Aber persönliche Einhändigung durch einen Schreiber oder Agenten; in solchen Fällen – Sie wissen ja, Herr Pickwick, bei Rechtsgeschäften geht nichts über die Vorsicht – wie?«
Hier warf Herr Jackson einen Blick auf das Pergament, stützte sich mit den Händen auf den Tisch, sah sich mit einem gewinnenden und beredten Lächeln ringsum und sagte:
»Nun, lassen Sie uns über eine solche Kleinigkeit nicht viel Worte machen. Wer von diesen Herren heißt Snodgrass?«
Auf diese Frage machte Herr Snodgrass eine so unzweideutige und unwiderstehliche Geste, daß es keiner ferneren Erklärung bedurfte.
»Ah, ich habe mir's doch gedacht«, sagte Herr Jackson noch freundlicher als zuvor. »Ich habe hier eine Kleinigkeit, womit ich Sie belästigen muß, Sir.«
»Mich?« rief Herr Snodgrass.
»Es ist nur eine Vorladung in der Prozeßsache Bardell gegen Pickwick, im Namen der Klägerin zu erscheinen«, erwiderte Jackson, einen von den Papierschnipseln aussondernd und einen Schilling aus seiner Westentasche hervorziehend. »Sie wird dem anberaumten Termin zufolge am 14. Februar fällig; wir haben ein Spezialgericht beantragt, aber es sind erst zehn Zeugen angesetzt. Hier ist Ihre Vorladung, Herr Snodgrass.«
Während Jackson so sprach, zeigte er Herrn Snodgrass das Pergament und drückte ihm das Papier und den Schilling in die Hand.
Herr Tupman hatte dem Auftritt mit stummem Erstaunen zugesehen, als sich Jackson mit einem scharfen Blicke an ihn wandte.
»Ich irre wohl nicht«, sagte er, »wenn ich glaube, Sie heißen Tupman?«
Herr Tupman sah auf Herrn Pickwick, aber da er in den weitgeöffneten Augen dieses Herrn keine Aufforderung zur Verleugnung seines Namens entdeckte, sagte er:
»Ja, ich heiße Tupman.«
»Und dieser andere Herr ist vermutlich Herr Winkle?« fuhr Jackson fort.
Herr Winkle stotterte eine bejahende Antwort hervor; und beiden Herren wurde sofort von dem gewandten Herrn Jackson je ein Papierstreifen und ein Schilling zugesteckt.
»Ich besorge«, sagte Jackson, »Sie werden mich für aufdringlich halten, aber ich muß noch nach jemand fragen, wenn Sie es nicht anmaßend finden. Ich habe hier auch den Namen Samuel Weller, Herr Pickwick.«
»Schicken Sie nach meinem Diener, Kellner«, sagte Herr Pickwick. Der Kellner entfernte sich äußerst erstaunt, und Herr Pickwick bot Herrn Jackson einen Stuhl an.
Es trat eine ziemliche Pause ein, die endlich von dem unschuldig Beklagten unterbrochen wurde.
»Ich vermute, Sir«, bemerkte Herr Pickwick mit steigendem Unwillen; »ich vermute, Sir, Ihre Prinzipale haben die Absicht, mich durch das Zeugnis meiner eigenen Freunde zu stürzen?«
Herr Jackson legte seinen Zeigefinger mehrere Male an die linke Seite seiner Nase, um dadurch anzudeuten, daß er nicht aus der Schule schwatzen dürfe, und bemerkte: »Kann's nicht sagen.«
»Wozu werden denn meine Freunde vorgeladen, wenn es nicht aus diesem Grunde geschieht?« fuhr Herr Pickwick fort.
»Eine verfängliche Frage, Herr Pickwick«, erwiderte Jackson mit langsamem Kopfschütteln. »Aber es geht nicht. Sie mögen es anstellen, wie Sie wollen; aus mir sollen Sie wenig herausbringen.«
Hier lächelte Herr Jackson die Gesellschaft wieder an, und seinen linken Daumen an die Nasenspitze setzend, ahmte er mit der rechten Hand die Bewegung nach, als drehe er eine Kaffeemühle – eine höchst graziöse Pantomime, die damals sehr beliebt war, aber jetzt leider beinahe ganz abgekommen ist und mit dem vertraulichen Namen »das Schleiferdrehen« bezeichnet wurde.
»Nein, nein, Herr Pickwick«, bemerkte Jackson noch schließlich: »Perkers Leute müssen den Zweck dieser Vorladungen selbst erraten. Wenn ihnen das nicht gelingt, so müssen sie eben warten, bis die Sache vorgenommen wird, und dann werden sie schon dahinterkommen.«
Herr Pickwick warf einen Blick höchsten Widerwillens auf seinen unwillkommenen Gast und würde wahrscheinlich irgendeinen schauderhaften Fluch auf die Häupter der Herren Dodson und Fogg herabgerufen haben, hätte ihn nicht in diesem Augenblick Sams Eintritt unterbrochen.
»Samuel Weller?« bemerkte Herr Jackson im Tone der Frage.
»Eine von den wenigen wirklichen Wahrheiten, die Sie seit vielen Jahren gesagt haben«, versetzte Sam mit dem gelassensten Tone.
»Hier ist eine peremtorische Vorladung für Sie, Herr Weller«, sagte Jackson.
»Was heißt das in unserer guten Muttersprache?« fragte Sam.
»Hier ist das Original«, fuhr Jackson fort, ohne sich auf die verlangte Erklärung einzulassen.
»Welches?« fragte Sam.
»Das hier«, erwiderte Jackson, ihm das Pergament hinhaltend.
»So, das ist das Riginal«, sagte Sam. »Nun, es freut mich sehr, das Riginal zu sehen, denn es ist ein hübsches Ding und macht einem Spaß.«
»Und hier ist der Schilling«, fuhr Jackson fort. »Er ist von Dodson und Fogg.«
»Nun, es ist doch recht schön von Dodson und Fogg, die mich so wenig kennen, daß sie mir ein Geschenk schicken«, sagte Sam. »Ich bin ihnen für diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit sehr verbunden, Sir; und es macht ihnen sehr viel Ehre, daß sie das Verdienst zu belohnen wissen, wo sie es finden. Ja, es muß einen rühren.«
Bei diesen Worten rieb sich Herr Weller nach der beliebten Manier der Schauspieler, wenn sie rührende Szenen darstellen, mit dem Rockärmel das rechte Augenlid.
Herr Jackson schien durch Sams Benehmen etwas aus dem Konzept gebracht: aber da er die Vorladungen überreicht hatte und nichts weiteres zu sagen wußte, machte er eine Bewegung, als wenn er den einzigen Handschuh, den er Renommage halber gewöhnlich in der Hand trug, anziehen wollte, und kehrte in seine Schreibstube zurück, um Bericht zu erstatten.
Herr Pickwick schlief in dieser Nacht wenig: sein Gedächtnis war durch die Erinnerung an seinen Prozeß auf eine höchst unangenehme Weise aufgefrischt worden. Er frühstückte am folgenden Morgen beizeiten und machte sich in Sams Begleitung nach dem Grays-Innviertel auf den Weg.
»Sam!« sagte Herr Pickwick, als sie ans Ende von Cheapside gekommen waren, sich rings umsehend.
»Sir?« erwiderte Sam stehenbleibend.
»Welchen Weg?«
»Die New-Gate-Straße hinauf.«
Herr Pickwick schlug den bezeichneten Weg nicht sogleich ein, sondern sah einige Sekunden lang seinem Diener mit einem undurchsichtigen Blick ins Gesicht und stieß einen schweren Seufzer aus.
»Was ist Ihnen, Sir?« fragte Sam.
»Diese Klagsache, Sam, soll also am 14. des nächsten Monats vorkommen«, sagte Herr Pickwick.
»Ein merkwürdiges Zusammentreffen das, Sir«, versetzte Sam.
»Wieso merkwürdig, Sam?« fragte Herr Pickwick.
»'s ist gerade ValentinstagAm Valentinstag (14. Februar) bestand in England die alle Sitte, daß junge Männer das Mädchen, dem sie am Valentinstag zuerst begegneten oder dessen Namen sie tags vorher durchs Los gezogen hatten, beschenkten und das ganze Jahr über als ihre Valentine betrachteten. Auch Eheversprechen waren zum Teil mit dem Valentinstag verbunden., Sir«, erwiderte Sam: »ein sehr geeigneter Tag, um über den Bruch eines Eheversprechens zu Gericht zu sitzen.«
Herrn Wellers Anspielung rief nicht das geringste Lächeln auf seines Herrn Gesicht. Herr Pickwick wandte sich alsbald um und ging schweigend seines Weges.
Sie waren eine Strecke weit gegangen, – Herr Pickwick in tiefes Nachdenken versunken, und Sam mit einem Gesichte, das den beneidenswertesten Gleichmut gegen all und jedes ausdrückte, hinter ihm drein, – als er, der immer darauf bedacht war, seinem Herrn mitzuteilen, was er wußte, seine Schritte beschleunigte, bis er hart hinter Herrn Pickwick stand und auf ein Haus, an dem sie vorüberkamen, deutend, sagte:
»Ein sehr hübscher Fleischladen das, Sir.«
»Ja, es scheint so«, erwiderte Herr Pickwick.
»Berühmte Wurstfabrik«, bemerkte Sam.
»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.
»Ja, wirklich«, wiederholte Sam mit wichtigem Tone: »das will ich meinen. Nun, Sir, Gott segne Ihre unschuldigen Augen: das ist dasselbe Haus, wo vor vier Jahren ein achtbarer Handelsmann auf so geheimnisvolle Weise verschwand.«
»Er wurde doch nicht ermordet, Sam?« fragte Herr Pickwick, sich hastig umsehend.
»Nein, das nicht, Sir«, erwiderte Herr Weller, »aber ich wollte, er wäre ermordet worden, denn es ging ihm noch viel schlimmer. Er war der Eigentümer dieses Ladens und der Erfinder der Patentwurstdampfmaschinen, die einen Pflasterstein, der ihr zu nahe kam, ergriff, und so leicht, wie wenn es ein kleines Kind wäre, in Würste zerhackte. Er war sehr stolz auf diese Maschine, wie sich von selbst versteht, stand im Keller und sah ihr zu, wenn sie in voller Tätigkeit war, bis er vor Freude ganz melancholisch wurde. Die Maschinen nebst zwei lieblichen Kindern hätten ihn zu einem sehr glücklichen Mann machen können, wenn ihn nicht seine Frau daran verhindert hätte, die eine wilde Hexe war. Sie verfolgte ihn überall und lag ihm immer in den Ohren, bis er es endlich nicht mehr aushalten konnte.
›Ich will dir was sagen, meine Liebe‹, sagte er eines Tages: ›wenn du diese Unterhaltungsart beibehältst‹, sagte er, ›will ich verdammt sein, wenn ich nicht nach Amerika gehe; und damit Punktum.‹ – ›Du bist ein Taugenichts!‹ sagte sie, ›und ich wünsche den Amerikanern zu dieser Erwerbung Glück.‹ Auf das tut sie ihm noch eine halbe Stunde lang den Rost herunter, läuft dann in das Ladenstübchen und fängt an zu schreien: er werde noch ihr Tod sein, und bekommt einen Anfall, der drei volle Stunden dauert – einen von jenen Anfällen, wobei man unaufhörlich schreit und mit Händen und Füßen um sich schlägt. Gut, am andern Morgen wurde der Mann vermißt. Er hatte nichts aus der Kasse genommen, hatte sogar nicht einmal seinen großen Mantel angezogen, es war also augenscheinlich, daß er nicht nach Amerika gegangen war. Kam am andern Tag nicht, kam in der andern Woche nicht: die Frau läßt in öffentlichen Blättern bekanntmachen, wenn er zurückkomme, so solle ihm alles vergeben sein (was sehr großmütig war, da sie sah, daß er nichts getan hatte). Alle Kanäle wurden untersucht, und wenn man in den nächsten zwei Monaten eine Leiche fand, so wurde sie in den Wurstladen gebracht, wie wenn sich das von selbst verstände. Da man aber in keiner von ihnen den Vermißten erkannte, so streute man aus, er sei davongelaufen, und sie setzte das Geschäft fort. Eines Sonnabends abends kommt ein kleiner, hagerer, alter Herr in großer Aufregung in den Laden und sagt: ›Sind Sie die Herrin dieses Ladens?‹ – ›Ha, das bin ich‹, sagt sie. – ›Gut, Madame‹, sagt er, ›dann habe ich Ihnen zu sagen, daß ich und meine Familie für nichts und wieder nichts beinahe erstickt wären: und noch mehr, Madame‹, sagte er, ›Sie werden mir eine Bemerkung erlauben: da Sie nicht gerade das auserlesenste Fleisch in Ihrer Wurstfabrik verwenden, so meine ich, Rindfleisch würde Sie nicht viel mehr kosten als Hosenknöpfe.‹ – ›Hosenknöpfe, Sir?‹ sagt sie. – ›Ja, Hosenknöpfe, Madame‹, sagt der kleine, alte Herr, ein Papier aufmachend und ihr zwanzig bis dreißig halbe Knöpfe zeigend. ›Hosenknöpfe, Madame, sind ein hübsches Gewürz für Würste.‹ – ›Das sind meines Mannes Knöpfe‹, sagt die Witwe und wird ohnmächtig. – ›Was?‹ schreit der kleine, alte Herr erbleichend. – ›Jetzt geht mir ein Licht auf‹, sagte die Witwe: ›er hat sich in einem Anfall vorübergehenden Wahnsinns voreilig in Würste verwandelt!‹ Und so war es denn auch«, fügte Herr Weller, Herrn Pickwick ruhig in das schreckensbleiche Gesicht sehend; »oder er wurde sonstwie in die Maschine geworfen, aber es mag nun sein, wie es will, der kleine, alte Herr, der schon von Kindheit auf in diese Würste vernarrt war, stürzte ganz außer sich aus dem Laden und ließ nie wieder etwas von sich hören.«
Bei dem Schlusse dieser rührenden Erzählung aus dem Privatleben waren Herr und Diener in der Wohnung Herrn Perkers angekommen. Lowten unterhielt sich in der halb offenen Tür mit einem schlecht gekleideten, erbärmlich aussehenden Mann in Stiefeln ohne Zehen und Handschuhe ohne Finger. Sein eingefallenes und abgehärmtes Gesicht trug die Spuren der Entbehrung und des Leidens, ja, beinahe der Verzweiflung; er fühlte seine Armut, denn er trat beim Nahen Herrn Pickwicks in den Schatten der Treppe zurück.
»Es ist sehr mißlich«, sagte der Fremde mit einem Seufzer.
»Allerdings«, erwiderte Lowten, seinen Namen mit dem Kiele an den Türpfosten kritzelnd und mit der Fahne der Feder wieder auswischend. »Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Wann glauben Sie wohl, daß er zurückkommt?« fragte der Fremde.
»Ganz unbestimmt«, erwiderte Lowten, Herrn Pickwick zuwinkend, als der Fremde die Augen zu Boden schlug.
»Glauben Sie nicht, daß ich ihn hier erwarten kann?« fragte der Fremde mit einem sehnsüchtigen Blick in die Schreibstube.
»O nein, das können Sie nicht«, erwiderte der Schreiber, sich mehr in die Mitte der Tür stellend. »In dieser Woche kommt er nicht mehr zurück, und es ist eine Frage, ob es in der nächsten der Fall sein wird; denn wenn Perker einmal in die Stadt geht, so hat es mit seiner Rückkehr keine sonderliche Eile.«
»Er ist in der Stadt?« sagte Herr Pickwick; »ach Gott, wie mißlich!«
»Bleiben Sie doch, Herr Pickwick«, sagte Lowten, »ich habe einen Brief an Sie.«
Der Fremde schien unschlüssig und sah abermals auf den Boden, und der Schreiber warf Herrn Pickwick einen schlauen Blick zu, als wollte er ihm bedeuten, daß es einen höchst ergötzlichen Spaß absetzen würde; worin jedoch der Spaß bestände, konnte Herr Pickwick um alle Welt nicht erraten.
»Treten Sie ein, Herr Pickwick«, sagte Lowten. »Nun, wollen Sie mir einen Auftrag geben, Herr Watty, oder wollen Sie wieder vorsprechen?«
»Bitten Sie ihn freundlichst, zu hinterlassen, was in meiner Sache geschehen sei«, sagte der Mann; »aber ich bitte Sie um Gottes willen, vergessen Sie es nicht, Herr Lowten.«
»Nein, nein, ich werde es nicht vergessen«, erwiderte der Schreiber. »Treten Sie ein, Herr Pickwick. Guten Morgen, Herr Watty; ein schöner Tag zum Spazierengehen – nicht wahr?«
Und als er sah, daß der Fremde immer noch zögerte, winkte er Sam Weller, mit seinem Herrn einzutreten und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
»Einen solchen lästigen Bankerotteur hat es, glaube ich, seit Erschaffung der Welt nicht gegeben«, sagte Lowten, seine Feder mit der Miene eines schwer gekränkten Mannes auf den Tisch werfend. »Seine Sachen liegen noch nicht volle vier Jahre in unserer Kanzlei, und ich will verdammt sein, wenn er uns nicht jede Woche zweimal zur Last fällt. Treten Sie hier ein, Herr Pickwick. Perker ist zu Hause und wird Sie empfangen; ich weiß es. Teuflisch kalt«, setzte er verdrießlich hinzu. »Unter der Tür stehen und sich von einem solchen lumpigen Landstreicher um seine Zeit bringen lassen zu müssen!«
Und nachdem er in großer Aufregung mit einem außerordentlich kleinen Eisen ein außerordentlich großes Feuer angeschürt hatte, ging er in das Studierzimmer seines Prinzipals und meldete Herrn Pickwick an.
»Ach, mein lieber Herr«, sagte der kleine Herr Perker, von seinem Stuhl aufspringend: »was gibt's neues in Ihrer Angelegenheit? Wieder etwas von unsern Freunden in Freemans Court? Ich weiß, sie haben diese Zeit über nicht geschlafen. O, es sind rührige Burschen – sehr rührig, ich versichere Sie!«
Als der kleine Mann seine Rede schloß, nahm er mit wichtiger Miene eine Prise Tabak, um dadurch der Rührigkeit der Herren Dodson und Fogg seine Huldigung darzubringen.
»Große Spitzbuben sind es«, sagte Herr Pickwick.
»Nun, nun«, versetzte der kleine Mann, »wie man's nimmt. Wir wollen nicht über Worte streiten, denn natürlich kann man von Ihnen nicht erwarten, daß Sie die Sache mit den Augen eines Mannes vom Fache ansehen. Gut, wir haben alles getan, was zu tun war. Ich habe den Prokurator Snubbin gewonnen.«
»Ist er gut?« fragte Herr Pickwick.
»Gut?« erwiderte Perker. »Beim Himmel, mein lieber Herr, Snubbin ist das vollendete Muster eines Rechtsanwalts. Hat dreimal soviel zu tun, als irgendein anderer Advokat – ist bei allen Gerichtssachen beteiligt. Sie brauchen es nicht weiter zu sagen, aber wir Leute vom Fach meinen, der Prokurator Snubbin führe den Gerichtshof an der Nase herum.«
Bei dieser Mitteilung nahm der kleine Mann eine zweite Prise und warf Herrn Pickwick einen geheimnisvollen Wink zu.
»Man hat meine drei Freunde vorgeladen«, sagte Herr Pickwick.
»Das war natürlich«, erwiderte Perker. »Wichtige Zeugen; sahen Sie in einer delikaten Situation.«
»Aber sie wurde mit Willen ohnmächtig«, warf Herr Pickwick ein: »sie fiel mir absichtlich in die Arme.«
»Sehr wahrscheinlich, mein lieber Herr«, versetzte Perker; »sehr wahrscheinlich und sehr natürlich. Nichts natürlicher, mein lieber Herr – durchaus nichts. Aber womit beweisen Sie das?«
»Sie haben auch meinen Diener vorgeladen«, sagte Herr Pickwick, diesen Punkt fallen lassend, denn Herrn Perkers Frage hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht.
»Sam?« fragte Perker.
Herr Pickwick bejahte.
»Natürlich, mein lieber Herr, natürlich. Sie mußten das tun; ich hätte Ihnen das schon vor einem Monat sagen können. Es versteht sich von selbst, mein lieber Herr, wenn Sie Ihre Sache selbst führen wollen, nachdem Sie dieselbe Ihrem Sachwalter übergeben haben, müssen Sie auch die Folgen davon tragen.«
Hier richtete sich Herr Perker im Bewußtsein seiner Würde auf und streifte einige verirrte Schnupftabakskörner von seiner Hemdkrause ab.
»Und was wollen Sie denn durch ihn beweisen?« fragte Herr Pickwick nach einer Pause von zwei bis drei Minuten.
»Ich vermute, Sie haben ihn zu der Klägerin geschickt, um ihr einen Vergleich anzubieten«, erwiderte Perker. »Es hat aber nicht viel zu sagen, denn ich glaube, aus ihm werden sie wenig herausbringen.«
»Dieser Ansicht bin ich auch«, bemerkte Herr Pickwick, trotz seiner Verstimmung bei dem Gedanken an Sams Auftreten vor Gericht lächelnd. »Was sollen wir aber anfangen?«
»Es steht uns nur ein Weg offen, mein lieber Herr«, erwiderte Perker; »nämlich den Zeugen Querfragen vorzulegen, Snubbins Beredsamkeit zu vertrauen, dem Richter Staub in die Augen und der Juri uns selbst in die Arme zu werfen.«
»Und gesetzt, der Spruch fiel gegen mich aus?« sagte Herr Pickwick.
Herr Perker lächelte, nahm ganz gemächlich eine Prise Tabak, schürte das Feuer, zuckte die Achseln und beobachtete ein bedeutungsvolles Stillschweigen.
»Sie glauben, daß ich in diesem Falle die Entschädigung zahlen müßte?« fragte Herr Pickwick, der die eilige Antwort mit großer Aufmerksamkeit beobachtet hatte.
Perker gab dem Brennstoff noch einen höchst unnötigen Stoß und sagte:
»Ich fürchte, ja.«
»Dann erlauben Sie mir, Ihnen meinen unabänderlichen Entschluß kund zu tun, durchaus keine Entschädigung zu zahlen«, sagte Herr Pickwick mit großem Nachdruck. »Durchaus keine, Perker. Nicht ein Pfund, nicht einen Pfennig von meinem Gelde soll den Weg in Dodson und Foggs Taschen finden. Das ist mein wohlüberlegter und unwiderruflicher Entschluß.«
Und zur Bestätigung der Unwiderrruflichkeit seiner Absicht schlug Herr Pickwick heftig auf den Tisch.
»Ganz recht, mein lieber Herr, ganz recht«, sagte Herr Perker; »Sie müssen das natürlich am besten wissen.«
»Natürlich«, erwiderte Herr Pickwick hastig. »Wo wohnt Prokurator Snubbin?«
»In Lincolns Inn, Old Square«, versetzte Perker.
»Ich möchte ihn sprechen«, sagte Herr Pickwick.
»Prokurator Snubbin sprechen, mein lieber Herr?« fiel Perker im Tone des höchsten Erstaunens ein. »Aber – aber, mein lieber Herr, das ist unmöglich. Prokurator Snubbin sprechen! Wo denken Sie hin, mein lieber Herr? So was ist noch nie erhört worden, ohne daß die Konsultationsgebühr vorher entrichtet und die Konsultation anberaumt war. Es geht durchaus nicht, mein lieber Herr, geht durchaus nicht.«
Aber Herr Pickwick hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß es nicht nur gehen könne, sondern daß es sogar gehen müsse; und die Folge davon war, daß er zehn Minuten, nachdem er die Versicherung erhalten, es könne unmöglich sein, von seinem Sachwalter in das Vorzimmer des großen Prokurators Snubbin geführt wurde.
Es war ein ziemlich geräumiges Gemach, in dem man Fußteppiche vermißte. Vor dem Feuer stand ein großer Schreibtisch, dessen wollener Überzug längst seine Ansprüche auf sein ursprüngliches Grün aufgegeben hatte, und mit Ausnahme der Stellen, deren natürliche Farbe durch Tintenflecke verwischt war, vom Staub und Alter allmählich grau geworden war. Auf dem Tische lagen eine Menge kleiner Bündel Papiere, die mit rotem Zwirn zusammengebunden waren, und hinter diesen saß ein ältlicher Schreiber, dessen stattliches Äußere und schwere goldene Uhrkette den imponierenden Beweis von der ausgedehnten und einträglichen Praxis des Herrn Prokurator Snubbin ablegte.
»Herr Mallard, ist der Prokurator auf seinem Zimmer?« fragte Perker, mit aller erdenklichen Höflichkeit dem Schreiber seine Dose hinhaltend.
»Ja«, war die Antwort, »hat aber vollauf zu tun. Sehen Sie hier, in all diesen Sachen ist noch kein Gutachten ausgestellt, und von allen sind bereits die Expeditionsgebühren bezahlt.«
Bei diesen Worten lächelte der Schreiber und schnupfte mit einem Behagen, das teils von seiner Vorliebe für den Schnupftabak, teils von seiner Lust an Gebühren herzurühren schien.
»Das heißt eine Praxis«, bemerkte Perker.
»Ja«, antwortete der Schreiber des Rechtsgelehrten, seine eigene Dose aus der Tasche nehmend und sie mit der größten Freundlichkeit anbietend, »Und das beste dabei ist, daß niemand des Prokurators Handschrift lesen kann als ich, und die Leute also, nachdem die Gutachten schon ausgestellt sind, warten müssen, bis ich sie abgeschrieben habe, ha, ha, ha!«
»Was noch außer dem Prokurator einem gewissen Jemand zugut kommt, der aus den Klienten noch etwas mehr herauslockt – nicht wahr?« sagte Perker: »ha, ha, ha!«
Darauf lachte des Prokurators Schreiber wieder – aber nicht laut, sondern still im Innern, was Herrn Pickwick gar nicht gefiel. Wenn jemand innerlich blutet, so ist es gefährlich für ihn selbst; aber wenn er innerlich lacht, so bedeutet es andern Leuten nichts Gutes.
»Haben Sie mir die Gebühren noch nicht ausgeschrieben, die ich Ihnen noch schulde?« fragte Herr Perker.
»Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen«, erwiderte der Schreiber.
»Es wäre mir lieb, wenn Sie's täten«, sagte Perker. »Stellen Sie mir die Rechnung zu, dann werde ich Ihnen eine Anweisung schicken: aber ich vermute, Sie haben zu viel mit der Einnahme des Laufenden zu tun, als daß Sie an Ihre Ausstände denken könnten – nicht wahr? Ha, ha, ha!«
Dieser Witz schien den Schreiber außerordentlich zu kitzeln, und er lachte wieder innerlich.
»Aber Herr Mallard, mein teurer Freund«, sagte Perker, plötzlich wieder ernst werdend und den großen Gehilfen des großen Mannes am Rockzipfel in eine Ecke ziehend, »Sie müssen den Prokurator dazu bewegen, mich und meinen Klienten vor sich zu lassen.«
»Gehen Sie, gehen Sie,« erwiderte der Schreiber; »Sie sind wohl nicht bei Troste – den Prokurator sprechen! Gehen Sie, das ist zu absurd.«
Ungeachtet der Absurdität des Gesuchs ließ jedoch der Schreiber Herrn Perker noch mehr darüber reden; und nach einem kurzen Geflüster ging er leise einen schmalen dunklen Gang hinab und verschwand in dem Allerheiligsten des Gesetzes, aus dem er bald nachher auf den Zehen wieder hervorkam und Herrn Perker und Herrn Pickwick eröffnete, der Prokurator sei dazu überredet worden, sie gegen alle hergebrachte Ordnung und Gewohnheit sogleich vor sich zu lassen.
Herr Prokurator Snubbin hatte ein mageres, erdfahles Gesicht und zählte ungefähr fünfundvierzig Jahre, oder wie die Novellisten sagen – er war ein Fünfziger. Er hatte jenes düstere, ausgebrannte Auge, das man so oft bei Leuten sieht, die sich eine Reihe von Jahren hindurch einem langwierigen und mühevollen Studium gewidmet haben – ein Auge, das auch ohne das Augenglas, das an einem breiten schwarzen Bande um seinen Nacken hing, einen Fremden auf den Gedanken bringen mußte, er sei sehr kurzsichtig. Sein Haar war dünn und kurz, was teils dem Mangel an Zeit für seine Toilette, teils einer neben ihm hängenden Juristenperücke, die er fünfundzwanzig Jahre lang getragen hatte, zugeschrieben werden mußte. Die Spuren von Puder auf seinem Rockkragen und das beschmutzte und verschobene weiße Halstuch deuteten darauf hin, daß er seit seiner Rückkehr vom Gerichtssaal noch keine Zeit gefunden hatte, eine Änderung in seinem Anzuge vorzunehmen, während die sonstige Nachlässigkeit in seinem Äußern die Vermutung begründete, seine Person würde wenig dabei gewonnen haben, wenn es auch der Fall gewesen wäre. Bücher über das Gerichtswesen, Stöße von Akten und offene Briefe waren ohne alle Rücksicht auf Anordnung und Symmetrie auf dem Tisch zerstreut. Die Einrichtung des Zimmers war alt und schadhaft; die Türen des Bücherschrankes rosteten in ihren Angeln. Bei jedem Schritt flog der Staub in kleinen Wolken von dem Fußteppich auf; die Vorhänge hatten vom Alter und Schmutz gelbbraune Farbe angenommen, und alles im Zimmer wies unzweideutig darauf hin, daß Herr Prokurator Snubbin viel zu viel mit seinen Berufsgeschäften zu tun hatte, als daß er seiner Person viel Aufmerksamkeit schenken konnte.
Der Prokurator schrieb, als seine Klienten eintraten; er verbeugte sich kurz, als Herr Pickwick durch seinen Sachwalter vorgestellt wurde, und ersuchte sie dann, Platz zu nehmen, steckte seine Feder sorgfältig in das Tintenfaß, strich über sein linkes Bein und erwartete die Eröffnung des Vortrags.
»Herr Pickwick ist der Beklagte in der Sache Bardell und Pickwick, Prokurator Snubbin«, sagte Perker.
»Bin ich dabei interessiert?« fragte der Prokurator.
»Ja, Sir«, erwiderte Perker.
Der Prokurator nickte mit dem Kopfe und wartete auf weiteres.
»Herr Pickwick wünschte mit Ihnen zu sprechen, Prokurator Snubbin«, sagte Perker, »um Sie vorläufig zu versichern, daß er es in Abrede stellt, irgendeinen Grund oder Vorwand zu der Klage gegen ihn gegeben zu haben; und daß er gar nicht vor Gericht aufträte, wenn er nicht mit reinem Gewissen und mit der festesten Überzeugung, daß er das größte Recht habe, die Klage zurückzuweisen, erscheinen könnte. Ich glaube, Ihre Ansicht ganz richtig auszusprechen, nicht wahr, lieber Herr?« sagte der kleine Mann, sich an Herrn Pickwick wendend.
»Ganz richtig«, erwiderte dieser Gentleman.
Herr Prokurator Snubbin nahm seine Lorgnette, hielt sie vor die Augen, betrachtete Herrn Pickwick einige Sekunden lang mit großer Aufmerksamkeit, wandte sich dann an Herrn Perker und fragte mit leichtem Lächeln:
»Ist die Sache Herrn Pickwicks sicher?«
Der Anwalt zuckte die Achseln.
»Lassen Sie Zeugen vorladen?«
»Nein.«
Das Lächeln auf dem Gesicht des Prokurators nahm einen bestimmteren Ausdruck an: er wiegte sein Bein stärker, und sich in seinem bequemen Stuhl zurücklehnend, hustete er zweideutig.
Diese Andeutungen der Gedanken des Prokurators über den Gegenstand mochten so unbedeutend sein, wie sie wollten, sie entgingen der Aufmerksamkeit Herrn Pickwicks nicht. Er setzte die Brille, durch die er das Mienenspiel des Rechtsgelehrten beobachtete, fester auf die Nase und sagte ohne alle Rücksicht auf Herrn Perkers Winke und Stirnrunzeln mit großem Nachdruck –
»Mein Wunsch, Sie in solcher Angelegenheit zu sprechen, Sir, erscheint einem Mann, der notwendig so viel mit derlei zu tun hat, ohne Zweifel höchst sonderbar.«
Der Prokurator machte den Versuch, mit ernster Miene aufs Feuer zu sehen, aber das Lächeln kam ihm wieder.
»Herren von Ihrem Fach, Sir«, fuhr Herr Pickwick fort, »sehen die schlechteste Seite der menschlichen Natur – alle ihre Streitsucht, alle ihre Böswilligkeit und Gehässigkeit entschleiert sich vor Ihnen. Sie wissen aus Erfahrung, wieviel bei den Geschworenengerichten auf den äußeren Eindruck ankommt (ich will damit weder Ihnen noch diesen zu nahe treten): und die sind geneigt, bei andern ein Verlangen vorauszusetzen, die Mittel, die Sie aus den reinsten, ehrenvollsten Gründen und in der löblichen Absicht, Ihren Klienten so nützlich wie möglich zu werden, stets in Anwendung zu bringen und die sie in der Praxis nach ihrem vollen Wert schätzen gelernt haben – Sie sind geneigt, sage ich, bei andern die Neigung vorauszusetzen, diese Mittel zum Betrug und zu selbstsüchtigen Zwecken zu mißbrauchen. Ich glaube in der Tat, daß dieser Umstand die gemeine, aber sehr verbreitete Ansicht hervorgerufen hat, als wäre Ihr Stand ein argwöhnischer, mißtrauischer und allzu vorsichtiger. Ich weiß, Sir, daß mir unter den gegebenen Verhältnissen eine solche Erörterung Ihnen gegenüber nur schaden kann. Trotzdem bin ich zu Ihnen gekommen, um in dem, was mein Freund Herr Perker gesagt hat, genau verstanden zu werden: nämlich daß ich an der Treulosigkeit, die mir zur Last gelegt wird, unschuldig bin. Wenn ich auch von dem unschätzbaren Wert Ihres Beistandes überzeugt bin, Sir, so erlauben Sie mir doch zu bemerken, daß ich, im Falle Sie mir nicht unbedingt Glauben schenken, die Unterstützung Ihrer Talente lieber entbehren, als genießen möchte.«
Lange bevor Herr Pickwick diese Rede, die wirklich im Verhältnis zum Geist des Redners sehr prosaisch war, beschlossen hatte, war der Prokurator in tiefes Nachdenken versunken. Nach einigen Minuten aber, während deren er seine Feder wieder ergriffen hatte, schien er sich der Anwesenheit seiner Klienten wieder zu erinnern, und den Kopf vom Papiere erhebend, fragte er etwas auffahrend –
»Wer ist mein Adjunkt in dieser Sache?«
»Herr Phunky, Prokurator Snubbin«, erwiderte der Anwalt.
»Phunky – Phunky«, sagte der Prokurator; »diesen Namen habe ich noch nie gehört. Es muß ein sehr junger Mann sein.«
»Ja, es ist ein sehr junger Mann«, versetzte der Anwalt. »Er ist erst kürzlich zugelassen. Warten Sie, ich will mich besinnen – ah, es fällt mir ein: es sind noch keine acht Jahre, daß er zugelassen ist.«
»Ah, das habe ich mir gedacht«, sagte der Prokurator in jenem mitleidigen Ton, in dem man gewöhnlich von kleinen, hilflosen Kindern spricht. – »Herr Mallard, schicken Sie nach Herrn – Herrn –«
»Phunky – Holborn Court, Grays Inn«, fiel Perker ein – (Holborn Court ist, beiläufig gesagt, das jetzige South-Square) – »Herr Phunky, und lassen Sie ihm sagen, es würde mich freuen, wenn er sich auf einen Augenblick hierher bemühen wollte.«
Herr Mallard entfernte sich, um seinen Auftrag auszurichten, und Prokurator Snubbin versank wieder in Nachdenken, bis Herr Phunky erschien.
Obgleich als Sachwalter noch ein Kind, war er doch ein völlig ausgewachsener Mann. Er war in seinem Benehmen außerordentlich schüchtern und sprach immer mit dem zitternden Ton der Befangenheit, was jedoch nicht von einem Naturfehler, sondern vielmehr von einer gewissen blöden Scheu herzurühren schien. Diese entsprang aus dem Bewußtsein, daß er durch den Mangel an Geld oder Gönner oder Verbindungen oder Unverschämtheit »niedergehalten« wurde. Er sah mit Ehrfurcht an dem Prokurator empor und machte dem Anwalt eine tiefe Verbeugung.
»Ich habe noch nie das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen, Herr Phunky«, sagte Prokurator Snubbin mit vornehmer Herablassung.
Herr Phunky verbeugte sich. Er hatte das Vergnügen gehabt, den Prokurator zu sehen und ihn auch mit dem ganzen Neide des armen Mannes schon acht und ein Vierteljahr lang beneidet.
»Wie ich höre, sollen Sie in dieser Sache mein Adjunkt sein?« fragte der Prokurator.
Wäre Herr Phunky ein reicher Mann gewesen, so hätte er augenblicklich nach seinem Schreiber geschickt, um seinem Gedächtnis nachhelfen zu lassen. Wäre er ein kluger Mann gewesen, so hätte er den Zeigefinger an die Stirn gelegt und sich zu erinnern gesucht, ob er bei der Unzahl seiner Geschäfte auch dieses übernommen habe oder nicht; so aber war er weder reich noch klug (wenigstens in diesem Sinne), errötete also und verbeugte sich.
»Haben Sie die Akten gelesen, Herr Phunky?« fragte der Prokurator.
Hier hätte Herr Phunky die Bemerkung hinwerfen sollen, er habe die ganze Sache vergessen; aber da er die Akten, die ihm im Laufe des Prozesses vorgelegt worden waren, gelesen und seit den zwei Monaten, während deren er zu Herrn Prokurator Snubbins Adjunkten erhoben worden war, Tag und Nacht an nichts anderes mehr gedacht hatte, errötete er noch tiefer und machte eine abermalige Verbeugung.
»Das ist Herr Pickwick«, sagte der Prokurator, mit seiner Feder nach der Stelle hindeutend, wo dieser Herr stand.
Herr Phunky verbeugte sich gegen Herrn Pickwick mit der Ehrerbietung, die ein erster Klient erwecken muß, und verneigte sich dann wieder gegen den Prokurator.
»Sie gehen vielleicht mit Herrn Pickwick«, sagte dieser, »und – und – und hören, was Herr Pickwick Ihnen mitzuteilen hat. Wir werden natürlich eine Besprechung darüber halten.«
Mit dieser Andeutung, daß er jetzt lange genug unterbrochen worden sei, hielt Herr Prokurator Snubbin, der nach und nach immer nachdenklicher geworden war, für einen Augenblick sein Glas vor die Augen, machte nach allen Seiten eine leichte Verbeugung und vertiefte sich wieder in die vor ihm liegenden Akten eines endlosen Prozesses, der durch die Handlung eines vor einigen hundert Jahren verstorbenen Mannes entstanden war. Er, d. h. der Mann, hatte nämlich einen Fußpfad gesperrt, der von einem Orte, wo niemand herkam, nach einem andern führte, wo niemand hinging.
Herr Phunky ließ sich nie darauf ein, durch eine Tür zu gehen, bevor Herr Pickwick und sein Anwalt durchgegangen waren, und so verstrich eine geraume Zeit, bis sie in das Viertel gelangten, Als sie es endlich erreicht hatten, gingen sie auf und nieder und hielten eine lange Konferenz, die darauf hinauslief, daß es sehr schwer zu bestimmen sei, wie der Spruch ausfallen würde; daß sich überhaupt niemand herausnehmen könne, den Ausgang eines Prozesses zu berechnen; daß es ein sehr großes Glück sei, der Gegenpartei in bezug auf die Akquisition des Herrn Snubbin zuvorgekommen zu sein: Ergebnisse, an die sie noch andere Bedenklichkeiten und Trostgründe knüpften, wie sie bei einer solchen Sachlage gewöhnlich vorgebracht werden.
Hierauf wurde Herr Weller von seinem Herrn aus einem süßen Schlafe erweckt, der eine Stunde lang gedauert hatte. Nachdem sie von Herrn Lowten Abschied genommen hatten, kehrten sie nach der City zurück.